Aus dem Türkischen von Johannes Neuner
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
Behzat Ç. Son Hafriyat
bei İletişim Yayınları, 2008
© İletisim Yayıncılık, 2011
Mit freundlicher Unterstützung durch das TEDA-Projekt
des Kulturministeriums der Republik Türkei
Deutsche Erstausgabe
© 2012 binooki OHG, Berlin
www.binooki.com
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Erhard Waldner
Umschlaggestaltung: Josephine Rank
ISBN (E-Book) 978-3-943562-13-2
ISBN (print) 978-3-943562-04-0
Dem Gedenken meines Vaters Sinan Serbes …
und dem kleinen Arda – herzlich willkommen
in unserem Leben …
»Ohne die Finsternis zu hinterfragen, die aus einem Baby einen Mörder macht, ist alles Tun vergeblich, meine Brüder, meine Schwestern.«
Rakel Dink
23. Januar 2007, aus ihrem Nachruf auf Hrant Dink
Zur Aussprache des Türkischen
c wie dsch in Dschungel
ç wie tsch in Kutsche
ğ weiches, nicht hörbares g;
es verbindet den voranstehenden Vokal
mit dem nachfolgenden Buchstaben
ı kurzes i wie das e in Katze
s stimmloses s wie in Maus
ş wie sch
z stimmhaftes s wie in Hase
Als die Schießerei über Funk gemeldet wurde, fuhren sie gerade am TED-College vorbei in Richtung Kurtuluş. »Wenn diese Durchsagen doch nur einmal dann kämen, wenn wir gerade in die richtige Richtung unterwegs sind«, brummte Harun. Es war Valentinstag und draußen fiel nasskalter Schneeregen.
Behzat Ç. trank den letzten Rest aus seiner in Zeitungspapier gewickelten Bierflasche in einem Zug aus und drehte sie dann zwischen seinen Fingern hin und her. Während ein Model auf der Vorderseite mit einem Arm ihre Brüste bedeckte, kämpften auf der Rückseite Eisbären mit den Folgen der globalen Erwärmung. Behzat Ç. überflog den Eisbären-Artikel und legte die Flasche zwischen seinen Füßen ab. Als er bemerkte, dass Harun letzte Vorbereitungen traf, einen seiner halsbrecherischen U-Turns hinzulegen, ohne auch nur einen Gang runterzuschalten, langte er nach dem Handgriff über dem Seitenfenster. Er schaute auf die Uhr: 23 Uhr 15.
Harun gab Vollgas, riss das Lenkrad herum und zog ruckartig die Handbremse an. Während das Heck des Renault Toros von der Zentrifugalkraft davongetragen wurde, lenkte er gegen, damit sie sich nicht überschlugen. Heraus kam eher ein V- als ein U-Turn. Mit knapper Not brachte Harun den Wagen wieder unter Kontrolle – bei jedem anderen wäre wohl der Rücksitz auf der Strecke geblieben.
Unter Normalbedingungen hätte Behzat Ç. sicherlich eine Bemerkung fallen lassen wie »Mach mal langsam!« oder »Sachte, sachte!«, aber er sagte nichts. Seit über einem Jahr hatte er mit niemandem mehr gesprochen. Nur wenn es gar nicht mehr anders ging, machte er heimlich Stimmübungen, und in solchen Momenten fühlte er sich wie ein Synchronsprecher, der Probleme mit dem richtigen Timing hatte.
Als er sich sicher sein konnte, dass sie die Fahrbahn wieder unter sich hatten und auf dem Weg in Richtung Kızılay waren, kurbelte er das Fenster runter und platzierte mit elegantem Schwung das Blaulicht auf dem Dach des Toros. Das charakterlose Wetter, das zwischen Schnee und Regen hin und her gerissen war, blies seinen feuchtkalten Atem durch das halb geöffnete Fenster ins Innere des Toros. Dem Krankenwagen machten nicht immer alle Platz, aber wenn die Polizei im Rückspiegel erschien, wurde gekuscht.
Auf der Seite des SSK-Gebäudes, wo die Blumenhändler ihre Geschäfte hatten, bogen sie in die für den Verkehr gesperrte Sakarya-Straße ein. Harun wich einem plötzlich auftauchenden Müllwagen aus, und während er noch versuchte, das Steuer wieder in seine Gewalt zu bringen, hielt das Blaulicht den Erschütterungen nicht länger stand und rutschte vom Dach. Auch die rechte vordere Radkappe verselbständigte sich. Als die Straßenverkäufer den Toros im Zickzack auf sich zurasen sahen, rafften sie ihre blinkenden Spielzeuge, ihre Plastikenten und den restlichen Krimskrams zusammen und stoben auseinander wie bei einer Razzia. Ein, zwei Blumenhändler, die um ihre Besitztümer fürchteten, schafften zumindest die Rosensträuße ins Innere ihrer Läden. Ein Betrunkener griff nach der ausrollenden Radkappe und rief dem Toros hinterher: »He, Jungs! Seid ihr vom FBI, oder was?« Erst da erinnerte Harun sich daran, dass sich unter seinen Füßen auch ein Bremspedal befand. Er trat mit voller Wucht darauf, die Hinterräder blockierten, und sie schlidderten noch ein gutes Stück weiter, bis sie schließlich genau an der richtigen Stelle zum Stehen kamen – mitten im Kugelhagel. Behzat Ç. schaute auf die Uhr: 23 Uhr 19.
Während Harun sich mit dem Rückwärtsgang abmühte – die sensibelste Stelle eines Toros, die viel Fingerspitzengefühl verlangt –, maulte er: »Sogar die von der Sitte sind schon auf den Mégane umgestiegen, und wir sitzen immer noch in dieser Schrottlaube von Toros. Ah! Da ist ja auch schon der Geier.«
Der »Geier« war hinter der unförmigen, von Ankaragücü-Fans besprühten Skulptur zwischen dem Hosta Piknik und den Blumenläden in Deckung gegangen. Es war unmöglich, vor ihm an einem Tatort zu sein – man nannte ihn nicht umsonst den Geier. Er winkte Harun zu und rief: »Kommt hier rüber!« Dann schoss er zweimal in die Luft. »Waffen weg! Polizei!« Doch die Männer in den schwarzen Jacketts machten keinerlei Anstalten, seiner Aufforderung Folge zu leisten. Sie hatten sich hinter den Fischständen verschanzt und feuerten in Richtung SSK-Eingang.
Harun manövrierte den Toros hinter die Skulptur, und sie stiegen aus. Während Behzat Ç. seine leere Bierflasche in einen Abfalleimer warf, nahm er die Gerüche des Tatorts in sich auf. Es war eine wilde Mischung aus faulenden Blumen, frischem Müll, Köfte, Kokoreç, Döner Kebap und dem Geruch von Pulverdampf. Der Geier, obwohl zusammengekauert, saß doch da wie auf einem Präsentierteller, denn der finnische Bildhauer war sparsam mit dem Stein umgegangen, vielleicht zu sparsam.
»Worum zanken die sich?«, fragte Harun den Geier.
»Um Schutzgeld.«
»Und wo sind die anderen?«
»Zwei an dem Geldautomaten vor dem SSK. Und einer hockt hinter den Bierfässern.«
»Ah! Der Geist kommt auch schon angeschwebt.«
Der »Geist« war ein kalkweißer, spindeldürrer Mann mit tiefliegenden Augen, und seine Gesichtshaut schien direkt über die Schädelknochen gespannt zu sein. Er trug ein sommerliches Jackett und darunter das gleiche schimmelgrüne, kurzärmelige Hemd, das er schon seit mindestens einhundert Jahren anzog. Er glitt an einem Polizeihäuschen vorüber, als bewegte er sich auf einem unsichtbaren Schienensystem.
Behzat Ç. wies mit dem Zeigefinger in die gegenüberliegende Richtung und formte seine Hand zum Hörer. Harun, der die Geste seines Vorgesetzten registriert hatte, nahm das Funkgerät zur Hand: »45 32 an Zentrale.«
»Zentrale hört, 45 32.«
»Haben die Seite mit der Skulptur eingenommen, die andere Einheit soll vom Becken her kommen. Ende.«
»Von welchem Becken?«
»Na, von dem Becken, wo immer die ganzen Leute sitzen und Bier trinken.«
»Gibt’s das noch? Das wurde doch zugeschüttet.«
»Ist ja gut, Zentrale! Von da sollen sie jedenfalls kommen.«
»Verstanden. Ende.«
Behzat Ç. bedachte Haruns Anweisung mit einem Kopfnicken und steckte sich eine 216 in den Mundwinkel. Seine Hände zitterten stark, sodass die Umarmung zwischen Flamme und Tabak ein wenig auf sich warten ließ. Der Rauch war noch nicht in seine Lunge vorgedrungen, da spürte er, wie eine kleine Hand am Saum seines samtenen Jacketts zupfte. Er drehte sich um und sah ein etwa sechsjähriges Kerlchen vor sich stehen.
»Brauchst du Selpaks?«
Der kleine Junge streckte ein Päckchen Taschentücher so weit wie möglich zu ihm hoch. Aus seiner Nase lief Rotz, der über seinen Lippen verkrustet war. In dem Moment pfiff eine Kugel vorbei und traf Behzat Ç.s Schatten mitten ins Herz.
»Chef, zieh dich zurück!«, brüllte Harun.
In Windeseile packte Behzat Ç. den kleinen Taschentuchverkäufer unter den Achseln und setzte ihn hinter dem Tresen eines Kokoreç-Standes ab. Mit erhobenem Zeigefinger ermahnte er ihn, sich nicht vom Fleck zu rühren. Als er sich wieder umdrehte, starrten die drei anderen Polizisten alle in die gleiche Richtung. Ein Mädchen in rotem Mantel war an dem zugeschütteten Becken vorbeigerannt und hatte sich auf der Flucht vor den Schüssen plötzlich mitten im Kreuzfeuer wiedergefunden.
Harun schrie: »Leg dich auf den Boden! Auf den Boden!«
Das Mädchen aber stand stocksteif da, die Arme zu beiden Seiten gestreckt.
Behzat Ç. schaute zu dem Mädchen im roten Mantel hinüber und sah sie. Er schloss die Augen. Seine Schläfen pochten. Beruhige dich, du hast dich geirrt, sie ist es nicht. Er öffnete die Augen: Es war sie. Er öffnete den Druckknopf seines Holsters, zog den Browning und lief los. Drei Schritte später rannte er bereits, ohne es zu merken. »Chef, bleib stehen!«, schrie Harun ihm hinterher.
Als die Hand hinter dem Bierfass den Abzug drückte, fuhr das Mädchen im roten Mantel zusammen. Ganz so, wie jemand zusammenfährt und für einen Augenblick erstarrt, den man von hinten mit Wasser bespritzt, während er sich langsam ins Meer vortastet, um sich an die Kälte zu gewöhnen. Sie machte noch zwei Schritte auf Behzat Ç. zu, beim dritten brach sie zusammen.
Als auch von der anderen Seite eine Polizeieinheit anrückte, nahmen die Männer in den schwarzen Jacketts Reißaus, vorbei am NET Piknik und in Richtung der Neuen Bühne, deren Abriss sich wohl noch eine Weile hinziehen würde. Harun heftete sich dem Mann, der von hinter dem Bierfass aus gefeuert hatte, an die Fersen und verschwand hinter ihm im SSK.
Behzat Ç. blieb bei ihr. Nach und nach scharte sich eine neugierige Menschenmenge um sie. Handys begannen mit der Aufnahme.
»Ey, film das, das stellen wir auf YouTube.«
Mit dem Handrücken versetzte der Geier einem Mann, der mit seiner Handykamera amateurhaften Katastrophenjournalismus betrieb, einen Hieb. Der fuhr ihn an: »Was schlägst du mich, Mann!?«
»Zieh Leine! Sonst ist dein Telefon gleich Schrott.«
Als sie aufgehört hatte zu atmen, breiteten sie die Sportseite der Posta über ihr aus. Jemand legte noch einen Stein darauf, damit das Papier nicht weggeweht wurde.
»Wo wart ihr so lange? Sind wir hier in Texas?«, schnauzte einer, der alles mitangesehen hatte, die Polizisten an.
»Was soll die Polizei gegen die schon unternehmen? Die sind doch von der Mafia«, meinte sein Begleiter.
»Sei du bloß still, du Waschlappen!«, fuhr der Erste ihn an. Ein anderer mischte sich ein: »Sprich nicht so mit Bahattin. Er meint’s doch nur gut.«
Als der Kokoreç-Verkäufer sich vergewissert hatte, dass Ruhe und Ordnung wiederhergestellt waren, tauchte er hinter seinem Tresen auf und versetzte als Erstes dem kleinen Taschentuchverkäufer, der dort Deckung gesucht hatte, laut fluchend einen Tritt. Dann griff er nach seinem Messer und begann seinen altbekannten Zweiviertelrhythmus aufs Brett zu klopfen. Tack tackatack tack … Tack tackatack tack …
Behzat Ç. ging neben Köter 3, der ein abgehacktes Bellen ausstieß, in die Hocke. Als Köter 3 erkannte, dass sich außer Behzat Ç. niemand für sein Kläffen zu interessieren schien, ließ er sich auf sein Hinterteil sinken und begann sich mit der Pfote am Rücken zu kratzen. Er war ein gewöhnlicher Straßenhund, und sein Fell triefte vom Schneeregen. Im Ohr trug er einen blauen Ring, den das Veterinäramt ihm eingestanzt hatte. Seinen Namen hatte er vom Kioskbesitzer an der Ecke.
Eine winzige Hand tippte Behzat Ç. an die Schulter.
»Brauchst du Selpaks?«
Behzat Ç.s leerer Blick blieb starr auf Köter 3 gerichtet. Nachdem der kleine Taschentuchverkäufer noch mehrmals hatte nachfragen müssen, ohne eine Antwort zu bekommen, stieß er einen ärgerlichen Fluch aus und rannte davon. Vor dem Doktor Köftecisi blieb er stehen und sah mit Erleichterung, dass Behzat Ç. ihm nicht auf den Fersen war. Er wischte sich den Rotz am Ärmel ab und machte sich auf die Suche nach anderen Kunden.
Die allmählich lauter werdende Krankenwagensirene übertönte erst das Klopfen des Kokoreç-Verkäufers und bald auch alle anderen Geräusche. Die Sportseite, die man über sie gebreitet hatte, flatterte im Wind. Sie war 20, höchstens 21 Jahre alt. In ihrem Gesicht lag jener Ausdruck junger Mädchen, die umso schöner werden, je mehr sie sich aufregen. Eine zierliche Nase, deren Spitze von der Kälte gerötet war. Schmale, leicht geöffnete Lippen, die zu lächeln schienen. Die fehlgegangene Kugel hatte sie im Nacken getroffen, genau dort, wo ihr Freund sie hätte küssen sollen. Behzat Ç. presste seine Hand auf die Wunde. Während der schmutzige Schnee ihr Blut aufsaugte, war ihr Blick an einem zehn Meter entfernten städtischen Hinweisschild hängengeblieben: »Jetzt ist Ankara besonders schön.«
Behzat Ç., Hauptkommissar bei der Mordkommission, Experte für Verbrechen gegen Leib und Leben, betrachtete das Blut, das sich im schmutzigen Schnee ausbreitete wie ein Tintenfleck, und wieder sah er sie. Er schloss die Augen. Beruhige dich, du hast dich geirrt, sie ist es nicht. Er öffnete die Augen: Es war sie. Mit dem Handteller seiner Rechten ließ er das Magazin seines Brownings einrasten. Er feuerte zweimal in die Luft. Dann lief er in Richtung des SSK, um den zu finden, der sie erschossen hatte.
An seinem dreißigsten Geburtstag setzte Lucky Luke seiner großen Suche ein Ende und klopfte an die Tür des berühmten Therapeuten in der Tunalı-Hilmi-Straße. Selma öffnete. Eine Frau wie ein Verbotsschild: »Hier darf man nicht rauchen«, sagte sie.
»Wer raucht denn hier?«
Selma bemerkte, dass die Maltepe, die aus Lucky Lukes Mundwinkel hing, gar nicht brannte. »Ihr Termin ist um vier, nicht wahr?«, fragte sie.
»Ich glaube, ja.«
»Das sind noch zwanzig Minuten.«
»Kann schon sein.«
»Kommen Sie zu Ihren Terminen immer so früh?«
»Fragst du immer so viel?«
Selma kehrte mit einem bitteren Lächeln zu ihrem Schreibtisch am Empfang zurück. Wahrscheinlich war sie Sekretärin. Lucky Luke blieb im satingestrichenen Wartezimmer zurück. Er nahm in einer Ecke des dreisitzigen Sofas Platz, knöpfte seine schwarze Weste auf und zupfte den Kragen seines gelben Hemds zurecht. Wollten sie jetzt noch in Blickkontakt treten, würde sich einer von ihnen den Hals verrenken müssen. Es war Selma, die das eine Weile später als Erste tat, und ihre Wange berührte fast die Tischplatte, als sie fragte: »Trinken Sie Nescafé?«
»Jeden Morgen.«
Selma orderte zwei Nescafés, einen davon koffeinfrei. Am Abend würde sie sich mit Refik treffen, ihrem Geliebten. Ob der Professor ihr wohl erlauben würde, früher Schluss zu machen? Wenn es nach Selma ginge, hätte man den Valentinstag längst zum gesetzlichen Feiertag erklärt.
Lucky Luke betrachtete unterdessen zwei Wartezimmergemälde, die ernstlich seinem Seelenheil schadeten. Dabei lauschte er dem ohrenbetäubenden Gezwitscher eines grün-gelben Wellensittichs, der von seinem Käfig vor dem Fenster aus die Straße beobachtete. Ohne sich den Hals zu verrenken fragte er: »Der Vogel hier heißt nicht zufälligerweise Ego-Man?«
»Nein, Piepmatz.«
Um sich die Zeit zu vertreiben, griff er nach der auf einem Glastisch ausliegenden Cosmopolitan. Er wog sie in seiner Hand – bestimmt anderthalb Kilo, davon aber 75 Prozent Reklame. So bekommen Sie Ihren Mann in den Griff. 14 Sexideen, die Sie noch nie ausprobiert haben. Rot ist die Modefarbe des Jahres. Schick: Handtaschen ohne Tragegurt.
Der richtige Nescafé – der koffeinhaltige – traf im selben Moment ein wie der Professor. Die Tasse mit einer Hand balancierend, schüttelte Lucky Luke mit der anderen die des Professors. Dieser trug zu seinem Erstaunen weder Brille noch Krawatte, ja, sein Haar hatte nicht einmal einen Grauschimmer. Als sie das Sprechzimmer betraten, hielt Lucky Luke Ausschau nach der obligatorischen Couch – wieder Fehlanzeige –, und in ihm mehrten sich die Zweifel, ob es sich bei dem Kerl überhaupt um einen Professor handelte. Während er so tat, als suche er nach einer Sitzgelegenheit, inspizierte er das Diplom, das in einem Rahmen an der Wand hing. Dann ließ er sich in den Ledersessel vor dem Schreibtisch sinken. Der Professor setzte sich ihm gegenüber. »Möchtest du rauchen?«
»Nein, ich habe aufgehört.«
»Seit wann?«
»Seit heute. Stört es dich, dass ich ’ne Kippe im Mund habe?«
»Nein. Ich verstehe das.«
»Was verstehst du?«
»Mir fiel das Aufhören auch verdammt schwer.«
»Na dann … Ich bin auf Empfehlung eines Freundes hier. Muss ich jetzt von meiner Kindheit erzählen?«
Der Professor stellte seine erste Diagnose: ›Latent aggressiv. Kompensiert seine Furcht durch Scherze.‹
Lucky Luke stellte ebenfalls seine erste Diagnose: ›Was für ein Weichei. Keinen Sinn für Humor.‹
»Wo hast du sie denn verbracht, deine Kindheit?«, fragte der Professor.
»Im Heim. Jedenfalls ab meinem siebten Lebensjahr. Wieso? Sind wir Landsleute?«
»Wo kommst du denn her?«
Lucky Luke lachte. »I’m a poor lonesome cowboy, and a long way from home.«
Mit Putzzeug bewaffnet, betraten sie das Büro von Heimdirektor Hayri Baba. Lucky Luke, Pembo und Hasan Gorbatschow. »Bis der Herr Direktor wiederkommt, ist hier alles blitzeblank!«, wies Hausmeister Rakım Efendi sie an, bevor er die Tür schloss. Lucky Luke widmete sich zunächst der Atatürk-Büste oben auf dem Schrank, die im Falle eines Brandes als Allererstes in Sicherheit gebracht werden würde, und begann sie abzustauben. Pembo übernahm den Wischmop. Der Stiel war länger als er selbst.
Hasan Gorbatschow, bei gemeinschaftlich ausgeführten Arbeiten immer darauf bedacht, sich irgendwie aus der Affäre zu ziehen, beschloss die Gelegenheit zu nutzen. Schließlich war er schon neun und hätte damit der große Bruder der beiden anderen sein können. Also ging er zu dem Aquarium hinter dem Schreibtisch und drückte sich an der Glasscheibe die Nase platt. Bald war er völlig in die Betrachtung der japanischen Fische versunken, die still ihre Bahnen zogen.
Als Lucky Luke die Büste fertig abgestaubt hatte, packte ihn die Neugierde, und er beschloss, einen Blick in ihr Innenleben zu werfen. Es kostete ihn viel Kraft, sie hochzuwuchten und umzudrehen, denn schließlich war er gerade einmal siebeneinhalb Jahre alt. Um ein Haar wäre er mitsamt der Atatürk-Büste von dem Stuhl gestürzt, auf dem er stand, und hätte sich damit garantiert eine ordentliche Tracht Prügel eingehandelt. Er wusste zwar nicht, was er erwartet hatte, aber als er sah, dass im Inneren der Büste gähnende Leere herrschte, war er doch ein wenig enttäuscht.
Draußen regnete es in Strömen. Während die Tropfen immer lauter gegen die Rollläden schlugen, löste Hasan Gorbatschow seinen Blick vom Aquarium, drehte sich zu Lucky Luke um und sagte: »Deine Eltern sollen ja Terroristen gewesen sein.« Für einen Moment erwog Lucky Luke, ihm die Büste an den Kopf zu pfeffern, doch als ihm klar wurde, dass er ihn nur verfehlen konnte, beließ er es bei einem Achselzucken. Pembo aber hatte den Wischmop fallen lassen und machte große Augen. Nachdem er sich die Reste seiner geplatzten Kaugummiblase aus dem Gesicht gepickt hatte, fragte er: »Was ist ein Tettorist?« Hasan Gorbatschow antwortete nicht gleich, aus Rücksicht auf Lucky Luke, der vielleicht selbst das Bedürfnis verspürte, etwas dazu zu sagen. Wieder fragte Pembo: »Was ist ein Tettorist?«
»Nicht Tettorist, Terrorist«, korrigierte Hasan Gorbatschow. Darauf ließ er eine Definition folgen, die dem Wörterbuch der türkischen Sprachgesellschaft alle Ehre gemacht hätte: »Terrorist nennt man einen Terroristen, der mit Waffengewalt Menschen umbringt.« Der sechseinhalbjährige Pembo war ganz durcheinander. Im Geiste erwog er verschiedene Möglichkeiten. Er siebte Captain Micki sowie Tim und Struppi aus und fragte: »Also so einer wie Lucky Luke?«
»Mann, bist du dumm«, sagte Hasan Gorbatschow. »Hat Lucky Luke vielleicht irgendwelche Menschen umgebracht?« Pembo kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Nein, hat er nicht«, antwortete er kleinlaut. Da er noch nicht zur Schule ging, kannte er Comic-Helden nur von Bildern und aus Erzählungen derjenigen, die die Kinderbeilage der Milliyet lasen. Ganz im Stil eines ausgewiesenen Experten für das Thema fuhr Hasan Gorbatschow fort: »Natürlich nicht. Hast du nicht Der Daily Star gelesen? Lucky Luke schießt nur, wenn er provoziert wird, und dann auch nur auf Waffen. Aber Terroristen sind anders, die bringen einen um.«
»Wen bringen die um?«
»Babys. Und Soldaten.«
Nachdem Pembo erneut lange und gründlich nachgedacht hatte, fragte er: »Wie die Daltons?«
»Ja, so ungefähr.«
Pembo war geknickt. Mitleidig sah er zu Lucky Luke hinüber, denn er mochte ihn. Als beim Kinderfest am 23. April Chocomel ausgeteilt worden war, war er, weil er noch so klein war, leer ausgegangen, doch Lucky Luke hatte zwei ergattert und ihm eins abgegeben. Weil auch ihre Betten nebeneinander lagen, wollte er es sich mit diesem Jungen, in dem er einen strategischen Partner sah, nicht verscherzen. Also hakte er nicht weiter nach.
Lucky Luke indes hatte sich während der Terrorismusdebatte damit begnügt, Hasan Gorbatschow feindselige Blicke zuzuwerfen. Zwar hatte er für einen Moment darüber nachgedacht, ihn auf den Dreck am eigenen Stecken hinzuweisen, doch das hatte er sich aus irgendeinem Grund dann doch verkniffen. Ohnehin sollte noch viel Zeit vergehen, bis Hasan der Spitzname Gorbatschow verpasst werden würde, und vorerst war er in Heimkreisen allgemein als Hasan der Bastard bekannt.
Lucky Luke machte sich daran, den Blumentopf am Fenster abzustauben. Dabei fiel ihm ein Wasserglas ins Auge, das jemand neben dem Topf vergessen hatte, und er drehte es in seinen Händen hin und her. Es war ein Glas der Marke Paşabahçe Palaks, das man in der Regel dann vorgesetzt bekam, wenn man in einem Café einen doppelten Tee bestellte.
Hasan Gorbatschow wandte sich wieder den Fischen zu und fragte: »Wo haben die denn eigentlich ihr Futter?« Die Antwort auf seine Frage fand er, als er das Schränkchen unter dem Aquarium zu durchforsten begann. Freudig wedelte er mit einer Packung Fischfutter. So versammelten sich die drei Jungen um die drei japanischen Fische, die in dem Aquarium schwammen.
Drei Dinge gab es im Leben von Heimleiter Hayri Baba, die er über alles liebte: Tussi, Einstein und Fritz Fischer. Wollte man hier abstrahieren, alle drei in die gleiche Schublade werfen und behaupten: »Am meisten in seinem Leben liebte Hayri Baba seine japanischen Fische«, dann läge man damit meilenweit daneben. Denn Hayri Baba legte großen Wert darauf festzustellen, dass jeder seiner Fische sein ganz eigenes Temperament besaß. Einstein zum Beispiel vergaß nichts. Und Fritz Fischers Name sprach doch ohnehin für sich. Jetzt schrie Hayri Baba: »Die haben sich ja wohl nicht einfach in Luft aufgelöst!«
Die drei Jungen hatten sich vor Hayri Baba aufstellen müssen. Im Aquarium war kein japanischer Fisch mehr zu sehen. Hausmeister Rakım Efendi fuhr sie an: »Wer von euch hat sie da rausgeholt? Raus mit der Sprache!« Doch Hayri Baba brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Er hatte begriffen, dass es einiger pädagogischer Finessen bedurfte, dieses Rätsel zu lösen. »Schaut, Kinder«, sprach er mit sanfter Stimme, »ihr braucht keine Angst zu haben. Sagt mir nur, was ihr mit ihnen gemacht habt. Dann kaufe ich euch haargenau das gleiche Aquarium. Und drei japanische Fische tue ich auch hinein.«
Hasan Gorbatschow und Pembo freuten sich über dieses Versprechen. Ein schiefes Grinsen breitete sich über ihre Gesichter. Beide hatten Lucky Luke im Verdacht. Hasan Gorbatschow zeigte mit dem Finger auf den vermeintlichen Übeltäter und sagte: »Er hat sie da rausgenommen, Hayri Baba. Gib’s doch zu, du warst das, oder? Guck mal, Hayri Baba, ich war mit Pembo auf dem Klo und der da ist alleine hiergeblieben. Da hat er sie bestimmt da rausgeholt. Seine Eltern waren ja auch Terroristen. Er war’s hundertpro.«
»Wo hast du denn das mit den Terroristen her, hm?«, erkundigte sich Hayri Baba.
»Ich habe gehört, wie ihr mal darüber gesprochen habt, Hayri Baba. Neulich Abend …«
Hayri Baba verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. »Du belauschst uns heimlich?«
Hasan Gorbatschow hielt sich die Wange. »Nein, Hayri Baba!«
»Er hat aber auch die Fische gefüttert, bevor sie verschwunden sind«, petzte Pembo.
»Ach, und wo hattest du das Futter her?«, fragte Hayri Baba.
Pembo zeigte mit dem Finger auf das Schränkchen: »Da hat er drin rumgewühlt.« Hayri Baba gab Hasan Gorbatschow eine weitere Ohrfeige. »Ihr durchsucht heimlich mein Büro?«
Hasan Gorbatschow hatte angefangen zu weinen. Er wischte sich mit einer Hand über die Nase und erhob sie dann fuchtelnd gegen Pembo: »Du miese Ratte! Ich dachte, wir wären beste Freunde.«
Um Gerechtigkeit walten zu lassen, verpasste Hayri Baba auch noch Pembo und Lucky Luke je eine Ohrfeige. »Und wo sind meine Fische jetzt, zum Teufel noch mal? Wer von euch hat sie mir weggenommen?«
Pembo hielt sich die gerötete Wange, und mit den Worten »Hör auf, uns zu schlagen, du Arschloch!« trat er dem Direktor mit der Spitze seiner Schuhe (Größe 28) ans Schienbein. Stille senkte sich über den Raum. Hayri Baba und Rakım Efendi sahen Pembo ungläubig an. Hayri Baba klopfte sich mit dem Handrücken die Hose aus.
Pembo war eigentlich ein braver Junge, doch sein Recht auf Notwehr bedeutete ihm viel. Sein Vater, den er nur einmal im Leben gesehen hatte – letztes Jahr war er an einem Feiertag zu Besuch gekommen –, hatte ihm gesagt: »Du darfst vor nichts und niemandem Angst haben. Wenn jemand dich beschimpft, schimpf zurück, geh keiner Auseinandersetzung aus dem Weg.« Diese Worte hatte er seitdem zu seiner Lebensphilosophie gemacht, und so hatte er seit einem Jahr keine Gelegenheit ausgelassen, sich Prügel einzuhandeln. Von Gorbatschow als miese Ratte bezeichnet zu werden, das ging ja noch an – denn der nannte schließlich jeden so –, aber davon abgesehen ertrug Pembo keinerlei Beleidigung oder böses Wort. Er strebte immer gleich nach Vergeltung, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. Als Hayri Baba gleich drei Ohrfeigen hintereinander niedersausen ließ, wusste er gar nicht mehr, wie ihm geschah.
Hasan Gorbatschow klammerte sich an Pembo und beteuerte: »Wir haben sie wirklich nicht, Hayri Baba. Ich schwöre Stein und Bein!« Lucky Luke schwieg. Hayri Baba schubste Hasan Gorbatschow und Pembo davon: »Ihr geht jetzt mal raus und wartet vor der Tür!«
Als Lucky Luke alleine vor ihm stand, nahm Hayri Baba sich eine Maltepe vom Tisch. Hätte er die Schachtel genauer unter die Lupe genommen, so wären ihm sicherlich die fehlenden Zigaretten aufgefallen. Noch bevor er zum Feuerzeug greifen konnte, war Rakım Efendi bereits zur Stelle und gab ihm Feuer. Als er die Wirkung des Nikotins spürte, beruhigte sich Hayri Baba wieder ein wenig. »Sag es mir doch einfach, wenn du sie genommen hast. Ich bin dir auch ganz sicher nicht böse. So rede doch, mein Junge. Ich bin doch wie ein Vater für dich.«
Als Lucky Luke wieder nur mit den Achseln zuckte, rastete Hayri Baba aus. Den Rauch der Maltepe in seinem Mundwinkel ausstoßend, packte er ihn am Kragen und fing an, ihn durchzuschütteln. »Sperr endlich dein Maul auf, du Hund! Wo sind meine Fische? Rede mit mir! Raus mit der Sprache! Sprich, verdammt!«
Behzat Ç. hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt und betrachtete aufmerksam die Decke. Seit sein Büro mit Satinfarbe gestrichen worden war, erforderte es viel Phantasie, aus der völlig ebenmäßigen Fläche Figuren herauszulesen. In dem Moment klopfte Selim an die Tür und sagte: »Die Inspektoren sind da, Chef.« Behzat Ç. nickte, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
Selim trug eine Lederjacke, und sein Haar wurde von einem Gummi zusammengehalten. Harun, der gerade einen Obstmuffın aus seinem Papierförmchen schälte, sandte ihm einen wütenden Blick hinterher: »Dieser Typ lässt sich die Haare wachsen wie ein Weib. Wieso sagt da eigentlich keiner was?« Mit einem Auge taxierte er seinen Vorgesetzten. Behzat Ç. war immer noch völlig unbeteiligt, er konzentrierte sich ganz auf die Decke, wo er in einer Ecke so etwas wie eine Seitenauslinie entdeckt zu haben glaubte.
»Das ist eben das neue Image der Polizei«, stellte Cevdet fest, der Harun gegenüber saß.
»Auf so ein Image kann ich verzichten«, erwiderte Harun und beugte sich zu Cevdet hinüber. »Wenn er sich die Haare wachsen lassen will, soll er von mir aus zur Drogenfahndung gehen, aber was hat so einer bei der Mordkommission zu suchen?«
»Warum? Gibt es eine Vorschrift, nach der man bei der Mordkommission keine langen Haare tragen darf?«
»Und ob es die gibt! Mann, wenn der bei uns durchs Viertel gehen würde, dann würde der aber richtig was auf die Fresse kriegen. Und wenn er sagt, dass er Polizist ist, gibt’s gleich noch ein paar oben drauf, von wegen: Was ist denn das für’n Bulle?«
Behzat Ç. zerrte am Kragen seines Pullovers. Er spürte einen Druck auf der Brust und bekam kaum noch Luft. Er gab die Hoffnung auf die Seitenauslinie auf, erhob sich und öffnete das graue Fenster, das auf den Parkplatz hinausging. Eine laue Brise wehte ihm ins Gesicht.
Cevdet seufzte und sagte mit dem Pathos eines Tschechow-Stücks: »Ein richtiger Spätsommertag. Vor zwei Tagen noch Schneeregen. Und jetzt sieh sich einer dieses Wetter an. Die globale …« Harun, der ahnte, welche Richtung das Gespräch nehmen würde, schnitt Cevdet das Wort ab: »Die globale Erwärmung interessiert mich einen Scheißdreck.« Dann stopfte er sich den Muffın, den er bereits einige Zeit angesehen hatte, in einem Stück in den Mund. Kauend brummte er: »Da sollen sich die Eisbären drum kümmern.«
Cevdet blickte Harun mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck an. Er konnte nicht verstehen, wie ein Mensch dermaßen abgestumpft sein konnte. Da er nur aufgrund eines Gesetzes, das arbeitslosen Akademikern den Zugang zum Polizeidienst eröffnet hatte, bei der Mordkommission gelandet war, war er es ja gewohnt, dass seine Ansichten nicht ernst genommen wurden. Aber zu einem solchen Thema, bei dem er doch mehr oder weniger als Fachmann gelten konnte – er war eigentlich Agraringenieur –, wollte er nicht schweigen. Er war fest entschlossen, vom Treibhauseffekt zu sprechen, von Temperaturstatistiken und davon, dass sie in Ankara gerade den trockensten Winter seit einundvierzig Jahren erlebten, selbst wenn Harun von alledem nicht viel verstand.
Doch noch ehe Cevdet dazu ansetzen konnte, schnauzte Harun ihn an: »Halt ja den Mund! Der Inspektor macht mir schon Kopfzerbrechen genug.« Nachdem er das Papierförmchen seines Muffıns zusammengeknüllt und knapp am Abfalleimer vorbeigeworfen hatte, fügte er hinzu: »Vor zehn Jahren habt ihr noch vom Ozonloch geredet. Und jetzt, wo ihr’s anscheinend zugenäht habt, haben wir die globale Erwärmung am Hals.«
Tahsin, Vizedirektor des Dezernats für Mord- und Raubdelikte, betrat in Begleitung des Geistes den Raum. Genauer gesagt schob sich zunächst Tahsins Bauch herein, und erst einige Zeit später stellte sich heraus, dass auch der Geist dabei war. Die beiden warfen Cevdet einen unmissverständlichen Blick zu. Cevdet, der begriff, dass man unter sich zu sein wünschte, stand hastig auf, wobei er seinen Stuhl umkippte und das schnurlose Telefon herunterriss. »Immer mit der Ruhe!«, sagte Harun. »Mit deinem Arsch könntest du Berge plattmachen. Und verschon mich bitte in Zukunft mit deinen globalen Eisbären.«
Cevdet verließ gekränkt den Raum, und während er die Tür hinter sich schloss, rief Tahsin ihm hinterher: »Bringst du uns einen Tee mit?« »Mir reicht’s, verdammt!«, brüllte Cevdet vom Flur aus zurück. Selim kam hinzugeeilt und wollte wissen, was los sei, doch Cevdet murmelte nur: »Ach, lass gut sein«, und schluckte seinen Ärger hinunter.
Tahsin hatte eine Tatortskizze, die er tags zuvor angefertigt hatte, auf Behzat Ç.s Schreibtisch ausgebreitet. »Jetzt wird’s ernst, Jungs. Schaut bitte alle mal hierher!« Die vier Polizisten beugten sich über die Skizze. Behzat Ç. reichte seine Schachtel 216 reihum. Der Geist bediente sich, Harun, der nur alle zwei Tage drei Zigaretten rauchte, winkte ab, und Tahsin sagte: »Ich habe aufgehört.« Es gab zwei Typen von Menschen, die Behzat Ç. nie verstehen würde: Die einen brachten Kinder um, die anderen gaben das Rauchen auf. Wobei er das Verhalten Ersterer aufgrund seiner Berufserfahrung wenigstens in Ansätzen nachvollziehen konnte … Während er Tahsin einen missbilligenden Blick zuwarf, hörte er nicht, wie Harun fragte: »Nach zwei Tagen schicken die schon einen Inspektor?«
Tahsin sagte: »So ist das jetzt. Sofortige Intervention. Nachdem dieser Armenier erschossen wurde, geht alles drunter und drüber, sogar Direktoren haben inzwischen oft nach einem Tag schon wieder ausgedient. Ich bin also momentan schlechter dran als ihr.« Da Tahsin zurzeit den im Urlaub befindlichen Dezernatsleiter vertrat, hatte er, der ja eigentlich nur Vizedirektor war, bereits begonnen, sich selbst zum Kreise der Direktoren zu zählen. »Nun denn«, griff er das eigentliche Thema wieder auf, »das hier ist das SSK-Gebäude. Und das da sind die öffentlichen Toiletten, vor denen sich alles abgespielt hat …« Er wurde vom Schnarren des Telefons unterbrochen.
Harun nahm ab. »Hallo? Wie bitte? Wer?« Er legte eine Pause ein, dann lächelte er und fuhr fort: »Sehr erfreut, und ich bin Micky Maus. Ich höre?« Gewohnheitsmäßig nahm er drei Kugelschreiber aus dem Stifthalter – falls einer nicht schreiben sollte, würde es ein anderer tun – und klickte mit dem Daumen auf einen davon. Dann zog er Tahsins Tatortskizze zu sich heran und begann sich am Rand Notizen zu machen. »Wo? Im Schwanenpark, soso. Einen Hund? Was für einen Hund? In ein Paket? Wieso packst du einen Hund in ein Paket? Was hast du gemacht? Ihn begraben? Was? Okay, du hast ihn also begraben.« Harun überlegte zweieinhalb Sekunden, dann war das Lächeln aus seinem Gesicht verschwunden.
Die Polizisten sahen ihn fragend an. Harun polterte los: »Hör mal zu, Freundchen, weißt du, was ich mit dir machen werde? Über deine Nummer werde ich herausfinden, wo du wohnst und wie du heißt, und dann komme ich und mache Kleinholz aus dir! Wenn du auf Scherzanrufe stehst, dann ruf von mir aus die 112 an. Also, überleg’s dir von jetzt an besser zweimal.«
Als Harun aufgelegt hatte, fragten Tahsin und der Geist im Duett: »Wer war das denn?«
»Lucky Luke.«
»Lucky wer?«
»Irgend so ein Gestörter, der sich Lucky Luke nennt. Er behauptet, im Schwanenpark ein Paket vergraben zu haben, und in dem Paket sei ein Hund.«
»Und warum ruft er dann bei der Mordkommission an?«, übernahm der Geist den Solopart.
»Was weiß ich?«
Harun wandte sich Tahsin zu: »Chef«, schon fühlte Tahsin sich leicht gekränkt, denn er wurde lieber als Herr Direktor angeredet, »sagt doch mal den Mädchen von der 155, die sollen nicht jedem gleich die Nummer von der Mordkommission geben.«
»Sollen wir herausfinden, von wo der Anruf kam?«, fragte der Geist.
»Nicht nötig«, erwiderte Tahsin. »Sagt lieber dem Geier Bescheid, er soll sich mal ein bisschen umsehen. Wo ist er überhaupt?«
»Na, wo wohl? Im Numune-Krankenhaus.«
»Was macht er da?«
»Na, was wohl? Es gab mal wieder Verletzte.«
»Also gut, lassen wir das.« Tahsin zog die Tatortskizze wieder zu sich herüber. Durch Schläge mit der Abschlussperle seiner Gebetskette – die er ständig mit sich herumtrug, seit er das Rauchen aufgegeben hatte – wies er jedem seinen Platz zu. »Das große Quadrat hier ist der Innenhof des SSK-Gebäudes. Das da sind die öffentlichen Toiletten, vor denen sich alles abgespielt hat. Jetzt merkt sich jeder seine Position. Du warst hier. Du hinter ihm. Ihr habt den Typen zweimal aufgefordert, stehenzubleiben. Es bestand die Gefahr, dass er aus dem SSK rausläuft und sich in die Menge mischt.« An den Geist gewandt, fügte er hinzu: »Du warst nicht dabei. Du hast nichts gesehen.«
»Okay«, bestätigte einer nach dem anderen. Er hatte ihnen das alles schon hundertmal erklärt.
»Und jetzt zu dir, Harun«, fuhr Tahsin fort. »Es könnte sein, dass die Inspektoren dir vorhalten, du hättest dem Staatsanwalt gegenüber aber etwas anderes ausgesagt. Dann sagst du einfach, der Typ sei dir wieder entwischt.«
Der Geist musterte Harun. »Die werden dich sicherlich fragen, wie du den hast entwischen lassen bei deiner Statur.« Harun warf dem Geist einen säuerlichen Blick zu. Hätte man zwei Geister neben- und übereinander gestellt, es wäre nicht einmal ein halber Harun dabei herausgekommen.
»Jetzt übertreibt mal nicht. Das sind schließlich nur Inspektoren. So scharfsinnig sind die nicht«, entgegnete Tahsin.
Harun, der bis dahin gehofft hatte, es nur mit einem Inspektor zu tun zu bekommen, fragte besorgt: »Wie viele sind es denn?«
»Zwei«, antwortete Tahsin. »Einer ist von der Polizei, die andere von der Verwaltung. Der Polizeiinspektor ist eh auf deiner Seite, der wird dich nicht allzu sehr in die Mangel nehmen. Aber vor der Verwaltungsdame musst du dich in Acht nehmen! Soweit ich gehört habe, hat die Frau sie nicht mehr alle. Komm ja nicht auf die Idee, sie zu provozieren.«
Harun schürzte die Lippen und fragte: »Wieso vernehmen die mich überhaupt?«
»Sie vernehmen ja nicht nur dich, sondern uns alle drei«, entgegnete der Geist.
»Wer ist der dritte?«
»Der Geier. Wir waren doch die drei, die dabei waren. Abgesehen vom Betreiber der öffentlichen Toiletten, natürlich.«
»Apropos!«, wurde er von Tahsin unterbrochen. »Habt ihr mit dem Toilettenheini gesprochen?«
»Ich habe ein wenig Überzeugungsarbeit geleistet«, erwiderte Harun. »Er wird beschwören, nichts gesehen zu haben.«
»Diese Typen sind mieser als die Staatsanwaltschaft«, warf der Geist ein. »Die sprechen erst mit allen Augenzeugen, und wenn sie dann sämtliche Informationen beisammen haben«, er machte eine Pause, nickte mit dem Kopf in Richtung Behzat Ç. und schloss, »knöpfen sie sich dich vor.«
»Du hättest besser nicht von deinem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch gemacht«, sagte Tahsin zu Behzat Ç. »Jetzt haben sie dich erst recht auf dem Kieker.« Er sah ihn an, als erwarte er eine Antwort. »Normalerweise hätten sie dich suspendieren müssen.« Dazu war es nur deshalb nicht gekommen, weil Behzat Ç.s Bruder Şevket jemanden aus dem Ministerium eingeschaltet hatte; denn das war es, was er am besten konnte: Leute einschalten. Behzat Ç. trat ans offene Fenster, um nach Luft zu schnappen, und atmete ein paar Mal tief durch. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, sich jetzt und hier aus dem zweiten Stock zu stürzen und davonzulaufen bis in den entlegensten Winkel der Provinz, ohne sich noch einmal umzusehen.
Es wurde zaghaft an die Tür geklopft. Harun öffnete. Cevdet trat ein mit einem Teetablett, das er mit beiden Händen umklammert hielt. Nachdem er schlabbernd die Teegläser verteilt und sich zum Gehen gewandt hatte, drehte er sich noch einmal zu Harun um und stotterte: »Le…Le…Letztes Jahr hat es in Saudiarabien geschneit. Geschneit!«
»Halt’s Maul!«, gab Harun zurück. »Ich mache seit zwei Tagen nur noch Überstunden, also nerv mich nicht!« Eine Weile war der Raum erfüllt vom Klappern der Teelöffel, dann wurden die ersten Schlucke geschlürft.
»Nimm doch den Löffel da raus, du stichst dir ja noch ins Auge«, sagte der Geist zu Harun. Doch der ließ sich nicht beirren, schließlich trank er den Tee so und nicht anders, solange er zurückdenken konnte. Dann sprang er plötzlich auf, als sei ihm etwas Wichtiges eingefallen, riss die Bürotür auf und schrie Cevdet hinterher: »Was interessieren dich überhaupt die Araber? Die fressen den Reis doch mit den Händen!«
»Jetzt dreh mal wieder die Lautstärke runter, was ist denn los, verdammt noch mal!«, brüllte Tahsin ihn an.
Mit heruntergedrehter Lautstärke erwiderte Harun: »Nichts Besonderes, Chef. Es ging um die globale Erwärmung.«
»Sonst ist bei euch wohl alles in Ordnung, dass ihr über die globale Erwärmung sprecht?«
»Das passiert eben, wenn man aus einem verdammten Agraringenieur einen Polizisten macht!«, verwies Harun auf Cevdet, als habe er selbst mit der ganzen Sache nicht das Geringste zu tun.
Tahsins Gesicht verfinsterte sich, und er kniff die Augen zusammen, denn ihm war etwas eingefallen, das tatsächlich nicht das Geringste mit der ganzen Sache zu tun hatte. »Was habt ihr eigentlich mit dem Toros veranstaltet?«, raunzte er Harun an.
»Gar nichts, Chef. Es ist nur das Blaulicht runtergepurzelt und die linke vordere Radkappe hat sich verabschiedet.«
»Nicht die linke, die rechte«, verbesserte Tahsin. Es war ihm ein dringendes Bedürfnis, noch beim kleinsten Detail recht zu behalten. Als würde ein Irrtum in solchen Einzelheiten einen ganzen Rattenschwanz weiterer Irrtümer hinter sich herziehen. Zufrieden sah Harun, dass das Gespräch auf einen Gegenstand kam, den er ohnehin schon seit Langem ansprechen wollte. »Herr Direktor«, er kam gleich zur Sache, »das Präsidium will doch neue Méganes anschaffen. Könnten wir da nicht für die Mordkommission einen abzweigen?«
»Wo habt ihr denn die Geschichte her?«, fragte Tahsin in gespielter Entrüstung. Geschmeichelt, als Herr Direktor angeredet worden zu sein, vermochte er dabei ein Lächeln nicht zu unterdrücken.
»Man hört eben so das eine oder andere, Herr Direktor, ist halt Gesprächsthema. Und mit der Rostlaube von Toros kann man doch keinen mehr verfolgen.«
»Sag das nicht, der Toros ist ein gutes Auto. Ihr fahrt zwar wie die letzten Henker, aber der steckt alles weg. Wenn wir euch einen Mégane geben, fahrt ihr den doch innerhalb von zwei Tagen zu Schrott.«
»Die Mordkommission bekommt sowieso immer alles zuletzt«, murrte Harun. »Sogar die verfluchte Sitte ist schon auf die CZ 75 umgestiegen, und als wir dann endlich mal an der Reihe gewesen wären, wurde uns gesagt, es seien keine mehr auf Lager. Jetzt laufen wir immer noch mit diesen 08/15-Brownings rum.«
»Dann schnappt euch doch eine CZ 75 und pustet den Verantwortlichen die Birne weg«, schlug Tahsin vor.
Stille breitete sich aus. Behzat Ç. hatte zwar seinen Tee bereits an die Lippen geführt, aber bis dahin nur zugehört, ohne einen Schluck zu trinken. Das Glas zitterte in seiner Hand. Einige Tropfen der heißen Flüssigkeit schwappten auf die beiden Finger, mit denen er es hielt. Er fürchtete, dass er Tahsin den Tee gleich samt Glas ins Gesicht schmeißen müsse. Während er diesen Gedanken zu verscheuchen versuchte, geriet das Glas immer stärker ins Wackeln. In weiser Voraussicht nahm der Geist es ihm aus der Hand.
Tahsin spürte die Spannung, die in der Luft lag, und sagte beschwichtigend: »Der Browning ist eine gute Waffe. Er ist sicher. Und außerdem bekommt die Mordkommission gar nicht immer alles zuletzt. Wurde nicht vor zwei Monaten hier angefangen, mit Satinfarbe zu streichen?«
Er fuhr mit dem Zeigefinger über die makellos glatte Wand. Als er sich davon überzeugt hatte, dass nichts abfärbte, lächelte er. »Apropos!« Für ihn, der sich ohnehin leicht aufregte, war es umso ärgerlicher, wenn ihm alles erst in letzter Minute einfiel. »Falls die Inspek toren dich nach der Schussdistanz fragen«, wandte er sich an Harun, »dann behauptest du, das hättest du in diesem Chaos nicht sehen können. Und wenn sie dich trotzdem weiter löchern, dann sag eben, es seien so um die zehn oder fünfzehn Meter gewesen. Vielleicht sogar zwanzig.«
»Warum das denn?«, fragte Harun.
»Sie haben doch das Hemd von dem Typen, auf den geschossen wurde. Anhand dessen können sie die Schussdistanz sowieso ermitteln. Sobald sie das getan haben, werden sie uns fragen: ›Warum schießen Sie auf jemanden, den Sie noch hätten einholen und festnehmen können?‹ Wenn du ihnen aber eine schwammige Antwort gibst, dann fällt die Geschichte, die wir ihnen auftischen, nicht in sich zusammen. Du sagst einfach: ›Ich konnte es nicht sehen, ich weiß es nicht, es herrschte das totale Chaos.‹ Auch der Geier soll behaupten, er hätte es nicht richtig gesehen.«
Tahsin wandte sich an den Geist: »Da du ja ohnehin angeben wirst, nicht am Tatort gewesen zu sein, wirst du sagen, du hättest nicht die geringste Ahnung. Ihr dürft euch auf keinen Fall in Widersprüche verstricken.«
»Ja, gut, aber werden sie dann nicht fragen, ob überhaupt keiner von uns den genauen Tathergang verfolgt hat?«, wandte der Geist ein.
»Sollen sie ruhig«, sagte Tahsin. »Das spielt keine Rolle. Es gibt ja keine anderen Augenzeugen.« Abrupt drehte er sich zu Harun um. »Wo ist eigentlich deine Krawatte?«
»Was für eine Krawatte?«
»Ohne Krawatte geht gar nichts. Das sind Inspektoren, die haben Eier, ihr müsst schon ein wenig auf euer Äußeres achten.«
»Sollen wir uns vielleicht auch noch lange Haare wachsen lassen?«, spöttelte Harun.
Auf diesen Kommentar hin wurde es Tahsin wieder einmal schmerzlich bewusst, dass er nur Vizedirektor war. Alles in ihm drängte ihn, Befehle hageln zu lassen und sich Respekt zu verschaffen. »Ändert gefälligst mal eure Einstellung!«, schrie er. »Ich möchte keine so abgerissenen Typen hier in meinem Dezernat. Und wenn ich Krawatte sage, dann heißt das Krawatte!« Sein Blick fiel auf Behzat Ç.s Bart, der zu mindestens fünfundvierzig Prozent mit Grau durchsetzt war. »Du solltest dich auch endlich mal rasieren«, hätte er gerne hinzugefügt, doch er hielt sich zurück. Schließlich war er erst zwei Semester nach Behzat Ç. an die Akademie gekommen. Doch während Behzat Ç. ein Disziplinarverfahren nach dem anderen hatte durchstehen müssen und seine Beförderung immer wieder ausgesetzt worden war, war Tahsin auf der Karriereleiter langsam, aber sicher immer weiter emporgestiegen.
Behzat Ç. zog eine rostige Schublade auf und reichte Harun die grau gestreifte Krawatte, die er dort für Notfälle stets griffbereit hielt. Harun band sie sich unbeholfen um, und prompt geriet sie ihm zu kurz. Also band er sie erneut, und diesmal saß sie wie eine Eins. Der Geist fing an zu lachen. »Ja, lach du nur«, sagte Harun. »Schließlich wirst du dir so ein Ding auch noch umbinden. Hast du gehört, Herr Direktor, die müssen auch welche tragen. Sonst zieh ich mir die hier sofort wieder aus.«
»Ja, ist gut«, beruhigte ihn Tahsin.
Selim öffnete die Tür. »Die Inspektoren sind so weit. Sie erwarten euch.«
Schlagartig wurde Harun nervös, und er spürte, wie ein Kribbeln von seinem Bauch in seine Brust stieg. Das alles erinnerte ihn an damals, als er am Gymnasium Kurtuluş vor die Disziplinarkommission hatte treten müssen. Tahsin stand auf und fasste Harun am Arm: »Vergiss nicht, das FBI-Beispiel zu bringen. Ihre ist 67 Prozent, unsere 87.«
Harun war es leid, dass Tahsin immer alles hundertmal wiederholen musste. »Okay, Chef, okay.«
»Waren Sie in der Nacht, in der der Funkspruch kam, zusammen unterwegs?«, fragte der Inspektor, der aussah wie Barney Geröllheimer. Harun schaute auf das Aufnahmegerät, dessen Mikrofon in seine Richtung zeigte. »Läuft jetzt die ganze Zeit dieses Ding da, oder was?«
»Ja«, bestätigte die Inspektorin, die neben diesem Mann, der so frappierende Ähnlichkeit mit Barney Geröllheimer hatte, selbst ein wenig an Betty Geröllheimer erinnerte. »Danach schreiben wir unseren Bericht.« Sie trug einen knielangen Rock und einen eng geschnittenen grauen Blazer.
»Noch einmal: Waren Sie an dem Abend, als Ihnen die Schießerei gemeldet wurde, vor zwei Tagen also, zusammen unterwegs?«
»Ja. Wir waren gerade vor dem TED-College.«
»Vor welchem?«
»Vor dem bei der gleichnamigen Metro-Station. Vor welchem denn sonst?«
»Da ist mittlerweile die Stadtverwaltung drin. Das College selbst ist nach İncek umgezogen.«
»Von solchen Einzelheiten weiß ich nichts. Wir sind jedenfalls an diesem College vorbei in Richtung Kurtuluş gefahren.«
»Um wie viel Uhr?«
»So gegen 23 Uhr 15.«
»Und wann sind Sie am Tatort eingetroffen?«
»Das muss um 23 Uhr 19 gewesen sein. Wenn uns dieser Müllwagen nicht den Weg abgeschnitten hätte, wären wir bestimmt noch früher dagewesen.«
Betty zwinkerte ihm zu. »Sie sind offenbar ein richtiger Meisterfahrer, wenn Sie innerhalb von vier Minuten am Tatort waren.«
Harun war auf dem Rücksitz zur Welt gekommen, während man versucht hatte, seine Mutter noch rechtzeitig ins Krankenhaus zu bringen. Das Erste, was er in seinem Leben gesehen hatte, war die Vorderkonsole eines Renault – er konnte jedes motorisierte Fahrzeug mit dem Unterbewusstsein steuern. Aber er sah keinen Anlass, das zu erzählen, und sagte in aller gebotenen Bescheidenheit: »Ich bin nicht schlecht. Mein Vater ist pensionierter Busfahrer. Ich selbst habe mit vier Jahren angefangen, Busse zu lenken.«
Der Inspektor, der aussah wie Barney Geröllheimer, wechselte die Angriffsrichtung: »Seit wann arbeiten Sie zusammen?«
»Mein Vorgesetzter und ich?«
»Ja.«
»Seit acht Jahren.«
»Hat er einen Hang zur Gewalt?«, erkundigte sich Betty. Harun musterte sie von Kopf bis Fuß und fragte: »Was meinen Sie mit Gewalt?«
»Na ja, Gewalt eben, die Anwendung unverhältnismäßiger Härte.«
»Ich habe niemals gesehen, dass er seine Fäuste gebraucht hätte, solange es nicht notwendig war.«
»Ach, und in welchen Fällen ist es notwendig?«
»Na ja, wenn uns einer verarscht, zum Beispiel. Wenn er uns was vorlügt, wenn er was weiß, aber nicht damit rausrücken will. Oder, keine Ahnung, wenn er uns beleidigt oder uns bestechen will und so. In solchen Fällen …«
»In solchen Fällen gebraucht er seine Fäuste?«
»Manchmal verteilt er auch Ohrfeigen. Aber solange es nicht notwendig ist, schlägt er niemanden.«