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ALAN HOLLINGHURST

Des

Fremden

KIND

Roman

Aus dem Englischen
von Thomas Stegers

Karl Blessing Verlag

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Titel der Originalausgabe:
The Stranger’s Child

Originalverlag: Picador

Die Übersetzung der Gedichte und Liedtexte ins Deutsche
besorgte Thomas Eichhorn.

Die Arbeit des Übersetzers wurde gefördert
vom Deutschen Übersetzerfonds e. V. mit Mitteln der Kulturstiftungen
des Bundes und der Länder sowie des Auswärtigen Amtes.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2011 by Alan Hollinghurst

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012

by Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur,

München – Zürich

Satz: Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN: 978-3-641-07608-5
V002

www.blessing-verlag.de

I. M.

Mick Imlah

1956 – 2009

1. Teil

»Two Acres«

1

Seit über einer Stunde lag sie in der Hängematte und las Gedichte. Das war nicht so einfach: Sie musste die ganze Zeit an George denken, der bald mit Cecil eintreffen würde, außerdem rutschte sie fast willenlos Stück für Stück immer tiefer, bis sie, zu einem Knäuel zusammengesunken, das Buch über sich halten musste, was ermüdend war. Allmählich schwand das Licht, und die Wörter auf dem Papier fingen an, sich voreinander zu verstecken. Sie wollte Cecil unbedingt sehen, seinen Anblick in sich aufsaugen, noch bevor er sie entdeckte, ihr vorgestellt werden und sie fragen würde, was sie las. Vermutlich hatte er seinen Zug verpasst, jedenfalls den Anschlusszug, und sie stellte sich vor, wie er in Harrow und Wealdstone den langen Bahnsteig auf und ab ging und sein Kommen bereits bedauerte. Als fünf Minuten später die über dem Steingarten untergehende Sonne den Himmel rosa verfärbte, schien es plötzlich möglich, dass sich etwas Schlimmeres zugetragen haben könnte. Mit feierlichem Ernst malte sie sich aus, ein Telegramm würde eintreffen, die Nachricht die Runde machen, und sie würde hemmungslos weinen; dann sah sie sich viele Jahre später einem anderen dieses Ereignis schildern, wobei sie noch immer nicht entschieden hatte, um was für eine Nachricht es sich eigentlich handeln würde.

Im Wohnzimmer wurden die Lampen angezündet, und durch das geöffnete Fenster hörte sie, wie sich ihre Mutter mit Mrs Kalbeck unterhielt, die zum Tee gekommen war und dazu neigte, länger zu bleiben, da bei ihr zu Hause niemand auf sie wartete. Durch das Licht, das bis auf den Weg hinausschien, wirkte der Garten plötzlich einsamer. Daphne glitt von der Hängematte, schlüpfte in die Schuhe und vergaß ihre Bücher. Sie ging auf das Haus zu, doch diese besondere Stunde des Tages, das Geheimnisvolle, das sie barg und das sie bislang übersehen hatte, ließ sie innehalten, lockte sie den Rasen hinunter, den Steingarten entlang, wo der Teich, in dem sich die Schattenrisse der Bäume spiegelten, so tief schien wie der weiße Himmel. Es war jener ausgedehnte, stille Moment, wenn Hecken und Zäune im Dämmer verschwammen, doch alles aus der Nähe Betrachtete, eine Rose, eine Begonie, ein glänzendes Lorbeerblatt, sich mit einem verborgenen Farbimpuls wieder dem Tag übereignete.

Sie hörte ein schwaches, vertrautes Geräusch, das Schlagen des morschen Tors gegen den Pfosten weiter unten im Garten, dann eine fremde, gereizte Stimme, schließlich Georges Lachen. Er musste mit Cecil den anderen Weg genommen haben, über Bentley Priory und den Wald. Daphne lief die schmalen, halb überwucherten Stufen des Steingartens hinauf und konnte von oben die beiden im Gehölz erkennen. Sie verstand nicht genau, was sie sagten, doch Cecils Stimme verstörte sie, rasch und resolut nahm sie den Garten, das Haus, ja das ganze bevorstehende Wochenende scheinbar in Beschlag. Es war eine exaltierte Stimme, die sich nicht darum kümmerte, wer sie hörte, doch lag auch etwa Spöttisches und Überhebliches in ihrem Tonfall. Daphne blickte zurück zum Haus, der dunklen Masse, dem Dach und den Kaminschloten, die sich vor dem Himmel abzeichneten, den erleuchteten Fenstern unter der niedrigen Traufe, und sie dachte an Montag und an das Leben, das sie alle bereitwillig wieder aufnähmen, wenn Cecil weg wäre.

Unter den Bäumen war es schon düsterer, und das Wäldchen, das sie bildeten, schien größer als sonst. Die Jungen bummelten, trotz Cecils drängendem Unterton. Während sie zwischen den Birkenstämmen entlangschlenderten, fing sich in ihrer hellen Kleidung und auf der Krempe von Georges Strohhut das nachlassende Licht, nur ihre Gesichter waren kaum auszumachen. George war stehen geblieben und stocherte mit dem Fuß in etwas herum, Cecil, größer, dicht neben ihm, als wollte er den Anblick mit ihm teilen. Vorsichtig ging Daphne auf sie zu, und es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass die beiden ihre Anwesenheit nicht bemerkt hatten. Sie hielt inne, lächelte unsicher, schnappte aufgeregt nach Luft und fing an, verwirrt und angespannt, ihre Stellung zu ergründen. Cecil war ein Gast, ein Erwachsener, dem man keinen Streich spielte, doch über George hatte sie Macht – bloß wusste sie damit nichts anzufangen. Jetzt legte Cecil wie zum Trost eine Hand auf Georges Schulter, obwohl auch er lachte, leiser als vorher; ihre Hutkrempen stießen aneinander, überlappten sich. Cecils Lachen hatte, wie sie jetzt fand, doch etwas Freundliches, immerhin, ein knappes, spaßiges Wiehern, wenn auch sie selbst, wie so oft, in den Spaß nicht eingeweiht war. Dann hob Cecil den Kopf, sah sie und sagte: »Oh, hallo!«, als wären sie sich schon öfter begegnet und hätten Freude daran gehabt.

George war im ersten Moment verdutzt, knöpfte sich hastig das Jackett zu und sagte, ziemlich scharf: »Cecil hat den Zug verpasst.«

»Muss er wohl«, sagte Daphne, die sich für einen trockenen Tonfall entschied, um sich zu wappnen gegen die ständig lauernde Gefahr, gehänselt zu werden.

»Und dann musste ich mir natürlich noch Middlesex ansehen«, sagte Cecil. Er trat auf sie zu und schüttelte ihre Hand. »Mir kommt es so vor, als wären wir durch das ganze County gewandert.«

»Er hat dir den Weg über die Felder gezeigt«, sagte Daphne. »Es gibt den Weg über die Felder und den Weg durch die Vororte, Letzterer ist nicht annähernd so reizvoll. Man stapft einfach immer nur Stanmore Hill hinauf.«

George schnaufte verlegen und zugleich erleichtert. »So, Cess, jetzt kennst du meine Schwester.«

Cecils Hand, warm und hart, hielt die ihre noch immer gönnerhaft umklammert. Es war eine große Hand, irgendwie unempfindlich, eine Hand, die eher gewohnt war, Ruder und Seile zu packen als die schlanken Finger sechzehnjähriger Mädchen. Daphne nahm seinen Geruch auf, nach Schweiß und Gras, und seinen sauren Atem. Als sie ihm ihre Hand entziehen wollte, drückte er sie noch mal, ein, zwei Sekunden lang, bevor er sie freigab. Es war ihr unangenehm, doch im nächsten Moment spürte sie, dass ihre Hand die Erinnerung an seine bewahrte, und beinahe hätte sie sie zwischen den Schatten hindurch ausgestreckt und seine noch mal berührt.

»Ich habe Gedichte gelesen«, sagte sie, »aber dann wurde es leider zu dunkel.«

»Ah!«, sagte Cecil mit einem spitzen Lachen, fast einem Kichern, doch sein Blick war freundschaftlich, das spürte sie. In der Dämmerung mussten sie angestrengt hinschauen, um die Miene des anderen genau zu erkennen, was den Anschein hatte, als interessierten sie sich besonders füreinander. »Von wem?«

Es waren Gedichte von Tennyson, aber sie hatte auch die Zeitschrift Granta gelesen, in der drei Gedichte von Cecil abgedruckt waren, »Corley«, »Morgengrauen auf Corley« und »Corley, Dämmerung«. »Ach, Alfred, Lord Tennyson.«

Cecil nickte bedächtig und schien nach einer geistreichen Erwiderung zu suchen. »Glauben Sie, dass er heute noch von Bedeutung ist?«, sagte er.

»Aber ja«, antwortete Daphne entschieden, überlegte dann aber, ob sie seine Frage verstanden hatte. Flüchtig blickte sie zwischen die Baumreihen, wie um andere, verborgene Blickwinkel aufzuspüren. George behelligte sie häufig mit diesem Cambridge-Gerede, bei dem man auf Dingen beharrte, die unmöglich gemeint sein konnten. Es war eine raffinierte Form, sich über jemanden lustig zu machen, und sie offenbarte einem nie, warum die Antwort, die man gegeben hatte, falsch war. »Wir lieben unseren Tennyson«, sagte sie. »Hier auf Two Acres.«

Schelmisch blickte Cecil unter der breiten Krempe seines Strohhuts hervor. »Ich sehe, wir verstehen uns«, sagte er. »Wir könnten uns ja gegenseitig alle unsere Lieblingsgedichte vorlesen – falls Sie gerne laut vortragen.«

»Oh, ja!«, sagte Daphne, schon von Vorfreude gepackt, obwohl sie Hubert noch nie laut hatte vorlesen hören, außer mal einen Leserbrief in der Times, dem er zustimmte. »Und welches ist Ihr Lieblingsgedicht?«, fragte sie, für einen Moment besorgt, sie könnte es nicht kennen.

Cecil lächelte sie beide an, kostete seine Entscheidungsmacht aus und sagte dann: »Nun, das werden Sie erfahren, wenn ich es Ihnen vorlese.«

»Hoffentlich ist es nicht ›Die Lady von Shalott‹«, sagte Daphne.

»Oh, die ›Lady von Shalott‹ gefällt mir sehr.«

»Ich wollte damit sagen, es ist mein Lieblingsgedicht«, korrigierte sich Daphne.

»Jetzt kommt schon«, scheuchte George sie mit ausgebreiteten Armen vorwärts. »Mutter begrüßen.«

»Übrigens«, sagte Daphne, »ist Mrs Kalbeck auch da.«

»Dann sollten wir versuchen, sie loszuwerden«, sagte George.

»Versuchen kannst du es ja …«, sagte Daphne.

»Mir tut Mrs Kalbeck jetzt schon leid«, sagte Cecil. »Wer immer sie sein mag.«

»Sie ist eine große Küchenschabe«, sagte George, »die meine Mutter vergangenes Jahr nach Deutschland begleitet hat und seitdem nicht von ihr lassen kann.«

»Mrs Kalbeck ist eine Witwe aus Deutschland«, erklärte Daphne im Ton bekümmerter Sachlichkeit und mit einem bedauernden Kopfschütteln. Auch Cecil hatte die Arme ausgebreitet, und ohne zu überlegen, tat sie das Gleiche; für einen Moment schien es, als hätten drei sanfte Rebellen ein Bündnis geschlossen.

2

Während das Dienstmädchen das Teegeschirr abräumte, stand Freda Sawle auf und schlenderte zwischen den Sofatischen und zahllosen kleinen Sesseln zum geöffneten Fenster. Über dem bepflanzten Steinhügel glühten rosa einige Wolkenfetzen, und der Garten war mit dem ersten Grau der Dämmerung verstummt. Es war die Stunde des Tages, die ihr aufs Gemüt schlug. »Irgendwo da draußen ist mein Kind und verdirbt sich die Augen«, sagte sie und wandte sich dem wärmeren Licht des Zimmers zu.

»Falls sie ihre Gedichtbüchlein dabeihat«, sagte Clara Kalbeck.

»Sie hat sich mit einigen Gedichten von Cecil Valance befasst. Sie meint, sie seien sehr schön, aber nicht so gut wie die von Swinburne oder Lord Tennyson.«

»Swinburne …«, ließ sich Mrs Kalbeck naserümpfend vernehmen.

»Alle Gedichte von Cecil, die ich bisher gelesen habe, handeln von seinem Elternhaus. Aber George sagt, es gebe auch noch andere, von eher allgemeinem Interesse.«

»Ich kenne mich allmählich recht gut aus im Haus von Cecil Valance«, sagte Clara mit einer Schroffheit, die noch ihrer liebenswürdigsten Bemerkung eine sarkastische Note gab.

Freda schritt vor bis zur Musikecke des Raums, einem Erker, in dem ein Klavier und ein dunkler Grammofonschrank standen. George hatte sich nach seinem Besuch auf Corley Court recht kritisch über Two Acres geäußert: Es habe die Tendenz, »sich in Nischen aufzulösen«. Diese Nische besaß ein eigenes Fensterchen und wurde von einem breiten Eichenbalken überspannt. »Sie haben sich verspätet«, sagte Freda, »aber George hat mich schon vorgewarnt, Cecil sei, was Pünktlichkeit betrifft, ein hoffnungsloser Fall.«

Clara blickte nachsichtig zur Uhr auf dem Kaminsims. »Sie werden noch ein bisschen umherschweifen, denke ich.«

»Wer weiß, was George ihm antut!« Freda erschrak selbst über ihren scharfen Ton.

»Vielleicht hat er in Harrow und Wealdstone den Anschluss verpasst«, sagte Clara.

»Das wird es sein«, sagte Freda, und für einen Augenblick standen die beiden Namen mit den eingeklemmten Vokalen, das gutturale r und das verschliffene W, das sich fast wie ein F anhörte, sinnbildhaft für den Anspruch, den ihre Freundin auf England, auf Stanmore und auf sie erhob. Sie unterbrach ihren Rundgang, um die in einem erwartungsvollen Halbkreis auf einem kleinen runden Tisch angeordneten eingerahmten Fotografien umzustellen. Der gute Frank, aufgenommen in einem Fotoatelier, eine Hand auf einem ebenfalls kleinen Tisch abgestützt; Hubert, in einem Ruderboot; und George, auf einem Pony. Die letzten beiden schob sie auseinander, um Daphne etwas mehr in den Vordergrund zu rücken. Meistens war Freda froh über Claras Gesellschaft, ihre ungenierte Bereitschaft, endlos lang auf ihrem Platz auszuharren. Sie war eine gute Freundin und verdiente nicht weniger Mitleid. Freda hatte drei Kinder, ein Telefon und ein eigenes Badezimmer; Clara besaß keine dieser Annehmlichkeiten, und man konnte es ihr schwerlich übel nehmen, wenn sie sich, auf der Suche nach Unterhaltung, aus der feuchten, beengten »Lorelei« den Berg hinaufquälte. Heute jedoch, da das Dinner für zusätzliche Anspannung in der Küche sorgte, bewies sie mit ihrer Beharrlichkeit einen Mangel an Sensibilität.

»Wie man sieht, ist George ja so froh, dass er einen Freund hat«, sagte Clara.

»Ja.« Freda fand mit einem Mal ihre Geduld wieder und setzte sich. »Darüber freue ich mich natürlich auch. Zuvor hatte er anscheinend niemanden.«

»Vielleicht hat der Verlust seines Vaters ihn schüchtern gemacht«, sagte Clara. »Er wollte immer nur mit Ihnen zusammen sein.«

»Hm, da mögen Sie recht haben«, sagte Freda, brüskiert durch Claras Weisheit, gleichzeitig berührt von dem Gedanken an Georges Ergebenheit. »Aber er hat sich verändert. Ich erkenne es an seinem Gang, und er pfeift viel vor sich hin. Ein Mann, der pfeift, freut sich gewöhnlich auf etwas. Natürlich liebt er Cambridge. Er liebt die Welt der Ideen.« Ideen, das waren in ihren Augen die Wege quer über die College-Innenhöfe und um sie herum, die die jungen Männer beschritten, durch Torbogen hindurch und Treppen hinauf. Jenseits lag das Durcheinander gesellschaftlicher Freiheit, die Gärten und Flussufer, wo George und seine Freunde sich ins Gras legten oder in Stechkähnen vorbeiglitten. »Übrigens wurde er in die Conversazione Society berufen«, äußerte sie vorsichtig.

»Tatsächlich …«, sagte Clara mit einem angedeuteten Kopfschütteln.

»Eigentlich dürfen wir davon nichts wissen, aber ich glaube, es geht um Philosophie. Cecil Valance hat dafür gesorgt, dass er aufgenommen wird. Sie debattieren über verschiedene Ideen. George meinte mal, sie sprächen zum Beispiel über die Frage: ›Existiert dieser Kaminvorleger, oder existiert er nicht?‹ Solche Sachen.«

»Die ganz großen Fragen«, sagte Clara.

Freda lachte schuldbewusst. »So wie ich es verstanden habe, ist die Mitgliedschaft eine große Ehre.«

»Und Cecil ist älter als George«, sagte Clara.

»Ich glaube, zwei, drei Jahre älter, und bereits ein Experte für bestimmte Aspekte des Indischen Aufstands. Offenbar macht er sich Hoffnungen auf eine Stelle als Fellow am College.«

»Er ist sicher eine große Hilfe für George.«

»Nun ja, ich glaube, dass sie gute Freunde sind.«

Clara ließ ein paar Sekunden verstreichen. »Ganz gleich, aus welchem Grund«, sagte sie. »George blüht jedenfalls auf.«

Freda griff die Vorstellung ihrer Freundin auf und lachte steif. »Ich weiß«, sagte sie. »Ja, er entwickelt sich zur Blüte, endlich!« Das Bild gefiel ihr, aber es hatte auch etwas Beunruhigendes. Daphne steckte den Kopf durchs Fenster und rief: »Sie kommen!«, fast wütend auf die beiden Damen, weil sie davon noch nichts wussten.

»Ah, gut«, sagte ihre Mutter und erhob sich wieder.

»Keine Sekunde zu früh«, bemerkte Clara Kalbeck mit einem trockenen Lachen, als wäre auch ihre Geduld auf eine harte Probe gestellt worden.

Daphne sah sich rasch um, bevor sie sagte: »Er ist wirklich außerordentlich charmant, aber er hat ein ziemlich durchdringendes Organ.«

»Du nicht minder, meine Liebe«, sagte Freda. »Und jetzt führ ihn herein.«

»Ich mache mich davon«, sagte Clara leise und ernst.

»Unsinn«, gab Freda erwartungsgemäß klein bei und ging in die Halle. Zufällig war gerade Hubert von der Arbeit nach Hause gekommen, stand, noch mit Bowler, vor der Eingangstür und warf zwei braune Koffer ins Haus.

»Die habe ich mit dem Lieferwagen abgeholt«, sagte er.

»Oh, das muss Cecils Gepäck sein«, sagte Freda. »Ja, hier steht es, ›C. T. V.‹. Sei vorsichtig.« Ihr älterer Sohn war ein kräftiger Junge mit einem erstaunlich buschigen Schnauzer, doch das Gespräch von eben noch im Ohr, erkannte sie auf den ersten Blick, dass er noch nicht zu voller Blüte gelangt war und dass ihn eine Vollglatze zieren würde, ehe es dazu käme. »Für dich ist ein Päckchen angekommen, das sehr verlockend aussieht. Guten Abend, Hubert.«

»Guten Abend, Mutter.« Hubert beugte sich über die Koffer und küsste seine Mutter zur Begrüßung auf die Wange – es war das Steife, Komödiantische ihrer Beziehung, das lediglich unterstrich, dass Hubert nicht leicht zu erheitern war, die Komik, die ihrer beider Auftritt anhaftete, vielleicht nicht einmal ahnte. »Das hier?« Er zeigte auf eine in rotes Glanzpapier eingewickelte Schachtel. »Sieht eher aus wie für eine Dame.«

»Nun – das hoffe ich«, sagte seine Mutter, »es ist von Mappin’s.« Draußen am Gartentor, das den ganzen Tag offen gestanden hatte, erschienen jetzt die Angekündigten, verharrten kurz auf dem vom milden Licht beschienenen Weg, George und Cecil Arm in Arm, die gegen die Dämmerung anstrahlten, und Daphne, hinter ihnen, mit großen Augen und einer eigenen Rolle in dem Drama, der Figur, die die beiden entdeckt hatte. Im ersten Moment hatte Freda den Eindruck, Cecil würde George ins Haus führen, statt dass George seinen Freund der Familie vorstellte; und Cecil, als er in seinem sommerlichen Leinenanzug, nur den Hut in der Hand, die Schwelle überquerte, schien ungewöhnlich unbeschwert, als käme er geradewegs aus seinem eigenen Garten.

3

Oben im Gästezimmer hievte Jonah den ersten Koffer auf das Bett und fuhr mit den Händen über das glatte Hartleder, in der Mitte des Deckels waren die Initialen C. T. V. eingeprägt, ihre goldene Farbe bereits verblichen. Er wand sich vor Verlegenheit, seufzte und lauschte auf die Geräusche des Gastes im Haus. Sie brachten sich gegenseitig zum Lachen, unten, und der Lärm drang nach oben, allerdings ohne einen Sinn erkennen zu lassen. Er hörte Cecil Valances Lachen, wie ein eingesperrter Hund, und stellte ihn sich in der Halle stehend vor, in seinem beigen Jackett mit den Grasflecken an den Ellbogen. Er hatte dunkle lebhafte Augen und ein erhitztes Gesicht, als wäre er gerannt. Mr George nannte ihn Cess, und Jonah hauchte den Namen, während er mit der Fingerspitze das C nachzeichnete. Dann stand er auf, öffnete die Schnappverschlüsse und ließ den berauschenden Duft des wahren Gentlemans frei: Rasierwasser, Wäschestärke und flüchtigen Ledergeruch.

Normalerweise kam Jonah nur nach oben, wenn es einen Koffer hinaufzutragen oder ein Bett zu verrücken galt, und im vergangenen Winter, seinem ersten auf Two Acres, hatte er die Kohlen für die Öfen nach oben geschleppt. Er war fünfzehn, klein für sein Alter, doch kräftig; er hackte Holz, machte Besorgungen und fuhr mit Horners Lieferwagen hinunter zum Bahnhof und wieder zurück. Er war Laufbursche, in jeder Hinsicht, doch als Kammerdiener hatte er noch nicht gearbeitet. George und Hubert schienen durchaus in der Lage, sich allein an- und auszukleiden, und um die Wäsche kümmerte sich Mustow, Mrs Sawles Hausmädchen. Heute Morgen nach dem Frühstück jedoch hatte George ihn zu sich gerufen und ihn gebeten, sich seines Freundes Valance anzunehmen, dem zu Hause beliebig viele Diener zur Verfügung stünden. Auf Corley Court habe er einen ganz fabelhaften Mann namens Wilkes zum Kammerdiener, der sich auch um George gekümmert habe, als er dort gewesen sei, und ihm gute Ratschläge gegeben habe, ohne aufdringlich zu wirken. Jonah erkundigte sich, was das für Ratschläge gewesen seien, doch George hatte gelacht und gesagt: »Finde einfach heraus, was er braucht. Pack seine Koffer aus, wenn er kommt, und leg ihm den Inhalt zweckmäßig zurecht.« So hatte der Auftrag gelautet, wortreich und schwer fassbar, und den ganzen Tag über war er Jonah durch den Kopf gegangen, zwischendurch von anderen Aufgaben verdrängt worden, um ihn dann in all seinem Schrecken erneut einzuholen.

Er löste die Riemenschnallen und entnahm mit unsicherer Hand das eingeschlagene Seidenpapier. Eigentlich hätte er Hilfe gebraucht, doch war er froh, allein zu sein. Den Koffer hatte ein Könner gepackt, vermutlich Wilkes persönlich, und er verlangte jetzt von Jonah ein ebenbürtiges Talent beim Auspacken. Zuerst der Abendanzug mit den beiden Westen, einer schwarzen und einer modischeren; unter einer Lage Seidenpapier drei Frackhemden und eine runde Lederschachtel für die Kragen. Jonah sah sich im Garderobenspiegel, als er die Kleider durchs Zimmer trug, und sein von der Nachttischlampe erzeugter Schatten richtete sich an der Deckenschräge auf. George hatte ihm gesagt, Wilkes habe noch etwas recht Spezielles gemacht, nämlich ihm bei seiner Ankunft das Münzgeld abgenommen und es für ihn gewaschen. Nun fragte sich Jonah, wie er an Cecils Geld herankommen sollte, ohne ihn darum zu bitten oder den Eindruck zu erwecken, als wollte er ihn bestehlen. Vielleicht hatte George auch nur einen Scherz gemacht, überlegte er, denn bei George wusste man zurzeit nie, wie sogar schon Mrs Sawle festgestellt hatte.

Der andere Koffer enthielt Kricket- und Badebekleidung und eine Anzahl farbiger Hemden, die Jonah sehr ungewöhnlich fand. Er legte sie in gleichmäßigen Abständen in die freien Schrankfächer, als wollte er das Schaufenster eines Textilgeschäfts dekorieren. Dann kam die Unterwäsche, fein wie für eine Dame, die Schlüpfer elfenbeinfarben und leicht abgewetzt; die Baumwolle verfing sich an seinem rauen Daumen, und er strich sie wieder glatt. Er lauschte auf die Tonlage der Gespräche unten, nutzte dann die einmalige Gelegenheit, um ein Paar auseinanderzufalten und es vor sein rundes Gesicht zu halten, sodass das Licht gedämpft hindurchschimmerte. Unter seiner Angst pulsierte die Erregung und trieb ihm das Blut in den Kopf.

Der schwere Kofferdeckel offenbarte auf der Innenseite zwei mit Druckknöpfen verschließbare breite Taschen, in denen Bücher und Papiere verstaut waren. Jonah entnahm sie schon mit etwas mehr Selbstvertrauen; von George wusste er, dass sein Gast Schriftsteller war. Er selbst konnte sehr schön schreiben, und, wenn man ihm Zeit ließ, auch fast alles lesen. Die Handschrift in dem ersten Buch, das Jonah aufschlug, war sehr schlecht und strebte schräg nach oben, wobei die G und Y sich in den Linien verhedderten. Dies war offenbar ein Tagebuch. Ein anderes Buch, an den Ecken abgegriffen wie das Kassenbuch in der Küche, enthielt Zeilen, die wohl Gedichte sein mussten. »O lächle mir nicht, wenn dein Mund zuletzt«, entzifferte Jonah; die Wörter, anfangs in ziemlich großer Schrift, wurden nach wenigen Zeilen, wo die Streichungen einsetzten, kleiner und krakeliger, wucherten in alle Richtungen quer über die Seite, bis sie sich verdichteten und in der rechten unteren Ecke übereinanderpurzelten. Einzelne Blätter mit Eselsohren steckten zwischen den Seiten, ebenso ein Umschlag, adressiert an »Cecil Valance Esqre, King’s College«, in einer wie gestochenen Schrift, die er sogleich als Georges identifizierte. Er vernahm rasche Schritte auf der Treppe, dann Cecils Stimme: »Hallo? Welches ist mein Zimmer?«

»Hier, Sir«, sagte Jonah, schob den Brief zurück und stellte hastig die Bücher nebeneinander auf den Tisch.

»Ah, bist du mein Bursche?«, fragte Cecil und beherrschte sogleich den Raum.

»Ja, Sir.« Jonah kam sich für einen Augenblick wie ein Verräter vor.

»Ich werde dich kaum benötigen«, sagte Cecil, »und morgens kannst du mich sowieso ganz allein lassen«, zog sein Jackett aus und reichte es Jonah, der es in den Kleiderschrank hängte, ohne die fleckigen Ellbogen zu berühren. Er nahm sich vor, später, wenn die Herrschaften ihr Dinner einnahmen, noch mal wiederzukommen und sich dann unbeobachtet den schmutzigen Kleidern zu widmen. Bis Montagmorgen würde er sich mit allen Sachen von Cecil ausgiebig beschäftigen. »Wie soll ich dich rufen?«, sagte Cecil, als hätte er eine Liste im Kopf zur Auswahl.

»Ich bin Jonah, Sir.«

»Jonah … hm?« Gelegentlich rief der Name Kommentare hervor, und Jonah fing an, die Bücher auf dem Tisch neu zu ordnen. Ob man erkennen konnte, dass er hineingeschaut hatte? »Das sind die Notizbücher mit meinen Gedichten«, sagte Cecil. »Hüte dich davor, sie anzufassen.«

»Sehr wohl, Sir«, sagte Jonah. »Hätte ich sie lieber nicht auspacken sollen?«

»Nein, nein, ist schon gut so«, sagte Cecil arglos. Er band die Krawatte los und knöpfte das Hemd auf. »Schon lange bei der Familie?«

»Seit Weihnachten, Sir.«

Cecil lächelte, als hätte er die Frage mit ihrer Beantwortung bereits vergessen. »Ulkiges kleines Zimmer, nicht?« Da Jonah nicht antwortete, fügte er mit seinem bellenden Lachen hinzu: »Trotzdem, ziemlich charmant, ziemlich charmant.« Jonah hatte das seltsame Gefühl, intim mit jemandem zu verkehren, der ihn gleichzeitig nicht wahrnahm. Es war genau das, wonach man als Diener trachtete, doch in den anderen, kleineren Schlafzimmern hatte man ihn nie in Gespräche verwickelt. Dezent blickte er zu Boden, durfte er doch nicht dabei ertappt werden, wie er Cecils nackten Oberkörper betrachtete. Jetzt holte Cecil sein Kleingeld aus der Hosentasche und knallte es auf den Waschtisch. Jonah sah es und biss sich auf die Lippe. »Und lass mir ein heißes Bad ein«, sagte Cecil, löste die Gürtelschnalle und wackelte mit den Hüften, um die Hose abzuschütteln.

»Ja, Sir«, sagte Jonah, »sofort, Sir«, und glitt mit einem Gefühl der Erleichterung an ihm vorbei ins Badezimmer.

4

Hubert verzichtete an diesem Abend auf ein Bad und begnügte sich mit einer Waschschüssel auf seinem Zimmer. Der Gast sollte die Vorzüge des Hauses genießen, und einigermaßen befriedigt hörte Hubert das gewaltige Planschen nebenan, bedauerte aber auch, während er sich vor dem Spiegel die Krawatte band, dass sein eigenes Opfer, die halbe Stunde in der Wanne, die er sich versagt hatte, praktisch unbemerkt bleiben würde.

Da er nun etwas Zeit gewonnen hatte, begab er sich nach unten in das düstere kleine Zimmer neben dem Eingang, das sein Vater als Büro benutzt hatte und wo auch Hubert gerne seine Briefe schrieb. In Wahrheit führte er nur sehr wenig private Korrespondenz und war sich auch darüber im Klaren, dass er kein Talent dafür besaß. Wenn es einen Brief zu schreiben galt, erledigte er das geschäftsmäßig und prompt. Jetzt setzte er sich an den Eichenschreibtisch, holte das neue Geschenk aus der Innentasche seines Smokings und legte es mit einem leichten Unbehagen auf die Schreibtischunterlage. Er nahm einen Briefbogen aus einer Schublade, tauchte seine Feder in das Tintenfass aus Zinn und schrieb in einer nach links geneigten, kringeligen Schrift:

Mein lieber alter Harry,
ich weiß gar nicht, wie ich mich für das silberne Zigarettenetui bedanken soll. Es ist ein echtes Schmuckstück, Harry, alter Knabe. Bis jetzt habe ich noch keinem davon erzählt, aber nach dem Dinner zeige ich es den anderen. Ich bin schon gespannt auf ihre Gesichter. Du bist wirklich zu generös, so einen Freund wie Dich hat keiner, Harry. So, jetzt wird es aber Zeit fürs Dinner, wir haben nämlich einen neuen Freund von George zu Gast, einen Dichter! Du wirst ihn morgen kennenlernen, wenn Du kommst; er sieht umwerfend aus, das muss ich sagen, aber ich habe noch keine einzige Zeile von ihm gelesen! Hab tausend Dank, Harry, alter Knabe & liebste Grüße von Deinem

Hubert

Hubert drehte das Blatt um und schlug behutsam mit der Faust darauf, um die Tinte auf dem Deckblatt der Unterlage zu löschen. Mit seiner ausladenden Schrift hatte er es geschafft, die letzten Worte auf die Rückseite des gefalteten Bogens hinüberzuziehen, ein Zeichen, dass man nicht aus reiner Pflichterfüllung geschrieben hatte. Der Brief floss angenehm dahin, und beim nochmaligen Lesen war er auch ganz zufrieden mit seinem unterschwelligen Humor. Er steckte ihn in einen Umschlag, schrieb »Harry Hewitt Esq., Mattocks, Harrow Weald« und »Durch Boten« in die rechte untere Ecke und legte ihn auf das Tablett in der Halle, damit Jonah ihn am nächsten Tag hinüberbrachte. Für einen Moment verharrte er, von dem Gedanken ergriffen, dass alles seine formelle Richtigkeit hatte, dass er hier wohnte und Harry drüben in seinem eigenen Haus, und dass zwischen ihnen Briefe verkehrten mit vornehmer Effizienz.