Trudi Canavan
Die
Königin
Die Saga von Sonea 3
Roman
Deutsch von Michaela Link
Erster Teil
1 Attentäter und Allianzen
In Imardin herrschte weithin der Irrglaube, Druckpressen seien von Magiern erfunden worden. Wer sich mit der Funktionsweise von Pressen und Magie nicht auskannte, konnte angesichts des spektakulären Lärms und der ruckartigen Bewegungen der Maschine leicht den Eindruck gewinnen, dass dabei irgendeine Art von Alchemie am Werk war. Aber solange jemand bereit war, die Räder zu drehen und die Schalthebel zu bedienen, funktionierten die Pressen ohne jede Magie.
Cery hatte die Wahrheit vor Jahren von Sonea erfahren. Der Erfinder der Maschine hatte der Gilde einen Prototyp präsentiert, und die Gilde hatte ihn als schnelle und billige Möglichkeit begrüßt, Kopien von Büchern anzufertigen. Eine Weile später bot die Gilde den Häusern einen kostenlosen Druckdienst an und auch allen Mitgliedern anderer Klassen, die dafür bezahlten. Der Eindruck, die Druckkunst sei magischer Natur, wurde bestärkt, um andere davon abzuhalten, ihr eigenes Gewerbe aufzubauen. Erst als Menschen von niederer Herkunft in die Gilde kamen, wurde der Mythos zerstreut, und bald danach wurden überall in der Stadt Druckpressen in steigender Zahl in Betrieb genommen.
Die Kehrseite der Medaille, so überlegte Cery, war eine nie geahnte Verbreitung und Beliebtheit romantischer Abenteuerromane. Ein vor kurzem veröffentlichter Roman erzählte von einer reichen Erbin, die von einem jungen, gutaussehenden Dieb von ihrem luxuriösen, aber langweiligen Leben erlöst wurde. Die Kämpfe waren lächerlich unglaubwürdig, fast immer wurden dazu Schwerter benutzt statt Messer, und die Unterwelt wurde von viel zu vielen gutaussehenden Männern mit unpraktischen Ideen in Bezug auf Ehre und Loyalität bevölkert. Der Roman hatte einem Gutteil der weiblichen Bevölkerung Imardins einen Eindruck von der Unterwelt vermittelt, der von der Wahrheit weit entfernt war.
Natürlich hatte er nichts von alledem zu der Frau gesagt, die neben ihm im Bett lag und die ihm jede Nacht, seit sie sich bereitgefunden hatte, ihn in ihrem Keller wohnen zu lassen, ihre Lieblingsstellen aus diesen Büchern vorgelesen hatte. Cadia war keine reiche Erbin. Und ich bin kein umwerfend gutaussehender Dieb. Sie war seit dem Tod ihres Ehemannes einsam und traurig gewesen, und die Vorstellung, einen Dieb in ihrem Keller zu verstecken, war eine angenehme Ablenkung.
Und er … ihm waren die Verstecke fast ausgegangen.
Er drehte sich um, um sie anzusehen. Sie schlief und atmete leise. Er fragte sich, ob sie ihn tatsächlich für einen Dieb hielt oder ob er einfach so gut in ihre Fantasie hineinpasste, dass es sie nicht kümmerte, ob es die Wahrheit war oder nicht. Er war nicht der schneidige junge Dieb in dem Roman – er hatte gewiss nicht die Ausdauer für die beschriebenen Abenteuer, sei es im Bett oder außerhalb davon.
Ich werde weich. Ich kann nicht einmal eine Treppe hinaufgehen, ohne dass mein Herz hämmert und mir die Luft ausgeht. Wir haben zu viel Zeit eingesperrt in engen Verstecken verbracht und nicht genug Zeit im Kampftraining.
Aus dem Nebenzimmer hörte man einen gedämpften Aufprall. Cery hob den Kopf, um die Tür zu betrachten. Waren Anyi und Gol wach? Jetzt, da er es war, bezweifelte er, dass er in absehbarer Zeit wieder einschlafen würde. Wenn er eingepfercht war, führte das immer dazu, dass er schlecht schlief.
Er schlüpfte aus dem Bett, zog seine Hose an und griff nach seinem Mantel. Nachdem er einen Arm in einen Ärmel geschoben hatte, legte er die Hand auf den Türknauf und drehte ihn leise. Als er die Tür aufdrückte, kam Anyi in Sicht. Sie beugte sich über Gol, und eine Klinge fing das Licht der Nachtlampen auf; sie schwebte über Gol, bereit zuzustoßen. Cerys Herz krampfte sich vor Schreck und Ungläubigkeit zusammen.
»Was …?«, begann er. Bei dem Geräusch drehte Anyi sich mit der beneidenswerten Schnelligkeit der Jugend zu ihm um.
Es war nicht Anyi.
Genauso schnell wandte die junge Frau ihre Aufmerksamkeit wieder Gol zu, und das Messer schoss nach unten, aber Hände wurden gehoben, um die Meuchelmörderin am Unterarm zu packen und den Stich unmöglich zu machen. Gol sprang vom Bett. Cery war in diesem Moment bereits durch die Tür, aber er blieb wie angewurzelt stehen, als ein neuer Gedanke seine Absicht, die Frau aufzuhalten, beiseitedrängte.
Wo ist Anyi?
Als er sich umdrehte, sah er, dass auf dem zweiten improvisierten Bett ein weiterer Kampf im Gang war, nur dass es diesmal der Eindringling war, der auf die Matratze gepresst wurde und Hände zurückhielt, die ein Messer direkt über seiner Brust schweben ließen. Eine Welle des Stolzes auf seine Tochter erfasste Cery. Sie musste rechtzeitig aufgewacht sein, um den Meuchelmörder zu erwischen, und sie hatte seinen Angriff gegen ihn gewandt.
Aber ihr Gesicht war zu einer Grimasse der Anstrengung verzogen, während sie versuchte, das Messer herunterzudrücken. Trotz der geringen Größe des Meuchelmörders waren die Muskeln seiner Handgelenke und seines Halses gut entwickelt. Anyi würde diesen Kampf nicht mit brutaler Gewalt gewinnen. Ihr Vorteil war ihre Geschwindigkeit. Er machte einen Schritt auf sie zu.
»Verschwinde von hier, Cery«, blaffte Gol.
Anyis Arme wurden zurückgedrückt, als ihre Konzentration durchbrochen wurde. Sie sprang aus der Reichweite des Meuchelmörders heraus. Dieser hechtete vom Bett, nahm Kampfhaltung ein und riss ein langes, dünnes Messer aus dem Ärmel. Aber er ging nicht auf sie zu. Sein Blick wanderte zu Cery hinüber.
Cery hatte nicht die Absicht, den Kampf Anyi und Gol zu überlassen. Er würde Gol vielleicht eines Tages im Stich lassen müssen, aber heute war nicht dieser Tag. Und seine Tochter würde er niemals im Stich lassen.
Er hatte seinen anderen Arm reflexartig in den Ärmel des Mantels gleiten lassen. Jetzt trat er zurück und heuchelte Furcht, während er in die Taschen griff und die Hände durch die Halteschlingen seiner Lieblingswaffen steckte: zwei Messer, deren Scheiden in den Taschen befestigt waren, so dass die Klingen bereit sein würden, wenn Cery sie herauszog.
Der Attentäter machte einen Satz auf Cery zu, und Anyi sprang ihn an. Cery tat das Gleiche. Es war nicht das, was der Mann erwartet hatte. Noch erwartete er die Zwillingsmesser, die sein eigenes blockierten. Oder die Klinge, die durch das weiche Fleisch seines Halses glitt. Er erstarrte vor Überraschung und Entsetzen.
Cery wich dem spritzenden Blut aus, als Anyi ihr Messer herauszog, dem Attentäter sein Messer aus der Hand schlug und ihm dann mit einem Stich ins Herz den Garaus machte.
Sehr effizient. Ich habe sie gut ausgebildet.
Natürlich mit Gols Hilfe. Cery drehte sich um, um festzustellen, wie es seinem Freund ging, und er war erleichtert zu sehen, dass die Meuchelmörderin in einer Blutlache auf dem Boden lag.
Gol blickte Cery an und grinste. Er war außer Atem. Genau wie ich, begriff Cery. Anyi bückte sich und strich mit den Händen über die Kleidung und das Haar des männlichen Angreifers, dann rieb sie die Finger gegeneinander.
»Ruß. Er ist durch den Schornstein im Haus über uns gekommen.« Sie betrachtete nachdenklich die alte steinerne Treppe, die zur Kellertür hinaufführte.
Cerys Laune verschlechterte sich. Wie immer die beiden hereingekommen waren oder wie sie ihn überhaupt gefunden hatten, dies war nicht länger ein sicheres Versteck. Stirnrunzelnd schaute er auf die toten Meuchelmörder hinunter und dachte über die letzten wenigen Menschen nach, die er vielleicht um Hilfe bitten könnte, und wie sie sie erreichen würden.
Ein leises Aufkeuchen kam von der Tür. Als er sich umdrehte, sah er Cadia, die, nur in ein Laken gehüllt, mit großen Augen die toten Meuchelmörder anstarrte. Sie schauderte, aber als sie ihn bemerkte, verwandelte sich ihr Entsetzen in Enttäuschung.
»Ich schätze, dann wirst du nicht noch eine Nacht bleiben?«
Cery schüttelte den Kopf. »Entschuldige die Schweinerei.«
Sie betrachtete mit einer Grimasse das Blut und die Leichen, dann runzelte sie die Stirn und blickte zur Decke hinauf. Cery hatte nichts gehört, aber Anyi hatte zur gleichen Zeit den Kopf gehoben. Sie alle tauschten besorgte Blicke und schwiegen lieber, für den Fall, dass sich ihr Argwohn bestätigte.
Er hörte ein schwaches Knarren, gedämpft durch die Dielenbretter über ihnen.
So lautlos wie möglich griffen Anyi und Gol nach ihren Schuhen, ihren Rucksäcken und Lampen und folgten Cery in das Nebenzimmer, schlossen die Tür hinter sich und schoben eine alte Truhe vor die Tür. Cadia blieb mitten im Raum stehen, seufzte und ließ das Laken fallen, damit sie sich anziehen konnte. Sowohl Anyi als auch Gol wandten ihr schnell den Rücken zu.
»Was soll ich tun?«, flüsterte Cadia Cery zu.
Er las den Rest seiner Kleider auf, griff nach Cadias Schlafzimmerlampe und überlegte. »Folge uns.«
Sie wirkte eher krank als aufgeregt, als sie durch die Falltür schlüpften, die zu der alten Straße der Diebe führte. Die Gänge hier waren mit Schutt gefüllt und nicht wirklich sicher. Dieser Teil des unterirdischen Netzwerks war vom Rest abgeschnitten worden, als der König eine nahe Straße wiederhergestellt und neue Häuser errichtet hatte, wo die alten Gebäude des Elendsviertels gestanden hatten. Obwohl es nicht ganz innerhalb der Grenzen seines Territoriums lag, hatte Cery einen alten Tunnelbauer dafür bezahlt, eine neue Zugangspassage auszuheben, hatte aber die verfallenen Teile so belassen, damit niemand in Versuchung geriet, sie zu benutzen. Es war ein praktischer Ort gewesen, um Dinge zu verstecken, wie gestohlene Waren und hier und da einen Leichnam.
Er hatte jedoch nie geplant, sich selbst hier zu verstecken. Cadia betrachtete den mit Schutt übersäten Gang mit einer Mischung aus Entsetzen und Neugier. Cery reichte ihr die Lampe und zeigte in eine Richtung.
»Nach ungefähr hundert Schritten wirst du ein Gitter hoch oben in der linken Wand sehen. Dahinter ist eine Gasse zwischen zwei Häusern. Es werden Rillen in der Wand sein, damit du hinaufklettern kannst, und das Gitter sollte sich nach innen einklappen lassen. Geh zu einem deiner Nachbarn und sag, dass Räuber in deinem Haus sind. Wenn sie die Leichen finden, sagst du, sie seien die Räuber, und du deutest an, dass sich wohl einer gegen den anderen gewandt hat.«
»Was ist, wenn sie sie nicht finden?«
»Zieh sie hier in diese Gänge, und lass niemanden in deinen Keller, bis der Geruch weggeht.«
Sie wirkte noch kränker, nickte jedoch und straffte sich. Ein Stich der Zuneigung durchzuckte ihn angesichts ihrer Tapferkeit, und er hoffte, dass sie nicht weiteren Meuchelmördern über den Weg laufen oder auf irgendeine andere Weise dafür bestraft werden würde, dass sie ihm geholfen hatte. Er trat dicht vor sie hin und küsste sie entschlossen.
»Ich danke dir«, sagte er leise. »Es war mir ein Vergnügen.«
Sie lächelte, und ihre Augen funkelten für einen Moment. »Sei vorsichtig«, erwiderte sie.
»Bin ich immer. Und jetzt geh.«
Sie eilte davon. Er konnte es nicht riskieren zu bleiben, um ihr nachzuschauen. Gol trat vor, um voranzugehen, und Anyi blieb hinter ihnen, während sie durch die zerfallenden Gänge wanderten. Nach mehreren Schritten krachte etwas hinter ihnen. Cery blieb stehen und drehte sich um.
»Cadia?«, murmelte Gol. »Das Gitter hat sich geschlossen, als sie auf die Straße geklettert ist?«
»Das ist sehr weit entfernt, um es so gut zu hören«, meinte Cery.
»Das war kein Gitter auf Ziegelsteinen«, flüsterte Anyi. »Es war … etwas Hölzernes.«
Einige hellere Laute folgten. Ziegel und Steine, die bewegt wurden. Cery überlief ein Schauer. »Geht. Schnell. Aber leise.«
Gol hielt seine Lampe hoch, doch wegen des vielen Schutts auf dem Boden des Gangs konnten sie nur ab und zu schnell laufen. Cery unterdrückte mehr als einmal einen Fluch und bedauerte, dass er nicht ein wenig mehr aufgeräumt hatte. Dann, nachdem sie einen geraden Abschnitt des Tunnels hinter sich gebracht hatten, schimpfte Gol und kam schlitternd zum Stehen. Als Cery über die Schulter des massigen Mannes schaute, sah er, dass das Dach über ihnen vor kurzem eingestürzt war, so dass sie in eine Sackgasse geraten waren. Er fuhr herum, und sie eilten zurück zu der letzten Kreuzung, an der sie vorbeigekommen waren.
Als sie die Biegung erreichten, seufzte Anyi. »Wir hinterlassen Spuren.«
Cery senkte den Blick und sah Fußabdrücke im Staub. Die Hoffnung, dass ihr Verfolger den Spuren bis zu der Sackgasse hinterherlaufen würde, wurde zunichtegemacht, als er begriff, dass Gols Spur jetzt durch den Nebentunnel führte und jede Menge Beweise dafür hinterließ, dass sie den Weg zurückgegangen waren.
Aber wenn sich eine weitere Gelegenheit bietet, falsche Spuren zu legen …
Doch es kam keine Gelegenheit mehr. Erleichterung durchflutete ihn, als sie endlich den Verbindungsgang zu dem Hauptteil der Straße der Diebe erreichten. Einmal mehr bedauerte er, dass er diese Situation nicht vorhergeahnt hatte: Obwohl er den Eingang zu den isolierten Tunneln verborgen hatte, hatte er sich keine Mühe gemacht, den Ausgang vor jemandem zu verstecken, der den Tunnel von innen erkundete.
Sobald die Tür hinter ihnen geschlossen war, schauten sie sich in dem saubereren, besser gewarteten Gang um, in dem sie standen. Da war nichts, was sie benutzen konnten, um die Tür zu blockieren und ihre Verfolger daran zu hindern, die alten Tunnel zu verlassen.
»Wohin?«, fragte Gol.
»Nach Südosten.«
Sie bewegten sich jetzt schneller und blendeten die Lampen ab, so dass nur ein denkbar dünner Lichtstrahl den Weg erhellte. Früher wäre Cery im Dunkeln weitergegangen, aber er hatte Geschichten über Fallen gehört, die aufgestellt worden waren, um die Territorien anderer Diebe zu verteidigen. Urheber waren unternehmungslustige Räuber oder die mysteriösen Schleichen. Trotzdem war das Tempo, das Gol vorgab, gefährlich schnell, und Cery machte sich Sorgen, dass sein Freund nicht in der Lage sein würde, Gefahren auszuweichen, denen er vielleicht entgegeneilte.
Schon bald war Cery außer Atem, seine Brust schmerzte, und seine Beine wurden unsicher. Er fiel etwas hinter Gol zurück, der jedoch nach einer Weile seine Schritte verlangsamte und sich umschaute. Er wartete auf Cery, aber die Falte zwischen seinen Brauen glättete sich nicht, und er bewegte sich auch nicht, als Cery ihn einholte.
»Wo ist Anyi?«
Cery verspürte einen heftigen Stich. Er fuhr herum und sah nur Dunkelheit hinter ihnen.
»Ich bin hier«, erklang eine leise Stimme. »Ich bin stehen geblieben, um festzustellen, ob ich unsere Verfolger hören kann.« Ihre Miene war grimmig. »Sie folgen uns tatsächlich. Und es ist eindeutig mehr als nur einer.« Sie winkte die beiden Männer weiter. »Vorwärts. Sie sind nicht weit hinter uns.«
Gol stürmte wieder los, und Cery folgte ihm. Der massige Mann gab ein noch schnelleres Tempo vor. Er wählte eine gewundene Route, aber sie schüttelten ihre Verfolger nicht ab – was die Vermutung nahelegte, dass sie die Tunnel genauso gut kannten wie er und Cery. Gol kam den Tunneln der Gilde näher, doch wer immer ihnen folgte, war offensichtlich nicht hinreichend eingeschüchtert von Magiern, um von seiner Beute abzulassen.
Sie näherten sich dem geheimen Eingang in die Tunnel unter der Gilde. Sie werden es nicht wagen, mir dorthin zu folgen. Es sei denn, sie wussten nicht, wohin die Gänge führten. Wenn sie uns folgen, werden sie feststellen, dass die Gilde ihre unterirdischen Wege unbewacht lässt. Was bedeutete, dass Skellin es ebenfalls erfahren würde. Ich werde nicht nur nie wieder über diesen Weg fliehen können, ich werde auch die Gilde alarmieren müssen. Sie wird die Tunnel zuschütten lassen, und dann wird unser sicherster Weg zu Sonea und Lilia versperrt sein.
Er betrachtete die Gildetunnel als die letztmögliche Fluchtroute. Wenn es eine Alternative gegeben hätte …
Als sie noch etwa zwanzig Schritt vom Eingang zu den Gildetunneln entfernt waren, hörten sie hinter sich ihre Verfolger. Sie waren ihnen zu dicht auf den Fersen – es blieb keine Zeit mehr, die Geheimtür zu öffnen, bevor sie sie einholten. Als Gol langsamer wurde, um sich zu Cery umzudrehen – die Augenbrauen zu einer stummen Frage hochgezogen –, schlüpfte Cery an ihm vorbei und schlug eine neue Richtung ein.
Er hatte eine andere Alternative. Es war eine riskantere. Sie könnte sie sogar in eine noch größere Gefahr führen als die, vor der sie flohen. Aber zumindest würden ihre Verfolger in ebenso großer Gefahr sein, wenn sie es wagten, hinter ihnen herzugehen.
Gol begriff, was Cery vorhatte, und fluchte leise. Aber er widersprach nicht, sondern packte Cery am Arm, um an ihm vorbeizukommen, und übernahm wieder die Führung.
»Wahnsinn«, murmelte er und jagte auf die Stadt der Schleichen zu.
Es war jetzt mehr als zehn Jahre her – fast zwanzig –, seit Dutzende von Straßenkindern in den Tunneln eine neue Heimat gefunden hatten, nachdem ihr Viertel zerstört worden war. Schon bald wurden sie zum Gegenstand schreckenerregender Geschichten, die in Bolhäusern erzählt wurden und um Kinder zum Gehorsam zu bringen. Es hieß, dass die Schleichen sich niemals ans Tageslicht wagten und nur des Nachts aus Gullys und Kellern emporkämen, um Lebensmittel zu stehlen und den Menschen böse Streiche zu spielen. Manche glaubten, sie hätten sich zu dürren, bleichen Wesen mit großen Augen entwickelt, die es ihnen ermöglichten, auch im Dunkeln zu sehen. Andere dagegen sagten, sie sähen aus wie jedes andere Straßenkind, bis sie ihren Mund öffneten und ihre langen Reißzähne zeigten. Worin aber alle übereinstimmten, war, dass derjenige, der sich auf das Gebiet der Schleichen vorwagte, so gut wie tot war. Von Zeit zu Zeit stellte jemand diesen Glauben auf die Probe. Die meisten kehrten nie zurück, aber einige waren wieder aus den Tunneln herausgekrochen, blutüberströmt von Stichwunden, die ihnen lautlose unsichtbare Angreifer in der Dunkelheit zugefügt hatten.
Wo die Schleichen den Untergrund beherrschten, wurden ihnen von den Anwohnern Opfer angeboten in der Hoffnung, sie so vom Eindringen in ihre Häuser abhalten zu können. Cery, dessen Gebiet sich an einer Ecke mit dem der Schleichen überschnitt, hatte dafür gesorgt, dass jemand alle paar Tage Lebensmittel in den Tunneln deponierte, in einem Sack, der mit dem Bild seines Namensvetters, des kleinen Nagetieres Ceryni markiert war.
Es war eine Weile her, seit er das letzte Mal überprüft hatte, ob das auch wirklich getan wurde. Wenn nicht, dann werde ich wahrscheinlich keine Chance bekommen, sie dafür zu bestrafen.
Schon bald entdeckte er die Markierungen, die sie warnten, dass sie sich auf das Gebiet der Schleichen wagten. Dann sah er diese Markierungen nicht mehr. Er konnte Anyis schnellen Atem hinter sich hören. Hatten ihre Verfolger es gewagt, ihnen auf den Fersen zu bleiben?
»Nicht«, stieß Anyi hervor, als er das Tempo verlangsamte, um über seine Schulter zu schauen. »Sie … sind … direkt … hinter … uns.«
Er hatte nicht genug Atem, um einen Fluch auszustoßen. Luft schnarrte in seine Lunge und wieder heraus. Sein ganzer Körper schmerzte und seine Beine zitterten, während er sich zwang weiterzulaufen. Er rief sich die Gefahr ins Gedächtnis, in der Anyi schwebte. Sie würde die Erste sein, die ihre Verfolger töteten, wenn sie sie einholten. Das konnte er nicht zulassen.
Etwas packte ihn an den Knöcheln, und er fiel vornüber.
Der Boden war nicht so flach oder hart, wie er erwartet hatte, aber er bäumte sich auf und rollte unter gedämpften Flüchen weiter. Gol war in der jetzt absoluten Dunkelheit nicht mehr zu sehen. Die Lampen waren erloschen. Cery drehte sich auf die Seite.
»Sei still«, flüsterte eine Stimme.
»Tu es, Gol«, befahl Cery. Gol verstummte.
Hinter ihnen im Tunnel wurden die Schritte lauter. Sich bewegende Lichter erschienen und drangen durch einen Vorhang aus grob gewebtem Stoff, an den Cery sich nicht erinnern konnte. Er muss heruntergelassen worden sein, nachdem wir ihn passiert haben. Die Schritte wurden langsamer und hielten inne. Aus einer anderen Richtung kam ein Geräusch – weitere eilige Schritte. Die Lichter entfernten sich, während ihre Träger die Verfolgung fortsetzten.
Nach einer langen Pause durchbrachen mehrere Seufzer die Stille. Ein Schauder überlief Cery, als er begriff, dass er von mehreren Personen umringt war. Ein dünner Lichtstrahl erschien. Eine der Lampen. Ein Fremder hielt sie in der Hand.
Cery schaute zu dem jungen Mann auf, der seinen Blick erwiderte.
»Wer?«, fragte der Mann.
»Ceryni von der Nordseite.«
»Die da?«
»Meine Leibwächter.«
Der Mann zog die Augenbrauen hoch, dann nickte er und wandte sich den anderen zu. Cery schaute sich um und sah sechs weitere junge Männer; zwei von ihnen saßen auf Gol. Anyi hatte sich in Kampfhaltung geduckt, ein Messer in jeder Hand. Die zwei jungen Männer, die links und rechts von ihr standen, hielten sicheren Abstand, obwohl sie den Eindruck machten, als seien sie bereit, einen Schnitt zu riskieren, falls ihr Anführer ihnen befahl, Anyi zu überwältigen.
»Steck die Messer weg, Anyi«, sagte Cery.
Ohne den Blick von den Männern abzuwenden, gehorchte sie. Auf ein Nicken ihres Anführers hin kletterten die beiden Männer von Gol herunter, der vor Erleichterung stöhnte. Cery erhob sich auf die Füße, drehte sich wieder zu dem Anführer um und drückte die Schultern durch.
»Wir bitten um sichere Passage.«
Der Mund des jungen Mannes zuckte zu einem Halblächeln. »So etwas gibt es heutzutage nicht.« Er deutete mit dem Daumen auf seine Brust. »Wen.« Dann drehte er sich um, um mit den anderen zu sprechen. »Ich kenne den Namen. Einer, der Essen gibt. Was tun wir?«
Sie tauschten Blicke, dann murmelten sie Worte, auf die hin er den Kopf schüttelte: »Töten?« – »Freilassen?« »Wurm?«, fragte einer, und Wen schaute nachdenklich drein. Dann nickte er. »Wurm«, sagte er entschieden. Irgendwie führte das dazu, dass die anderen nickten, obwohl Cery nicht erkennen konnte, ob sie es einfach akzeptierten oder zustimmten.
Wen wandte sich an Cery. »Ihr kommt alle mit uns. Wir bringen euch zu Wurm.« Er gab Gol seine Lampe zurück, dann blickte er zu einem der beiden Männer, die auf Gol gesessen hatten. »Geh und sag Wurm Bescheid.«
Der junge Mann huschte in die Dunkelheit hinter Wen davon. Als Wen sich umdrehte, um ihm zu folgen, nahm Anyi die Lampe, die der Junge gehalten hatte, an sich. Zwei der jungen Männer eilten vorwärts, um sich zu ihrem Anführer Wen zu stellen, und die übrigen nahmen Positionen weiter hinten ein.
Niemand sprach, während sie gingen. Zuerst verspürte Cery nur eine überwältigende Erleichterung darüber, einfach nicht mehr rennen zu müssen, obwohl seine Beine noch immer zittrig waren und sein Herz zu schnell schlug. Gol wirkte genauso atemlos wie er selbst, bemerkte er. Während er sich erholte, begann er sich erneut Sorgen zu machen. Er hatte noch nie gehört, dass irgendjemand sich mit einer Schleiche namens Wurm getroffen hätte. Es sei denn … es sei denn, Wurm ist nicht wirklich ein Mann, sondern etwas, das sie mit Eindringlingen füttern.
Hör auf damit, sagte er sich. Wenn sie unseren Tod wollten, hätten sie uns nicht vor unseren Verfolgern versteckt. Sie hätten uns in der Dunkelheit erstochen und uns in einer Sackgasse liegen lassen.
Nachdem sie eine Weile gegangen waren, erklang in der Dunkelheit vor ihnen eine Stimme, und Wen brummte eine Antwort. Schon bald trat ein Mann ins Licht, und die Gruppe blieb stehen. Der Mann sah Cery eindringlich an, dann nickte er.
»Du bist Ceryni«, sagte er und streckte eine Hand aus. »Ich bin Wurm.«
Cery streckte ebenfalls die Hand aus, unsicher, was die Geste bedeutete. Wurm ergriff sie für einen Moment, dann ließ er sie los und machte ein Zeichen. »Kommt mit mir.«
Ein weiterer Marsch folgte. Cery bemerkte, dass die Luft feucht wurde, und von Zeit zu Zeit drang aus einem Seitengang das Geräusch von fließendem Wasser. Dann traten sie in einen höhlenartigen Raum, der vom Rauschen des Wassers widerhallte, und alles machte plötzlich Sinn.
Ein Wald von Säulen umgab sie; jede einzelne war durch gemauerte Bögen aus Ziegelsteinen mit ihrem Nachbarn verbunden. Das ganze Netzwerk bildete eine niedrige Gewölbedecke, und die Säulen standen allesamt im Wasser. Ihr Führer folgte einem Weg, der über die Krone einer dicken Mauer zu verlaufen schien, die ebenfalls im Wasser stand. Es floss zu beiden Seiten an ihnen vorbei, aber in der Dunkelheit ließ sich nicht ausmachen, wie tief es war.
Glücklicherweise war der Pfad trocken und kein bisschen glitschig. Als Cery sich umschaute, bemerkte er, dass das Wasser in Tunnel floss, die anscheinend noch tiefer unter die Stadt führten. An einer Seite sah er andere Mauerkronen, aber zu weit entfernt, um sie mit einem Sprung erreichen zu können. Die einzige Beleuchtung kam von den Lampen, die sie trugen.
Das Wasser selbst war überraschend frei von Treibgut aller Art. Lediglich ein Ölfilm zog bisweilen vorüber, der meist nach Seife und Duftölen roch. Allerdings waren die Wände zum Teil mit Moder bedeckt, und in der Luft lag eine ungesunde Feuchtigkeit.
Ein Gruppe von Lichtern erschien vor ihnen, und Cery konnte schon bald eine Art großes Podest ausmachen, das zwei der Wege verband. Mehrere Menschen saßen darauf, und in dem gewaltigen Raum hallte ein leises Murmeln von Stimmen wider. Hinter dem Podest konnte Cery dunkle Ringe in einem helleren Bereich ausmachen, und schließlich sah er genug, um festzustellen, dass es weitere Tunnel waren, die höher lagen und aus denen Wasser in das riesige unterirdische Reservoir floss.
Das Podest knarrte unter ihren Schritten, als sie es nach Wurm betraten. Von den dort Sitzenden war keiner älter als Mitte zwanzig. Zwei der jungen Frauen hielten Säuglinge im Arm, und ein Kleinkind war mit einem Seil an die nächste Säule gebunden, wahrscheinlich, damit es nicht ins Wasser steigen konnte. Alle starrten Cery, Gol und Anyi mit großen, neugierigen Augen an, aber niemand sprach.
Wurm betrachtete Cery, dann deutete er auf die Einmündungen hinter der Plattform. »Die kommen aus den Bädern der Gilde«, erklärte er. »Weiter südlich münden Kloaken, und im Norden haben wir Kloaken, in die auch die Abwässer aus den Küchen gelangen. Hier dagegen ist das Wasser ziemlich sauber.«
Cery nickte. Es war kein schlechter Ort, um sich niederzulassen, wenn es einem nichts ausmachte, unter der Erde zu leben und ständig von Feuchtigkeit umgeben zu sein. Als er nach links und rechts schaute, bemerkte er andere Podeste, auf denen weitere Schleichen lagerten, und schmale Brücken, die sie miteinander verbanden.
»Ich hatte keine Ahnung, dass hier so etwas existiert«, gestand er.
»Direkt unter deiner Nase.« Wurm lächelte, und Cery begriff, wie recht der Mann hatte. Dieser Teil des Schleichengebiets lag unter Cerys eigenem Gebiet.
Cery drehte sich zu ihm um. »Deine Leute haben uns vor Leuten versteckt, die uns töten wollten«, sagte er. »Danke. Ich wäre niemals in euer Gebiet eingedrungen, wenn ich eine andere Wahl gehabt hätte.«
Wurm neigte den Kopf zur Seite. »Die Gildentunnel?«
Also weiß er, dass ich Zugang zu ihnen habe. Cery schüttelte den Kopf. »Damit hätte ich sie meinem Feind gezeigt. Ich hätte die Gilde deswegen warnen müssen, und ich glaube nicht, dass mir gefallen hätte, was sie deswegen unternommen hätten. Ich schätze, dir würde es auch nicht gefallen, wenn sie hier herumschnüffelten.«
Der Mann zog die Augenbrauen hoch. »Nein.« Er zuckte die Achseln, dann seufzte er. »Wenn wir zugelassen hätten, dass derjenige, der dir Jäger hinterhergeschickt hat, dich findet, würde er uns ebenfalls finden. Sobald er genommen hat, was dir gehört, kann ihn nichts daran hindern, sich auch zu nehmen, was uns gehört.«
Cery musterte Wurm nachdenklich. Die Schleichen wussten viel mehr über die Ereignisse in der Welt über ihnen, als er erwartet hätte. Sie hatten recht, was Skellin betraf. Sobald er Cerys Territorium hielt, würde er auch die Kontrolle über das Territorium der Schleichen wollen.
»Skellin oder ich. Keine große Auswahl«, sagte Cery.
Wurm schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. »Er wird uns nicht in Ruhe lassen, wie du es tust.« Er deutete mit dem Kopf zu den Tunneln hinüber. »Er wird die da haben wollen, weil er will, wozu sie führen.«
Die Gilde. Cery schauderte. War dies eine kluge Vermutung des Anführers der Schleichen, oder hatte er Kenntnis von Skellins genauen Plänen? Er öffnete den Mund, um danach zu fragen, aber Wurm drehte sich um, um Cery anzustarren.
»Ich zeige dir dies, damit du Bescheid weißt. Aber du kannst nicht bleiben«, erklärte er. »Wir werden euch an einen sicheren Ort bringen, aber das ist alles.«
Cery nickte. »Das ist mehr, als ich gehofft hatte«, erwiderte er und legte all seine Dankbarkeit in seinen Tonfall.
»Wenn ihr zurückkommen müsst, sprecht meinen Namen, und ihr werdet leben, aber wir werden euch wieder hinausbringen.«
»Ich verstehe.«
Wurm musterte Cery noch einen Moment lang, dann nickte er. »Wohin wollt ihr gehen?«
Cery sah Anyi und Gol an. Seine Tochter wirkte ängstlich, und Gol war blass und erschöpft. Wohin konnten sie gehen? Kaum jemand schuldete ihnen noch einen Gefallen, und sie hatten keinen sicheren Ort in leichter Reichweite. Keine Verbündeten, denen sie vertrauen konnten oder die sie in Gefahr bringen wollten. Bis auf einen. Cery wandte sich wieder an Wurm.
»Bring uns zurück in die Richtung, aus der wir gekommen sind.«
Der Mann wechselte ein Wort mit den jungen Burschen, die Cery und seine Begleiter gerettet hatten. Wurm bedeutete Cery, dass sie ihnen folgen sollten, dann ging er ohne ein Wort des Abschieds davon. Da er dies als eine Sitte der Schleichen wertete, drehte Cery sich ebenfalls um.
Ihr Gang hinaus aus dem Territorium der Schleichen verlief langsamer, wofür Cery dankbar war. Jetzt, da sich Furcht und Erleichterung gelegt hatten, war er müde, und ein Gefühl der Düsternis breitete sich in ihm aus. Gol schlurfte beim Gehen ebenfalls. Zumindest hatte Anyi jugendliche Ausdauer auf ihrer Seite. Cery begann die Wände um sie herum zu erkennen, dann verschmolzen die Führer der Schleichen mit der Dunkelheit. Die Lampe, die Cery in der Hand hielt, flackerte und erstarb, als ihr das Öl ausging. Gol protestierte nicht, als Cery seine Lampe nahm und sie zum Eingang der Gildetunnel führte.
Als sie hindurchgeschlüpft waren und die Tür sich wieder geschlossen hatte, fiel ein Großteil der Anspannung und Furcht von Cery ab. Sie waren endlich in Sicherheit. Er wandte sich an Anyi.
»Also, wo ist dieser Raum, in dem du dich mit Lilia triffst?«
Sie ergriff die Lampe und führte ihn und Gol durch einen langen, geraden Gang. Nachdem sie einmal abgebogen waren, erreichten sie einen Komplex aus Räumen, die durch gewundene Flure miteinander verbunden waren. Die unwillkommene Erinnerung, von Lord Fergun im Dunkeln gefangen gehalten zu werden, stieg in Cery auf. Er schauderte. Aber diese Räume waren anders als seine ehemalige Zelle: älter und so angelegt, als solle sich darin niemand zurechtfinden. Anyi führte sie in einen Raum, in dem kein Staub lag und der mit einigen kleinen Holzkisten als Möbeln ausstaffiert war und einem Stapel abgenutzter Kissen als Sitzplätze. An einer Wand befand sich ein zugemauerter Kamin. Anyi stellte die Lampe weg, dann entzündete sie einige Kerzen in Nischen, die in die Wände gehauen waren.
»Das ist es«, erklärte sie. »Ich hätte mehr Möbel hergebracht, aber ich konnte nichts Großes tragen, und ich wollte keine Aufmerksamkeit erregen.«
»Keine Betten.« Gol setzte sich mit einem Stöhnen auf eine der Kisten.
Cery lächelte seinen alten Freund an. »Keine Sorge. Wir werden uns etwas einfallen lassen.«
Aber Gols Grimasse verschwand nicht. Cery runzelte die Stirn, als er bemerkte, dass Gol die Hände unter seinem Hemd auf seine Seite presste. Dann sah er den dunklen Fleck, der im Kerzenlicht glänzte.
»Gol …?«
Der massige Mann schloss die Augen und taumelte.
»Gol!«, rief Anyi und erreichte ihn zur gleichen Zeit wie Cery. Sie fingen Gol auf, bevor er von der Kiste fallen konnte. Anyi zog Kissen herbei.
»Leg dich hin«, befahl sie. »Lass mich das sehen.«
Cery konnte nicht sprechen. Furcht hatte seinen Geist und seine Kehle erstarren lassen. Der Meuchelmörder musste Gol während des Kampfes verletzt haben. Oder schon, bevor Gol aufgewacht war.
Anyi drangsalierte Gol, bis er von der Kiste stieg und sich auf die Kissen legte, dann zog sie seine Hand weg und schälte das Hemd zurück, um eine kleine Wunde in seinem Bauch zu entblößen, aus der langsam Blut sickerte.
»Die ganze Zeit über.« Cery schüttelte den Kopf. »Warum hast du nichts gesagt?«
»Es war gar nicht so schlimm.« Gol zuckte die Achseln, dann fuhr er zusammen. »Hat erst angefangen wehzutun, als wir mit Wurm geredet haben.«
»Ich wette, es tut jetzt weh«, bemerkte Anyi. »Was denkst du, wie tief der Dolch ins Fleisch gedrungen ist?«
»Nicht tief. Keine Ahnung.« Gol hustete vor Schmerz.
»Es könnte schlimmer sein, als es aussieht.« Anyi hockte sich auf die Fersen und blickte zu Cery auf. »Ich werde Lilia holen.«
»Nein …«, protestierte Gol.
»Es waren nur noch wenige Stunden bis Tagesanbruch, als wir Cadias Haus verlassen haben«, erklärte ihr Cery. »Lilia könnte bereits in der Universität sein.«
Anyi nickte. »Vielleicht. Es gibt nur eine Möglichkeit, es herauszufinden.« Sie zog eine Augenbraue hoch und sah ihn fragend an.
»Geh«, sagte er.
Sie ergriff seine Hand und drückte sie auf die Wunde. Gol stöhnte.
»Halt den Druck aufrecht und …«
»Ich weiß, was zu tun ist«, unterbrach Cery sie. »Wenn sie nicht dort ist, hol zumindest etwas Sauberes, das wir als Verband benutzen können.«
»Das werde ich«, entgegnete sie und griff nach der Lampe.
Dann war sie fort, und ihre Schritte verklangen in der Dunkelheit.