Peter Hablützel

Die Banken und ihre Schweiz

Perspektiven einer Krise

Mit einem Vorwort von
Jürg Conzett
und einem Beitrag von
Paschen von Flotow

Conzett Verlag
bei Oesch

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ISBN 978-3-0350-4010-4

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Inhalt

Vorwort von Jürg Conzett

Einleitung: Ausgangspunkt und Absicht der Studie

Finanzmarktkrise: eine Systemkrise?

Problemstellung und Zielsetzung dieser Studie

Grundlagen und Quellen

Inhalt, Aufbau und Absicht

1. Finanzmarktkrise, Sonderfall Schweiz und Zeitgeschichte

Krise und Krisenwahrnehmung in der Schweiz

Sonderfall, nationale Identität und Mythenbildung

Geschichte als Konstruktion der Wirklichkeit

Zeitgeschichte, Politik und historische Analyse

Modell des Finanzmarkt-Kapitalismus

2. Aufstieg des Finanzplatzes zur nationalen Ikone

Anfänge der Bankwirtschaft

Bedeutung der Nationalbank

Bankengesetz von 1934

Aufschwung in der Kriegs- und Nachkriegszeit

Flexible Wechselkurse

Wachsende Macht der Grossbanken

Immobilienblase und Konzentrationsprozess

3. Globalisierung von Märkten und Mentalitäten

Finanzmärkte und Globalisierung

Primat finanzieller Steuerung

Finanzindustrie als globales System

Globalisierung des Finanzplatzes Schweiz

Anpassung des staatlichen Rahmens

Bankenaufsicht: Basel I und Basel II

Warnung der Nationalbank vor Systemkrisen

4. Finanzmarktkrisen und Krise der Finanzmarktpolitik

Ungleichgewichte und zyklische Krisen

Subprimekrise wird zur Systemkrise

Internationale Regulierung globaler Märkte?

Finanzmarktkrise in der Schweiz

«Beresina» der Schweizer Finanzmarktpolitik

Grossbanken: Too big to fail

Wie weiter in der Finanzwirtschaft?

5. Relevante Kontexte: Wachstum, Staat und Moral

Gesellschaftliche Ausdifferenzierung und Reintegration

Moderne und Modernisierungsdiskurse

Ökonomischer Diskurs: Nachhaltiges Wachstum

Politischer Diskurs: Marktordnung und Staatsfunktion

Kultureller Diskurs: Ethik und persönliche Verantwortung

Selbstreflexive zweite Moderne

6. Vom historischen Sonderfall zum politischen Sonderling?

Besonderheiten der Schweizer Politik: eine Dekonstruktion

Geschichte als Erfolgsstory: eine Rekonstruktion

Ende des Wachstumskonsenses

Polarisierung und Blockierung der Politik

7. Historische Ortsbestimmung und politisches Fazit

Finanzmarktkrise als historischer Wendepunkt?

Kontingenz und Krisenverständnis

These 1: Krisenperzeption

These 2: Finanzmarktregulierung

These 3: Internationale Öffnung

These 4: Nachhaltige Entwicklung

These 5: Public Governance

These 6: Politik als Kommunikation

These 7: Stärkung der Zivilgesellschaft

Neo-Moderne, Geld und Ethik

Anhang

Was würde Georg Simmel zur heutigen Krise sagen?

Von Paschen von Flotow

Verwendete und weiterführende Literatur

Über den Autor

Vorwort

Zum Thema «Die Schweiz und ihre Banken» ist schon vieles geschrieben worden. Nach der jüngsten Finanzmarktkrise stellt sich die Frage, ob dieses Verhältnis zwischen unserem Land und einer wichtigen Wirtschaftsbranche nicht besser unter dem Titel «Die Banken und ihre Schweiz» betrachtet und beschrieben werden sollte. Peter Hablützel kommt in seiner kritischen Studie zum Schluss, die (Gross-) Banken hätten seit den 1970er Jahren, vor allem aber seit der forcierten Globalisierung der 1990er Jahre die öffentliche Meinung in der Schweiz immer stärker beeinflusst. Sie hätten damit nicht zuletzt auch die aktive Unterstützung der offiziellen Schweiz für ihre Expansionspläne gewinnen können. Die politische Mehrheit habe lange überhaupt nichts dagegen einzuwenden gehabt. Sie sei praktisch immun gewesen gegen jede inländische wie ausländische Kritik, habe den Finanzplatz Schweiz tabuisiert und das Bankgeheimnis zu einem nationalen Mythos hochstilisiert. Erst die Ereignisse im Zusammenhang mit der jüngsten Krise würden nun ein Umdenken erzwingen. Der Staat verliere seine Legitimation nach innen und nach aussen, wenn er sich länger durch private Interessen dermassen instrumentalisieren lasse.

Peter Hablützel ist ein intimer Kenner des politischen Systems der Schweiz und der heiklen Schnittstelle zwischen Staat und Wirtschaft. Er hat in den letzten dreissig Jahren vier schweizerische Finanzminister als direkte Vorgesetzte erlebt. Seine Studie zeigt, dass sich reiche persönliche Erfahrung aus der Praxis und kritische, wissenschaftliche Analysen fruchtbar verbinden lassen. Dabei kommt ihm ein interdisziplinärer Ansatz zugute, der ökonomische und sozialwissenschaftliche Fragestellungen kombiniert. Entscheidend scheint mir aber, dass es Peter Hablützel mit einer zeithistorischen Perspektive gelingt, die Finanzmarktkrise in grössere Zusammenhänge einzuordnen. Geschichte ist oft der blinde Fleck der modernen Ökonomie. Die vorliegende Arbeit macht klar, dass es für die Analyse und für die Deutung grundlegenden Wandels einer historischen Betrachtung dringend bedarf.

Dieses Buch ist im Zusammenhang mit einem Vortragsund Diskussionszyklus des MoneyForums zum Thema «Finanzmarktkrise – Herausforderung und Chance» entstanden. Peter Hablützel hat diesen Zyklus im Auftrag der Sunflower Foundation organisiert und moderiert. An fünf Abenden im Herbst und Winter 2009/10 ist ein interessantes, fachübergreifendes Gespräch zu Problemen des Finanzplatzes Schweiz und seiner Zukunft zustande gekommen, für das ich an dieser Stelle allen Beteiligten nochmals herzlich danken möchte. Es freut mich besonders, dass wir hier den Originalbeitrag eines unserer Referenten, Paschen von Flotow, veröffentlichen dürfen. Ich bin erstaunt, mit welcher Klarheit Georg Simmel vor mehr als hundert Jahren grundlegende Probleme unserer Wirtschaftsgesellschaft vorausgesehen hat. Paschen von Flotow gelingt es ausgezeichnet, die Quintessenz von Simmels Gedanken für unsere Gegenwart fruchtbar zu machen.

Zürich, 9. März 2010 Dr. Jürg Conzett
Präsident der Sunflower Foundation

Einleitung:
Ausgangspunkt und Absicht der Studie

Mit einer heftigen Implosion der Finanzwirtschaft ist im Herbst 2008 der wichtigste Leitsektor der modernen Dienst leistungsgesellschaft dramatisch eingebrochen. Die Erschütterung trifft die Weltwirtschaft als Ganze und nicht nur sie. Auch die Denk- und Verhaltensmuster einer an Geldwert und Gewinn orientierten Kultur sind von dieser Finanzkrise tangiert. Fast alles in unserem sozialen Leben hat sich in den letzten Jahren zunehmend um Finanzen gedreht. In Wirtschaft, Politik und Gesellschaft – auf Märkten, in Organisationen, am Arbeitsplatz, ja, bis in die persönlichen Beziehungen hinein – haben wir eine Monetarisierung beinahe aller Werte erlebt. Geld ist – wie vom Soziologen Georg Simmel vor hundert Jahren vorausgeahnt – zum allumfassenden Wertmassstab und in Form von «Vermögen», von Kapital, zugleich zum wichtigsten Wert an sich geworden. Der finanzielle Gewinn als mächtigster Treiber steuert nicht nur die globalisierte Finanzwirtschaft, sondern fast jede Entwicklung in unserer Welt. Umso mehr herrscht heute überall grosse Unsicherheit, welche Bedeutung wir der Finanzmarktkrise zumessen sollen und woran wir uns in Zukunft orientieren können.

Finanzmarktkrise: eine Systemkrise?

Bedeutung und Erfolg des Finanzplatzes Schweiz bilden ein zentrales Element im Selbstverständnis sowie im politischen Denken und Handeln unseres Landes. Ein florierender Finanzplatz ist gewissermassen die wirtschaftliche Inkarnation unserer Identität als nationaler Sonderfall. Nun erleben wir gleichsam als eine Ironie der Zeitgeschichte, dass uns ausgerechnet eine Krise der Finanzmärkte zu dem macht, was wir eigentlich sind: ein kleines Land inmitten Europas, das mit seiner offenen Volkswirtschaft vom Umfeld besonders abhängig ist. Ein kleines Land, das grosse Mühe hat, mit den politischen und kulturellen Folgen der Globalisierung umzugehen, die es mit seiner erfolgreichen Export- und Finanzwirtschaft doch selber wesentlich vorangetrieben hat. Ein kleines Land auch, das mit den spezifischen Problemen und Risiken seines überdimensionierten, hochkonzentrierten und mit dem Ausland eng verflochtenen Bankensystems nur schwer zu Rande kommt.

Die Finanzmarktkrise ist für die Schweiz eine besonders heikle Erfahrung, denn sie demontiert den nationalen Mythos unserer politischen Unabhängigkeit. Sie führt uns drastisch vor Augen, wie existenziell wir vom internationalen Umfeld abhängig sind. Schmerzhaft wird uns bewusst: Auf globalisierten Märkten bieten Landesgrenzen vor Systemkrisen keinen Schutz mehr. Die Katastrophe an der Wall Street hat auch den Finanzplatz Schweiz in eine tiefe Krise gerissen. Vieles ist bedroht, was wir bisher für selbstverständlich hielten. Die Krise, die mehr und mehr auch auf die Realwirtschaft übergreift, droht ökonomische und politische Gewissheiten aufzuzehren. Es brechen bange Fragen auf, nicht nur zum Finanzplatz Schweiz, sondern auch zur Zukunft von Volkswirtschaft, Beschäftigung und sozialer Sicherheit in unserem Lande sowie zur Einbettung der Schweiz in eine global vernetzte und immer stärker politisierte Welt. Die Finanzmarktkrise hat uns unsanft aus einer Art nationaler Selbstüberschätzung gerissen und in eine Welt katapultiert, deren grundlegende Veränderungen wir in den letzten Jahrzehnten partiell nicht mehr wahrnehmen wollten. Die Turbulenzen auf den Finanzmärkten und ihre Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft haben uns gleichsam auf dem linken Fuss erwischt und die Schweiz in eine der schwierigsten Orientierungskrisen ihrer Geschichte geführt. Wir müssen uns heute mit Problemen befassen und nach Antworten suchen, wo wir bis vor kurzem nicht einmal ernsthaft Fragen stellten.

Die Finanzmarktkrise demontiert nicht nur unsere Unabhängigkeitsfantasien. Sie demaskiert auch unser politisches System. Sie demonstriert, wie willfährig sich die Behörden gegenüber wirtschaftlichen Grossinteressen verhalten. In der jüngsten Vergangenheit haben nicht nur höchste Repräsentanten der Schweiz mehrfach ihr Gesicht verloren. Auch das System als Ganzes büsste an Glaubwürdigkeit ein. Man könnte etwas pointiert formulieren, die Krise habe der Schweiz die liberale Maske vom Gesicht gerissen. Es ist zwar nicht gerade so, dass darunter die Fratze einer Bananenrepublik zum Vorschein kommt – aber immerhin Tatsachen, die ein gerne idealisiertes Selbstbild erschüttern können. Zwei Ereignisse werden diesbezüglich noch lange im Gedächtnis haften bleiben: Im Oktober 2008 mussten Bund und Nationalbank mit einer massiven Finanzspritze der grössten Bank zu Hilfe eilen, die sich mit einer verfehlten Geschäftspolitik an den Rand des Abgrunds manövriert hatte. Und im Februar 2009 verletzten die Behörden schweizerisches Recht, um dieses Flaggschiff des Finanzplatzes aus den Fängen der US-Justiz zu befreien, in die es aufgrund mutwilliger Verstösse gegen amerikanische Gesetze geraten war. Diese beiden Ereignisse sind von symbolischer Bedeutung und werfen die kritische Frage auf, welchen Stellenwert liberale Ordnungspolitik und Rechtssicherheit in unserem Lande noch haben, wenn handfeste Geschäftsinteressen einer privaten Grossbank auf dem Spiele stehen.

Opportunismus in der Politik ist gewiss nichts Neues. Gerade in der kleinen Schweiz mit den vielfach verbandelten Interessen und einem starken Milizsystem hat die föderalistisch und direktdemokratisch ausgebremste Politik schon immer Mühe bekundet, mächtige Akteure der Wirtschaft an strenge Re geln zu binden. Aber dass bei uns – in Abwandlung eines Zitats von Clausewitz – Politik die Fortsetzung des privaten Geschäfts mit andern Mitteln sein könnte, hätte man in dieser Deutlichkeit vorher doch kaum zu behaupten gewagt. Der doppelte Sündenfall vom Oktober 2008 und vom Februar 2009 ist eine radikale Herausforderung an die schweizerische Politik, die auch ernst genommen werden muss, falls die direkten Folgen der Krise nicht so dramatisch ausfallen wie ursprünglich befürchtet. Wer ohne strukturelle Änderungen am (Finanz-)System zum Courant normal zu rückkehren will, macht Politik in diesem Land vollends unglaubwürdig und nimmt bewusst in Kauf, dass wir schon bald wieder vor ähnlichen oder noch schlimmeren Problemen stehen.

Die Diskussionen um die Finanzmarktkrise und um die Frage, wie Wirtschaft und Politik der Schweiz darauf reagieren sollten, erinnern mich an die Studien vor mehr als dreissig Jahren im Zusammenhang mit meiner Dissertation, in der ich verschiedene Formen von politischem Krisenbewusstsein und die je damit korrespondierenden historischen Perspektiven untersuchte (Hablützel 1980). Die damals propagierte Unterscheidung in der Perzeption von Krisen lässt sich auch heute nutzbringend verwenden: Wer das bestehende System bewahren will, interpretiert Turbulenzen gerne als zufällige Ereigniskrise und möchte mit möglichst geringen Änderungen im System den Status quo rasch wiederherstellen. Wer nicht nur zufällige, sondern im System angelegte technische Fehler als Ursachen einer Strukturkrise ortet, versucht mit Änderungen am System eine Wiederholung der Krise zu verhindern. Wer indes unsere kulturelle Einbindung in tradierte Handlungsabläufe erkennt und sieht, dass wir an Strukturen anknüpfen und diese mit unserem Denken und Handeln immer wieder (re-)produzieren, wird Turbulenzen als Ausdruck einer Systemkrise verstehen und sie als Chance nutzen wollen, um mit einer bewussten Änderung des Systems neue Entwicklungsmöglichkeiten zu erschliessen.

Problemstellung und Zielsetzung dieser Studie

Damit sind wir mitten in der zentralen Problemstellung der vorliegenden Studie: Was machen wir aus der Krise, in die wir geraten sind? Wenn wir sie kleinreden, könnten wir die riesige Chance verpassen, unsere vertrauten Bilder der Wirklichkeit den erlebten Realitäten wieder anzunähern und damit an Zukunftsfähigkeit zu gewinnen. Das gilt sowohl bezüglich Weltwirtschaft und Finanzindustrie wie auch in Bezug auf das politische System der Schweiz.

Sind Krisen immer auch Chancen? Wohl nur, wenn wir die Möglichkeiten erkennen, die sie uns bieten. Krisen verunsichern zwar, weil manche Gewissheiten schwinden. Unsere Konstruktionen der Wirklichkeit verlieren an Überzeugungskraft. Dafür tun sich jedoch neue Sichtweisen auf. Krisen helfen, Denkmuster aufzubrechen und Handlungsroutinen zu hinterfragen. Sie bringen Diskurse über unsere Herkunft und unsere Zukunft in Gang. Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte geraten so in Bewegung. Die kommunikative Aufweichung von individueller und gesellschaftlicher Erinnerung macht Gegenwart mehrdeutig. Damit gewinnt der historische Prozess gewissermassen einen höheren Freiheitsgrad und öffnet uns neue Möglichkeiten derpolitischen Gestaltung. Wer Krisen so zu nutzen weiss, stärkt Lernvermögen und Zukunftsfähigkeit.

Was kann die jüngste Finanzmarktkrise bewegen? Welche Gewissheiten, welche Wirklichkeitskonstruktionen brechen auf? Und bietet diese Krise Chancen? Auch für die Schweiz, die vom Schicksal der Finanzwirtschaft besonders betroffen scheint? Welche neuen Perspektiven eröffnet diese Krise auf Vergangenheit und Zukunft unseres Landes? Sind wir bereit, die traditionelle Sicht der historischen Entwicklung kritisch zu hinterfragen? Sind wir fähig, unser politisches Handeln zu überdenken? Und sind wir denn auch willens, die daraus entstehenden Chancen zu nutzen? Diesen Fragen will ich in der vorliegenden Studie nachgehen, weil sie für unser Land und seinen Finanzplatz von existenzieller Bedeutung sind.

Man könnte nun vorschnell meinen, für die Beantwortung solcher Fragen sei in erster Linie die Ökonomie zuständig. Und in der Tat gibt es inzwischen Beiträge aus dieser Wissenschaft, die den Ausbruch der Finanzmarktkrise einleuchtend erklären und ihren Verlauf auch trefflich beschreiben. Die Selbstverständlichkeit, mit der gewisse Ökonomen heute die Krise als eine völlig normale Erscheinung darstellen, lässt uns staunend mit der Frage zurück, weshalb sie denn diese Krise nicht früher kommen sahen und entsprechend davor gewarnt haben. Ich bin im Lauf meiner Recherchen immer mehr zur Überzeugung gelangt, dass wir die eigentliche Bedeutung der Krise erst erkennen können, wenn wir sie in ihrer historischen Dimension zu verstehen versuchen. Wer die Implosion der Finanzwirtschaft begreifen will, muss den Prozess ihrer Aufblähung untersuchen. Ihr Aufstieg zur wirtschaftlichen Vormacht und zur politischen und kulturellen Hegemonie ist das Aussergewöhnliche, das die letzten Jahrzehnte geprägt hat. Doch wer sich für die Veränderung unserer Wirtschaft hin zu einer immer mehr durch die Finanzen getriebenen Entwicklung interessiert, wird durch die gängige Ökonomie kaum hilfreich unterstützt. Die neoklassischen Theorien des Mainstreams mit ihrem Anspruch auf Allgemeingültigkeit bauen ihre Modelle auf anthropologischen Konstanten auf (wie dem immer rational entscheidenden Homo oeconomicus). Sie halten Geld für ein neutrales Zahlungsmittel ohne spezifischen Eigenwert, dessen Geschichte man ruhig vernachlässigen kann, und interessieren sich kaum für den Wandel von Auffassungen und Werthaltungen. Und schliesslich pressen sie ihre Erkenntnisse in mathematische Formeln, die der Veränderung von historischen Kontexten viel zu wenig Beachtung schenken. Aber gerade darin liegt das Problem: Geschichte ist der blinde Fleck der modernen Ökonomie. Historische Entwicklungen spielen sich, wenn überhaupt, in den kaum diskutierten Randbedingungen ab, um die sich andere Wissenschaften kümmern müssen.

Eigenartig: Die Wirtschaft ist das gesellschaftliche Subsystem mit der radikalsten Veränderungsdynamik und mit dem grössten Beeinflussungspotenzial auf alle andern Subsysteme. Aber sie wird durch eine Wissenschaft «professionell» beobachtet und beschrieben, die aufgrund ihrer Gleich gewichtsmodelle von Systemumwelten und Systementwicklungen wenig wissen will und damit Gefahr läuft auszublenden, dass der ökonomische Wandel auch seine gesellschaftlichen Grundlagen und damit den Rahmen, die Qualität und die Bedeutung jeglichen Wandels, also auch sich selbst, verändert. Diese fatale Verdrängung der Historizität aus der ökonomischen Reflexion macht die Wirtschaftswissenschaft oft unsensibel für das Problem der Reichweite ihrer Theorien und verführt sie zum Opportunismus im Sinne einer Legitimation dessen, was sich historisch durchgesetzt hat.

Falls wir die Finanzmarktkrise mit ihren wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Implikationen wirklich verstehen und ihre Bedeutung für unsere Zukunft ergründen wollen, kommen wir um eine kritische Aufarbeitung ihrer historischen Dimensionen nicht herum. Wir sollten dabei vor allem den furiosen Aufstieg der Finanzindustrie in den letzten Jahrzehnten zu erklären versuchen. Das gilt namentlich auch für unseren «Sonderfall» Schweiz mit seiner überdimensionierten, hochkonzentrierten und stark auslandabhängigen Finanzwirtschaft. Wenn wir die Krise als Chance für eine kritische Aufarbeitung unserer nationalen Entwicklung und ihrer Einbettung in übergreifende Kontexte wahrnehmen, kann auch der «Sonderfall» Schweiz in einem neuen Licht erscheinen. Es hängt von unseren kritischen Fragen und konstruktiven Antworten ab, ob es uns heute gelingt, die Krise für die Neugestaltung der Zukunft zu nutzen, und ob wir morgen dann sehen können, dass die Finanzmarktkrise als Wendepunkt in unserer Zeitgeschichte verstanden werden darf.

Grundlagen und Quellen

Was wissen wir über die Zeitgeschichte der Schweiz und über die Vorgeschichte der Finanzmarktkrise? Welcher Stellenwert kam der Finanzwirtschaft in der Geschichte unseres Landes vor allem in den letzten Jahrzehnten zu? Worauf kann ich mich stützen, wenn ich die Entwicklung des Finanzplatzes und der Finanzmarktpolitik analysieren und als Teil unserer jüngsten Geschichte interpretieren will?

Auf Zeitgenossenschaft ist nicht immer Verlass, aber ich will trotzdem nicht leugnen, dass mein Bild in vielem durch eigene Beobachtungen und persönliche Erinnerungen geprägt worden ist. Das beginnt mit meiner Kindheit in der frühen Nachkriegszeit und in einer Familie, in der das freiwirtschaftliche Gedankengut einen hohen Stellenwert genoss. Auch während Studium und Beruf bewegte ich mich meist in politisch sehr interessierten Milieus; da konnte die 68er-Zeit nicht spurlos an einem vorbeigehen. 1980 bis 2005 war ich mit Ausnahme von fünf Jahren im Eidgenössischen Finanzdepartement beschäftigt und direkt dem Finanzminister unterstellt; ich erlebte vier Bundesräte aus nächster Nähe. An der Schnittstelle von Politik und Verwaltung kriegt man vieles mit, was die systemische Betrachtungsweise fördert; so war es für mich immer klar, dass am Schicksal der Finanzwirtschaft gerade auch die Behörden massgeblich beteiligt sind. Seit 2007 bin ich im Auftrag der Sunflower Foundation für deren MoneyForum tätig und habe manche Kontakte zu Praktikern und Theoretikern der Finanzwirtschaft knüpfen können, was mein Interesse für diese Branche wecken, mein Verständnis für ihre Prozesse und Gepflogenheiten fördern und damit meinen Horizont einschlägig erweitern half.

Das Problem von Nähe und Distanz taucht in der Zeitgeschichte immer wieder auf. Es wird deutlicher, wenn man die eigenen Zugänge zum Thema mit den Arbeiten anderer vergleichen kann. Zur Finanzplatzentwicklung und zu einzelnen Banken und Problemen ist in den letzten Jahren viel Wissenschaftliches, Autobiografisches und Journalistisches publiziert worden. Wissenswertes kann man auf den Websites des Swiss Banking Institute und der Universität St. Gallen finden. Die Entwicklungen vor und in der Krise, namentlich was die UBS oder das Bankgeheimnis betrifft, sind in Darstellungen aufgearbeitet worden, die sich spannend wie Kriminalromane lesen, aber dennoch einen seriös recherchierten Eindruck machen (Baumann/Rutsch 2008, Zaki 2008, Hässig 2009, Parma/Vontobel 2009). Kritisches kann man heute auch in den Medien lesen, zum Beispiel die Kolumnen von Binswanger, de Weck, Strahm und Schöchlin, natürlich in der WoZ oder bei kontrapunkt (Rat für Wirtschafts- und Sozialpolitik). Auch unter Volks- und Betriebswirten melden sich scharfe Kritiker der Finanzwirtschaft zu Wort, so etwa neuerdings selbst Wittmann 2009; einige haben die Krise vorausgeahnt (Bernet 2005) oder schon seit langem vor ihr gewarnt (vgl. Malik 2008).

Die Sicht der wichtigsten Akteure vermitteln die Websites SwissBanking der SBVg (Schweizerischen Bankiervereinigung), der Finanzmarktaufsicht FINMA (bis 2008 Eidg. Bankenkommission EBK), des Eidg. Finanzdepartements EFD respektive der Eidg. Finanzverwaltung EFV. Hilfreich ist die Schweizerische Nationalbank, namentlich mit ihren Jahresund Stabilitätsberichten; ihre grosse Festschrift «Die Schweizerische Nationalbank 1907–2007» (SNB 2007) ist ein Meisterwerk und eine wahre Fundgrube für den Wirtschaftshistoriker. Hier zeigen sich Ansätze einer selbstreflexiven und systemischen Sichtweise, die man auch allen andern Akteuren gerne wünschen würde.

Sehr verpflichtet fühle ich mich dem analytischen Zugriff von Paul Krugman; des Nobelpreisträgers (von 2008) souveräne Darstellung von Finanzindustrie und Weltwirtschaftsentwicklung der letzten 20 Jahre trägt viel zu einem historischen Verständnis der Finanzmarktkrise bei (Krugman 2009). Ebenso erhellend war für mich die kritische Analyse «Kasino-Kapitalismus» aus der Feder des Präsidenten, Hans-Werner Sinn, des Weltverbands der Finanzwissenschaftler (Sinn 2009). Krugman und Sinn weichen nicht grundsätzlich von den Erkenntnissen internationaler Organisationen ab, die das Geschehen auf den Finanzmärkten professionell beobachten (z. B. International Monetary Fund IMF, Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD, Bank für Internationalen Zahlungsausgleich BIZ), aber sie schürfen mit ihren Analysen tiefer und kommen deshalb für die künftige Finanzmarktpolitik auch zu radikaleren Forderungen. Die Wirtschaftssoziologie bringt die Finanzmarktkrise in Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Entwicklung; ihr Modell des «Finanzmarkt-Kapitalismus» (Windolf 2005, Deutschmann 2008) basiert auf den Erkenntnissen der Politischen Ökonomie (Huffschmid 2002) und kann aus meiner Sicht die schwierigen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte besonders gut erklären.

Was unsere jüngere Zeitgeschichte betrifft, so gibt es zwar eine Menge schöner Monografien, vor allem auch zur Aufarbeitung der Schweizer Geschichte im Zweiten Weltkrieg wie etwa den bekannten Bergier-Bericht (UEK 2002) oder den spannenden Sammelband «Gedächtnis, Geld und Gesetz» (Tanner/Weigel 2002), aber auch die brillante Studie «Verweigerte Erinnerung», die unter anderem die Debatte seit den 1990er Jahren über die anonymen Bankkonten in der Schweiz im Detail schildert (Maissen 2005). Doch an eine integrierte Darstellung der Schweizer Zeitgeschichte seit 1945 hat sich – mit Ausnahme vielleicht von Dejung (2008) – seit unserer 2. Auflage (Gilg/Hablützel 1986), also seit nunmehr 23 Jahren (!), meines Wissens niemand mehr gewagt. Auch aus heutiger Perspektive halte ich unsere damalige Interpretation der Nachkriegsjahrzehnte noch immer für vertretbar, bin aber selber sehr erstaunt, wie stark sich Probleme, Lebensgefühl und Sichtweisen seit Mitte der 80er Jahre verändert haben. Wer sich über neuere Interpretationsansätze zur gesellschaftlichen Entwicklung der Schweiz in den letzten zwei Jahrzehnten schlau machen will, muss zu den Soziologen, Politologen und Ökonomen hinüberschielen, soweit sich diese trotz akademischer Spezialisierungs- und Quantifizierungszwänge überhaupt noch zu qualitativen oder gar historischen Aussagen von Belang verleiten lassen (etwa Eberle/Imhof 2000 oder Imhof/Eberle 2005 und Scholtz/Nollert 2007).

Um im Meer von Fakten und Meinungen nicht zu ertrinken und den Überblick über das Geschehen einigermassen zu wahren, hilft die «Année politique suisse / Schweizerische Politik im Jahre …», eine professionell gemachte Chronik des öffentlichen Lebens, die vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern herausgegeben wird. An diesem seit 1966 erscheinenden Jahrbuch habe ich in jungen Jahren selbst mitgewirkt. Für das Jahr 1977 verfasste ich damals das Kapitel «Geld, Währung und Kredit»; gegen meine Darstellung der Chiasso-Affäre drohte die Schweizerische Kreditanstalt mit einer Klage, musste dieses Vorhaben aber bald wieder fallen lassen, da weitere Fakten ans Tageslicht kamen, die meine kritische Interpretation bestätigten.

Inhalt, Aufbau und Absicht

Wie ist diese Studie gegliedert? Wie gehe ich vor? Was ist das Erkenntnisinteresse und welche forschungsstrategischen und politischen Absichten verfolge ich?

Wir gehen von der Frage aus, welche Bedeutung der Finanzmarktkrise zukommt und ob die Krise einen Wendepunkt in der historischen Entwicklung darstellt (Kapitel 1). Die Überlegungen dazu dienen gleichzeitig auch als Einführung in Theorie und Methodik der Zeitgeschichte und zur Darstellung des Finanzmarkt-Kapitalismus als eines idealtypischen Erklärungsmodells für die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte.

Auf dieser Grundlage sollen dann der steile Aufstieg des Finanzplatzes Schweiz zu nationaler Dominanz (Kapitel 2) und seine seit Mitte der 1990er Jahre zunehmend problematische Transformation im Zeichen der Globalisierung (Kapitel 3) geschildert werden, denn die gegenwärtige Krisensituation ist ohne ihre Entstehungsgeschichte kaum verständlich.

Die Analyse der Finanzmarktkrise (Kapitel 4) setzt bei der Frage an, wie sich aus Spekulationsblasen schliesslich eine weltweite Systemkrise entwickeln konnte. Aufgrund von Bedeutung, Konzentration und Auslandverflechtung ihres Finanzplatzes ist die Schweiz von dieser Krise besonders betroffen. Weil die Behörden das nicht offen zugeben wollen, greift ihre Krisenpolitik zu kurz. Auch die Hoffnung, angesichts einer veränderten internationalen Konstellation die überkommenen Standortvorteile im nationalen Alleingang ans Trockene zu bringen, erweist sich Schritt für Schritt als Illusion. Die Schweiz ist mit ihren früher erfolgreichen Denk- und Verhaltensmustern an wirtschaftliche und politische Grenzen gestossen. An der Aussenfront, vor allem bei der sturen Verteidigung von Bankgeheimnis und Steuerhinterziehung, erlebt die Finanzmarktpolitik der Schweiz ihr «Beresina».

Weil die Finanzmarktkrise einen zentralen Leitsektor der westlichen Gesellschaft betrifft, muss die Analyse thematisch noch etwas breiter und tiefer ausgreifen. Ich werde versuchen, die geschilderte Entwicklung der Finanzwirtschaft im Kontext ausgewählter gesellschaftspolitischer und sozialwissenschaftlicher Diskurse der letzten Jahrzehnte zu interpretieren (Kapitel 5). Das kann natürlich nur mit einer engen Auswahl von möglichen Perspektiven geschehen; Fragen zur Nachhaltigkeit des Wirtschaftswachstums, zum Verhältnis von Markt und Staat sowie zur kulturellen Einbindung des Einzelnen in die Gesellschaft stehen dabei im Fokus des Interesses.

Gerade in der Finanzmarktkrise zeigen sich Besonderheiten unseres Landes, und es stellt sich die Frage, ob die Schweiz den Sonderfall ihrer historischen Entwicklung auch in Zukunft pflegen und so endgültig zum politischen Sonderling mutieren will (Kapitel 6). Bei solchen Fragen geht es immer auch um das Problem der Kontingenz, also um Veränderbarkeit und Freiheit respektive um Pfadabhängigkeit und Schicksal der historischen Entwicklung. Erst im Zusammenhang dieser Überlegungen wird eine historische Ortsbestimmung der Gegenwart möglich, die sinnvolles und selbstverantwortliches, auf Zukunftsfähigkeit gerichtetes politisches Handeln erlaubt. In sieben Thesen fasse ich zusammen, was sich nach meiner Einschätzung aus der Finanzmarktkrise für die Schweiz als politisches Fazit ergibt (Kapitel 7).

Ich will nicht verhehlen, dass diese Studie aus einer tiefen Sorge um die Zukunft der Schweiz geschrieben worden ist. Unsere Zukunftsfähigkeit hängt davon ab, welche Schlüsse wir aus bisherigen Entwicklungen und Erfahrungen für unser künftiges Verhalten ziehen – vor allem auch davon, ob es uns gelingen wird, aus der selbst konstruierten Falle des Sonderfalldenkens auszubrechen. Die Schweiz kann allein nicht prosperieren; sie ist wirtschaftlich und politisch auf internationale Kooperation angewiesen. Erst die Einsicht in diese Notwendigkeit lässt uns die Freiheit politischer Gestaltung richtig nutzen. Die Finanzmarktkrise holt uns auf den Boden der Realität zurück. Sie bietet einmalige Chancen für eine politische Neuorientierung. Wir sollten sie deshalb zum Anlass nehmen, um unser Bild der Schweiz ernsthaft zu überprüfen.

Was mich beim Niederschreiben der Gedanken zunehmend ärgert und erschreckt, sind Indizien, dass manche Meinungsmacher und Entscheidungsträger diese Krise kleinreden und verdrängen, um nicht daraus lernen zu müssen. Man kriegt immer öfter den Eindruck, die konjunkturellen Aufhellungen der zweiten Hälfte des Jahres 2009, die wir den massiven Interventionen von Regierungen und Zentralbanken, also öffentlichen Geldern, zu verdanken haben, würden nun zum Anlass genommen, die postmoderne Party der privaten Bereicherung und des «anything goes» einfach so weiterzufeiern. Um Verantwortung abzuschieben, wird teilweise gar als völlig normal erklärt, was uns noch vor wenigen Monaten bis an den Rand des ökonomischen und politischen Abgrunds geführt hat. Doch wie will man die Fehler korrigieren, ohne sie einzugestehen? Wenn wir so weiterfahren wie vor dem Einbruch, kommt die nächste Krise so sicher wie das Amen in der Kirche, aber sie wird vermutlich viel schwieriger zu bewältigen sein.

Diese Studie will zeigen, dass es verantwortungslos wäre, die Spielregeln nicht zu ändern. Sie fordert intellektuelle Redlichkeit bei der Aufarbeitung der Krise. Und sie setzt auf eine systemische Ordnungspolitik, die unser nationales und internationales Zusammenleben nachhaltiger gestalten kann. Ich hoffe, meine Überlegungen können zur Klärung beitragen, in welche Richtung wir gehen und welche Veränderungen wir vorantreiben sollten.

1. Finanzmarktkrise, Sonderfall Schweiz und Zeitgeschichte

Die jüngste Finanzmarktkrise hat uns unsanft aufgeschreckt. Ein zyklisches Auf und Ab mit Bildung finanzieller Blasen, die plötzlich platzen, ist zwar längst nichts Neues mehr. Wer die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre nur einigermassen aufmerksam verfolgt hat, wird bei den Turbulenzen 2007 bis 2009 kaum von einem «Schwarzen Schwan» sprechen wollen, der völlig unerwartet aufgetaucht sei (Taleb 2008). Dass der Boom auf dem amerikanischen Liegenschaftsmarkt irgendwann ein Ende haben würde, war für die meisten Beobachter klar. Dass das Platzen der Immobilienblase in den USA die Finanzmärkte global erschüttern und an den Rand des Abgrunds führen würde, war das Überraschende. Eine weltweite Systemkrise von solcher Vehemenz und mit dermassen verheerender Wirkung auf die Realwirtschaft hätte wohl kaum jemand erwartet.

Krise und Krisenwahrnehmung in der Schweiz

Die Schweiz ist von der Finanzmarktkrise besonders hart getroffen worden. Seit Ausbruch der Krise im Sommer 2007 bis Februar 2009 hat der Finanzplatz Schweiz Abschreibungsverluste von 75 Mrd. USD hinnehmen müssen. In Relation zum Bruttoinlandprodukt von 2007 sind das 17,9 Prozent, verglichen mit 5,4 Prozent für die USA oder nur 2,3 Prozent für die Bundesrepublik Deutschland. Sind wir uns dessen voll bewusst, dass die schweizerische Volkswirtschaft also gut dreimal mehr einbüsste als diejenige der USA und fast achtmal mehr als jene Deutschlands? Die Schweizer Banken haben in derselben Zeit 53,8 Prozent ihres Eigenkapitals von 2007 verloren und stehen mit dieser verheerenden Einbusse an der Spitze aller Länder (vgl. Sinn 2009, 190 und 216).

Dabei sind wir noch nicht am Ende des gefährlichen Tunnels angelangt. Im April 2009 rechnete der Internationale Währungsfonds (IWF) mit einem zusätzlichen Abschreibungsbedarf im Bankensystem von weltweit 1000 Mrd. USD; inzwischen hat der IWF seine Warnung zwar etwas abgeschwächt, aber er hat noch keineswegs Entwarnung gegeben (IMF 2009). Im Sommer 2009 schätzte auch die Schweizerische Nationalbank die Möglichkeit von künftigen Bankverlusten als sehr hoch ein. Im Dezember 2009 stellt sie einen fragilen Aufschwung fest, sieht aber immer noch ein Deflationsrisiko und will eine erneute Verschlechterung der Lage nicht ausschliessen (SNB 2009). Die Situation hat sich in der zweiten Jahreshälfte 2009 zwar etwas aufgehellt. Aber ob das Licht, das wir zu erkennen glauben, vom Tunnelausgang oder von einem entgegenkommenden Zug stammt, liess sich auch im Herbst 2009 noch nicht mit Sicherheit bestimmen (Weder di Mauro, in Avenir Suisse 2009). Und fast alle Ökonomen sind sich einig, dass wir gegenwärtig die schwerste Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren durchleben, deren äusserst problematische Auswirkungen auf Beschäftigung und Staatsfinanzen erst noch bevorstehen.

Die Schweiz als kleines Land gehört zu den grössten Finanzzentren der Welt. Sie ist mit sieben Billionen Franken der drittstärkste Vermögensverwalter und in Bezug auf die Verwaltung ausländischer Gelder (Offshore Banking) der weltweit wichtigste Tresor. Die Bedeutung des Bankenplatzes für die Volkswirtschaft ist in der Schweiz wesentlich höher als beispielsweise in den USA oder Grossbritannien; der ganze Finanzsektor (inkl. Versicherungen) generiert hierzulande nach den Berechnungen des Eidg. Finanzdepartements (EFD Kennzahlen 2008, 2009) einen ausnehmend grossen Anteil am Bruttoinlandprodukt (12 %), an der Beschäftigung (6 %) und am Steueraufkommen aller Staatsebenen (13 %).

Noch eine andere Eigenheit des Finanzplatzes Schweiz hat grosse wirtschaftliche und politische Bedeutung: Die Finanzindustrie ist so hoch konzentriert wie nirgendwo sonst. Die beiden Grossbanken hielten 2005 90 % der Bilanzsumme aller hiesigen Banken, was mehr als dem achtfachen Betrag der gesamten Jahreswertschöpfung der schweizerischen Volkswirtschaft entsprach (SNB 2007 429f.). Im Vergleich dazu entspricht die Bilanzsumme aller amerikanischen Banken zusammen nur gerade einem Jahres-BIP (Bruttoinlandsprodukt) der USA. Die Schweiz hat mit den zwei Grossbanken also ein gefährliches Klumpenrisiko am Hals, das sie im Falle eines GAU wohl kaum zu stemmen vermöchte. Aber die beiden sind so gross geworden, dass man sie in einer Krise auch nicht fallen lassen kann; ihre Insolvenz würde den Zahlungsverkehr lahmlegen und die ganze Volkswirtschaft erschüttern. Die UBS allein führt gut 70 000 Kontokorrentkonti von KMUs; wer möchte schon verantworten, dass sie alle die Löhne nicht mehr auszahlen könnten?

Das grosse Gewicht, der hohe Konzentrationsgrad und die Auslandverflechtung unseres Bankensystems erklären zum Teil, weshalb uns die Finanzmarktkrise besonders hart getroffen hat. Doch was ist der Grund, dass wir das Ausmass und die Bedeutung der Krise kaum zur Kenntnis nehmen wollen?

Manche Experten und die meisten Politiker schrecken davor zurück, die spezifischen Probleme unseres Finanzplatzes zu benennen. Viele zeigen erhebliche Mühe, den Stellenwert von Turbulenzen auf dem Finanzmarkt realistisch einzuschätzen. Selbst die Exekutive hat lange nicht wahrhaben wollen, in welch tiefe Krise unser Land geraten ist. Obwohl die Schweizerische Nationalbank die Lage schon 2007 als «sehr ernst» einschätzte, versuchte der Bundesrat noch am 7. März 2008 das Parlament zu beruhigen: «Der Bankensektor ist nicht gefährdet. Die weltweit tätigen Grossbanken (…) können auch schmerzhafte Verluste verkraften (…) Massnahmen zum Schutz der Schweizer Volkswirtschaft sind nicht erforderlich» (Antwort auf eine Interpellation der SP-Fraktion im Nationalrat vom 5. 12. 07). Noch im Sommer 2008 konnten das Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) und das Volkswirtschaftsdepartement (EVD) in den Finanzmarktturbulenzen keine Bedrohung für die schweizerische Volkswirtschaft erkennen. Dabei hätte man die speziell hohe Anfälligkeit unseres kleinen Landes auf Krisen im globalisierten Finanzsektor längst thematisieren müssen. Selbst der Wachstumsbericht von 2008 lässt sich durch die Blasen und die scheinbar hohe «Produktivität» der Finanzwirtschaft blenden. Er ortet – gleich wie seine Vorgänger – die zentrale politische Herausforderung für die Schweiz nicht in ihrer Abhängigkeit von internationalen Märkten, sondern darin, den angeblich überbordenden Staat in die Schranken zu weisen. Durch die neoliberale Brille erscheint die Welt manchmal doch in eigenartiger Verzerrung.

Unmittelbar vor Bekanntwerden der massiven Eingriffe seitens der Behörden haben bedeutende Exponenten einflussreicher Wirtschaftsverbände die Schweiz noch als glücklichen Sonderfall gepriesen, der Staatsinterventionen im Finanzbereich nicht nötig habe. «La crise n’existe pas!», titelte die Weltwoche am 16. Oktober 2008. War das schlichte Ignoranz oder eine schlechte PR-Übung für überholte ideologische Positionen? Immerhin, die Öffentlichkeit war durch die Medien über die gefährliche Situation der Grossbanken so weit informiert, dass der Paukenschlag des staatlichen Eingriffs zwar mit einer gewissen Konsternation des Publikums, aber doch eher mit Erleichterung als mit grundsätzlicher Ablehnung aufgenommen wurde.

Mit den Beschlüssen vom 15. Oktober 2008 haben Bundesrat, Eidgenössische Bankenkommission und Schweizerische Nationalbank SNB dann doch erkennen lassen, dass sie die Probleme auf dem Finanzmarkt für gravierend und volkswirtschaftlich gefährlich halten. Dass sie deshalb ausserordentliche Massnahmen ergriffen und Notrecht in Anspruch genommen haben, will ich überhaupt nicht kritisieren. Diese Überraschungsaktion zeugt immerhin von Professionalität und einem politischen Mut, den man den Behörden nicht immer zutraut. Aber ich vermisse eine (selbst-)kritische Analyse, weshalb es zu einer solch «schweren Störung der Sicherheit» nach Art. 185 Abs. 3 der Bundesverfassung gekommen ist. Auch die gesetzliche Grundlage für das elegante Handeln der Notenbank scheint mir etwas schmalbrüstig zu sein. Nach Nationalbankgesetz Art. 5 soll die SNB zwar zur Systemstabilisierung beitragen; erlaubt sind ihr aber nur abgesicherte Hilfen bei Liquiditätsproblemen, nicht Ein griffe bei Insolvenzproblemen einer einzelnen Bank. Worum es sich im Herbst 2008 beim Fall der UBS konkret gehandelt hat, scheint zumindest fraglich.

In seiner Botschaft vom 5. November 2008 zeigt der Bundesrat wenig Bereitschaft, die tieferen Ursachen der Bankenkrise und ihre für die Schweiz ganz besonders gefährlichen Auswirkungen auszuleuchten. Noch viel weniger ist er geneigt, das Versagen der staatlichen Aufsicht offen zu diskutieren und Vorkehren in Aussicht zu stellen, die derart gravierende Fehleinschätzungen in Zukunft verhindern. Er begnügt sich mit der Absicht, das Vertrauen in das heutige Finanzsystem möglichst rasch wiederherzustellen. Verzichtet er deshalb auf die Behandlung von tiefer greifenden Fragen, die das Publikum eventuell verunsichern könnten? Oder will er nur davon ablenken, wie tief die Behörden in die Finanzmarktkrise verstrickt sind? Die Botschaft soll die Öffentlichkeit beruhigen, gut. Aber wenn man verlorenes Vertrauen wieder aufbauen will, darf man dem Publikum nicht Sand in die Augen streuen. Zwischen den Zeilen lesen wir, dass bei einer für die Zukunft gar nicht auszuschliessenden erneuten Krise eines der beiden Bankgiganten wohl wiederum Vater Staat in die Bresche springen müsste. Nicht einmal der etwas verbesserte Einlegerschutz ist so ausgelegt, dass er das Insolvenzrisiko einer Grossbank abdecken könnte.

Auch ein Jahr später zeigt man sich von Seiten der Behörden immer noch resistent gegenüber jeder Krisenperzeption, die eigene Fehler aufdecken könnte. Die FINMA, Nachfolgerin der Eidg. Bankenkommission, geht mit ihrem ausführlichen Bericht vom 14. September 2009 zu «Finanzmarktkrise und Finanzmarktaufsicht» stracks in die Vorwärtsverteidigung: Es könne «kein spezifisches Fehlverhalten schweizerischer Aufsichtsbehörden» festgestellt werden, schreibt sie (S. 14), obwohl doch gerade die Absegnung aggressiven Risikoverhaltens von überdimensionierten Grossbanken ein kleines Land wie die Schweiz in eine besonders heikle Situation bringen musste; die Eidgenössische Bankenkommission habe im Juli 2004 bloss eine risikoadäquatere Modellierung des Value at Risk, eine verbesserte Risikomessung und damit ein besseres Risikomanagement für die UBS erzielen wollen. «Diese Bewilligung ist auch rückblickend vertretbar», behauptet die FINMA unverfroren (S. 31). Aber genau diese Bewilligung hat dazu geführt, dass die UBS ihre Schulden massiv erhöhen durfte und trotz Warnungen der Nationalbank mit der weltweit tiefsten Eigenkapitalquote von 1,8% in die Finanzmarktkrise rasselte. Den Absturz hat die UBS deshalb nicht mehr aus eigener Kraft überstehen können, was sicher nicht die Absicht, aber doch eine Folge problematischer Entscheidungen auch der EBK war. Den Gipfel der Verharmlosung erklimmt das Eidgenössische Finanzdepartement mit dem Bericht vom 11. September 2009 an die WAK (Wirtschafts- und Abgaben-Kommission) des Nationalrats zu «Situation und Perspektiven des Finanzplatzes Schweiz»; es schwafelt sogar von einer «guten Kapitalisierung [der UBS] zu Beginn der Krise» (S. 22), ohne sich aber um eine einleuchtende Erklärung zu bemühen, warum die UBS von der Krise doch dermassen stark betroffen wurde. Eine ausreichend kapitalisierte Bank hätte wohl keine Staatshilfe beanspruchen müssen. Hier wird eindeutig Mitverantwortung von der Bankenaufsicht abgeschoben. Dürfen wir Steuerzahlerinnen und Steuerzahler Behörden vertrauen, die eine Beschönigung offensichtlicher Fehlurteile für nötig halten?

Ausmass, Bedeutung und Gefahren der Finanzmarktkrise werden hierzulande nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Man versucht hauptsächlich, die systemischen Aspekte und Zusammenhänge herunterzuspielen, und blendet die Tatsache aus, dass sich die Schweizer (Gross-)Banken mit ihren globalen Finanzgeschäften in einem ganz besonderen Masse übernommen haben. Sie sind – im Wissen und mit dem Segen der Aufsichtsbehörde – mit extrem wenig Eigenkapital versehen in die Finanzmarktkrise geschlittert und stellen damit ein Paradebeispiel für den «Casino-Kapitalismus» dar, der dank hoher Fremdfinanzierung mit riskanten, spekulativen Geschäften höchste Gewinne erzielt, massive Verluste aber weitgehend sozialisiert respektive verstaatlicht (Sinn 2009).

Das will nicht heissen, die Schweizer Behörden hätten die UBS im Herbst 2008 in den Konkurs schicken sollen. Grösse und besondere Struktur des Finanzplatzes, seine volkswirtschaftliche Funktion, aber auch seine ökonomische, juristische und politische Einbindung in globale Zusammenhänge machten eine Rettung der UBS durch den Staat wohl unausweichlich. Damit ist aber das systemische Problem noch lange nicht gelöst. Es hat sich eher noch verschärft, weil nun alle wissen, dass der Staat systemrelevante Banken nicht fallen lassen kann. Daraus resultiert nicht nur ein wettbewerbsverzerrender Konkurrenzvorteil für die Grossbanken, sondern ein geradezu perverser Anreiz, die Hochrisikospiele wieder aufzunehmen, sobald die Krise überwunden scheint. Noch wissen wir nicht, wer aus der Krise was gelernt hat. Ohne Änderungen des Finanzsystems könnten wir deshalb schon bald wieder vor derselben Problematik stehen wie im Oktober 2008.

Aber wer die Systemkrise nicht wahrhaben will, ist zu Systemänderungen kaum bereit. Oder umgekehrt: Wer das System nicht ändern möchte, muss versuchen, die systemischen Probleme möglichst auszublenden. Und genau das erleben wir heute in der politischen Debatte unseres Landes. Gegen Vorschläge, durch markante, für die Grossbanken spürbare Erhöhungen des Eigenkapitals oder durch Deckelung von Löhnen und Boni genau jene Anreize etwas abzubauen, die zum verheerenden Casino-Kapitalismus führten, tritt sofort der Finanzminister auf den Plan. Und stellt die Nationalbank für unsere Geldinstitute eine Grössenbeschränkung zur Diskussion, wehrt sich gegen derlei Ansinnen umgehend die Volkswirtschaftsministerin. Und alle Forderungen, mit einer Banklizenz für die Postfinance tragfähige Parallelstrukturen im schweizerischen Finanzierungsund Zahlungssystem aufzubauen, werden schon im Parlament beerdigt. Das schwächt den Wettbewerb und die Krisenresilienz in unserem Finanzsystem und zwingt die Post, das viele Geld der kleinen Kunden, das ihr gerade auch in kritischen Zeiten zufliesst, teilweise im Ausland anzulegen.

Sonderfall, nationale Identität und Mythenbildung

Wie kann man erklären, dass die offizielle Schweiz die tiefe Krise gar nicht richtig wahrhaben will? Warum werden die Grossbanken so geschont und gehätschelt? Lassen sich die Schweizer Behörden korrumpieren oder steht der Bankenplatz als nationales Kulturgut unter Denkmal- und Heimatschutz? Labt sich die kleine Schweiz an der schieren Grösse und an der Macht ihrer Bankgiganten? Möchten die Eliten ihr «Unbehagen im Kleinstaat» (Karl Schmid, 1963) mit weltweit geachteter (oder besser: gefürchteter) Bankenmacht kompensieren? Neben rein wirtschaftlichen Interessen scheinen jedenfalls auch psychologisch und kulturell interessante Elemente mit im Spiel zu sein. Vielleicht handelt es sich beim Finanzplatz um eine ähnlich tabuisierte Geschichte wie bei der überdimensionierten Schweizer Armee. Beide, Finanzplatz und Armee, haben eine Grössenordnung und eine Bedeutung erreicht, die sich rein aus ihrer wirtschaftspolitischen respektive sicherheitspolitischen Funktion kaum mehr rechtfertigen lassen. Beide sind zu einem nationalen Mythos verklärt worden und prägen unser Bild von der Schweiz als einem Sonderfall.