Geheime Tochter

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Inhaltsverzeichnis

die mir in ihrem Leben so viel gegeben haben,

damit in meinem alles möglich wurde

Er hält den abgegriffenen Zettel fest in der Hand und versucht, die Buchstaben darauf mit denen auf dem roten Schild an der Tür vor ihm zu vergleichen. Mehrmals blickt er zwischen Zettel und Tür hin und her, um sich auch ja nicht zu vertun. Erst als er ganz sicher ist, drückt er auf den Klingelknopf, und im Innern schrillt eine Glocke. Er wartet, fährt dabei mit der flachen Hand über die Messingtafel neben der Tür, spürt die erhabenen Lettern mit den Fingern. Als sich die Tür plötzlich öffnet, zieht er die Hand zurück und gibt der jungen Frau, die vor ihm auftaucht, einen anderen Zettel. Sie liest, was darauf steht, blickt ihn an und tritt zurück, um ihn hereinzulassen.

Mit einer leichten Kopfbewegung bedeutet sie ihm, ihr den Flur entlang zu folgen. Er vergewissert sich, dass ihm das Hemd unter dem Bauchansatz nicht aus der Hose gerutscht ist, und fährt sich mit den Fingern durch das grau melierte Haar. Die junge Frau betritt ein Büro, gibt jemandem da drin den Zettel und zeigt dann auf einen Stuhl. Er folgt ihr hinein, nimmt Platz und faltet die Hände.

Der Mann hinter dem Schreibtisch mustert ihn durch eine dünne Brille. »Sie suchen also jemanden.«



Teil 1

Beginn der Trauer

Dahanu, Indien – 1984
Kavita

Als sie tief in ihrem Innern das erste unverkennbare Ziehen spürte, ging sie in der Abenddämmerung zu der unbewohnten Hütte, ohne irgendwem Bescheid zu sagen. Die Hütte ist leer, bis auf die Matte, auf der sie jetzt liegt, die Knie an die Brust gezogen. Als die nächste Schmerzwelle ihren Körper durchbebt, ballt Kavita die Fäuste, gräbt die Fingernägel in die Handteller und beißt auf den Ast zwischen ihren Zähnen. Ihr Atem geht schwer, aber gleichmäßig, während sie darauf wartet, dass der Krampf in ihrem geschwollenen Bauch wieder abebbt. Sie heftet den Blick auf den blassgelben Schatten, den eine flackernde Öllampe auf den Lehmboden wirft, ihre einzige Gesellschaft in den dunklen Nachtstunden. Sie versucht, ihre Schreie zu dämpfen, solange es ihr noch möglich ist. Schon bald, so weiß sie, wenn sie nicht anders kann als pressen, werden ihre Schreie die Hebamme des Dorfes alarmieren. Sie betet, dass das Baby vor Tagesanbruch da ist, denn ihr Mann wird selten vor Sonnenaufgang wach. Es ist das erste von nur zwei Gebeten, die Kavita für dieses Kind zu sprechen wagt, aus Angst, sonst vielleicht zu viel von den Göttern zu verlangen.

Das tiefe Donnergrollen in der Ferne erinnert daran, dass den ganzen Tag über Regen gedroht hat. Feuchtigkeit hängt in der Luft, schlägt sich in kleinen Tropfen auf

Die nächste Wehe kommt jäh und raubt ihr den Atem. Der Schweiß malt dunkle Flecke in die dünne Baumwolle ihrer Saribluse, die an einer Reihe winziger Hakenverschlüsse über den Brüsten spannt. Diesmal ist sie runder geworden als letztes Mal. Unter vier Augen hat ihr Mann mit ihr geschimpft, weil sie sich nicht besser verhüllt hat, aber dann hörte sie, dass er anderen Männern gegenüber mit ihren Brüsten prahlte, sie mit reifen Melonen verglich. Sie hielt es für eine Gnade, dass ihr Körper diesmal anders aussah, weil ihr Mann und die anderen deshalb davon ausgingen, dass dieses Baby ein Junge würde.

Eine plötzliche Angst packt sie, dieselbe erstickende Angst, die sie die ganze Schwangerschaft hindurch gespürt hat. Was wird passieren, wenn alle sich täuschen? In ihrem zweiten Gebet, das verzweifelter ist als das erste, fleht sie darum, dass sie nicht wieder ein Mädchen zur Welt bringt. Denn das kann sie nicht noch einmal ertragen.

 

Sie war nicht darauf gefasst gewesen, was beim letzten Mal geschah. Ihr Mann kam ins Zimmer gestürmt, kaum dass die Hebamme die Nabelschnur durchtrennt hatte. Kavita nahm den widerlich süßen Geruch von chickoo-fruit-Schnaps an ihm wahr. Als Jasu den sich windenden Körper des kleinen Mädchens in Kavitas Armen sah, glitt ein Schatten über sein Gesicht. Er wandte sich ab.

Kavita fühlte, wie die gerade aufkeimende Freude

Der Schmerz der Geburtswehen hatte ihren Körper geschwächt. Ihr Verstand versuchte verzweifelt zu begreifen. Zu spät nahm sie wahr, dass ihr Mann einen Satz auf sie zu machte. Und sie war nicht schnell genug, um ihn daran zu hindern, dass er ihr das Baby aus den Armen riss. Die Hebamme hielt sie fest, als sie sich nach vorn warf, mit ausgestreckten Armen und noch lauter schreiend als in dem Moment, in dem der Kopf des Babys ihr Fleisch zerriss, um sich einen Weg nach draußen zu bahnen. Er verschwand mit seiner schreienden Tochter, die ihre ersten Atemzüge in dieser Welt tat, aus der Hütte. In diesem schrecklichen Moment wusste Kavita, dass es auch ihre letzten sein würden.

Die Hebamme drückte sie sanft wieder zurück. »Lass ihn gehen, mein Kind. Lass ihn doch gehen. Es ist vorbei. Du musst dich ausruhen. Du hast eine Tortur hinter dir.«

Kavita verbrachte die nächsten zwei Tage zusammengerollt auf der Strohmatte auf dem Hüttenboden. Sie traute sich nicht zu fragen, was mit ihrem Baby geschehen war. Ob die Kleine ertränkt oder erstickt worden war oder ob man sie einfach irgendwo hatte verhungern lassen, Kavita hoffte bloß, dass es ein gnädiger, schneller Tod gewesen war. Letztendlich würde der winzige Körper ihrer Tochter

In jenen zwei Tagen erhielt Kavita keinerlei Besuch außer von der Hebamme, die ihr zweimal am Tag etwas zu essen und frische Tücher brachte, um damit das Blut aufzusaugen, das aus ihrem Körper floss. Sie weinte, bis ihre Augen wund waren, bis sie glaubte, keine einzige Träne mehr übrig zu haben. Aber wie sich herausstellte, war das bloß der Beginn ihrer Trauer, die noch quälender wurde, als ihre Brüste ein paar Tage später Milch produzierten und ihr im Monat darauf die Haare ausfielen. Und nach dieser Nacht blieb ihr jedes Mal das Herz stehen, wenn sie ein kleines Kind sah, und die Erinnerung holte sie erneut ein.

Als sie aus ihrer Trauer wieder auftauchte, sprach niemand sie auf ihren Verlust an. Keiner der anderen Dorfbewohner schenkte ihr ein aufmunterndes Wort oder eine tröstende Berührung. In dem Haus, das sie und Jasu gemeinsam mit seiner Familie bewohnten, erntete sie höchstens verächtliche Blicke und ungebetene Ratschläge, wie sie das nächste Mal mit einem Jungen schwanger werden könnte. Kavita war seit Langem daran gewöhnt, kaum Einfluss auf ihr eigenes Leben zu haben. Als Achtzehnjährige war sie mit Jasu verheiratet worden und sie hatte sich mit der täglichen Mühsal aus Wasserholen, Wäschewaschen und Essenkochen abgefunden. Den ganzen Tag über tat sie, was ihr Mann von ihr verlangte, und auch wenn sie nachts beisammenlagen, fügte sie sich seinem Willen.

Doch nach dem Baby veränderte sie sich, wenn auch nur in kleinen Dingen. Sie gab noch eine rote Chilischote mehr in das Essen ihres Mannes, wenn sie wütend auf

Sauber

San Francisco, Kalifornien – 1984
Somer

Die medizinische Fachzeitschrift fällt Somer aus der Hand, und sie hält sich den Unterleib. Sie erhebt sich von der Couch und stolpert Richtung Badezimmer, stützt sich dabei auf dem Weg durch den langen Flur ihrer viktorianischen Wohnung an der Wand ab. Obwohl sie sich wegen der stechenden Schmerzen krümmt, zieht sie ihren Bademantel beiseite, ehe sie sich auf die Toilette setzt. Sie sieht das hellrote Blut, das an der blassen Haut ihrer Oberschenkel hinabrinnt. »Nein. Oh Gott, bitte, nein.« Ihr Flehen ist leise, aber beschwörend. Es ist niemand da, der sie hören könnte. Sie presst die Beine zusammen und hält den Atem an. Bleib ganz still sitzen, vielleicht hört die Blutung dann auf.

Vergeblich. Sie legt das Gesicht in die Hände, und die Tränen kommen. Sie sieht zu, wie sich die rote Pfütze in der Toilettenschüssel ausbreitet. Ihre Schultern beginnen zu beben, und ihre Schluchzer werden lauter und länger, bis ihr ganzer Körper von ihnen überwältigt wird. Sie schafft es, Krishnan anzurufen, nachdem die Krämpfe etwas abgeklungen sind. Als er nach Hause kommt, liegt sie eng zusammengerollt auf dem ungemachten Himmelbett im Schlafzimmer. Sie hat sich ein Handtuch zwischen die Beine gedrückt, einst flauschig und zart vanillefarben, ein Geschenk zu ihrer Hochzeit vor fünf Jahren. Sie hatten den Farbton gemeinsam ausgesucht – nicht

Kris setzt sich auf die Bettkante und legt ihr eine Hand auf die Schulter. »Bist du sicher?«, fragt er leise.

Sie nickt. »Genau wie letztes Mal. Krämpfe, Blutung …« Sie fängt wieder an zu weinen. »Diesmal mehr Blut. Ich schätze, weil ich weiter war …«

Kris reicht ihr ein Papiertaschentuch. »Okay, Schatz. Ich rufe Dr. Hayworth an und frage, ob wir gleich zu ihm ins Krankenhaus kommen können. Brauchst du irgendwas?« Er legt eine Decke über sie, drückt sie um die Schultern fest. Sie schüttelt den Kopf und rollt sich auf die Seite, weg von Krishnan, der sich mehr wie ein Arzt verhält als wie der Ehemann, den sie dringend braucht. Sie schließt die Augen und berührt ihren Bauch, wie sie es zahllose Male am Tag tut, aber diese Geste, die ihr normalerweise Trost gibt, fühlt sich jetzt wie eine Strafe an.

 

Das Erste, was Somer sieht, als sie die Augen öffnet, ist der Infusionsständer neben ihrem Bett. Sie schließt sie rasch wieder in der Hoffnung, den Traum weiterträumen zu können, in dem sie ein kleines Kind auf einer Spielplatzschaukel anstößt. War es ein Mädchen oder ein Junge?

»Der Eingriff ist gut gelaufen, Somer. Alles ist jetzt wieder sauber, und ich habe nichts feststellen können, das mich zu der Annahme verleiten würde, Sie könnten in einigen Monaten nicht einen weiteren Versuch starten.« Dr. Hayworth blickt in seinem frischen weißen Kittel vom Fußende des Bettes auf sie herab. »Versuchen Sie, sich etwas zu erholen, und ich sehe dann noch einmal nach Ihnen, bevor Sie entlassen werden.« Er tätschelt ihr leicht das Bein durch die Bettdecke, ehe er sich umdreht und geht.

»Danke, Doctor«, ertönt eine Stimme von der

»Sauber«, sagt sie.

Er runzelt die Stirn und legt den Kopf schief. »Sauber?«

»Er hat sauber gesagt. Dr. Hayworth hat gesagt, ich bin wieder sauber. Was war ich denn vorher? Als ich schwanger war?« Ihre Augen richten sich auf die summende Neonröhre über dem Bett. Mädchen oder Junge? Welche Augenfarbe?

»Ach, Schatz. Er meint doch bloß … Du weißt, was er meint.«

»Ja, ich weiß, was er meint. Er meint, dass jetzt alles weg ist: das Baby, die Plazenta, alles. Mein Uterus ist wieder hübsch und leer. Sauber.«

Eine Krankenschwester kommt herein und lächelt. »Zeit für Ihr Schmerzmittel.«

Somer schüttelt den Kopf. »Ich will nichts.«

»Schatz, du solltest es nehmen«, sagt Krishnan. »Dann fühlst du dich bald wieder besser.«

»Ich will mich nicht besser fühlen.« Sie dreht sich von der Schwester weg. Sie verstehen nicht, dass sie nicht nur das Baby verloren hat. Sie hat alles verloren. Die Namen, die sie im Kopf aufzählt, nachts im Bett. Die Farbmuster, die sie in ihrer Schreibtischschublade fürs Kinderzimmer gesammelt hat. Die Träume, wie sie ihr Kind in den Armen wiegt, wie sie bei den Schularbeiten hilft, wie sie anfeuernd an der Seitenlinie vom Fußballplatz steht. Das alles ist weg, verschwunden in dem dichten Nebel draußen. Sie verstehen das nicht. Nicht die Schwester, nicht Dr. Hayworth, nicht mal Krishnan. Sie sehen sie bloß als eine Patientin, die behandelt werden muss, als ein menschliches Gerät, das repariert werden muss. Bloß ein weiterer Körper, der gesäubert werden muss.

 

Sie sollte eigentlich noch gar nicht hier sein, in diesem Krankenhaus, das sie gezielt des Schwerpunkts wegen ausgesucht hat: Geburtshilfe. Achttausend Geburten pro Jahr. Allein heute kommen zwanzig Babys zur Welt. Heute, während ihr totes Baby aus ihr herausgeschabt wurde. Auf der Etage direkt unter ihrer hat jede Frau auf der Station ein schlafendes Baby in ihrem Zimmer liegen. Es scheint so leicht zu sein für alle anderen: die Mütter, die sie jeden Tag in ihrer Praxis sieht, ihre Freundinnen, selbst die blöde Kuh in der Spielshow, die ihren Kindern im Publikum zuwinkt.

Vielleicht will die Natur ihr auf diese Weise etwas sagen. Vielleicht bin ich einfach nicht dafür bestimmt, Mutter zu werden.

Nie wieder

Dahanu, Indien – 1984
Kavita

Ein anderer Schmerz setzt ein, diesmal noch tiefer in ihr drin, seine stumpfen Ränder zu zackigen Klingen geschärft, Kavita kann zwischen den Schmerzwellen, die dicht aufeinanderfolgen, nicht mehr Atem holen. Ihre Oberschenkel zittern, ihr Rücken pocht, und sie kann die gequälten Schreie nicht mehr unterdrücken. Als der Laut ihre Ohren erreicht, hat er keine Ähnlichkeit mehr mit einer menschlichen Stimme. Dieser Körper ist nicht mehr ihr Körper, er wird von Urimpulsen getrieben, die der Erde gehören, den Bäumen, der Luft. Draußen erhellt ein plötzlicher Blitz den dunklen Himmel, und ein Donnerschlag lässt den Boden unter ihr erbeben. Der Ast in ihrem Mund bricht unter dem Druck ihres verkrampften Kiefers, und sie schmeckt die bittere Würze von rohem grünem Holz darin. Das Letzte, was sie wahrnimmt, ist eine nasse Wärme, die ihren Körper umhüllt.

Als sie die Augen wieder aufschlägt, spürt Kavita, wie die Hebamme ihr die Beine spreizt und sich dazwischenkniet. »Beti, du hättest mich früher rufen sollen. Ich wäre gekommen. Wie lange liegst du hier schon so allein? Der Kopf des Babys ist schon zu sehen. Es dauert nicht mehr lange. Das zweite Mal ist viel …« Ihre Stimme verliert sich.

»Daiji, hör zu. Was auch passiert, du darfst nicht

»Hahnji, ja, ich verspreche es«, sagt die Hebamme. »Aber jetzt, Kind, jetzt musst du pressen.«

Sie hat recht. Kavita braucht nur einige Male und schon hört sie einen beruhigenden Schrei. Die Hebamme säubert das Baby rasch und wickelt es ein. Kavita stemmt mühsam den Oberkörper hoch, schiebt sich die feuchten Haarsträhnen aus dem Gesicht und nimmt das Kind in die Arme. Sie streichelt dem Baby über das verklebte schwarze Haar und bestaunt die winzigen Finger, die in die Luft greifen. Sie schmiegt den kleinen Körper an sich, atmet tief den Duft ein und legt dann den Babymund an ihre Brust. Sobald das Neugeborene anfängt, in einem schläfrigen Rhythmus zu saugen, wickelt Kavita das Tuch von dem winzigen Körper.

Niemand hat meine Gebete erhört. Kavita schließt die Augen, und ihr Körper bebt vor lautlosem Weinen. Sie beugt sich vor, ergreift die Hand der Hebamme und flüstert: »Daiji, verrate es niemandem. Geh schnell und hol Rupa her. Niemandem, hörst du?«

»Hahnji. Ja, mein Kind. Die besten Wünsche dir und deinem Baby. So, jetzt ruh dich bitte aus. Ich hole etwas zu essen.« Die Hebamme tritt hinaus in die Nacht. Sie verharrt einen Moment, krümmt leicht den Rücken, dann hebt sie ihren Eisentopf mit Zubehör vom Boden auf und geht.

 

Als das erste Morgenlicht in die Hütte dringt, wird Kavita wach und spürt den pochenden Schmerz in der Beckengegend. Sie dreht sich auf die Seite, und ihr Blick fällt auf das Neugeborene, das friedlich neben ihr schläft. Ihr Magen rumort. Sie hat plötzlich Heißhunger. Sie greift nach

Es dauert nicht lange, bis sich die Tür knarrend öffnet und helles Sonnenlicht hereinströmt. Jasu betritt die Hütte mit leuchtenden Augen. »Wo ist er?« Er winkt lockend mit den Händen. »Wo ist mein kleiner Prinz? Los, los … ich will ihn sehen!« Er kommt mit ausgestreckten Armen auf sie zu.

Kavita erstarrt. Sie drückt das Baby an die Brust und versucht unbeholfen, sich aufzusetzen. »Sie ist hier. Deine kleine Prinzessin ist hier.« Sie sieht, wie seine Augen sich verdunkeln. Ihre Arme zittern, als sie sie fest um das Baby schlingt, den kleinen Körper schützt.

»Arre! Wieder ein Mädchen? Was ist bloß los mit dir? Zeig her!«, ruft er.

»Nein. Das werde ich nicht. Du nimmst sie mir nicht weg.« Sie hört ihre schrille Stimme, spürt die Spannung, die ihre Glieder erfasst. »Es ist mein Baby, unser Baby, und ich lasse nicht zu, dass du sie wegbringst.« Sie sieht Verwirrung in seinen Augen, die in ihrem Gesicht nach einer vernünftigen Erklärung suchen. So trotzig hat sie noch mit niemandem gesprochen, schon gar nicht mit ihrem Mann.

Er macht ein paar Schritte auf sie zu, dann wird sein Gesicht weich, und er sinkt neben ihr auf die Knie. »Versteh doch, Kavita, du weißt, dass wir das Baby nicht behalten können. Wir brauchen einen Jungen, der uns auf den Feldern hilft. Wir können uns sowieso schon kaum ein Kind leisten, wie sollen wir dann zwei ernähren? Die Tochter meines Cousins ist dreiundzwanzig und noch immer nicht verheiratet, weil er die Mitgift nicht aufbringen kann. Wir sind keine reiche Familie, Kavita. Du weißt, wir können das nicht.«

»Kavita, bitte, sei doch vernünftig. Es geht einfach nicht.« Er wirft die Hände in die Luft. »Sie wird eine Belastung für uns sein, für unsere ganze Familie. Willst du das etwa?« Er erhebt sich, baut sich wieder vor ihr auf.

Ihr Mund ist trocken. Sie stolpert über die Worte, die sie sich bisher nur in Gedanken zu bilden erlaubt hat. »Gib mir eine Nacht. Bloß eine Nacht mit meinem Kind. Morgen kannst du sie holen kommen.«

Jasu schweigt, blickt nach unten auf seine Füße.

»Bitte.« Das Hämmern in ihrem Schädel wird lauter. Sie möchte schreien, um sich durch den Lärm verständlich zu machen. »Das ist unsere Tochter. Wir haben sie zusammen geschaffen. Ich habe sie in mir getragen. Gib mir eine Nacht, bevor du sie wegbringst.« Plötzlich wird das Baby wach und schreit. Jasu blickt auf, aus seiner Trance gerissen. Kavita legt sich die Kleine an die Brust und stellt die Stille zwischen ihnen wieder her.

»Jasu«, sagt sie und zeigt ihm durch die ungewöhnliche Verwendung seines Vornamens, wie ernst es ihr ist. »Hör gut zu. Ich schwöre, wenn du mir nicht mal diese eine Nacht gewährst, sorge ich dafür, dass ich kein weiteres

Ohne große Mühe

San Francisco, Kalifornien – 1984
Somer

»Hallo, ich bin Dr. Whitman.« Somer betritt den kleinen Untersuchungsraum, in dem eine Frau versucht, ein strampelndes Kleinkind zu bändigen. »Was kann ich für Sie tun?«

»Er ist seit gestern so – weinerlich, gereizt. Ich kann ihn einfach nicht beruhigen, ich glaube, er hat Fieber.« Die Frau hat einen lockeren Pferdeschwanz und trägt ein schmuddeliges Sweatshirt über einer Jeans.

»Na, dann wollen wir uns den Kleinen mal ansehen.« Somer wirft einen Blick auf die Krankenkarte. »Michael? Willst du mal meine schicke Taschenlampe sehen?« Somer knipst die Ohrenleuchte an und aus, bis das Interesse des Jungen geweckt ist und er danach greift. Sie lächelt und öffnet weit den Mund. Als der Junge sie nachmacht, steckt sie einen Zungenspatel hinein. »Isst und trinkt er normal?«

»Ja. Das heißt, ich glaube es zumindest. Ich weiß noch nicht so genau, was normal ist, wir haben ihn nämlich erst seit ein paar Wochen. Wir haben ihn mit sechs Monaten adoptiert.« Das plötzliche und stolze Lächeln der Mutter lässt beinahe die Schatten unter ihren Augen verschwinden.

»Mmm-hmm. Na, wie wär’s, kleiner Mann? Willst du mal mit diesem tollen Stöckchen spielen?« Somer gibt

»Er hat schnell Vertrauen gefasst, und jetzt will er ständig herumgetragen werden. Wir sind schon ein richtig gutes Team, was, kleiner Mann? Obwohl du letzte Nacht dreimal wach geworden bist«, sagt die Mutter und stupst ihm mit dem Finger in den pummeligen Bauch. »Es stimmt, was man so sagt.«

»Was sagt man denn?« Somer tastet, um zu überprüfen, ob der Junge geschwollene Lymphdrüsen hat.

»Du weißt es erst, wenn es dir passiert. Es ist die stärkste Liebe, die man sich vorstellen kann.«

Somer spürt einen vertrauten Stich in der Brust. Sie blickt von dem Stethoskop auf, das sie dem Jungen auf den Rücken drückt, und lächelt seine Mutter an. »Er ist ein Glückspilz, dass er Sie hat.« Sie zieht einen Rezeptblock aus ihrer Tasche. »Also, er hat eine ziemlich starke Entzündung im rechten Ohr, aber das andere sieht gut aus, und Brust und Lunge sind auch in Ordnung. Dieses Antibiotikum müsste die Sache im Nu wieder beheben, und heute Nacht sollte er sich schon deutlich besser fühlen.« Sie streicht der Mutter über den Arm, als sie ihr das Rezept reicht.

Genau deshalb liebt Somer ihre Arbeit. Sie kann in ein Zimmer gehen, wo ein schreiendes Kind und eine ängstliche Mutter warten, und weiß, wenn sie wieder geht, werden sich beide besser fühlen. In ihrem Pädiatrie-Blockpraktikum hatte sie zum ersten Mal ein hysterisches Kind beruhigt, ein zuckerkrankes Mädchen mit kollabierten Venen, dem Blut abgenommen werden musste. Somer hielt der Kleinen die Hand und bat sie, die Schmetterlinge zu beschreiben, die sie sah, wenn sie die Augen schloss. Sie

»Danke, Doctor«, sagt die Mutter sichtlich erleichtert. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Ich halte das kaum aus, wenn ich nicht weiß, was ihm fehlt. Für mich ist er ein kleines Bündel voller Geheimnisse, und ich lerne ihn jeden Tag ein bisschen mehr kennen.«

»Keine Sorge«, sagt Somer, die Hand schon am Türknauf. »Das geht allen Eltern so, egal, wie die Kinder zu ihnen kommen. Mach’s gut, Michael.«

Somer geht zurück in ihr Büro und schließt die Tür, obwohl sie schon zwanzig Minuten zu spät dran ist. Sie legt erst ihre Instrumente auf den Schreibtisch und dann den Kopf. Als sie zur Seite blickt, sieht sie das Plastikmodell eines menschlichen Herzens, das Krishnan ihr geschenkt hat, als sie beide Examen machten.

»Ich schenke dir mein Herz«, sagte er, aber so, dass es sich nicht so kitschig anhörte, wie es aus dem Mund von jemand anderem geklungen hätte. »Pass gut drauf auf.«

 

Es war fast zehn Jahre her, dass sie im mattgelben Licht der Lane Library der medizinischen Fakultät von Stanford zum ersten Mal voneinander Notiz nahmen. Sie waren Abend für Abend dort, und nicht bloß unter der Woche, wenn die Bibliothek in der Regel voll war, sondern auch an Freitagabenden, statt wie andere auszugehen, und tagsüber an den Wochenenden, wenn andere ihre Freizeit genossen. Es gab nur etwa ein Dutzend Lane-Stammgäste: die Fleißigsten, die Lerneifrigsten. Im Rückblick, so wird Somer klar, waren sie diejenigen,

»Summer, wie der Sommer auf Englisch?«, fragte Krishnan, als sie sich vorstellte.

»Nur von der Aussprache her.« Sie lächelte. »Es schreibt sich S-o-m-e-r.« Sie wartete, während er darüber nachdachte. Es gefiel ihr, ein bisschen anders zu sein. »Es ist eigentlich ein Nachname. Und du bist … Chris?«

»Ja. Das heißt, Kris mit K. Das ist die Kurzform von Krishnan, aber du kannst mich Kris nennen.«

Sie war auf Anhieb hingerissen von seinem britisch klingenden Akzent, der im Vergleich zu ihrem langweiligen kalifornischen Einschlag so weltgewandt klang. Sie hörte es gern, wenn er im Seminar Fragen beantwortete, nicht nur wegen seiner charmanten Aussprache, sondern auch weil seine Antworten ausnahmslos, wunderbar korrekt waren. Manche Kommilitonen hielten ihn für arrogant, aber Somer hatte Intelligenz schon immer verführerisch gefunden. Erst später bemerkte sie seine Grübchen, auf der Party bei Gabi im Frühjahr. Somer nippte vorsichtig an ihrem tropischen Rumpunsch. Sie wusste, wie

»Wie ich höre, hat Meyer dich also auch gefragt, ob du in den Semesterferien bei ihm im Labor arbeiten willst?«, sagte er leicht nuschelnd und beugte sich näher zu ihr, die mit gekreuzten Beinen auf einem weißen Gartenstuhl saß.

Ihn auch? Somers Herz machte einen kleinen Sprung. Ein Angebot von Professor Meyer war eine der begehrtesten Trophäen im ersten Studienjahr. »Ja, dich auch?«, fragte sie und versuchte, möglichst gleichgültig zu klingen. Sie spürte förmlich, wie Krishnans Augen auf den winzigen Glöckchen am Ausschnitt ihrer Bauernbluse verharrten, und war froh, dass sie sich noch umgezogen hatte.

Er schüttelte den Kopf und nahm wieder einen großen Schluck von seinem pinkfarbenen Drink. »Nein, ich bin den Sommer über in Indien. Meine letzte Chance vor dem Blockpraktikum. Meine Mutter reißt mir sonst den Kopf ab.« Als er lächelte, zeigten sich seine Grübchen. Sie spürte ein Prickeln von ihrer Magengrube aus in den Kopf aufsteigen und fragte sich, ob sie schon zu viel Punsch getrunken hatte. Sie unterdrückte den Impuls, die Hand auszustrecken und ihm das zerzauste schwarze Haar glatt zu streichen, das ihm in die Augen fiel und ihn aussehen ließ wie einen kleinen Jungen. Wie er ihr später erzählte, hatten ihn ihre grünen Augen bezaubert, die im Licht der Petroleumfackeln funkelten, und die Art, wie sie über alles lachte, was er an diesem Abend sagte.

Sie begannen, jeden Abend zusammen zu lernen, fragten sich vor Prüfungen gegenseitig ab, spornten einander an, besser zu werden. Kris genoss es, sich intellektuell mit ihr zu messen, und es schien ihm nichts auszumachen, wenn sie ihn gelegentlich übertraf. Er war eine wohltuende Abwechslung von ihrem letzten Freund, mit dem

Sosehr sie die intensive gemeinsame Studienzeit mit Kris genoss, liebte sie doch am meisten seine sanfte Seite: wenn sie nachts zusammen im Bett lagen und er ihr von seinen Brüdern daheim erzählte, die er vermisste, oder von den Spaziergängen mit seinem Vater am Meer. »Wie ist es da?«, fragte sie ihn oft. Indien klang faszinierend. Sie stellte sich hohe schwankende Kokospalmen vor, warme tropische Winde und exotische Früchte. Sie war nur einmal im Ausland gewesen, in Kanada, zu Besuch bei ihren Großeltern. Sie hatte sich immer so eine große Familie gewünscht wie die, von der Krishnan erzählte: die beiden Brüder, zu denen er ein enges Verhältnis hatte, die zahllosen Cousins, die auf Familientreffen spontan zusammen Cricket spielten. Als Einzelkind hatte Somer zu ihren Eltern zwar eine besondere Bindung, aber sie wurde trotzdem das Gefühl nicht los, dass ihr mit diesem Zusammenhalt unter Geschwistern etwas entgangen war.

Diese ersten Jahre des Medizinstudiums verliefen herrlich unkompliziert, eingebunden in einen engen Freundeskreis, mit dem sie fast ständig zusammen waren. Sie alle verfolgten dasselbe Ziel und als Studenten hatten sie alle den gleichen bescheidenen Lebensstil. Sie lernten ständig, und ihre ganze Welt endete an den Grenzen des Stanforder Campus. Vietnam war vorbei, Nixon war out und die freie Liebe war in. Somer investierte Stunden, um Kris das Fahren auf der rechten Straßenseite beizubringen. Später gestand er, wie dankbar er ihr gewesen war, dass er

Als sie ihre erste Prüfung ablegten, war Somer bis über beide Ohren verliebt. Es war das Erste, was ihr im Leben passiert war, ohne dass sie sich dafür großartig hatte anstrengen müssen. Schon bald waren ihre beiden Leben so miteinander verwoben, dass Somer sich eine Zukunft ohne Krishnan nicht mehr vorstellen konnte. Schließlich nahte das Ende des Studiums und damit der Beginn der Facharztausbildung, und sie sprachen darüber, worauf sie sich spezialisieren wollten: Sie wollte Kinderärztin werden, er Neurochirurg. Die University of California in San Francisco bildete in beiden Fachgebieten aus, aber die Zulassungsbedingungen waren streng.

»Wie stehen unsere Chancen?«, fragte Krishnan sie.

»Keine Ahnung. In meinem Fach gibt es sechs Stellen, vielleicht fünfzig Bewerbungen? Also zehn Prozent für mich. Für dich deutlich weniger.«

»Und wenn wir uns gemeinsam bewerben würden?«, sagte er. »Als Paar. Als Ehepaar.«

Sie sah ihn an. »Ich … schätze … das würde unsere Chancen verbessern.« Sie schüttelte kurz den Kopf. »Moment, willst … du das denn?«

Er lächelte zaghaft und zuckte die Achseln. »Ja, du nicht?«

»Doch.« Sie lächelte ebenfalls. »Ich weiß, wir haben drüber gesprochen, aber jetzt?«

»Na, es ist doch sinnvoll, oder? Es ist bloß eine Frage des Zeitpunkts, wenn wir uns beide sicher sind.« Er nahm

»Macht nichts«, sagte sie. »So was brauche ich nicht.«

Sie fuhren kurzerhand zum Standesamt und beschlossen, die Hochzeitsfeier nachzuholen. Sobald sie ihren Abschluss in der Tasche hatten, mieteten sie sich eine kleine Wohnung unweit der Uniklinik und konnten es kaum erwarten, das nächste Kapitel ihres neuen gemeinsamen Lebens aufzuschlagen.

 

Es klopft laut an ihrer Bürotür. »Dr. Whitman?«

 

»Ja.« Somer stellt das Modellherz zurück auf den Schreibtisch und steht auf. »Ich komme.«

Eine lange Reise

Dahanu, Indien
Kavita

Der Morgen ist kaum angebrochen, als Kavita und Rupa das Dorf verlassen. Kavitas Wunden sind frisch, und ihr Körper hat sich noch nicht wieder erholt, doch trotz der Sorgen ihrer Schwester ist sie entschlossen, die Reise auf sich zu nehmen. Gestern hat Rupa sich bereit erklärt, sie zum Waisenhaus in die Stadt zu bringen. Rupa hat in sechs Jahren bereits vier Kinder bekommen, daher suchte sie sich letztes Jahr nach der Geburt des Fünften ein Waisenhaus in Bombay. Kavita wusste Bescheid, obwohl niemand im Dorf darüber sprach. Sie hat Rupa gebeten, sie dorthin zu bringen, trotz der damit verbundenen Risiken. Selbst wenn sie die Reise und die Stadt überleben, wartet der Zorn ihrer Männer auf sie, wenn sie zurückkommen.

Es ist schon ziemlich warm, und die unbefestigten Straßen haben den meisten Regen aufgenommen, sodass nur an den Rändern ein paar verräterische Pfützen übrig geblieben sind. Auch die werden am Ende des Tages verschwunden sein, aufgesogen von den Strahlen der erwachenden Sonne. Der Weg in die Stadt könnte zu Fuß mehrere Stunden dauern, doch sie haben Glück, im nächsten Dorf nimmt sie ein Mann mit, der seine Reisernte mit einem Ochsenkarren in die Stadt bringen will. Sie sitzen hinten auf dem Karren, umgeben von Jutesäcken, und halten sich zum Schutz vor den Staubwolken,

»Bena, leg dich doch ein bisschen hin. Ruh dich aus«, sagt Rupa und streckt die Arme nach dem Baby aus. »Ich halte sie. Komm, gib sie ihrer masi.« Sie setzt ein schwaches Lächeln auf.

Kavita schüttelt den Kopf und blickt starr auf die Felder. Sie weiß, ihre Schwester möchte ihr den Schmerz ersparen, der sie erwartet. Rupa hat ihr erzählt, wie schwer es letztes Jahr für sie war, ihr eigenes Kind im Waisenhaus abzugeben, und das obwohl sie schon vier Kinder hatte. Sie hat Kavita anvertraut, dass sie noch immer an das Baby denken muss, wenn sie nachts wach liegt, an ihr eigen Fleisch und Blut irgendwo auf der Welt verschollen. Aber Kavita will nicht auf die wenige Zeit verzichten, die ihr noch bleibt. In Bombay wird sie ertragen, was sie ertragen muss, aber nicht vorher.

 

Schon als sie zusammen aufwuchsen, benahm Kavita sich mehr wie eine Erwachsene als andere Kinder. Statt in den ersten Monsungüssen ausgelassen herumzutollen, lief Kavita los, um die Wäsche von der Leine zu holen. Wenn sie am Rand eines Feldes einen Haufen geschnittenes Zuckerrohr fanden, nahm Rupa sich so viel, wie sie tragen konnte, und kaute während des ganzen Nachhausewegs auf den fasrigen Halmen. Kavita hingegen nahm nur ein Stück mit, um ihren Eltern damit nachmittags einen Tee zuzubereiten. Als es an der Zeit war, einen passenden Ehemann zu finden, tat Kavitas Familie, was sie konnte, um ihr unscheinbares Aussehen auszugleichen. »Denk dran«, ermahnte Rupa ihre Schwester, während sie ihr

Aber wenn interessierte Familien zu Besuch kamen, fiel Kavita selbst das züchtige Lächeln schwer, das man ihr aufgetragen hatte. Hinterher fand der Junge stets einen Grund, die Kandidatin abzulehnen. Erst nachdem ihre Eltern eine unverhältnismäßig hohe Mitgift zusammengekratzt hatten, konnten sie Kavita einen Mann beschaffen und damit die für sie wichtigste Pflicht erfüllen. Obgleich Jasu mitunter schwierig war, wusste Kavita, dass sie dankbar sein sollte. Andere Ehemänner im Dorf waren faul, schlugen ihre Frauen oder verprassten ihren Verdienst für Alkohol. Und niemand wollte das Schicksal der armen alten Frauen erleiden, die allein lebten, ohne den Schutz eines Mannes.

 

Jedes Mal, wenn der Ochsenkarren auf der staubigen Straße durchgerüttelt wird, schießt Kavita ein stechender Schmerz durch den Unterleib. Seit sie und ihre Schwester sich heute Morgen auf den Weg gemacht haben, blutet sie wieder. Sie wischt das Blut, das ihr am Bein hinabläuft, mit ihrem Sari ab, ehe Rupa es bemerkt. Sie weiß, nur wenn sie es zu dem Waisenhaus in der Stadt schafft, hat Usha eine Chance. Usha, Morgendämmerung. Der Name ist ihr in den stillen frühen Morgenstunden eingefallen, nachdem die Hebamme gegangen war. Er hallte in ihrem Kopf, während sie ihre kleine Tochter betrachtete, um sich möglichst jede Einzelheit ihres Gesichts einzuprägen. Als

Was ist das doch für eine Macht, denkt sie mit Blick auf das Kind, einem anderen Menschen einen Namen zu geben. Als sie Jasu heiratete, nannte seine Familie sie in Kavita um, weil sie und der Dorfastrologe den Namen passender fanden als Lalita, den einzigen Namen, den ihre Eltern für sie ausgesucht hatten. Ihr zweiter Vorname und ihr Nachname kamen von ihrem Vater: Die würden ohnehin in die ihres Mannes umgeändert werden. Aber sie nahm es Jasu übel, dass er ihr auch den ersten Vornamen genommen hatte.

Kavita hat Usha ganz allein ausgesucht, ein geheimer Name für ihre geheime Tochter. Der Gedanke zaubert ein Lächeln auf ihr Gesicht. Dieser eine Tag, den sie allein mit ihrer Tochter verbringen durfte, war kostbar. Obwohl sie erschöpft war, wollte sie nicht schlafen. Sie wollte keinen einzigen Augenblick verpassen. Kavita hielt ihr Baby eng an sich gedrückt, sah zu, wie der kleine Körper sich bei jedem Atemzug hob und senkte, zeichnete die feinen Augenbrauen und die Falten der zarten Haut nach. Sie stillte sie, wenn sie weinte, und in den wenigen Momenten, in denen Usha wach war, erkannte Kavita sich selbst in den unverkennbar goldgefleckten Augen, bei ihrem Kind noch schöner als bei ihr. Sie konnte kaum glauben, dass dieses wunderbare Geschöpf ihr gehörte. Sie erlaubte es sich nicht, über den Tag hinauszudenken.

Zumindest wird dieses kleine Mädchen leben dürfen – die Chance haben, aufzuwachsen, zur Schule zu gehen, vielleicht sogar zu heiraten und Kinder zu bekommen. Kavita weiß, zusammen mit ihrer Tochter gibt sie alle Hoffnung auf, ihr auf dem Weg des Lebens zur Seite zu