Kaspar Wolfensberger · Liebeskrank
Kaspar Wolfensberger
Liebeskrank
Ein Interview mit List
Kriminalstück für Solostimme
Oesch Verlag
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ISBN(epub) 978-3-0350-4012-8
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Prolog
»Mitten ins Herz: Doktor der Liebeskranken ist tot! War es Mord?«
(Schlagzeile in FLASH am Sonntag vom 13. Juni 2004)
»Samstagvormittag, kurz vor 11 Uhr: In der Klinik Seeblick macht Arztsekretärin Natalie M. (36) einen grausigen Fund. Chefarzt Horst-Günther List (64), bekannt aus der TV-Sendung Liebeskrank, lehnt tot im Bürodrehstuhl hinter seinem Schreibtisch, auf dem weissen Arztkittel prangt ein roter Fleck. Eine Pistole liegt neben ihm. Frau M. schluchzend zu unserem Reporter: ›Selbstmord war das nicht! Niemals! Das war Mord!‹«
(METRO vom 14. Juni 2004, Frontseite)
»Wie bereits in der Sonntagspresse zu lesen war, wurde am vergangenen Samstag der Co-Chefarzt der Klinik Seeblick, Dr. med. Horst-Günther List, tot in seinem Sprechzimmer aufgefunden. List galt als Experte für die Behandlung der sogenannten ›Liebeskrankheit‹, eines in Fachkreisen noch umstrittenen Syndroms. Dem Vernehmen nach wird eine natürliche Todesursache ausgeschlossen. Die Bezirksanwaltschaft hat Ermittlungen aufgenommen. Was immer die kriminalpolizeiliche Untersuchung ergibt – Unfall, Suizid oder Tötungsdelikt –, diese neue Tragödie trifft die Klinik schwer. Nach einem tödlichen Therapieunfall vor einem Jahr und dem unerwarteten Hinschied der damaligen Chefärztin, Frau Prof. Miriam Katz, kam das Haus nicht mehr aus den Schlagzeilen heraus. Es wird aufgrund dieses jüngsten Todesfalls unausweichlich sein, die Irrungen und Wirrungen im Seeblick zu durchleuchten.«
(NEUE TAGESZEITUNG vom 14. Juni 2004, Lokales)
Eilige Schritte in einem Korridor halten abrupt an.
Oh! Haben Sie mich erschreckt! Sie waren aber auch kaum zu sehen in dieser Nische. Wollten Sie etwa zu mir?
Ach, das tut mir leid. Ich habe leider keine Zeit. Meine Sekretärin wird Ihnen aber gern einen Termin … Nanu, was ist denn das? Darf ich sehen? Kleiner geht’s nicht! Eines dieser winzigen Wunder der Elektronik? Dann kommen Sie wohl für ein Interview?
(Seufzt:) Das dritte in dieser Woche. Moment, ich schau nach. Wo habe ich bloss meine Agenda?
Hand klopft auf die Kleidung.
Da.
Seiten werden umgeblättert.
Augenblick, ich hab’s gleich.
(Murmelnd:) Tz, tz, tz, sieht nicht gut aus. Hmm, warten Sie. Vielleicht, vielleicht. (Wieder lauter:) Doch, es sollte gehen. Ein kurzes Gespräch liegt drin. Treten Sie ein.
Türe wird geöffnet.
Bitte nach Ihnen.
Frau Mantel hätte Sie wirklich nicht da draussen warten lassen dürfen. Seltsam, dass sie Ihnen keinen Platz im Vorzimmer angeboten hat. Aber angemeldet sind Sie doch, oder?
Ach, egal.
Was haben Sie denn da? Ist das Ihr Presseausweis?
Nicht nötig, stecken Sie den ruhig wieder ein. Ich kann mir die Namen ohnehin nicht merken. Kommen Sie. Bitte …
Türe fällt ins Schloss.
… nehmen Sie Platz.
Papiere werden auf Tischplatte geklatscht.
Sessel quietscht.
Läuft Ihr Gerätchen schon?
Gut. Schiessen Sie los!
Pause.
Keine Sorge, ich beisse nicht.
Räuspern.
Ihr erstes Interview? Wie ein Neuling sehen Sie mir zwar nicht aus.
Hüsteln.
Liege ich richtig: Sie sind nicht neu in diesem Geschäft, oder? Ich glaube, ich habe Ihr Gesicht schon mal gesehen. An einer Pressekonferenz oder so.
(Freundlich:) Trotzdem, lassen Sie sich Zeit.
Pause.
Kein Problem, wirklich nicht.
Pause.
Lampenfieber? (Wohlwollend:) Prüfungsangst, so ähnlich?
Ach, das muss Ihnen doch nicht peinlich sein. Ich kenne das. Bin schliesslich vom Fach. Vielleicht fange ich am besten selber an.
Räuspern.
Sie werden wissen wollen, worum es bei der Liebeskrankheit geht. Stimmt doch, oder?
(Heiter:) Sehen Sie, schon kommen wir ins Gespräch.
Also – (ernst:) gegen einen Vorwurf muss ich mich gleich im Voraus wehren: dass ich die Liebe pathologisiere.
Nichts liegt mir ferner. Liebe ist niemals pathologisch. Liebe ist eine zutiefst menschliche Erfahrung. Vielleicht die grösste. Die tiefste. Nein, die Liebe steht jenseits jeder Krankheitslehre, ausserhalb jeder medizinischen oder psychiatrischen Begrifflichkeit. Mein Syndrom bezieht sich denn auch gar nicht auf die Liebe selbst. Sondern auf das Leiden, das sie verursacht. Es beschreibt die Folgen, schmerzliche, qualvolle oder unerträgliche Auswirkungen der Liebe. Das Leid, das entsteht, wenn Liebe nicht erwidert, wenn sie enttäuscht oder verraten wird. Darum geht es. Verstehen Sie?
Ach so, Liebeskummer!, denken Sie jetzt, nicht wahr?
Nun, das wäre eine Verharmlosung. Offen gestanden kann ich das Wort nicht mehr hören: Liebeskummer! Wir sprechen hier von einer gravierenden gesundheitlichen Störung. Liebeskrankheit muss es heissen. Nicht zu verwechseln mit dem Liebeswahn, der pathologischen Eifersucht und andern Krankheitsbildern, die längst in den Psychiatriebüchern figurieren. Der Begriff Liebeskrankheit dürfte den meisten Ärzten geläufig sein, seit ich das Syndrom beschrieben habe.
Räuspern.
Beschrieben, nicht entdeckt. Entdeckt stand bloss in der Zeitung: »Doktor List, Entdecker einer neuen Krankheit«, aber mir klingt das zu grossspurig. In einer stand sogar »Erfinder«. Ich bitte Sie! Niemand erfindet eine Krankheit.
Nein, erfunden habe ich nichts. Entdeckt eigentlich auch nicht. Ich bin ja kein Seefahrer. Sagen wir lieber: erkannt. Ich habe etwas, was unnötiges Leid verursacht, als Krankheit erkannt. Das ist auch schon alles. Immerhin wurde das Leiden dadurch der Behandlung zugänglich gemacht. So wie vor gar nicht langer Zeit die soziale Phobie – Sie wissen doch, wovon ich rede? – als Krankheit erkannt und therapierbar gemacht wurde. Zuvor hatte man jenes Leiden als Schüchternheit abgetan, man apostrophierte die Kranken als ängstlich, als befangen, als gehemmt. Wenn das keine Verharmlosung war! Aber das ist vorbei: Soziale Phobie nennen wir diesen Zustand heute. Und zwar mit Recht. Seit das Leiden als Krankheit erkannt wurde, erhalten Tausende, nein, Hunderttausende, was sage ich: Millionen von Kranken endlich effiziente Hilfe. Mit kognitiver Verhaltenstherapie und modernen Psychopharmaka. Sehr effizient, das können Sie mir glauben. Vor allem die Medikamente.
Kurze Pause.
Zurück zur Liebeskrankheit. Nachdem ich meine Patientendaten systematisch ausgewertet hatte, war es einfach nicht mehr zu übersehen. Zuerst wollte ich es ja selbst nicht wahrhaben. Aber ich konnte es drehen und wenden, wie ich wollte, es blieb dabei: Der Zustand, den man gemeinhin als Liebeskummer bezeichnet, ist medizinisch gesehen – und zwar nach allen Kriterien der WHO! – eine Krankheit. Eindeutig. Ohne Wenn und Aber. Heute ist es mir schleierhaft, wie man dieses Faktum hatte übersehen können. Das, nicht mein bescheidener Beitrag ist das Erstaunliche an der ganzen Geschichte: dass die Krankheit nicht schon längst als solche erkannt wurde. (In angeregtem Gesprächston:) Da gibt es übrigens einen interessanten Aspekt: In der Weltliteratur wurde das Syndrom nämlich schon tausendfach, und bis ins kleinste klinische Detail, beschrieben: Romeo und Julia, Werther, Die Kameliendame, Madame Bovary, Tod in Venedig, und, und, und. Der Volksmund kannte die Krankheit schon immer: Man ist verrückt nach jemandem, krank vor Eifersucht, stirbt beinahe vor Sehnsucht, Sie kennen diese Redensarten.
Beim Anblick des Geliebten – erst recht des heimlich Geliebten, der nichts davon weiss oder wissen will – stockt der Atem. Das Herz droht zu zerspringen, das Blut schiesst ins Gesicht. Nicht nur den Appetit verschlägt es dem Liebenden, auch die Sprache. Die Stimme versagt – nicht viel anders als bei der Prüfungs- oder Autoritätsangst, Sie wissen, was ich meine. Früher wurde das Leiden mit Hexerei und Zaubertränken behandelt. Bei Naturvölkern heute noch. Das waren, wenn man so will, untaugliche – wie soll ich sagen? – alternativmedizinische Therapieversuche. Aber es wurde behandelt. Was will man mehr? Das ist doch der Beweis dafür, dass Liebesleid schon immer und in allen Kulturen als Krankheit betrachtet wurde. Bloss nicht von der medizinischen Wissenschaft! Sagen Sie selbst: Ist das nicht verrückt?
Räuspern. Kurze Pause.
Manche Liebeskranke werden immer noch ihrem Schicksal überlassen. Ohne jeden ärztlichen Beistand. Einzig und allein deshalb, weil niemand wahrhaben will, dass sie tatsächlich krank sind. Kein Wunder, dass Drogen- und andere Suchtkrankheiten überhand nehmen: Die Flucht in die Sucht ist nämlich oft nichts anderes als der Selbstheilungsversuch eines Liebeskranken. Sekten und Freikirchen florieren. Warum wohl? Weil man ihnen diese Patienten förmlich in die Arme treibt. – Verzeihung, ich schweife ab. Überhaupt, ich rede und rede. Aber so bin ich: Ich gerate rasch in Fahrt. Ich fange leicht Feuer. Also: Was war Ihre Frage?
Räuspern.
Warten Sie, ich hab’s wieder: Alles über die Liebeskrankheit, stimmt’s?
Nun (betont sachlich), wie die meisten Krankheiten kann sich das Syndrom in leichter, mittelschwerer oder schwerer Form manifestieren. Es kann akut oder chronisch verlaufen. Es kann spontan auftreten und spontan wieder ausheilen. Es kann aber auch einen fatalen Verlauf nehmen. Leichte Fälle sind kaum oder überhaupt nicht behandlungsbedürftig. Wie ein leichter Sonnenbrand, verstehen Sie? (Hörbar schmunzelnd:) Wie ein milder Kater. Zu viel Sonne, zu tief ins Glas geschaut, das sind zwar zweifellos gesundheitliche Schädigungen. Doch werden sie, wie man weiss, gar nicht ungern in Kauf genommen. Oder sogar willentlich herbeigeführt. Nicht anders verhält es sich mit der Liebeskrankheit in ihrer leichtesten Form: Nachwirkung eines leichten Seelenrauschs. Psychischer Sonnenbrand, sozusagen. Nicht weiter bedenklich. Daneben gibt es aber die schweren und schwersten Formen, die dringend der Behandlung bedürfen. Manche sind allerdings schwer behandelbar. Oder unheilbar, fast wie psychischer Krebs.
Holt Atem.
(Dozierend:) Die Krankheit äussert sich in einer Reihe von Symptomen, die in ihrer Gesamtheit ein charakteristisches Syndrom bilden. Ich nenne es LIPS: Love Induced Psycho-Syndrom, Sammelbegriff für alle Formen der Liebeskrankheit. Die einzelnen Symptome sind uns aus anderen psychischen Krankheitsbildern bekannt: aus der manischen und der depressiven Krankheit, der Schizophrenie und dem Kreis der Angst- und Zwangsstörungen. In diesem Feld psychischer Störungen sind die verschiedenen Formen der Liebeskrankheit anzusiedeln: mal näher bei der Depression, das ist der häufigste Fall, mal näher bei der Manie oder einer Wahnkrankheit, dann wieder näher bei der Angst- oder Zwangsstörung. (Freundlich, sachlich:) Ist das so weit verständlich?
Gut. Dann darf ich weiterfahren?
Das heisst, erst möchte ich Sie etwas fragen: Haben Sie Psychologie studiert?
Nein? Medizin?
Dann wohl Naturwissenschaften.
Auch nicht? Publizistik?
Na, so was, Sie schütteln ja dauernd den Kopf. Aber Sie sind doch Wissenschaftsjournalist, oder nicht?
Sie haben mir noch gar nicht gesagt, welche Redaktion Sie schickt. Neuroscience kaum, die waren letzte Woche hier. Sie schreiben für den Seelenarzt, nicht wahr? Oder für Psychosoma? Einerlei, sind beide angesehene Fachzeitschriften. Aber ich habe eine Bitte: dass Sie mir Ihren Text vorlegen, bevor er in Druck geht. Einverstanden?
Gut, damit wäre der Einstieg geschafft, nicht wahr? Dann schiessen Sie jetzt los.
Telefon klingelt.
List. – Ja? – Nein. (Schonungsvoll:) Nein, Frau Mantel: Keine Anrufe durchstellen, bitte. Ich bin besetzt. – Ich weiss. – Schon gut. – Ja, ja, danke.
Hörer wird aufgelegt.
So. Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja: bei der Symptomatik. Vermutlich wird Sie jetzt das Behandlungskonzept interessieren. Da darf ich mich kurz fassen: Wir empfehlen Psychotherapie und Pharmakotherapie, wenn möglich kombiniert. Wenn das nicht geht: Pharmakotherapie allein. Da setzen wir auf moderne Antidepressiva. Die wirken oft, aber nicht immer. Gelegentlich müssen wir zu Neuroleptika greifen. Oder zu Moodstabilizern. Nur wirken alle diese Medikamente viel zu wenig spezifisch. Jetzt steht Gott sei Dank ein Durchbruch bevor.
Klaps auf die Tischplatte.
Cox, Rich & Nightingale kommt demnächst mit einem Spezifikum auf den Markt. Nächsten Monat findet in Amsterdam ein LIPS-Kongress statt, da wird das neue Medikament vorgestellt. Gehen Sie auch hin?
(Lacht:) Das heisst dann wohl nein, nicht wahr?
Schade. (Beiläufig:) Ich werde nämlich den Eröffnungsvortrag halten. – Was sehe ich: schon bald sieben?
Wieder Klaps auf die Tischplatte.
Tut mir wirklich leid, aber unsere Zeit ist abgelaufen.
Es quietscht.
Was ist? Sind Sie nicht zufrieden?
Nicht ganz? Tz, tz, das tut mir leid.
Pause.
Hmm. Ich muss zugeben, ich war etwas kurz angebunden. Die Zeit drängt leider, ich muss gehen, ich bedaure es ja selber. Vielleicht bin ich wirklich zu wenig auf Ihre Fragen eingegangen. Tja, was machen wir da? Lassen Sie mich überlegen. Hmm. Wissen Sie was: Ich gebe Ihnen einen zweiten Termin. Ausnahmsweise.
Doch, doch. Ich sehe ja, dass das Thema Sie interessiert. Und ich will natürlich nicht, dass Ihr Artikel ein Flop wird.
Seiten werden umgeblättert.
Wie wär’s heute in einer Woche? Ach so, nein, das geht nicht: Das ist Karfreitag. Dann eine Woche später, wieder am Freitag. Das wäre der sechzehnte. Selbe Zeit?
Pause.
Noch etwas: Ähm (hüstelt), Sie brauchen sich nicht bei meiner Sekretärin zu melden. Warten Sie einfach da draussen. Dort, wo Sie heute standen. Ich hole Sie selber ab. In Ordnung?
Dann sind wir jetzt fertig. Sie können Ihr Apparätchen abschalten. (Lacht.) Auf Wiedersehen.
Da sind Sie ja schon. Hatten Sie frohe Ostern? Waren prächtige Tage, fast sommerlich, nicht wahr?
Treten Sie ein.
Tür fällt sanft ins Schloss.
Schalldicht. Aus Diskretionsgründen, wissen Sie. Und der Spannteppich, genau wie die Vorhänge: schallschluckend. Man hört nicht mal die eigenen Schritte, merken Sie? Sie werden auf Ihrer Aufnahme kein Echo hören, keine störenden Nebengeräusche. Nur die Geräusche, die wir selber machen (lacht). Kristallklare Stimmen. Sie werden entzückt sein, wenn Sie sich das Interview anhören (lacht).
Kommen Sie. Setzen Sie sich.
Möchten Sie Kaffee? Frau Mantel wird Ihnen gern einen bringen.
Nein? Orangensaft?
Auch nicht? Wasser vielleicht?
Ja? Ist aber nur Leitungswasser.
Wasser läuft, Glas wird abgestellt.
Hier, bitte.
Darf ich Ihnen eine anbieten?
Nein? Stört es Sie, wenn ich rauche?
Feuerzeug klickt. Rauch wird ausgeblasen.
Entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit von letzter, ich meine vorletzter Woche. Ich …
Doch, doch, das war unhöflich: Ich habe Sie ja sozusagen vor die Tür gesetzt. Und nicht einmal nach Ihrem Namen gefragt. Oder ich habe ihn vergessen – wenn das keine Unhöflichkeit ist. Tut mir leid, aber ich habe ein miserables Namensgedächtnis. Wie war Ihr Name, bitte?
Telefon klingelt.
List.– Ja? – Nein, nicht jetzt, ich bin besetzt. – Was heisst »nicht in Ihrer Agenda«? – Ach so, kann sein. Ja, ja. – Ganz ruhig, Frau Mantel. – Ich weiss. (Schonungsvoll, betont langsam:) Frau Mantel: Bitte keine Anrufe durchstellen, ja? Ich möchte nicht gestört werden. – Eine halbe Stunde vielleicht. Danke.
Entschuldigen Sie. (Mit gesenkter Stimme:) Etwas empfindlich, muss mit Samthandschuhen angefasst werden. Aber sonst eine Perle.
Läuft Ihr Gerätchen schon?
Ja? Man sieht gar nichts. Nun, wo waren wir? Ach ja, bei meiner Unhöflichkeit, wo denn sonst. Ich hatte komplett vergessen, mich vorzustellen, nicht wahr? Wenn das keine Unhöflichkeit war. Verzeihen Sie, bitte. (Lachend:) List ist mein Name. Aber jetzt zu Ihnen.
Quietschendes Geräusch.
Das ist nicht Ihrer, das ist meiner. Wenn ich mich drehe oder vor- oder zurücklehne, quietscht er ein bisschen. Italienisches Design, ergonomische Gestaltung, lässt sich drehen und kippen, höher und tiefer stellen – sehen Sie?
Sessel quietscht.
Alles, was man will. Aber quietscht wie ein altes Fahrrad. Keine Sorge: Ihrer dreht nicht und kippt nicht. Sie können sich unbesorgt zurücklehnen. Sitzen Sie bequem?
Gut.
Sie haben bestimmt noch Fragen, nicht wahr? Das war jedenfalls mein Eindruck. Ja, ja, mein erster Eindruck war, dass Sie sich brennend für die Liebeskrankheit interessieren. Und der täuscht bekanntlich selten. (Halblaut, scherzhaft vertraulich:) Es sei denn, Sie seien meinetwegen gekommen. Nein, Spass beiseite: Ich vermute, Sie hatten sich für das Interview vorbereitet. Sie sind ein guter Zuhörer. Sie …
Stimmt’s etwa nicht?
Doch, doch, zuhören können Sie, das ist mir gleich aufgefallen. Interessiert und aufmerksam. Das kommt selten vor. Glauben Sie mir, ich weiss, wovon ich rede: bei drei Interviews die Woche. Die meisten geben vor, etwas erfahren zu wollen, und dann schwatzen sie einem die Ohren voll. Mit naiven Fragen, stereotypen Einwänden und Besserwissereien. Sie hören zu. Man spürt Ihr Interesse.
Bläst lange Rauch aus.
Zuhören ist eine Kunst, wissen Sie. Als solche ist sie zwar lernbar, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Zuhören ist nämlich auch eine Begabung. Zuhö…
Oh, doch. Nur keine falsche Bescheidenheit.
Für Ärzte und Psychotherapeuten ist Zuhören natürlich das tägliche Brot. Zuhören, zuhören und nochmals zuhören, das ist das A und O unseres Berufs. In der Sprechstunde zuhören, auf Patientenvisite zuhören, immer und überall zuhören. Auch auf Sendung übrigens. Haben Sie Liebeskrank schon mal gesehen?
Jetzt schütteln Sie bloss nicht wieder den Kopf!
(Lachend:)Dieses