Hanser Berlin eBook
KANADA
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Frank Heibert
Hanser Berlin
Die Originalausgabe erschien 2012
unter dem Titel Canada bei Ecco/HarperCollins Publishers, New York.
ISBN 978-3-446-24101-5
© Richard Ford 2012
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2012
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Kristina
Kanada ist ein Produkt der Fantasie. Jede Figur und jedes Ereignis darin sind erfunden. Keine Ähnlichkeit zu echten Personen ist beabsichtigt oder sollte abgeleitet werden. Mit der Stadtlandschaft von Great Falls, Montana, habe ich mir einige Freiheiten erlaubt, ebenso mit der Prärie und einigen Details von kleinen Städten im Südwesten der Provinz Saskatchewan. Highway 32 war im Jahr 1960 beispielsweise nicht asphaltiert, bei mir ist er es aber schon. Abgesehen davon trage ich für alle regelrechten Irrtümer und Weglassungen die Verantwortung.
RF
Zuerst will ich von dem Raubüberfall erzählen, den meine Eltern begangen haben. Dann von den Morden, die sich später ereigneten. Der Raubüberfall ist wichtiger, denn er war eine entscheidende Weichenstellung in meinem Leben und in dem meiner Schwester. Wenn von ihm nicht als Erstes erzählt wird, ergibt der Rest keinen Sinn.
Meine Eltern waren die unwahrscheinlichsten Bankräuber der Welt. Sie waren keine verrückten Leute, keine offensichtlichen Kriminellen. Niemand hätte geglaubt, dass ihr Schicksal diesen Verlauf nehmen würde. Sie waren ganz normal – obwohl diese Aussage natürlich null und nichtig wurde, als sie tatsächlich eine Bank überfielen.
Mein Vater, Bev Parsons, war ein Junge vom Land, geboren 1923 in Marengo County, Alabama. Als er 1939 die Highschool verließ, brannte er darauf, zum Army Air Corps zu gehen – der späteren Air Force. Er wurde in Demopolis aufgenommen, durchlief die Grundausbildung in Randolph bei San Antonio und landete dann, weil er zwar Kampfpilot werden wollte, aber nicht gut genug dafür war, bei den Bombenschützen. Er flog in den B-25 und den leichten bis mittelschweren Mitchells, die auf den Philippinen und später über Osaka eingesetzt wurden, wo sie Zerstörung auf die Erde regnen ließen – auf den Feind ebenso wie auf unschuldige Zivilisten. Er war ein großer, gewinnender, lächelnder, gutaussehender Einsdreiundachtziger (er passte kaum in seinen Waffenstand hinein) mit einem großen, eckigen, erwartungsvollen Gesicht, knubbligen Wangenknochen, sinnlichen Lippen und langen, attraktiven, femininen Wimpern. Seine Zähne waren weiß und schimmernd, und auf sein kurzes schwarzes Haar war er stolz – ebenso wie auf seinen Namen. Bev. Captain Bev Parsons. Er wollte nie zugeben, dass Beverly für die meisten Leute ein Frauenname war. Der Name habe angelsächsische Wurzeln, sagte er. »Ein ganz normaler Name in England. Vivian, Gwen und Shirley sind dort Männernamen. Die hält auch keiner für Frauen.« Er redete pausenlos, hatte für einen Südstaatler offene Ansichten und ein freundliches, entgegenkommendes Auftreten, das ihn bei der Air Force hätte weit bringen müssen. Hätte. Seine schnellen haselnussbraunen Augen suchten stets den Raum nach jemandem ab, der ihm Aufmerksamkeit schenkte – wie meine Schwester und ich, meistens. Er erzählte ranzige Witze in einem theatralischen Südstaatenstil, beherrschte Kartentricks und Zauberkunststücke, konnte seinen Daumen abdrehen und wieder festmachen, ein Taschentuch verschwinden und wieder auftauchen lassen. Er konnte Boogie-Woogie auf dem Klavier spielen, redete manchmal »Dixie«-Slang mit uns und manchmal wie die schwarzen Komiker aus Amos ’n Andy. Seine Einsätze in den Mitchells hatten sein Gehör etwas geschädigt, in diesem Punkt war er empfindlich. Aber mit seinem »ehrlichen« GI-Haarschnitt und seiner blauen Uniformjacke sah er fesch aus und verströmte meistens eine echte Wärme, deshalb liebten wir ihn, meine Zwillingsschwester und ich. Wahrscheinlich hatte das auch meine Mutter an ihm angezogen (obwohl sie im Vergleich zu ihm kaum hätte unterschiedlicher sein können, sie passten gar nicht zueinander); nach ihrem ersten hastigen Zusammensein, nachdem sie sich auf einer Party zu Ehren heimgekehrter Flieger kennengelernt hatten, wurde sie leider gleich schwanger. Das war im März 1945, er ließ sich in Fort Lewis zum Versorgungsoffizier fortbilden – weil ihn keiner mehr zum Bombenabwerfen brauchte. Sie heirateten sofort, als die Sachlage klar war. Ihre Eltern, jüdische Einwanderer aus Polen, die in Tacoma lebten, waren dagegen. Sie waren gebildete Mathematiklehrer und semiprofessionelle Musiker aus Posen, die dort gut besuchte Konzerte gegeben hatten, waren nach 1918 geflohen und über Kanada nach Washington State eingewandert, wo sie schließlich – ausgerechnet – Schulhausmeister wurden. Mittlerweile bedeutete es ihnen und auch meiner Mutter wenig, Juden zu sein, es war für sie lediglich eine alte Lebensweise voller Zwänge und Ansprüche, die sie gern hinter sich ließen in einem Land, wo es anscheinend keine Juden gab.
Dass ihre einzige Tochter den lächelnden, redseligen einzigen Sohn schottisch-irischer Holzgutachter aus dem hinterwäldlerischsten Alabama heiraten könnte, war in ihrem Denken allerdings nicht vorgesehen, und so weigerten sie sich bald, auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Mit Abstand betrachtet könnte man sagen, unsere Eltern waren eben nicht füreinander bestimmt, doch dass unsere Mutter unseren Vater heiratete, bedeutete in Wahrheit einen Verlust, ihr Leben änderte sich für immer, und nicht zum Guten, das muss ihr irgendwann klar geworden sein.
Meine Mutter, Neeva Kamper (kurz für Geneva) war eine sehr kleine, energische, bebrillte Frau mit widerspenstigen braunen Haaren, von denen eine flaumige Spur am Kiefer entlanglief. Ihre Augenbrauen waren dicht, ihre Stirn glänzte dünnhäutig, so dass die Adern durchschienen, und ihr blasser Stubenhockerteint ließ sie zerbrechlich erscheinen – was sie nicht war. Mein Vater sagte im Scherz, in Alabama, wo er herkomme, hießen ihre Haare »Judenhaare« oder »Einwandererhaare«, aber er mochte es und liebte sie. (Sie schien diese Worte nie besonders zu beachten.) Sie hatte kleine, zarte Hände, deren Nägel stets gepflegt und poliert waren, darin war sie eitel, und sie wedelte oft zerstreut mit ihnen herum. Ihr Blick auf die Welt war skeptisch. Wenn wir mit ihr sprachen, hörte sie genau zu und konnte in ihrer geistreichen Art beißend werden. Sie trug eine randlose Brille, las französische Gedichte und benutzte oft Ausdrücke wie »cauchemar« oder »trou de cul«, die meine Schwester und ich nicht verstanden. Sie schrieb selbst Gedichte, in brauner Tinte, die sie per Versand bestellte, und ein Tagebuch, in dem wir nicht lesen durften. Normalerweise schaute sie mit leicht gerümpfter Nase drein, mit einem astigmatischen Ausdruck der Verblüfftheit – das wurde typisch für sie und war es vielleicht immer schon gewesen. Vor ihrer Hochzeit und der bald darauf folgenden Mutterschaft hatte sie mit achtzehn ihren Abschluss am Whitman College in Walla Walla gemacht, in einem Buchladen gearbeitet, sich als mögliche Boheme-Künstlerin und Dichterin gesehen und gehofft, eines Tages eine Stelle als fleißige Dozentin an einem kleinen College zu bekommen, verheiratet mit einem anderen Menschen als mit dem, den sie geheiratet hatte – zum Beispiel einem College-Professor, der ihr das Leben ermöglicht hätte, für das sie ihrem Gefühl nach bestimmt war. 1960, als diese Ereignisse sich zutrugen, war sie erst vierunddreißig. Aber sie hatte schon »ernste Falten« neben der Nase, die klein war, mit rosiger Spitze, und ihre großen, durchdringenden graugrünen Augen hatten verschattete Lider, wodurch sie etwas fremdländisch aussah, auch traurig und unzufrieden – was alles zutraf. Ihr Hals war schön und schmal, und ihr Lächeln, das plötzlich und unerwartet kam, setzte ihre kleinen Zähne und ihren mädchenhaften, herzförmigen Mund in Szene, obwohl sie es selten zeigte – außer meiner Schwester und mir gegenüber. Wir merkten, dass sie eine ungewöhnlich aussehende Person war in ihrer üblichen Kleidung, die aus olivfarbenen Hosen und Baumwollblusen mit weiten Ärmeln bestand, dazu Hanf-Baumwollschuhen, die sie sich bestimmt von der Westküste schicken ließ – so etwas konnte man in Great Falls nicht kaufen. Und sie wirkte nur umso ungewöhnlicher, wenn sie widerstrebend neben unserem großen, gutaussehenden, extrovertierten Vater stand. Wobei es selten vorkam, dass wir als Familie »ausgingen« oder im Restaurant aßen, wir bekamen also kaum mit, wie sie draußen in der Welt, unter fremden Leuten, dastanden. Wir fanden das Leben bei uns zu Hause normal.
Meine Schwester und ich konnten gut nachvollziehen, warum meine Mutter sich von Bev Parsons angezogen fühlte: Er war groß und hatte ein breites Kreuz, gab sich gesprächig und witzig und war stets willens, jedem zu gefallen, der in seine Nähe kam. Aber wir durchschauten nie ganz, was ihn an ihr faszinierte – sie war sehr klein (knapp über einsfünfzig), in sich gekehrt und scheu, künstlerisch begabt, hübsch nur, wenn sie lächelte, und geistreich nur, wenn sie sich ganz und gar wohlfühlte. Er muss all das einfach geschätzt haben, gespürt haben, dass sie subtiler dachte als er, aber dass er ihr gefallen konnte, das machte ihn glücklich. Es spricht für ihn, dass er über die äußeren Unterschiede hinaussehen konnte, bis zum menschlichen Kern, was ich bewunderte, auch wenn es meiner Mutter nicht gegeben war, das zu bemerken.
Und doch, die eigenartige Verbindung ihrer nicht zueinanderpassenden körperlichen Eigenschaften spielt in meinem Kopf eine wichtige Rolle, denn sie erklärt mir zum Teil, warum sie so schlimm endeten: Sie waren schlicht die Falschen füreinander, hätten nie heiraten oder sonst was miteinander anfangen sollen, hätten nach ihrer ersten leidenschaftlichen Begegnung ihrer Wege gehen sollen, ohne darauf zu achten, was dabei herauskam. Je länger sie dabei blieben und je besser sie sich kennenlernten, umso mehr erkannte zumindest sie ihren Fehler, und umso fehlgeleiteter wurde ihr gemeinsamer Lebensweg – wie ein langer mathematischer Beweis, bei dem schon die erste Berechnung nicht stimmt, woraufhin alle weiteren Berechnungen nur immer weiter davon wegführen, wie die Dinge waren, als sie noch Sinn ergaben. Ein Soziologe dieser Jahre – der frühen Sechziger – hätte vielleicht gesagt, dass unsere Eltern zu einer Art Avantgarde einer historischen Phase gehörten, zu den Ersten, die die Grenzen der Gesellschaft überschritten, sich der Rebellion hingaben und Glaubenssätze hochhielten, die qua Selbstzerstörung bekräftigt werden mussten. Aber das stimmte gar nicht. Sie waren keine rücksichtslosen Menschen und gehörten zu keiner Avantgarde. Sie waren, wie gesagt, normale Leute, denen die Umstände und ihr schlechter Instinkt ein Bein stellten und die obendrein Pech hatten, sie wagten sich außerhalb der Grenzen, die sie eigentlich als richtig anerkannten, und dann merkten sie, dass sie nicht zurückkonnten.
Eines möchte ich aber zu bedenken geben, was meinen Vater betrifft: Als er von den Kriegsschauplätzen zurückkam, wo er den pfeifenden Tod aus den Wolken herniedergeschickt hatte – es war 1945, das Jahr, in dem meine Schwester und ich in Michigan geboren wurden, auf dem Luftwaffenstützpunkt Wurtsmith in Oscoda –, hatte ihn vermutlich eine unbestimmte immense Schwere in den Klauen gehabt wie so viele GIs, und er verbrachte den Rest seines Lebens von da an im Ringen mit dieser Schwere, stets daran herumtüftelnd, wie er halbwegs optimistisch und über Wasser bleiben konnte, schlechte Entscheidungen treffend – die nur kurze Zeit wirklich gut aussahen – und letzten Endes im tiefen Missverständnis mit der Welt, in die er heimgekehrt war, bis dieses Missverständnis zu seinem Leben geworden war. So muss es für Millionen Jungs in der Armee gewesen sein, aber er hätte das an sich selbst nie erkannt und es auch nie zugegeben.
Unsere Familie machte 1956 in Great Falls, Montana, halt, so wie viele Soldatenfamilien nach dem Krieg da landeten, wo sie eben landeten. Wir hatten auf Luftwaffenstützpunkten in Mississippi und Kalifornien und Texas gelebt. Unsere Mutter hatte ihren Abschluss gemacht und an all diesen Orten als Vertretungslehrerin gearbeitet. Unser Vater war nicht nach Korea einberufen worden, man hatte ihm zu Hause Schreibtischarbeit in den Bereichen Versorgung und Bedarfsanforderung zugeteilt. Er durfte daheimbleiben, weil er mit Tapferkeitsorden ausgezeichnet worden war, aber er war nicht über den Captainsrang hinausgekommen. Irgendwann – und zwar genau als wir in Great Falls wohnten und er siebenunddreißig war – fand er, dass ihm die Air Force keine große Zukunft mehr zu bieten habe, und da er zwanzig Jahre gedient hatte, wollte er nun seine Pension kassieren und abmustern. Er hatte außerdem das Gefühl, das mangelnde Interesse unserer Mutter an gesellschaftlichem Austausch und ihre Unwilligkeit, irgendwen vom Stützpunkt zum Abendessen einzuladen, hätten ihn ausgebremst, und da mochte er recht haben. Wobei ich glaube, in Wirklichkeit hätte sie es gut gefunden, jemanden bewundern zu können. Aber das hielt sie nie für möglich. »Bloß Kühe und Weizen hier«, sagte sie. »Es gibt gar keine echte, organisierte Gesellschaft.« Jedenfalls glaube ich, unser Vater war die Air Force leid und mochte Great Falls als Ort, wo er glaubte vorwärtszukommen – auch ohne Sozialleben. Er sagte, er hoffe, den Freimaurern beizutreten.
Mittlerweile war es Frühling 1960. Meine Schwester Berner und ich waren fünfzehn. Wir gingen auf die Lewis (das stand für Meriwether Lewis) Highschool, die sich so nah am Missouri befand, dass wir von den hohen Schulfenstern aus die schimmernde Wasseroberfläche des Flusses sehen konnten und die Enten und Vögel, die sich dort versammelten, weiter entfernt das Zugdepot von Chicago, Milwaukee und St. Paul, wo keine Passagierzüge mehr hielten, den städtischen Flughafen oben auf dem Gore Hill, wo zwei Flüge pro Tag starteten, und am Fluss entlang bis zum Schornstein der Eisenhütte und zur Ölraffinerie oberhalb der Wasserfälle, nach denen die Stadt heißt. An klaren Tagen konnte ich sogar die dunstigen Schneegipfel der Bitterroot Range erkennen, die 90 Kilometer östlich zwischen Idaho im Süden und Kanada im Norden verlief. Meine Schwester und ich hatten keine Vorstellung vom »Westen«, abgesehen von dem, was das Fernsehen vermittelte, übrigens auch nicht von Amerika, wir nahmen es ganz selbstverständlich als besten Ort zum Leben. Unser wirkliches Leben war die Familie, und wir gehörten zu ihrem Handgepäck. Wegen der zunehmenden Entfremdung meiner Mutter, ihrer Zurückgezogenheit, ihres Überlegenheitsgefühls und ihres Wunsches, dass Berner und ich uns nicht an diese »Marktstadtmentalität« anpassten, die ihrer Meinung nach das Leben in Great Falls erstickte, hatten wir keinen Alltag wie die meisten Kinder, zu dem Freunde und Besuche bei ihnen hätten gehören können, tägliches Zeitungsaustragen, Tanzen und Pfadfinder. Wenn wir uns anpassten, dann würde dadurch, so glaubte meine Mutter, nur die Gefahr steigen, genau dort zu enden, wo wir jetzt waren. Außerdem galt, wenn der Vater bei der Air Force war – egal wo man wohnte –, dass man sowieso wenig Freunde hatte und die Nachbarn selten traf. Wir erledigten alles auf dem Stützpunkt – zum Arzt gehen, auch zum Zahnarzt, Haareschneiden, Einkaufen. Das wussten die Leute. Sie wussten, dass wir da, wo wir gerade waren, nicht lange bleiben würden, warum sollten sie sich also die Mühe machen, uns kennenzulernen. Der Stützpunkt brachte ein Stigma mit sich, als wollten anständige Leute von dem, was da vor sich ging, nichts wissen und damit auch nicht in Verbindung gebracht werden – dazu kam meine Mutter, die Jüdin war und fremdländisch aussah, sogar ein wenig nach Boheme. Bei uns wurde offen ausgesprochen, dass es anscheinend irgendwie ungehörig erschien, Amerika gegen seine Feinde zu verteidigen.
Trotzdem mochte ich Great Falls, zumindest zu Anfang. Es hieß auch »Electric City«, weil die Wasserfälle Energie produzierten. Es wirkte schroffkantig und aufrecht, etwas abgelegen zwar – aber immer noch Teil des grenzenlosen Landes, in dem wir schon immer gelebt hatten. Mir gefiel es nicht besonders, dass die Straßen keine Namen hatten, nur Zahlen – was verwirrend war und laut meiner Mutter bedeutete, dass die Stadt von geizigen Bankern angelegt worden sei. Und dann waren die Winter natürlich frostig und unermüdlich, der Wind donnerte wie ein Güterzug aus dem Norden herunter, und das wenige Tageslicht hätte noch den größten Optimisten demoralisiert.
Eigentlich sahen Berner und ich uns selbst nie als von irgendwo herstammend. Immer wenn unsere Familie in eine neue Stadt zog, irgendwo am Ende der Welt, und sich in einem neuen gemieteten Haus einrichtete, wenn unser Vater seine gebügelte blaue Uniform anzog und zur Arbeit auf den Stützpunkt fuhr und wenn meine Mutter eine neue Stelle als Lehrerin antrat – dann versuchten Berner und ich, uns vorzustellen, dies wäre der Ort, aus dem wir stammten, für den Fall, dass uns jemand danach fragte. Wir übten diese Sätze auf dem Weg zur neuen Schule, jedes Mal. »Hallo. Wir kommen aus Biloxi, Mississippi.« »Hallo. Ich komme aus Oscoda. Das liegt ganz oben in Michigan.« »Hallo. Ich wohne in Victorville.« Ich versuchte, die Grundbegriffe dessen zu lernen, was die anderen Jungs wussten, zu reden wie sie, die Slangausdrücke aufzuschnappen, herumzulaufen, als fühlte ich mich dort sicher und könnte nicht kalt erwischt werden. Berner machte es genauso. Dann zogen wir irgendwann an den nächsten Ort und versuchten wieder, uns dort einzurichten. Wenn man so aufwächst, das weiß ich, wird man entweder zum entwurzelten Außenseiter oder ermutigt zu Geschmeidigkeit und Anpassungsfähigkeit – Letzteres missbilligte meine Mutter, da sie selbst es verweigerte und für sich selbst an der Möglichkeit einer anderen Zukunft festhielt, die eher ihren Vorstellungen aus der Zeit vor meinem Vater entsprach. Uns, meine Schwester und mich, sah sie als kleine Mitspieler in einem unerbittlich fortschreitenden Drama.
Dies hatte zur Folge, dass mir immer mehr an der Schule lag, sie war mein roter Faden im Leben, abgesehen von meinen Eltern und meiner Schwester. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte die Schule nie aus sein müssen. Ich verbrachte so viel Zeit dort, wie ich nur konnte, vertiefte mich in die Bücher, die wir bekamen, suchte die Nähe der Lehrer, atmete die Schulgerüche ein, die überall unverwechselbar dieselben waren. Wissen wurde mir wichtig, ganz gleich, welches genau. Unsere Mutter wusste viel und legte Wert darauf. In dieser Hinsicht wollte ich wie sie sein, denn ich konnte mitnehmen, was ich wusste, und es würde mich als gefestigt und vielversprechend charakterisieren – an diesen Eigenschaften war mir gelegen. Auch wenn ich nicht an all die Orte gehörte, in ihre Schulen gehörte ich sehr wohl. Ich war gut in Englisch und Geschichte und Bio und Physik und Mathe – genau wie meine Mutter. Jedes Mal, wenn wir unsere Sachen packten und wieder umzogen, hatte ich nur vor einem Angst, nämlich dass ich aus irgendeinem Grund nicht mehr in die Schule gehen durfte oder etwas versäumte, das mir meine Zukunft gesichert hätte und woanders nicht zu erwerben war. Oder dass wir an einen Ort ziehen würden, wo es überhaupt keine Schule für mich gab (einmal stand Guam zur Diskussion). Ich fürchtete, am Ende gar nichts zu wissen, mich auf nichts verlassen zu können, das mich heraushob. Bestimmt habe ich da etwas von meiner Mutter geerbt, die ihr Leben unbefriedigend fand.
Es kann auch daran liegen, dass die beiden, die durch ihren immer dichter werdenden Lebensnebel taumelten – zwei Menschen, nicht füreinander bestimmt, wahrscheinlich schon bald ohne körperliches Begehren füreinander, stattdessen zunehmend ein bloßer Satellit des anderen und irgendwann, ohne es richtig zu merken, voll gegenseitiger Ablehnung –, meiner Schwester und mir nicht genug Halt boten, was schließlich die Aufgabe von Eltern ist. Aber es bringt nichts, immer den Eltern die Schuld an den eigenen Problemen zu geben.
In dem Frühjahr, als unser Vater seinen Abschied nahm, verfolgten wir alle interessiert den Präsidentschaftswahlkampf. Meine Eltern waren einig in ihrer Meinung über die Demokraten und Kennedy, der demnächst nominiert werden sollte. Meine Mutter sagte, mein Vater finde Kennedy gut, weil er sich eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm einbilde. Eisenhower war meinem Vater zutiefst zuwider, was an den amerikanischen Bombern lag, die er am D-Day geopfert hatte, um die Krauts hinter der Front zu schwächen, und auch mit seinem heimtückischen Schweigen über MacArthur, den mein Vater verehrte, und weil Eisenhowers Frau als »Schnapsdrossel« bekannt sei. Nixon konnte er auch nicht leiden. Der sei ein »kalter Fisch«, sehe aus »wie ein Italiener« und sei ein »Kriegs-Quäker«, mit anderen Worten ein Heuchler. Ebenso wenig konnte er die UNO leiden, die er für zu teuer hielt, außerdem gebe sie Kommis wie Castro (den er einen »Schmierenkomödianten« nannte) eine Stimme in der Welt. Im Wohnzimmer hatte er ein gerahmtes Foto von Franklin Roosevelt über das Kimball-Spinett gehängt, über das Mahagoni-Messing-Metronom, das zwar nicht funktionierte, aber zum Haus gehörte. Er rühmte Roosevelt, weil er sich nicht von der Kinderlähmung hatte unterkriegen lassen, weil er sich totarbeitete, um das Land zu retten, weil er mit dem Elektrifizierungsprogramm für ländliche Gegenden das hinterwäldlerische Alabama aus dem finsteren Mittelalter herausgeholt hatte und weil er es mit Mrs Roosevelt aushielt, die mein Vater »First Morchel« nannte.
Er stand seiner Herkunft aus Alabama sehr zwiespältig gegenüber. Auf der einen Seite sah er sich selbst als »modernen Menschen«, der nicht vom »Hinterteil der Welt« komme, wie er es umschrieb. Er vertrat moderne Ansichten in vielen Dingen – in der Rassenfrage zum Beispiel, da er bei der Air Force neben »Negern« gearbeitet hatte. Er hielt Martin Luther King für einen prinzipientreuen Mann, und Eisenhowers Bürgerrechtsgesetz sei dringend nötig gewesen. Frauenrechte mussten seiner Meinung nach mal ordentlich aufgemischt werden, und dass der Krieg eine Tragödie und Verschwendung war, wusste er genau.
Auf der anderen Seite schmollte er, wenn meine Mutter etwas Abfälliges über den Süden sagte – was sie oft tat –, und verkündete, Lee und Jeff Davis seien »Männer von Substanz«, auch wenn sie für ihre Überzeugungen zu weit gegangen seien. Viel Gutes sei aus dem Süden gekommen, sagte er, und zwar mehr als nur Baumwoll-Entkörnungsmaschinen und Wasserski. »Vielleicht könntest du mir ein Beispiel nennen«, sagte meine Mutter dann immer, »dich natürlich ausgeschlossen.«
Sofort nachdem er seine blaue Air-Force-Uniform an den Nagel gehängt hatte und nicht mehr zum Stützpunkt fuhr, fand er Arbeit als Autoverkäufer für Oldsmobile. Er fand, das Verkaufen liege ihm im Blut. Seine warmherzige Persönlichkeit – fröhlich, entgegenkommend, sympathisch, selbstbewusst, ohne Punkt und Komma redend – würde, meinte er, Fremde anziehen und ihm etwas, das anderen schwerfiel, leicht machen. Die Kunden würden ihm vertrauen, weil er aus dem Süden komme, und Südstaatler seien dafür bekannt, bodenständiger zu sein als die schweigsamen Leute aus dem Mittleren Westen. Das Geld würde nur so fließen, sobald das Modelljahr zu Ende ginge und große Rabatte die Umsätze hochtrieben. Für die Arbeit bekam er einen rosa-grauen Oldsmobile Super-88, den er zu Demonstrationszwecken fahren sollte und den er als wirksames Werbemittel vor unser Haus auf der First Avenue, SW, stellte. Er nahm uns alle auf Spritztouren nach Fairfield mit, Richtung Berge, ostwärts Richtung Lewistown und südwärts Richtung Helena. Diese Ausflüge nannte er »orientierungsergründende Leistungstests« – obwohl er wenig von der Gegend wusste, egal in welcher Richtung, und auch wenig Ahnung von Autos hatte, außer wie man sie fuhr, was er sehr gern tat. Es sei einfach für einen Air-Force-Offizier, einen guten Job zu bekommen, fand er, er hätte gleich nach dem Krieg den Dienst quittieren sollen. Dann wäre er jetzt wesentlich weiter.
Meine Schwester und ich glaubten, nun, da unser Vater die Air Force verlassen und andere Arbeit gefunden hatte, würde unser Leben endlich eine solide Basis bekommen. Wir lebten damals seit vier Jahren in Great Falls. Meine Mutter ließ sich an jedem Schultag in die kleine Stadt Fort Shaw mitnehmen, wo sie in einer fünften Grundschulklasse unterrichtete. Sie sprach nie darüber, aber es schien ihr zu gefallen, und manchmal bescheinigte sie den anderen Lehrern, sie seien engagierte Leute (sonst konnte sie offenbar wenig mit ihnen anfangen und hätte nie gewollt, dass sie uns zu Hause besuchten, ebenso wenig wie irgendwer vom Stützpunkt). Ich sah mich bereits auf der Highschool von Great Falls, wo es ab Herbst losging, dort gab es, hatte ich herausgefunden, eine Schachgruppe und einen Debattierclub, und Latein würde ich dort auch lernen können, weil ich zu klein und leichtgewichtig für Mannschaftssport war und sowieso kein Interesse daran hatte. Meine Mutter sagte, sie erwarte von uns beiden, Berner und mir, dass wir aufs College gingen, aber wir würden es mit unserem Grips schaffen müssen, denn das Geld würde nie im Leben reichen. Obwohl Berner, sagte sie, ihr selbst schon jetzt allzu ähnlich im Charakter sei und kaum den guten Eindruck machen würde, den es brauche, um aufgenommen zu werden, deshalb wäre es vermutlich besser, wenn sie sich stattdessen einfach einen College-Absolventen zum Heiraten suchte. In einer Pfandleihe auf der Central Avenue fand sie mehrere College-Wimpel, die sie bei uns an die Wand tackerte. Andere Kinder waren da aus solchen Fanartikeln bereits herausgewachsen. Meine drei waren Furman, Holy Cross und Baylor, meine Schwester kriegte Rutgers, Lehigh und Duquesne. Natürlich wussten wir überhaupt nichts von diesen Universitäten, nicht mal, wo sie lagen – allerdings hatte ich Bilder im Kopf, wie sie aussahen. Alte Backsteingebäude mit mächtigen schattenspendenden Bäumen und einem Fluss und einem Glockenturm.
Mit Berner war inzwischen wirklich nicht besonders gut Kirschen essen. Seit der Grundschule waren wir nicht mehr in dieselbe Klasse gegangen, weil es für ungesund gehalten wurde, wenn Zwillinge die ganze Zeit zusammen waren – allerdings hatten wir uns immer bei den Hausaufgaben geholfen und gute Noten bekommen. Jetzt hockte sie die meiste Zeit in ihrem Zimmer, las Kinozeitschriften, die sie im Rexall kaufte, oder Peyton Place und Bonjour Tristesse, die sie nach Hause geschmuggelt hatte, woher, wollte sie nicht verraten. Sie schaute den Fischen in ihrem Aquarium zu und hörte Musik im Radio und hatte keine Freunde – was auch für mich galt. Es machte mir nichts aus, Zeit ohne sie zu verbringen und mein eigenes Leben zu führen, mit meinen Interessen und Gedanken über die Zukunft. Berner und ich waren zweieiige Zwillinge – sie war sechs Minuten älter – und sahen uns überhaupt nicht ähnlich. Sie war groß, knochig, unbeholfen und von Sommersprossen übersät – Linkshänderin, während ich Rechtshänder bin –, hatte Warzen auf den Fingern, blasse graugrüne Augen wie unsere Mutter und ich und Pickel und ein flaches Gesicht und ein weiches Kinn, das nicht hübsch war. Ihr drahtiges braunes Haar trug sie mit Mittelscheitel, ihr sinnlicher Mund war der unseres Vaters, anderswo – an Beinen oder Armen – war sie kaum behaart, und ihre kaum ausgeprägte Brust hatte sie auch von unserer Mutter. Meistens trug sie Hosen und darüber ein Jumperkleid, das sie fülliger wirken ließ, als sie war. Manchmal zog sie weiße Spitzenhandschuhe an, um ihre Hände zu verbergen. Und sie litt an Allergien, weswegen sie immer einen Torpedo-Inhalator von Wick bei sich hatte, nach dem es oft aus ihrem Zimmer roch, wenn man sich der Tür näherte. Ich fand, sie sah wie eine Kombination aus unseren Eltern aus: die Größe meines Vaters und das Aussehen meiner Mutter. Manchmal ertappte ich mich dabei, Berner als einen älteren Jungen zu betrachten. Dann wieder wünschte ich mir, sie sähe mir ähnlicher, dann wäre sie vielleicht netter zu mir, und wir stünden uns näher. Aber wie sie aussehen wollte ich nie.
Ich für meinen Teil war kleiner und schlank, mit glatten braunen Haaren und einem Seitenscheitel weit außen und weicher Haut und sehr wenigen Pickeln – also eher »hübsch« wie unser Vater, aber zart wie unsere Mutter. Was mir gefiel, so wie mir auch gefiel, was sie mir anzuziehen gab – Khakihosen und adrette gebügelte Hemden und Oxfordschuhe aus dem Sears-Katalog. Unsere Eltern witzelten über Berner und mich, dass der Postbote oder der Milchmann uns gebracht hätte, wir wären »Restposten«. Was ich allerdings nur auf Berner bezog. In letzter Zeit war sie immer empfindlicher in Bezug auf ihr Aussehen geworden, immer unzufriedener – als wäre innerhalb kurzer Zeit irgendetwas in ihrem Leben schiefgelaufen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt in meiner Erinnerung war sie ein normales, sommersprossiges, süßes, glückliches kleines Mädchen mit einem wunderschönen Lächeln, das uns alle mit seinen Grimassen zum Lachen brachte. Jetzt stand sie dem Leben skeptisch gegenüber, das machte sie sarkastisch und treffsicher, was meine Schwächen anbelangte; meistens wirkte sie einfach wütend. Sie mochte nicht einmal ihren Namen – mir gefiel er, ich fand, er machte sie einzigartig.
Nachdem mein Vater einen Monat lang Oldsmobiles verkauft hatte, geriet er in einen kleineren Auffahrunfall, als er zu schnell mit seinem Demonstrationsauto unterwegs war, zudem war er auf den Stützpunkt gefahren, wo er eigentlich nichts zu suchen hatte. Danach verkaufte er Dodges und brachte eine schöne braun-weiße Coronet-Limousine mit nach Hause, die mit Druckknöpfen am Armaturenbrett, einem sogenannten »Push-Button Drive«, elektrischen Fensterhebern und drehbaren Sitzen ausgestattet war, dazu modischen Flossen, grellroten Heckleuchten und einer langen Peitsche von Antenne. Dieser Wagen stand drei Wochen lang vor unserer Haustür. Berner und ich saßen drin und hörten Radio, unser Vater nahm uns erneut auf Spritztouren mit, und wir ließen alle Fenster offen, damit der Fahrtwind hindurchwehte. Mehrere Male nahm er die Schmugglerroute, ließ uns beide ans Steuer und brachte uns bei, wie man rückwärts fährt und wie man die Räder richtig dreht, um über eine Eisfläche zu schliddern. Leider verkaufte er überhaupt keine Dodges und kam zu dem Schluss, dass er für eine Stadt wie Great Falls – eine schroffe Landgemeinde von gerade mal fünfzigtausend Einwohnern, voll genügsamer Schweden und misstrauischer Deutscher und mit nur wenig betuchten Leuten, die ihr Geld auch mal für schicke Autos ausgeben wollten – in der falschen Branche war. Also gab er das auf und wandte sich dem Verkauf und Tausch von Gebrauchtwagen zu, auf einem Grundstück weit draußen in der Nähe des Stützpunkts. Flieger litten immer unter Geldnot und ließen sich scheiden und würden verklagt und heirateten wieder und kämen ins Gefängnis und brauchten Bares. Sie kauften und tauschten Autos wie eine Art Währung. Man könne als Mittelsmann zu Geld kommen – und er mochte diese Position. Außerdem waren Flieger eher geneigt, Geschäfte mit einem Exoffizier zu machen, der ihre Probleme verstand und nicht auf sie herabsah wie andere Leute in der Stadt.
Am Ende blieb er auch in diesem Job nicht lange. Wobei er Berner und mich zwei-, dreimal auf das Autogelände mitnahm und uns alles zeigte. Dort gab es für uns nichts zu tun, als zwischen den Autoreihen herumzuschlendern, in dem sengendheißen Wind unter den flappenden Wimpeln und den silbernen Blinkstreifen am Draht, während wir den vorbeifahrenden Verkehr zum Stützpunkt und zurück beobachteten, zwischen den in der Sonne Montanas bratenden Motorhauben. »Great Falls ist eine Gebrauchtwagenstadt, keine Neuwagenstadt«, sagte unser Vater, die Hände in die Hüften gestemmt, auf der Treppe zu dem kleinen Holzhäuschen, wo die Verkäufer auf Kundschaft warteten. »Neuwagen bringen die Leute ins Armenhaus. Ein Tausender ist weg, sobald man vom Gelände fährt.« Ungefähr zu dieser Zeit – Ende Juni – sagte er auch, er denke an eine Reise in den Süden, nach »Dixie«, um mal zu schauen, wie die Dinge dort bei den »Hintermännern« stünden. Meine Mutter ließ ihn wissen, diese Reise werde er aber allein machen, ohne seine Kinder, worüber er sich ärgerte. Sie sagte, sie wolle nicht mal in die Nähe von Alabama. Mississippi habe ihr gereicht. Die Lage der Juden sei dort schlimmer als die der Farbigen, die wenigstens dort hingehörten. Ihrer Meinung nach sei Montana besser, weil die Leute hier nicht einmal wüssten, was Juden seien – und damit war ihre Diskussion beendet. Meine Mutter hatte eine zwiespältige Haltung zum Jüdischen, manchmal empfand sie es als Last, manchmal fühlte sie sich aber auch dadurch herausgehoben, was ihr gefiel. Es war nie ganz und gar gut. Berner und ich wussten nichts darüber, außer dass meine Mutter Jüdin war, was uns nach den alten Regeln offiziell auch zu Juden machte, und dass das auf jeden Fall besser war, als aus Alabama zu kommen. Wir sollten uns als »nicht praktizierend« betrachten oder als »entwurzelt«. Das hieß nur, wir feierten Weihnachten und Thanksgiving und Ostern und den 4. Juli gleichermaßen und gingen nicht zum Gottesdienst, was kein Problem war, denn in Great Falls gab es sowieso keine Synagoge. Eines Tages würde es vielleicht etwas bedeuten, aber im Moment war es nicht wichtig.
Als unser Vater einen Monat lang im Gebrauchtwagenhandel tätig gewesen war, kam er eines Tages mit einem Auto nach Hause, das er sich selbst gekauft hatte – eingetauscht gegen unseren ’52er Mercury –, einem weiß-roten ’55er Bel Air Chevrolet, direkt von seinem Gelände. »Ein gutes Geschäft.« Er sagte, er habe sich einen neuen Job organisiert, als Verkäufer von Ranch- und Farmland – davon habe er zwar zugegebenermaßen keine Ahnung, aber er habe sich für einen entsprechenden Kurs im Kellergeschoss des YMCA angemeldet. Die anderen Männer in der Firma würden ihm helfen. Sein Vater sei Holzgutachter gewesen, deshalb sei er guten Mutes, dass er ein Gespür für die Dinge »draußen in der Wildnis« habe – ein besseres als für die Stadt. Außerdem, wenn Kennedy im November gewählt würde, bräche eine Zeit neuen Schwungs an, und als Erstes würden die Leute Land kaufen wollen. Davon würde ja nicht mehr gemacht, als nun mal da sei, sagte er, obwohl es hier in der Gegend schon ziemlich viel davon gebe. Bei den Prozentsätzen im Verkauf von Gebrauchtwagen, so habe er gelernt, schnitten alle gut ab, bis auf die Verkäufer. Er wisse nicht, warum er das als Letzter habe herausfinden müssen. Unsere Mutter war ganz seiner Meinung.
Wir, meine Schwester und ich, wussten es damals natürlich nicht, aber den beiden muss wohl in dieser Zeit – nachdem er die Air Force verlassen hatte und sich angeblich draußen in der Welt finden wollte – klar geworden sein, dass sie allmählich auseinanderdrifteten, dass sich ihr Blick auf den anderen veränderte, vielleicht auch, dass die Unterschiede zwischen ihnen nicht dahinschmolzen, sondern größer wurden. All das dicht gedrängte, vereinnahmende, turbulente Herumvagabundieren von einem Luftwaffenstützpunkt zum nächsten, dabei auch noch flugs zwei Kinder großzuziehen, und das jahrelang, hatte ihnen gestattet, eine Erkenntnis vor sich herzuschieben, zu der sie gleich zu Anfang hätten gelangen müssen – wahrscheinlich noch eher sie als er: dass die ursprünglichen Kleinigkeiten sich inzwischen zu etwas ausgewachsen hatten, das zumindest ihr nicht mehr gefiel. Sein Optimismus, ihre fremdelnde Skepsis. Der Südstaatler in ihm, die jüdische Einwanderin in ihr. Seine geringe Bildung, dagegen der Wert, den sie darauf legte, und ihr Gefühl, ein unerfülltes Leben zu führen. Als ihnen das klar wurde, hatten sie beide mit Spannungen und Vorahnungen zu kämpfen, jeder auf seine Weise. (Das spricht aus verschiedenen Bemerkungen meiner Mutter, vor allem in ihrer Chronik.) Hätten die Dinge sich so entwickeln dürfen wie bei Tausenden anderen – allmählich hin zu einer ganz gewöhnlichen Trennung –, hätte sie Berner und mich einfach einpacken und mit dem Zug nach Tacoma bringen können, woher sie stammte; oder nach New York oder Los Angeles. Dann hätten sie beide eine Chance auf ein gutes Leben in der großen weiten Welt gehabt. Mein Vater hätte möglicherweise zur Air Force zurückgehen können, es war ihm ohnehin schwer genug gefallen, sie zu verlassen. Er hätte eine andere Frau heiraten können. Sie hätte wieder studieren können, sobald Berner und ich auf dem College gewesen wären. Sie hätte Gedichte schreiben können, ihren frühen Ambitionen folgend. Das Schicksal hätte ihnen ein besseres Blatt auf die Hand gegeben.
Wenn sie diese Geschichte erzählen würden, käme natürlich eine andere dabei heraus, eine, in der sie die Hauptdarsteller der folgenden Ereignisse wären und meine Schwester und ich die Zuschauer – unter anderem sind Kinder ja genau das für ihre Eltern. Die Welt stellt sich Bankräuber normalerweise nicht mit Kindern vor – dabei haben bestimmt viele welche. Doch die Geschichte der Kinder – meine Geschichte und die meiner Schwester also – zu gewichten, strukturieren und bewerten, das steht uns selbst zu. Jahre später las ich auf dem College, dass der große Kritiker Ruskin einmal gesagt hat, Komposition sei das Arrangieren ungleicher Dinge. Das heißt, der Komponierende hat zu entscheiden, was womit gleichwertig ist, was mehr zählt und was beiseitegestellt werden kann, während das Leben daran vorbeiwirbelt, immer weiter vorwärts.
Das meiste, was ich über das Folgende weiß – ab Hochsommer 1960 –, stammt aus verschiedenen unsicheren Quellen: aus der Great Falls Tribune, die die Tat unserer Eltern als etwas Fantastisches und Lachhaftes darstellte. Anderes weiß ich aus der Chronik, die meine Mutter schrieb, während sie im Gefängnis von Golden Valley County in North Dakota saß und auf ihren Prozess wartete, und später dann im Zuchthaus von North Dakota in Bismarck. Ich weiß einiges aus den damaligen Bemerkungen mancher Leute. Und natürlich weiß ich ein paar Einzelheiten, weil wir mit ihnen im selben Haus lebten und sie beobachteten – wie es Kinder tun –, während die Dinge sich von einem friedlichen, guten Alltag zu einem schlechten wandelten, dann schlimmer wurden und letztlich so schlimm, wie man es sich nur vorstellen konnte (vorerst allerdings noch ohne Tote).
Mein Vater war fast die ganze Zeit seiner Stationierung auf dem Luftwaffenstützpunkt von Great Falls – vier Jahre lang – an einem kriminellen System beteiligt gewesen (was wir allerdings nicht wussten): Er lieferte gestohlenes Rindfleisch an den Offiziersclub und bekam Geld und frische Steaks dafür, die wir zweimal die Woche zu Hause aßen. Das System war auf dem Stützpunkt gut etabliert und wurde bei der Versetzung von einem Versorgungsoffizier an den nächsten weitergegeben. Dazu gehörten illegale Geschäfte mit einigen Indianern vom Cree-Stamm, die südlich von Havre, Montana, in einem Reservat lebten und sich darauf spezialisiert hatten, Hereford-Kühe aus den Herden der ortsansässigen Rancher zu stehlen, sie sofort heimlich zu schlachten und dann die Rinderhälften zum Stützpunkt zu transportieren, alles über Nacht. Das Fleisch wurde dann von dem Manager des Offiziersclubs in der Kühlkammer des Clubs gelagert und den Majors und Colonels und dem Stützpunktkommandanten und ihren Frauen serviert, die keine Ahnung hatten, wo es herkam, was ihnen auch egal war, solange keiner erwischt wurde und das Fleisch von guter Qualität war – und das war es.
Natürlich war das als Betrug läppisch, weshalb es auch seit Jahren problemlos lief und jeder erwartete, dass es ewig so weitergehen würde. Bloß flogen irgendwann aufgrund eines Missverständnisses peinlicherweise Teile des Systems auf, die mit der Rechnungsstellung im Bereich Versorgung und Bedarfsanforderung zu tun hatten, mehrere Air-Force-Leute bekamen Disziplinarverfahren, und mein Vater verlor seinen Captainsrang (auf den er stolz war) und wurde wieder First Lieutenant. Womöglich war der Schwindel zum Teil auch seinetwegen aufgeflogen, aber das kam nie zur Sprache. Die ganze Episode – von der Berner und ich nichts wussten – trug mit Sicherheit dazu bei, dass mein Vater beschloss, die Air Force zu verlassen. Möglicherweise wurde er sogar dazu gedrängt, obwohl er eine ehrenvolle Entlassungsurkunde bekam, die er einrahmte und übers Klavier neben das Roosevelt-Foto hängte. Sie war auch noch dort, nachdem unsere Eltern verhaftet worden waren, als meine Schwester und ich allein im Haus saßen und keiner nach uns schaute. In diesen Tagen stellte ich mich mehrfach davor, musterte sie (»Ehrenvoll entlassen aus der United States Air Force … ein Zeugnis des aufrichtigen, treuen Dienstes …«) und dachte, was da steht, stimmt nicht. Ich erwog, sie mitzunehmen, als ich abgeholt wurde. Aber dann habe ich nicht mehr dran gedacht und sie einfach in unserem leeren Haus hängen lassen, sollte sich ruhig irgendwer darüber lustig machen und sie am Ende in den Müll schmeißen.
Was mein Vater machte – und das steht in der Chronik meiner Mutter (»Chronik eines Verbrechens, begangen von einem schwachen Menschen« lautete ihr Titel, vielleicht hatte sie ihre Geschichte eines Tages veröffentlichen wollen) –, was mein Vater machte, während er erfolglos versuchte, Oldsmobiles und dann Dodges zu verkaufen, und schließlich Gebrauchtwagen und -motorräder an Flieger vertickte, war Folgendes, er kontaktierte die Indianer aus der Gegend südlich von Havre und versuchte, das Geschäft mit Rinderhälften wiederzubeleben. Er war überzeugt, die Indianer hätten einen profitablen Abnehmer für ihr Produkt verloren, und wenn er eine Person oder einen Ort auftäte, wo ihr Fleisch zukünftig hingeliefert werden könnte, liefe das Ganze wieder, und sogar noch besser, weil die Air Force nicht in die Sache verwickelt wäre und er seinen Gewinn mit niemandem teilen müsste. Hätte dieser drittklassige, unüberlegte Plan nicht unser ganzes Leben verändert, er wäre zum Lachen gewesen: unser Vater und unsere kleine, strenge jüdische Mutter in ihrem bescheidenen gemieteten Haus in Great Falls, diese unglückseligen Indianer und die gestohlenen Kühe, die sie mitten in der Nacht in einem alten Sattelschlepper schlachteten. Der gesunde Menschenverstand hätte gebieten müssen, die Finger von der Sache zu lassen. Aber keiner verfügte über gesunden Menschenverstand.
Als meinem Vater aufging, dass er nicht genug Geld für den Lebensunterhalt unserer Familie verdienen würde, während er lernte, wie man Farms und Ranches verkaufte – trotz seinen 280 Dollar Pension von der Air Force und dem Gehalt meiner Mutter von der Schule in Fort Shaw –, ging er auf die Suche nach möglichen Neukunden für gestohlenes Rindfleisch, gegenüber denen er als Hehler auftreten konnte. Viele Kandidaten gab es nicht in Great Falls, das wusste er. Das Columbus Hospital. Das Rainbow Hotel – wo er niemanden kannte. Ein oder zwei Steakhouse-Clubs, von denen er vielleicht wusste, die aber unter Beobachtung der Polizei standen, wegen illegaler Glücksspiele. Schließlich verfiel er auf die Eisenbahn, die Great Northern Railway, deren Western-Star-Passagierzug auf seinem Weg nach Seattle durch Great Falls kam, dann erneut, zwei Tage später, auf dem Rückweg nach Chicago. Dort gab es einen stetigen Bedarf an hochwertigem Essen für den Speisewagen, hin wie zurück. Unser Vater glaubte, der Lieferant für erstklassiges Rindfleisch könnte er sein, eben in Zusammenarbeit mit den Indianern aus der Nähe von Havre. Er kannte einen Flieger, der mal Enten und Wildgänse und Wild an einen Schwarzen verkauft hatte (alles illegal), einen Oberkellner im Speisewagen. Diesen Schwarzen besuchte unser Vater in seinem Haus in Black Eagle und schlug ihm den Handel vor.
Der Schwarze – er hieß Spencer Digby – stand dem Angebot aufgeschlossen gegenüber. Er hatte über die Jahre schon einige solche Betrügereien mitgemacht und keine Angst davor. Die Eisenbahn war offensichtlich nicht viel anders als die Air Force. Ich weiß noch, wie mein Vater an einem Nachmittag in blendender Laune nach Hause kam. Er sagte zu meiner Mutter, er habe eine »unabhängige Geschäftspartnerschaft« mit »Eisenbahnern« gebildet, was das Familieneinkommen aufbessern würde, während er die Grundbegriffe des Farm-und-Ranch-Spiels lernte. Nichts, was unser aller Leben und Streben entscheidend verändern würde, aber doch eine stabilere finanzielle Basis als bislang, seit er die Air Force verlassen hatte.
Ich weiß nicht mehr, was meine Mutter darauf sagte. In ihrer Chronik stand, sie hätte schon seit längerem erwogen, meinen Vater zu verlassen und mit meiner Schwester und mir in den Staat Washington zu gehen. Als er ihr das Arrangement erläutert habe, gestohlenes Fleisch an die Great Northern zu verkaufen (das ihm offensichtlich auch nicht peinlich war), habe sie, so schrieb sie, sich dagegen ausgesprochen, von Anfang an habe sie deshalb eine »schreckliche Anspannung« empfunden und beschlossen – da es so aussah, als ginge allmählich alles sehr schief –, mit uns beiden so bald wie möglich wegzugehen. Bloß dass sie es nicht tat.
Natürlich weiß ich nicht, was sie wirklich dachte. Ganz sicher stimmte, dass es zu dem Selbstbild unserer Mutter – einer jungen gebildeten Frau mit bürgerlichen Wertvorstellungen – wohl kaum passte, sich mit Kleinkriminellen gemeinzumachen. Möglicherweise wusste sie nichts von dem vorherigen Betrugssystem mit der Air Force, da unser Vater ja jeden Morgen zum Stützpunkt aufgebrochen war, als wäre das eine Arbeit wie jede andere, nur in einer blauen Uniform. Kann sein, dass er ihr nicht erzählte, was dort lief, denn sie wäre vermutlich auch dann schon dagegen gewesen, und er hätte wissen können, dass sie es zunehmend enttäuschend fand, eine Fliegergattin zu sein.
Vielleicht meinte sie, das Ende dieser Lebensweise nähere sich allmählich und es würde für sie besser, sobald Berner und ich alt genug wären, dann würde auch eine Scheidung vorstellbar. Sie hätte ihn in dem Augenblick verlassen können, als er ihr von dem Great-Northern-Plan erzählte. Aber wieder tat sie es nicht. Und deshalb kam all das, was hätte geschehen können, wenn sie Bev nie auf jener Weihnachtsparty begegnet wäre, die Gedichte, die sie geschrieben und veröffentlicht hätte, die Aussichten auf eine Lehrstelle an einem kleinen College, die Hochzeit mit einem jungen Professor, die Kinder, die nicht Berner und ich gewesen wären – all das, was ihr in einem anders angelegten Leben offengestanden hätte, kam nicht zustande. Stattdessen wohnte sie in Great Falls, einem Städtchen, von dem sie noch nie gehört hatte (so leicht zu verwechseln mit Sioux Falls, Sioux City, Cedar Falls), lebte in einer Welt, in der wir sie beschäftigt hielten und mit der sie fremdelte, wollte sich nicht einpassen und grübelte über die Zukunft. Während unser Vater in einer anderen Sphäre sein Dasein führte – mit seinem zum Pläneschmieden neigenden Wesen, seinem Optimismus, seinem Charme. Es schien dieselbe Welt zu sein, weil sie sie teilten und weil sie uns hatten. Aber es waren zwei verschiedene Sphären. Möglicherweise liebte sie ihn auch, denn er liebte sie zweifellos. Angesichts ihrer allgemein nicht optimistischen Einstellung, angesichts ihrer möglichen Liebe zu ihm und angesichts unserer Existenz konnte sie sich dem Schock, ihn zu verlassen und für immer mit uns allein zu sein, vielleicht nicht stellen. Solch eine Geschichte kommt gar nicht so selten vor.