SIMON MAWER
Die Frau,
die vom Himmel fiel
Roman
Aus dem Englischen
von Klaus Timmermann
und Ulrike Wasel
Deutsche Verlags-Anstalt
SIMON MAWER
Die Frau,
die vom Himmel fiel
Roman
Aus dem Englischen
von Klaus Timmermann
und Ulrike Wasel
Deutsche Verlags-Anstalt
In Erinnerung an Colette,
eine der SOE-Frauen
TRAPEZ
Sie sitzt im Rumpf des Flugzeugs, verschnürt wie ein Gepäckstück und gepeinigt vom Lärm. Eine halbe Stunde zuvor hat man sie durch die Tür nach oben bugsiert, weil sie es mit dem Fallschirm auf dem Rücken niemals allein die Leiter hochgeschafft hätte. Jetzt sitzt sie einfach da, in dem ohrenbetäubenden Krach und dem trüben Licht, um sie herum hartes Metall und zahllose Pakete.
Wenn sie doch nur schlafen könnte, wie Benoît. Der sitzt ihr gegenüber, die Augen geschlossen, und sein Kopf wiegt sich mit den Bewegungen der Maschine. Wie ein Passagier in einem Zug. Das ist eine seiner aufreizendsten Eigenschaften, er kann, wo und wann es ihm beliebt, einfach schlafen.
Der Absetzer – jung, linkisch, vorspringender Adamsapfel und Pomade im Haar – kommt durch den Krach auf sie zugestolpert. Er erscheint ihr wie eine Art Charon, der die Seelen der Toten auf dem Weg in den Hades begleitet. Ihrem Vater würde der Gedanke gefallen. Seine klassischen Allusionen. »Illusionen« hat sie sie immer genannt. Der Absetzer grinst sie teuflisch an, bückt sich und öffnet die Bodenluke, sodass Nacht und Kälte in den Rumpf dringen, als würde Wasser durch ein Leck hereinrauschen. Als sie nach unten schaut, kann sie die engen Dächer einer Stadt sehen, die tief unter ihnen vorbeigleitet, wolkenbefleckt und mondbeschienen, ein geheimnisvoller Meeresgrund, über dem ihr Schiff dahinschwebt. Benoît öffnet ein Auge, um zu sehen, was los ist, lächelt sie kurz an und schläft weiter.
»CAEN!«, ruft der Absetzer über den Lärm hinweg. Er fängt an, Papierpakete durch das schwarze Loch nach draußen zu werfen, wie ein manischer Lieferjunge, der in der Dunkelheit eines Wintermorgens seinen Kunden die Zeitung vor die Tür wirft. Die Bündel reißen auf, als sie ins Leere fallen. Er hält ihr eins von den Flugblättern hin, damit sie es lesen kann.
La Revue du Monde Libre steht da, Apportée par la R.A.F.
»die Franzmänner wischen sich damit natürlich NUR den Hintern ab!«, schreit er. »aber die sauerkrautfresser denken jetzt, wir wollen bloSS die dinger abwerfen. gutes alibi, was? die sollen nicht auf die idee kommen, wir sind hier, um so jemand wie Sie abzusetzen.«
Sie lächelt. So jemand wie Sie. Aber wen eigentlich genau?
Marian.
Alice.
Anne-Marie Laroche.
Ein Päckchen, das ausgeliefert werden soll, wie ein Bündel Flugblätter.
Ohne Vorwarnung beginnt die Maschine zu taumeln, ein von Wellen gepeitschtes Boot. »flak!«, schreit der Absetzer, als er ihren fragenden Blick sieht. Er grinst, als wäre Flakfeuer nicht der Rede wert, und tatsächlich ist außer dem Motorenlärm nichts zu hören, keine berstenden Granaten, keine Anzeichen dafür, dass da unten irgendwelche Menschen versuchen, sie zu töten, bloß dieses Taumeln und Abdrehen.
»Wir sind bald drüber weg!«
Und tatsächlich, sie sind bald drüber weg, und das Flugzeug dröhnt weiter, die Luke geschlossen, durch ruhigere Gewässer.
Später bringt der junge Bursche ihr und Benoît eine Thermoskanne Tee und ein paar Sandwiches. Benoît schlingt seine gierig herunter – »Iss, mon p’tit chat«, sagt er zu ihr, aber sie kann nicht essen, so wie sie schon im Unterschlupf keinen Bissen herunterbrachte, bevor sie zum Flugplatz aufbrachen, weil sich nämlich ihre Magenmuskeln von dem Moment an unaufhaltsam zugeschnürt und verkrampft haben, als Vera sagte: »TRAPEZE ist für den nächsten Mond angesetzt. Natürlich nur, wenn das Wetter mitspielt.« In dem Augenblick begann der Schmerz, ein dumpfes Ziehen wie Menstruationsschmerzen, obwohl sie nicht ihre Periode hatte.
»Alles in Ordnung?«, fragte Miss Atkins sie auf dem Flugplatz, während sie letzte Vorbereitungen trafen. Sie wirkte wie eine Krankenschwester, die sich nach einer Patientin erkundigte – besorgt, aber mit einer gewissen Distanziertheit, als handelte es sich bloß um eine Aufgabe, die es zu erledigen galt, ehe sie weiter zum nächsten Bett ging.
»Natürlich ist alles in Ordnung.«
»Sie sehen blass aus.«
»Das kommt von dem verdammten englischen Wetter.«
Und jetzt herrscht draußen französisches Wetter, das die Maschine durchrüttelt, während sie weiter durch die Nacht dröhnt. Als sie den Tee ausgetrunken hat, schafft sie es, zu schlafen, ein dösender, unbequemer Schlaf, eher wie ein Patient, der immer wieder wegdämmert, nicht wie jemand, der sich wirklich ausruht. Und dann ist sie erneut wach, und der Absetzer rüttelt sie an der Schulter und schreit ihr ins Ohr: »wir sind fast da, liebes! fertig machen!«
Liebes. Sie mag das. Englische Fürsorglichkeit. Die Bodenluke wird erneut geöffnet, und als sie hindurchspäht, sieht sie etwas Neues, bleiche Felder und dunkle Wälder huschen unter dem Flugzeug vorbei, fast zum Greifen nahe. Die weiten Eb’nen Frankreichs, hat ihr Vater immer gesagt. Benoît, der jetzt hellwach und konzentriert ist, klopft seine Taschen ab, um sich zu vergewissern, dass er alles hat, zieht Reißverschlüsse zu, kontrolliert seine Ausrüstung.
Das Flugzeug neigt sich zur Seite, fliegt mit kreischenden Motoren einen weiten Kreis. Sie kann sich den Piloten vorn im Cockpit vorstellen, wie er sucht und sucht, angestrengt nach den winzigen Taschenlampenlichtern Ausschau hält, die signalisieren, dass sie da unten im Dunkeln erwartet werden. Ein Lämpchen geht am Rumpfdach an, ein einzelnes, starres rotes Auge. Der Absetzer hebt die Daumen. »er hat’s gefunden!«
In seiner brüllenden Stimme schwingen Ehrfurcht und Triumph mit, als wäre das der Beweis dafür, was für Wunder seine Crew zustande bringen kann: im Dunkeln den ganzen Weg bis hierher zurückzulegen, achthundert Meilen von zu Hause, und in einer pechschwarzen Welt ein stecknadelkopfgroßes Licht zu entdecken. Er hakt die Aufziehleinen ihrer Fallschirme an der Stange am Rumpfdach ein und überprüft noch einmal die Schnallen an ihren Gurten. Das Flugzeug überquert die Absprungzone, und sie kann das Geräusch hören, wie die Behälter aus dem Bombenschacht fallen, und sieht ihre geblähten Fallschirmkappen kurz darunter aufleuchten. Dann legt sich die Maschine in die Kurve und dreht und nimmt ein zweites Mal Anlauf.
»jetzt seid ihr dran!«, brüllt der Absetzer ihnen zu.
»Merde alors!«, formt Benoît mit den Lippen und grinst Marian an. Er wirkt aufreizend unbekümmert, als wäre das alles der normale Lauf der Dinge, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt, dass Leute sich mitten in der Nacht über einer unbekannten Gegend aus einem Flugzeug werfen.
Merde alors!
Sie sitzt am Lukenrand, die Beine draußen im Luftsog, als säße sie auf einem Felsen mit den Füßen im strömenden Wasser. Benoît ist direkt hinter ihr. Sie spürt seinen Druck an ihrem unförmigen Fallschirmrucksack, als wäre das Ding eine empfindliche Erweiterung ihres Körpers. Sie spricht ein kleines Gebet, eines, das sie aus Kindheitserinnerungen kramt, aber dennoch ein Gebet und somit ein Zeichen von Schwäche: Lieber Gott, bitte pass auf mich auf. Was vielleicht bedeutet: Vater, pass auf mich auf, oder Maman, pass auf mich auf, aber was immer es auch bedeutet, sie will jetzt keine Schwäche zeigen, nicht in diesem Moment, in dem sie sich ausliefert und die Luft an ihr vorbeirauscht und unter ihr Leere ist, während der Absetzer ihr zunickt, um ihr Mut zu machen, und doch bloß den beängstigenden Aberglauben in ihr weckt, dass du dir niemals selbst gratulieren, niemals applaudieren, niemals jemandem Glück wünschen darfst. Merde alors!, mehr solltest du niemals sagen. Merde alors!, denkt sie, in gewisser Weise auch ein Gebet, als das rote Lämpchen erlischt und das grüne Lämpchen angeht und der Absetzer ruft: »SPRUNG!«, und schon spürt sie seine Hand auf dem Rücken und lässt los, stürzt von der rauen Behaglichkeit im Rumpf in die tosende Dunkelheit über Frankreich.