Dritte Generation Ost
Wer wir sind, was wir wollen
Wer wir sind, was wir wollen
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.
1. Auflage, September 2012 (basiert auf der 2. Druckausgabe, September 2012)
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Umschlaggestaltung und Satz: Plural Severin Wucher, Berlin
ISBN 978-3-86284-188-2
MICHAEL HACKER · STEPHANIE MAIWALD · JOHANNES STAEMMLER
Dritte Generation Ost
Wer wir sind, was wir wollen
Der lange Schatten der Vergangenheit
ANDREA BACKHAUS
Auf der anderen Seite
ANJA GÖRNITZ
Kommunismus und Identität
Über die Schwierigkeit, mit den Eltern ins Gespräch zu kommen
JÁNOS CAN TOGAY
Fußnoten zu einer Fußnote
CLEMENS FRANKE
Alte Bilder
LINDA BUNCKENBURG · SUSAN MÜCKE
Jugend im Aufbruch
Wendejugendliche erinnern sich an ihren Herbst 1989
JULIANE CIESLAK · PAULA HANNASKE
Vergangenheit heute
Einblicke in die Arbeit einer ostdeutschen Biografiegruppe
KATJA WARCHOLD
„So etwas ist in meiner DDR nicht vorgekommen“
Erinnerungen an ein Aufwachsen in der DDR und im vereinten Deutschland
ROLAND JAHN
Wissen, wie es war
Ansichten einer
zersplitterten Generation
ANNE SCHREITER
Bin ich ostdeutsch?
Vom Umgang mit den kleinen Unterschieden
JANA WESSENDORF · ANNE WESSENDORF
Wendekinder
Zwei Schwestern im Gespräch
CHRISTINE STEINHÄUSER
Ossi in den Niederlanden
Ein Erfahrungsbericht
NANCY KUNZE-GROß
Zerrissenheit
Zwischen Heimat Ost und Heimat West
NIKOLA RICHTER
„Kaffee und Kuchen für Wessis umsonst!“
ROBERT IDE
Hüben und drüben
Und wo bin ich jetzt?
STEPHANIE MAIWALD
Zurück in die Zukunft
Von Frankfurt West nach Frankfurt Ost
HAGEN PIETZCKER
Das Spargelprinzip
Die Vorurteile eines Wessis im Realitätscheck
RICHARD FRIEBE
Einstellungen, Ausschnitte, Perspektiven
Ein Interview mit der Filmemacherin Nadja Smith und dem Fotografen Sven Gatter
Wer, wenn nicht wir?!
MICHAEL HACKER
Heim@ gestalten
Sich engagieren, ohne vor Ort zu sein
JOHANNES STAEMMLER
Ich entdecke den Osten neu
Ein Interview mit dem Chefredakteur der SUPERillu, Robert Schneider
ISABEL HEMPEL
Zukunft ist kein Schicksalsschlag
Frauen machen Neue Länder
ROMY KÖHLER · SUSANNE HERRMANN-SINAI
Denken in Grenzen
ARNE LIETZ
„Zurückkommen, um zu bewegen“
Ein Statement für parteipolitisches Engagement in der ostdeutschen Provinz
ADRIANA LETTRARI
Potenziale der Dritten Generation Ostdeutschland
Nicht entweder oder, sondern sowohl als auch!
Dritte Generation Ost
JOHANNES STAEMMLER
Wir, die stumme Generation Ost
LOTHAR PROBST
Wer ist die Dritte Generation Ostdeutschland
Überlegungen zu ihrer Verortung im Kontext von DDR und Deutscher Einheit
JANA SCHALLAU
Neuer Raum, neue Grenzen
Über die schwierige Aufgabe, sich als Generation zu definieren
HENRIK SCHOBER
Die gefühlte Generation
Eine kurze Geschichte der Initiative 3te Generation Ostdeutschland
ALF
Comics 17, 77, 153, 211
Danksagung
Angaben zu den Beteiligten
Eine Antwort war „Badeofen“. Nichts weiter. Einfach Badeofen. Wir fragten 2011 nach Bildern, die einem in den Sinn kommen, wenn man an die neuen Bundesländer denkt. Über 150 junge Menschen aus Ostdeutschland antworteten dazu auf verschiedene Weise – und ließen sich nach Berlin einladen, um drei Tage lang über ihre Erinnerungen zu sprechen und gemeinsam zu überlegen, was diese für die Zukunft Deutschlands bedeuten. Die Bilder reichten von schönen Landschaften über verwaiste Bushaltestellen bis hin zu verrückten Jugendgeschichten. Doch jemand schrieb einfach nur „Badeofen“. Und dieser Badeofen steht für etwas, das sich nur schwer in Worte fassen lässt. Er steht für eine Zeit, die es nicht mehr gibt. Und er steht damit nicht für die neuen Länder, wo Badeöfen heute genauso selten sind wie im Rest Europas. Er steht für eine Generation, die sich auf die Suche nach ihren Wurzeln macht, weil sie in der Gegenwart wenig darüber erfährt.
Dieses Buch ist ursprünglich aus einer Wut entstanden. Darüber, dass so viele Worte, die über Ostdeutschland, die Ossis und die Wessis, die DDR und die Wiedervereinigung gesagt werden, junge Menschen wie uns selten erreichen. Sie haben wenig mit unseren Erfahrungen zu tun.
Dieses Buch ist der Versuch, die abgedroschenen Worthülsen abzuschütteln und einen Dialog zwischen Jung und Alt, zwischen Ost und West auf eine andere Weise als bisher zu führen. Aber ist denn nicht schon alles gesagt? Können wir die alten Geschichten nicht endlich weglegen? Sind wir Deutschen nicht schon längst ein Volk? Können wir uns nicht endlich in Ruhe lassen?
Nein, das wollen und können wir nicht.
Wir, die Herausgeber dieses Buches, kommen aus Ostund Westdeutschland. Wir trafen uns im Sommer 2010, jeder für sich war wütend über die öffentlichen Diskussionen zum Thema, die immer von denselben alten Protagonisten bedient wurden.
Uns ist klar, dass wir den Osten nur verstehen können, wenn wir die alten Begriffe in Frage stellen und wir uns eingestehen, dass die DDR auch uns Jüngere betrifft. Wer sagt, dass die Vergangenheit für die Jungen keine Rolle mehr spielt, der irrt. Wir haben jeder für sich erlebt, wie schwierig es ist, über Herkunft und Vergangenheit zu sprechen und sich ein Urteil zu bilden, wenn eine Mischung aus Unlust und Vorurteilen jeden Gesprächsversuch im Keim erstickt. Wir wollen nicht mehr ausweichen und um alles lavieren, was mit Ostdeutschland zusammenhängt. Wenn es stimmt, dass die Vergangenheit ein Ort ist, an dem man nie war, dann wollen wir uns ihm zumindest nähern.
Jetzt, 20 Jahre nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, finden sich diejenigen zusammen, die zu jener Zeit Kinder waren. Der Badeofen steht dabei für so vieles, das wenig Aufmerksamkeit gefunden hat. Er markiert eine Zeit, die junge Ostdeutsche erinnern, die sie aber kaum besprechen. Er steht für Heimat und Herkunft, für rasend schnelle Veränderung und für den Versuch, sich zu erinnern ohne sich rechtfertigen zu müssen. Er gehört zu Erinnerungen an eine Zeit, die in der Öffentlichkeit häufig entweder als Unrechtsstaat oder als die wunderbare Welt von früher eingeordnet wird. Dazwischen gibt es meist nichts. Das wollen wir ändern.
Dieses Buch ist eine Verdichtung von Diskussionen, die wir in den letzten beiden Jahren mit Ost- und Westdeutschen, aber auch mit Menschen aus anderen europäischen Ländern geführt haben. Es ist ein Beitrag, um persönliche Erfahrungen in Ost und West festzuhalten und miteinander sprechen zu lassen. Es unternimmt den Versuch, das festgefügte „So war es“ zu überwinden und dem eine Vielfalt von Erfahrungen, Positionen und Forderungen entgegenzustellen. Diese einzelnen Perspektiven stehen für sich selbst, aber in ihrer Summe zeichnen sie das Bild einer Generation.
1989 ist eine Zäsur in unser aller Leben gewesen. Für die Wendekinder aus dem Osten verschwand das Land, in dem sie geboren worden waren. Damals waren sie jung; manche so jung, dass sie wenig mehr als nebulöse Erinnerungen an die Zeit vor dem Mauerfall haben. Zur Dritten Generation Ostdeutschland1 gehören nach unserem Verständnis jene, die in der DDR ihre Kindheit verlebt haben und im vereinigten Deutschland aufgewachsen sind – also die 2,4 Millionen Menschen der Jahrgänge 1975 bis 1985. Mit dem Jahr 1989 änderte sich für die Bürger der DDR an der Oberfläche alles. Darunter aber wirken die Spuren der DDR in den Familien und Erinnerungen bis heute weiter. Staaten verschwinden manchmal plötzlich, Werte und Vorstellungen von einem guten und richtigen Leben sind jedoch von längerer Dauer. Auch für die Westdeutschen begann mit dem Ende der Bonner Republik der schleichende Abschied von einer sicheren Zeit, denn es fiel unter anderem zusammen mit einer beschleunigten Globalisierung.
Die Eltern der Dritten Generation Ostdeutschland wurden in der DDR geboren, haben dort gelernt, studiert und Familien gegründet. Sie, die zweite Generation, haben nach 1989 noch einmal von vorn anfangen können, ja müssen. Die erste Generation, die Großeltern, sind die Kriegskinder, die die DDR mit aufgebaut haben und meist 1989 freiwillig oder unfreiwillig in Rente oder den Vorruhestand gingen. Die Generationengrenzen sind fließend, aber darauf kommt es nicht an. Ausschlaggebend ist, dass der Umbruch 1989/90 mit einer Wucht die DDR-Bürger und eben auch ihre Kinder traf, die in der jüngeren Geschichte ihresgleichen sucht.
Während die Eltern versuchten, sich in einem neuen Land zurechtzufinden, waren die Wendekinder oft auf sich gestellt. Orientierungslosigkeit war allgegenwärtig, und die Welt stand auf dem Kopf: Gewohnte Vorbilder und Autoritäten verschwanden. Die Eltern suchten zuweilen bei ihren Kindern Rat. Und alle Versuche, Autorität auszuüben, standen schnell im Verdacht, sich ausgedienter Methoden zu bedienen. Was wussten denn die Lehrer, welche Berufe und Studiengänge morgen noch gebraucht würden? Im Geschichtsunterricht wurde die Französische Revolution allzu ausführlich besprochen, die DDR „in ihrem Lauf“ kam kaum vor.
Viele Angehörige der Dritten Generation haben mittlerweile für Ausbildung, Studium oder Arbeitssuche ihre Herkunftsorte verlassen. Entweder haben sie das selbst so entschieden, oder sie sind mit ihren arbeitssuchenden Eltern weggezogen. Bis heute ist die Dritte Generation Ost sehr pragmatisch mit ihrer Herkunft umgegangen. Wer die Freiheit nutzen konnte, ist gereist und hat an anderen Orten gelernt oder studiert. Darin unterscheiden sich die jungen Ostdeutschen nicht von den gleichaltrigen Westdeutschen. Der Dialekt ist abgeschliffen, der Habitus ein anderer geworden, das Selbstbewusstsein gewachsen. Vielen ist es aber noch immer peinlich, sich in privaten Gesprächen oder in der Öffentlichkeit als Ostdeutsche zu erkennen zu geben.
Die Initiative 3te Generation Ostdeutschland hat ihren Namen bewusst gewählt. Er nimmt Anleihen an der Vergangenheit und ist doch in die Zukunft gerichtet. Die Spuren der DDR nicht anzuerkennen, bedeutet, ein Stück der eigenen Herkunft abzuschneiden und auf diesen Erfahrungsschatz zu verzichten. Der Dritten Generation Ost kommt nach unserer Überzeugung aber für das Verstehen der Gegenwart eine Vermittlerrolle zwischen den Generationen in Ostdeutschland sowie zwischen Ost- und Westdeutschen zu, da sie in ihrer doppelten Sozialisation und mit den Transformationserfahrungen über einen breiteren Erfahrungsschatz als andere verfügt. Wie anstrengend es ist, Themen kategorisch auszublenden, zeigt die bundesdeutsche Geschichte der 1950er und 1960er Jahre nur zu deutlich.
Im Kern sind es drei Forderungen, um die es uns geht. Sie sind zugleich mit der Einladung verbunden, sich mit der Dritten Generation Ostdeutschland auseinanderzusetzen.
1.) Wir fordern die Eltern auf, sich mit ihren Erinnerungen zu befassen und ihre Kinder dabei einzubeziehen. Wer von ihnen nicht bereit ist zu erzählen, muss sich nicht wundern, wenn er oder sie am Ende mit den Ängsten und schmerzlichen Erinnerungen allein bleibt. Das Wegschweigen der Vergangenheit ist eine unerträgliche Realität in so vielen Familien. Es steht außer Frage, dass die Dritte Generation ein großes Interesse an den Geschichten der eigenen Familien hat. Es geht nicht darum, diese Geschichten in ein Gut-Böse-Schema einzusortieren. Es geht um das Verstehen und Anerkennen von Lebensleistungen. Es reicht nicht aus, diese ausschließlich in der BRD zu suchen. Es ist die Dritte Generation Ostdeutschland, die diese Lebensleistungen anerkennen will und am besten anerkennen kann. Das ist in den vergangenen 20 Jahren oft zu kurz gekommen. Die Dritte Generation Ostdeutschland möchte mehr darüber wissen, wie es ist, mitten im Leben noch einmal vollkommen neu anzufangen. Wir wollen begreifen, warum man sich unter welchen Umständen wofür entscheidet. Es geht um die alten Grundfragen: Wie geht man mit Zukunftsangst um? Wie wird man glücklich?
2.) Wir fordern aber zugleich die Westdeutschen auf, endlich anzuerkennen, dass mit dem Fall des Eisernen Vorhangs auch die Selbstverständlichkeiten der alten BRD untergegangen sind. Die Bonner Republik ist passé! Sie ist nicht mehr der Referenzrahmen für junge Deutsche im 21. Jahrhundert – egal, ob sie aus Ost oder West kommen. Es ist sinnlos, dieser BRD als Ideal nachzutrauern. Dort kann keiner mehr ankommen; dort will auch keiner mehr hin. Die Ost-West-Diskurse reproduzieren sich immer wieder mit den gleichen Begriffen und schaffen es nicht, die neuen Wirklichkeiten zu beschreiben. Die Trennlinien verlaufen heute eher zwischen Alt und Jung. Dass der Osten den Westen braucht, steht außer Frage. Dass der Westen auch den Osten braucht, ist eine neue Realität. Dort werden Erfahrungen gesammelt und Strategien erprobt, wie mit Strukturwandel und einer postindustriellen Gesellschaft, die sich im demografischen Wandel befindet, umgegangen werden kann. Dies ist eine Chance, miteinander ins Gespräch zu kommen.
3.) Für alle jungen Deutschen ist die Grenzziehung zwischen Ost und West ein Relikt, das endlich in den Ruhestand geschickt werden muss. Die Dritte Generation Ostdeutschland und ihre Altersgenossen im Westen dürfen es sich nicht auf der Ost-West-Couch bequem machen, die ihnen ihre Eltern eingerichtet haben. Werft die Wortkrücken der letzten 20 Jahre in die Ecke! Es gibt so viele Themen, die Ost- und Westdeutsche gemeinsam bearbeiten müssen, da sie die Zukunft aller betreffen. Diese kann nur gestaltet werden, wenn von allen Erfahrungen und Talenten, die eine Gesellschaft in sich birgt, Gebrauch gemacht wird. Dabei geht es uns nicht nur um die globalen Herausforderungen dieser Welt. Rechtsextremismus ist beispielsweise kein spezifisch ostdeutsches, sondern ein gesamtdeutsches und europäisches Problem, dem an vielen Orten mit Engagement begegnet werden muss. Auch die Fragen des interkulturellen Zusammenlebens stellen sich überall. Strukturelle Probleme wie Arbeitslosigkeit und demografischer Wandel bieten Chancen, die bekanntlich in jeder Veränderung liegen. Zudem markiert Ostdeutschland auch die Grenze zwischen dem alten und dem neuen Europa. Hier trafen einst die Blöcke aufeinander, hier eröffnen sich völlig neue europäische Perspektiven.
Dieses Buch vereint Beiträge, die die Vielfalt der Dritten Generation Ostdeutschland und auch die der Debatte darüber abbilden. Wir haben aus den vielen Dutzend Beiträgen, die uns angeboten und eingereicht worden sind, jene ausgewählt, die gleichermaßen exemplarisch und aussagekräftig sind. Es sind vor allem junge Ostdeutsche, die sich hier zu Wort melden. Für viele von ihnen ist es das erste Mal, dass sie das Private in einen öffentlichen Diskurs tragen. Dieser Schritt zeugt nicht zuletzt von viel Courage und davon, dass es an der Zeit ist, den öffentlichen Diskurs mitzubestimmen. Ergänzt werden diese Texte durch Positionen junger Westdeutscher und Vertreter älterer Jahrgänge, die unsere Initiative in den letzten Monaten unterstützt, aber auch kritisch begleitet haben. Dabei spiegeln alle Beiträge die Ansichten ihrer Autoren wider und nehmen nicht für sich in Anspruch, für eine Gruppe oder gar die ganze Generation zu sprechen. Gleichwohl zeichnen alle zusammen ein Bild davon, was die Dritte Generation Ostdeutschland denkt, fühlt und ausmacht.
Im ersten Teil des Buches geht es uns um persönliche Erinnerungen an die verschwundene DDR. Was wissen wir eigentlich von dieser Zeit, aus der häufig nicht mehr als kindliche Erinnerungsfragmente übrig geblieben sind? Von wem können und wollen wir mehr darüber erfahren? Während Andrea Backhaus und Anja Görnitz in ihren Beiträgen das familiäre Schweigen thematisieren, erinnert der Ungar Can Togay eine Pionierepisode aus seinem Leben neu. Clemens Franke, Juliane Cieslack, Paula Hannaske, Linda Bunckenburg und Susan Mücke finden verschiedene Wege, über eigene Erfahrungen nachzudenken und sie (erstmals) zu artikulieren. Und schließlich mahnt Roland Jahn, die Geschichte als Chance zu begreifen und alte Klischees aufzubrechen, ohne die Heimat und die Erinnerungen zu vergessen.
Im zweiten Teil des Bandes fragen sich die Autoren, ob ihre Herkunft Auswirkungen auf ihr gegenwärtiges Leben hat. Viele Texte kreisen um das Suchen und Finden der eigenen Identität(en). Was bedeutet es, wenn man in Ostdeutschland aufgewachsen ist? Wie wichtig ist Heimat, insbesondere für diejenigen, die nun in Hessen, Bayern oder gar im Ausland leben? Inwiefern kann diese Identitätssuche produktiver Ausgangspunkt für eine künstlerische Auseinandersetzung sein? Und wie blicken Gleichaltrige, die in die Bundesrepublik der Endsiebziger hineingeboren wurden, auf die Diskussion über Ost und West?
Daran schließen wir im dritten Teil mit der Frage nach der Zukunft in Ostdeutschland an. Wer sind die Vorantreiber und Ideengeber? Wir fanden Engagierte wie Isabel Hempel und Arne Lietz, die auf unterschiedliche Weise bereits sehr aktiv sind: Sie mit einem Frauennetzwerk, er in der Lokalpolitik einer „Kleinstadt mit Weltgeltung“. Wir sprachen mit Robert Schneider, der als junger Chefredakteur die SUPERillu neu gestalten will. Michael Hacker und Adriana Lettrari haben darüber nachgedacht, was es wohl bräuchte, um sich der eigenen Herkunftsgegend wieder aktiv zuzuwenden.
Im letzten Kapitel suchen die Autoren nach den Fixpunkten der Dritten Generation Ostdeutschland. Was sind Möglichkeiten und Grenzen dieser soziologischen Konstruktion? Ist es diese von uns so benannte Gruppe junger Ostdeutscher, die den Diskurs über die Vergangenheit in Frage stellen und dabei die Zukunft aktiver als bisher gestalten wird? Während die Literatur das schon länger andeutet, bleibt die Wissenschaft zögerlich. Wir schließen mit einem Abriss über die Entstehungsgeschichte der Initiative.
Die Zukunft ist offen, auch und besonders im Hinblick auf die Dritte Generation Ostdeutschland. Aber wir sind fest entschlossen, mit den Jungen aus Ost und aus West unsere Vergangenheit zu fassen und in der Zukunft nicht mehr nur zuzusehen.
1 Unsere Initiative heißt 3te Generation Ostdeutschland. Die vielen zwischen 1975 und 1985 Geborenen nennen wir „Dritte Generation Ostdeutschland“ – oder „Ost“, wenn es mal schnell gehen muss.
Die Mauer zerschnitt nicht nur ein Land. Sie vernichtete Leben, riss Familien auseinander, zerstörte Zukunftsträume. Heute ist die Mauer längst Geschichte. Aber ihr Schatten ist noch da. Er liegt über den Menschen, die einst lernen mussten, mit der deutschen Teilung zu leben.
Die Wand. So heißt ein Buch der Österreicherin Marlen Haushofer. Darin geht es um eine Frau, die mit Mann und Cousine zu einer Jagdhütte ins Gebirge reist. Morgens findet sich die Erzählerin allein wieder. Auf der Suche nach ihren Gefährten läuft sie die Alm hinab. Doch bald schon stößt sich ihr Hund an einer unsichtbaren Sperre die Schnauze blutig, die Welt dahinter wirkt merkwürdig erstarrt. Die Protagonistin, unversehens zu einem Inseldasein verdammt, lernt, sich anzupassen: Sie ernährt sich von Früchten, bewirtschaftet einen Garten. Sie beginnt, sich fernab der Zivilisation einzurichten.
Auch meine Familie lebte viele Jahre hinter einer Wand. Sie war sichtbar und unsichtbar zugleich. Die Bilder, die man hinter ihr empfing, blieben schemenhaft, ohne dass man sie mit Leben erfüllen konnte. Sie ließen eine andere Welt erahnen, deren größter Reiz darin bestand, dass sie unerreichbar blieb. Meine Familie lebte in einem Vakuum. Doch eingerichtet hat sie sich darin nie.
Als die Mauer gebaut wurde, war mein Vater elf, meine Mutter acht. Als meine Uroma in den Westen floh, war sie Mitte 50. Als die Mauer fiel, war ich acht. Jung genug, um mein Leben frei zu gestalten. Anders als meine Eltern. Mein Vater, der sich weder als Student in Dresden noch als berufstätiger Ingenieur die Kritik am Regime verbieten ließ, verbrachte seine besten Jahre unter permanenter Beobachtung. Meine Mutter erlebte als Lehrerin ideologische Gleichschaltung. Die Spuren dieser Zeit sind in unserer Verwandtschaft noch immer präsent. Nicht nur, weil unterschiedliche Auffassungen von Recht und Gerechtigkeit die Familie früh entzweiten. Sondern auch, weil ein Staat, in dem Telefone abgehört und Briefe kontrolliert, in dem Kritiker bespitzelt und ausspioniert werden, tiefes Misstrauen sät. Der ideologische Generalverdacht formt die sozialen Beziehungen. Bis heute.
Ich habe wenige Erinnerungen an diese Zeit, wenngleich prägende. Nirgends war für mich die Ausgrenzung, die man als Andersdenkender erfuhr, so spürbar wie in der Schule. Viele Lehrer bei uns standen im Dienst der SED. Wie viele auch für die Stasi gespitzelt haben, ist nicht klar, zahlreiche Belastete sind nach 1990 aus dem Schuldienst ausgeschieden. Alles erfolgte im Sinne der Partei, jede Schulstunde, jedes Beerensammeln im Wald, jeder Kindernachmittag. Wir Kinder dienten als Mittler. Wir wurden ausgehorcht über die Eltern, die Gespräche am Abendbrottisch. Ich musste einiges geheim halten. Den Hass meines Vaters auf den Staat, die verschlüsselten Telefongespräche mit unseren Verwandten im westlichen Aachen, das Westfernsehen, das wir heimlich sahen. „Das darfst du nicht erzählen“, ist so ein Satz, den ich nie vergessen habe.
Wer durch Verstocktheit auffiel, bekam das zu spüren. Jeden Montag hieß es: Antreten zum Fahnenappell. Ich versteckte mein Jungpioniertuch immer in der Tasche. Während sich unten die Masse formierte, durchwühlte meine Klassenlehrerin schnaubend meinen Ranzen, immerhin hatte sie Ermahnungen zu fürchten, wenn ihre Klasse zu spät auf dem Hof erschien. Zur Strafe musste ich nach dem Appell in der Ecke stehen. Ich stand dann vor der Klasse, mit gesenktem Kopf, die Hände auf dem Rücken, Aufblicken war verboten. Manchmal wurde ich aus der Klasse geschickt, ich lief den frisch gebohnerten Flur auf und ab und zählte die Kleiderhaken, wieder und wieder. Die Schule: An kaum einem anderen Ort werden Differenzen derart in Strukturen gewandelt, mentaler Mainstream zur Gesetzmäßigkeit erhoben. Das war auch im Westen so, in der DDR nur offensichtlicher. Meine Mutter wurde von ihrer Schulleiterin zurechtgewiesen, weil sie es wagte, mit den Kindern nach den Ferien über Sandburgen und Ballspiele zu sprechen statt über die politische Weltlage. Weil sie sich weigerte, im Unterricht den Sozialismus zu loben.
An einer anderen Schule, die als „Kaderschmiede“ dienen sollte und an der mehrere Offiziersfrauen arbeiteten, passte sie mit ihren Ansichten nicht ins politische Profil. Sie wurde so stark gemobbt, dass sie zwei Jahre lang aussetzte. Den Lehrerberuf zu wechseln, war in der DDR nicht so einfach möglich. Bei meinem Vater wurde der psychische Druck zur offenen Bedrohung. Im Fernmeldebauamt sprach er vor seinen Kollegen von den Schwächen der Planwirtschaft, er prangerte die Stasi an, und er tat all dies nicht gerade leise. Es hieß, wenn er nicht ruhig sei und den Kontakt zu seiner Familie im Westen nicht abbreche, müsse er mit Konsequenzen rechnen. Er weigerte sich. Und wurde damit vogelfrei. Die Kollegen verleumdeten ihn, denunzierten ihn gar als Dieb. Mein Vater gab seine Stelle auf. Er wollte der Familie Schlimmeres ersparen.
Die Wand verlief um das ganze Land herum. Ich erinnere mich an Besuche bei Verwandten, sie lebten an der Grenze, im sogenannten Sperrgebiet. Wenn wir vor der Mauer standen, fragte ich: „Warum dürfen wir da nicht rüber?“ Und meine Mutter sagte: „Vielleicht, wenn du mal groß bist, wirst du die andere Seite sehen.“ Wie konkret meine Eltern über eine Flucht nachdachten, ahnten meine Schwester und ich nicht. Doch ihre Pläne wichen der Angst, vor dem Tod, dem Gefängnis, vor der Trennung von uns. Tausende Flüchtlinge haben ihre Kinder nach der Festnahme verloren. Die DDR-Behörden betrachteten die Kinder von „Republikflüchtlingen“ als eine Art staatliches Eigentum.
Die DDR hieß auch: Entfremdung vom eigenen Ich. In einer Diktatur beruht Identität auf der Konstruktion der anderen. Meine Eltern verheimlichten ihre Pläne und Ängste nicht nur vor den Kollegen, sondern auch vor den eigenen Eltern, Geschwistern und Bekannten. Meine Großeltern ihrerseits verschwiegen ganze Teile der eigenen Biografie. Ja, man kann sagen, dass die Wand noch immer mitten durch die Familie verläuft. Das zeigt sich etwa bei der Geschichte meiner Uroma. Nur wenige Wochen ist es her, dass meine Mutter die Wahrheit über ihre Großmutter väterlicherseits erfuhr. Dass sie 1958, kurz vor dem Mauerbau, in den Westen geflohen war. Dass mein Opa daraufhin gezwungen wurde, den Kontakt zu seiner eigenen Mutter abzubrechen. Dass er nicht einmal zu ihrer Beerdigung reisen durfte. „Warum hast du nie nachgefragt?“, fragte ich meine Mutter. Und sie sagte: „Darüber wurde einfach nicht gesprochen.“
Das System wiederum erschuf sich ein ganz eigenes Bild seiner Kritiker. Der ständige Verdacht, die Prämisse des Verrates, der sich wie ein Schleier über unseren Alltag legte, wurde durch den Blick in die Stasi-Akte einige Jahre später zur schmerzlichen Gewissheit. Die neue Freiheit hatte für meine Eltern also auch ihre Tücken: Im Rückblick verpuffte die Illusion eines ehrlich gelebten Lebens. Die Ausflüge mit Kommilitonen im Sommer, die offeneren Gespräche mit vermeintlich Gleichgesinnten: All das entpuppte sich als flüchtige Kulisse in einer streng kalkulierten Inszenierung. Selbst die, die so kritisch waren, haben einen Fehler gemacht: Sie haben an irgendeinem Punkt in ihrem Leben den Falschen vertraut.
Vielleicht vergessen wir in den Debatten heute manchmal, wie schwer ein solcher Bruch in der Biografie wiegt. Wie schwierig es für die Identität ist, wenn die eigene Vergangenheit plötzlich jede Berechtigung verloren zu haben scheint. Meine Eltern haben nach der Wende vieles nachholen können. Sie sind mit uns quer durch Europa gereist. Sie haben Englisch und Französisch gelernt, Philosophieseminare an der Universität belegt. Mein Vater arbeitet für eine irische Firma, einen sogenannten Global Player, meine Mutter ist früh in Pension gegangen. Und doch prägt die Erinnerung auch ihre Gegenwart. Am sichtbarsten dann, wenn eine Familienfeier oder der Weinabend mit Freunden im Streit endet, weil sich ein altbekanntes Gefühl einschleicht: der Verdacht.
Für die meisten meiner Altersgenossen sind die Bilder aus der Wendezeit heute Teil des medialen Gedächtnisses. Nicht weniger, aber eben auch nicht mehr. Für mich aber dokumentieren sie das, was sie nicht zeigen. Die entscheidenden Worte von Günter Schabowski, die Freudenschreie der Menschen auf Berlins Straßen: Darin wird das Leben vorweggenommen, das ich heute führen kann. Solche Bilder erfüllen mich immer wieder mit Dankbarkeit. Und Demut. Ja, vielleicht ist es das, was uns jungen Leuten heute fehlt: wieder zu erkennen, dass Selbstbestimmung und freie Wahlen nicht selbstverständlich sind. Zu hinterfragen, was uns Freiheit heute eigentlich wert ist. Zu verstehen, dass wir immer wieder dafür kämpfen müssen.
Dieser Beitrag erschien zuvor in Die Welt und konnte mit freundlicher Genehmigung durch den Axel Springer Verlag hier abgedruckt werden.
Was bedeutet es, in der DDR geboren zu sein? Bedeutet es denn etwas? Zumindest dies: Ich habe ein ungewöhnlich politisches Verhältnis zu meinen Eltern. Ich bin in einer eigenartigen, zweigeteilten Welt groß geworden, sie ist getrennt in früher und heute, wobei heute 1989 beginnt. Ich habe es immer als meine Aufgabe empfunden, in diesem neuen Land etwas aus mir zu machen, als wäre ich nicht schon etwas. Und es war immer klar, dass ich mich dafür würde anstrengen müssen. Gleichzeitig habe ich mich mit jedem Schritt ein wenig schuldig gefühlt: Weil ich glücklich bin in einem System, in dem man nur glücklich sein kann, wenn man egoistisch handelt. Zumindest ist das eine kollektiv geteilte Suggestion in meiner Familie. Mein eigenes Verhältnis zur DDR hat viel, vielleicht alles, damit zu tun, wie meine Eltern ihr Leben damals und heute empfinden. Und so stellt sich die Frage: „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?“ für mich auf eine sehr existenzielle Weise, denn sie impliziert auch immer eine Auseinandersetzung mit der Geschichte meiner Eltern. Entscheide ich mich für heute, entstehen Schuldgefühle. Wollte ich mich für früher entscheiden, müsste ich genauer wissen, wie es war. Das Nachdenken über die DDR ist für mich vor allem die zugleich normative wie auch emotionale Frage: Kommunismus oder Kapitalismus? Welches ist das bessere, gerechtere System? Doch schon das Schreiben der Wörter erscheint mir anachronistisch. Wer redet denn heutzutage noch so? Und wenn, dann muss man sich schon auskennen. Ich kenne mich aber nicht aus. Ich fühle mich erstaunlicherweise nicht gut darüber informiert, was Kommunismus eigentlich ist oder sein könnte. Seltsam, alle Welt müsste das doch wissen. Was mir einfällt: „kein Privateigentum an Produktionsmitteln“, „jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“, „Wirtschaften ohne Profit“, „das Ende der Ausbeutung der Proletarier“, „gerechte Verteilung des Mehrwerts“.
Zum Beispiel also „jeder nach seinen Fähigkeiten“. Die Suche nach erfüllender Arbeit ist auch heute sehr präsent. Zumindest gibt es ein Versprechen auf Selbstverwirklichung und individuelle Freiheit. Ob das gelingt? Wohl nur manchmal. Auch weil der Zugang zu allen Arten von Bildung so sehr von den Eltern, vom Milieu abhängt, in das man geboren wird. Und vielleicht kann die Losung „Selbsterfüllung durch Arbeit“ auch ein zu großer Anspruch sein. Auf der Suche nach dem passenden Lebensentwurf ziehen wir Jungen in andere Städte und Länder, studieren und arbeiten und wissen manchmal trotzdem nicht, worauf wir so zielstrebig zurasen. Karl Marx würde sagen, dass Menschen gern arbeiten, wenn die Arbeit etwas mit ihnen zu tun hat, wenn sie Freude am Produkt ihrer Arbeit haben. Diese Freude ist dann relativ unabhängig davon, wie gut die Arbeit bezahlt ist. Wie das wohl früher war? Hat „jeder nach seinen Fähigkeiten“ in der DDR funktioniert? Aus Erzählungen habe ich das Gefühl, dass ein Betrieb früher eine Gemeinschaft war, die gemeinsam an ihrem Produkt gearbeitet hat. Bestimmt hatte man trotzdem mal keine Lust? Und auch in einem idealen sozialistischen Staat müssen unangenehme, anstrengende Arbeiten verrichtet werden – wie ist da die Idee, nimmt man an, dass sich auch dafür Interessierte finden?
Und dann „jedem nach seiner Leistung“. Stimmt es, dass in der DDR Arbeiter viel und Intellektuelle wenig verdient haben? Was eine Leistung darstellte, bestimmte also das Volk? Heute bestimmt das der Markt. Den Staat braucht es, wenn wir wollen, was der Markt nicht immer leisten kann: Kultur, Solidarität, gleiche Bildungschancen. Ungleichheit ist im Kapitalismus normalerweise legitim, solange alle die gleichen Chancen haben. Meint der Kommunismus, dass Ungleichheit normalerweise nicht legitim ist? Dem Markt können wir nicht vertrauen, weil ein freier Wettbewerb niemals wirklich frei ist? Wenn das die Idee ist, kann man Kommunismus ohne bedingungslose Demokratie doch gar nicht denken? Wenn wir machen wollen, was für alle gut ist, müssen wir schließlich alle fragen, was sie überhaupt wollen. Dunkel schwirrt mir nun etwas von „falschem Bewusstsein“ im Kopf herum …
Ziemlich unschlüssig bin ich also, wenn ich versuche, mir den Kommunismus theoretisch zu erschließen. Vielleicht also doch lieber praktisch. Wie es wohl war, in der DDR zu leben? Gerne würde ich fragen, nur weiß ich nicht so recht, wo ich anfangen soll. Alle Begriffe sind entweder abgenutzt oder bergen gleich so viel Konfliktpotenzial: Jungpioniere, FDJ, FDGB, Stasi, SED … Wie kann man da fragen, ohne dass gleich ein Vorwurf mitschwingt? Ich vermute, dass es darum ging, gemeinsam der Staat zu sein. Alle bauen mit an der Gesellschaft, die wir wollen. Schön eigentlich, es scheint mir nur, es war dann doch eher so, dass alle mitbauten an einer Gesellschaft, die ein paar wenige wollten. Stimmt das denn? Mich hätte das wütend gemacht. Selbst wenn der Zweck ein guter gewesen ist: Ich schätze, dieses Müssen, das Ideologische hätte mich genervt. Der alten Dame über die Straße helfen und Altpapier sammeln, das kann man doch einfach als aufmerksamer Mensch tun, das muss ich doch nicht mit einer Jungpionieridentität aufwerten. Und vor allem sollte niemand zum Sozialsein gezwungen werden, zumindest nicht zu einer Solidarität, die gar nicht jeder auch wirklich fühlt. Oder wurde mein Gemeinsinn in den Jahrzehnten kapitalistischer Sozialisierung unterminiert?
In welchem System ist also mehr Freiheit, Gleichheit, Verwirklichung möglich? Welches System ermöglicht uns das gute Leben? Wenn ich schlussfolgere aus dem Wenigen, das ich weiß, würde ich sagen: Die Suche nach individuellem Glück ist in beiden Systemen möglich – und im Kapitalismus ist es schwerer, sich zu erklären, warum man es manchmal nicht findet. Man ist für sich selbst verantwortlich, im guten wie im schlechten Sinne. Im guten Sinne kann ich heute zwischen Tausenden Möglichkeiten wählen und in dem ganzen Wirrwarr bewusste Entscheidungen treffen, für die ich dann einstehe, ob es gut läuft oder nicht. Im schlechten Sinne könnte man finden, dass jeder nur noch nach sich selbst schaut und nicht auf seinen Nächsten. Ist das so? Und wenn ja, kann sich verordnete Solidarität nach einer Weile in echte verwandeln? Ganz sicher bin ich mir nicht, aber wenn ich die Wahl hätte, wäre ich wohl für heute, für den Kapitalismus. Nun könnte ein Gespräch beginnen. Mit Eltern, Verwandten, Zeitzeugen.
Mit großem Respekt überlege ich oft, wie es sich wohl anfühlt, wenn mitten im Leben – man hat schon einen Beruf und Kinder – plötzlich alles anders ist. Einige waren froh, andere fanden, dass die DDR der bessere, gerechtere, friedlichere Staat ist. Ich bin bald so alt wie meine Eltern waren, als die Wende kam. Wie es wohl wäre, wenn es jetzt eine Revolution gäbe, und plötzlich wäre Kommunismus? Stelle ich mir schwierig vor, besonders, wenn schon allen klar ist, dass ich mich gefälligst zu freuen habe, anzupassen und aufzuholen – so, wie es damals keinen Raum gab, um über die Wiedervereinigung traurig zu sein. Diese Erfahrung des Umbruchs hat persönliches Glücksempfinden untrennbar mit politischen Ideen verknüpft. Wenn ich nach der DDR frage, stelle ich eine abstrakte Frage nach dem politischen System. Wenn meine Eltern antworten, geht es um Anerkennung von Lebenswegen. Was bedeutet es also, in der DDR geboren zu sein? Eine Antwort ist: Mit seinen Eltern über Systemfragen zu streiten, wenn es eigentlich um anderes geht.
Um es vorwegzunehmen: Ich werde im Weiteren nicht beteuern, wie sehr ich die DDR und die Staaten des ehemaligen Ostblocks für Unrechtsstaaten halte, ich habe dies im Laufe meiner Ostbiografie, die von meiner Geburt 1955 bis zum großen europäischen und globalen Paradigmenwechsel 1989 immerhin 34 Jahre meines Lebens in Anspruch genommen hat, am eigenen Leib erfahren müssen. Aber ich werde mich auch nicht für die emotionalen Untertöne meiner Vergangenheitsbezüge rechtfertigen, um mich gegenüber dem Vorwurf der Nostalgie oder gar Ostalgie zu wappnen. Es handelt sich eben um mein Heim (nostos) in der Vergangenheit, die mir – wie jede Vergangenheit einem jeden ab und zu – manchen Schmerz (algos) bereitet hat. Ich lege mich hiermit für die Zeit eines kurzen Aufsatzes auf die noch gar nicht so abgenutzte Couch der Vergangenheitsbewältigung Ost.
Um etwas Stoff für die Analyse zu liefern, schließe ich die Augen und sage ganz unvermittelt, was mir so zuerst in den Sinn kommt:
Wenn ihr denkt, wir sind zu klein,
habt ihr euch geirrt.
Pioniere woll’n wir sein,
gehen mit in euren Reih’n.
Sozialismus ist’s allein,
der zum Siege führt.
Wenn ihr glaubt wir wissen nicht,
was für uns Frieden heißt,
Pioniere wissen wohl,
daß man Freundschaft halten soll.
Freundschaft ist das Friedenslicht,
das den Weg uns weist.
Ich erinnere mich noch gut daran, als wir an einem sonnigen Herbstnachmittag des Jahres 1964 in einer kleinen dichten Gruppe von Jungpionieren, geführt von unserer Klassenleiterin und einem Pionierwimpel, dieses Lied singend, den Leipziger Zöllnerweg entlang marschierten, um im Rahmen unseres fälligen Pioniernachmittages – wie man uns zuvor beibrachte – „Veteranen“ in einem Altersheim zu besuchen. Oder erinnere ich mich nicht richtig, und wir sangen dieses Lied gar nicht? Hatten wir vielleicht gar keinen Pionierwimpel dabei? Folgten wir nur, zu Kinderflocken auseinanderfallend, Frau Strube, die eine liebe Lehrerin war, die wir mochten und die uns in späteren Schuljahren mit den Gedichten von Bertolt Brecht vertraut machte? Ich weiß es nicht mehr. Ein Foto, das zu diesem Anlass entstand, zeugt jedenfalls davon, dass wir alle unsere blauen Halstücher umgebunden hatten, mehr noch, wir trugen alle unsere weißen Pionierhemden, versehen mit dem Emblem der Pionierorganisation Ernst Thälmann und dem Pioniergruß „Seid bereit!“. Nur einer von uns hatte ein buntes Hemd an. Aus Dederon vielleicht, wie man diesen neuen Kunststoff nannte, wenn er in der DDR hergestellt war, oder aber aus Nylon, dann vielleicht aus einem Paket von seinen eventuellen Verwandten aus dem Westen. Ich weiß nicht. Ich weiß auch nicht, warum er so aus der Reihe fiel, vielleicht hatte er vergessen, sein Pionierhemd anzuziehen. Vielleicht hatte er gar keins. Es mag viele Erklärungen geben. Eine kann wahr sein, genauso wie die andere und das Gegenteil auch … So gesehen ist es auch sehr wohl möglich, dass mich mein erstes spontanes Erinnerungsbild nicht trügt und dass wir auf dem herbstlichen Zöllnerweg wirklich unseren auf einer langen Stange befestigten Pionierwimpel dabeihatten, ihn hochhielten und das soeben zitierte Lied sangen – „Wenn ihr denkt, wir sind zu klein, / habt ihr euch geirrt“ –, um, uns gegenseitig neckend, Frau Strube zum Altersheim der Veteranen zu folgen.
Ich wusste nicht recht, was es mit den Veteranen auf sich hatte. Ich hatte – ich darf vielleicht im Namen unser aller behaupten – wir hatten nur sehr verschwommene Vorstellungen, was Veteranen anbelangte. Ich nehme an, Frau Strube hatte uns zuvor in die Bewandtnis der Veteranen eingeführt. Die Bezeichnung verband sich jedenfalls mit vorgeschichtlichen Zeiten, den Zeiten vor „unsrer Republik“. Sie hatte etwas mit Krieg und Unrecht zu tun und verkörperte den Kampf gegen eine vergangene düstere Welt und für eine Gegenwart und Zukunft des Sozialismus, zu der uns die Freundschaft als Friedenslicht den Weg weisen würde und wofür jene Erwachsenen marschiert waren, in deren Reihen wir mit dem bereits zitierten Pionierlied um Aufnahme baten: „Pioniere woll’n wir sein, / gehen mit in euren Reih’n.“
Auch erinnere ich mich nicht mehr, wie sich der Nachmittag bei den Veteranen gestaltet hat. Es verbleiben in mir nur dumpfe Gefühle der anfänglichen Beklommenheit, die ich gegenüber diesen alten Leuten empfand, deren „Veteranenhaftigkeit“ ich bei aller Mühe nicht entdecken konnte und die sich letztendlich als uns zugetane alte Menschen entpuppten, die uns mit Brause und Kuchen bewirteten. Ihre Geschichten habe ich mir nicht merken können, ich weiß nicht, wovon sie uns erzählten. Vielleicht berichteten sie über ihre harte Jugend als Arbeiter und Arbeiterinnen, über ihre Schulerlebnisse zu Zeiten des Rohrstockes oder über ihre Mitgliedschaft in der illegalen KPD. Ich weiß es nicht.
Was ich aber ganz bestimmt weiß, ist, dass dieser sonnige Herbstnachmittag, die Worte des Liedes, die alten, uns wohlgesonnenen Menschen, Frau Strube und die Pionierhalstücher sich in mir zu einem starken und in mancher Hinsicht bis heute wirkenden Geflecht der Gefühle und Überzeugungen verwebten. Begriffe wie „Freundschaft“ und „Frieden“ wurden vom Licht der Herbstsonne durchflutet. Ich fühlte mich mit den Erwachsenen verbunden und lief neben ihnen in ebenbürtiger Weise, selbstbewusst und emanzipiert also – wir erinnern uns: „Wenn ihr denkt, wir sind zu klein, / habt ihr euch geirrt“ –, in einem von freudvoller Melodie begleiteten Gleichschritt den Weg in eine Zukunft, in der ich mich schon im Voraus geborgen fühlte.
Natürlich entstanden in mir diese und diesem weltanschaulichen Paradigma entsprechenden Gefühle und Überzeugungen nicht an einem einzigen Herbstnachmittag. Wie es auch nicht nur eines einzigen Tages bedurfte, um Schritt für Schritt all das in Frage zu stellen, worauf meine im Kindesalter erworbenen, in vieler Hinsicht sich auch überlappend widersprechenden Überzeugungen fußten. Doch kann ich nicht leugnen, dass meine sozial-ethischen und moralischen Grundgefühle (Werte möchte ich sie wegen ihrer relativen Unreflektiertheit vorerst nicht nennen) zu einem nicht zu unterschätzenden Teil der erzieherischen und ideologischen sowie alltäglichen Lebenspraxis einer Gesellschaftsordnung entstammen, über die die jüngste Geschichte ihr vernichtendes Urteil gefällt hat. Ein Urteil, dem ich aus eigener Erfahrung und aus meinen seit der Pubertät sich dynamisch wandelnden, aber auch – so will ich hoffen – sich im Laufe der Jahre vertiefenden Geschichtskenntnissen und -erkenntnissen nur zustimmen kann. Jedoch bei aller Wandlung meiner Gefühle und Überzeugungen, bei aller Re-Positionierung der Begrifflichkeiten, ja entgegen allen tiefgreifenden inneren Veränderungen, die ich zum Teil – einem Baron Münchhausen gleich, der sich am eigenen Schopfe aus dem Moor zu ziehen genötigt sah – selbst heraufbeschworen habe oder zu denen mich die äußeren Umstände gezwungen haben, bleiben in mir natürlicherweise Grundbezüge und deren spezielle Kolorite – ach was, wagen wir, sie auch ruhig „Werte“ zu nennen! – aus meiner gesellschaftlich determinierten Kindheit haften. Werte, deren neue und relevante Bedeutung ich mir und meine Generation sich im Wandel der Geschichte aufs Neue erarbeiten mussten. Nicht nur, weil sich Werte ändern, sondern eben, um sie und sich nicht völlig aufgeben zu müssen, um eine Kontinuität der sozialen Identität bewahren zu können. Ich glaube, dies ist einer der wichtigsten sozialpsychologischen Prozesse jener gesellschaftlichen Umwandlung, die wir heutzutage Transformation nennen.
Leider bin ich kein Historiker, sonst könnte ich mir dazu jetzt Hypothesen zurechtschneidern und versuchen, sie auch wissenschaftlich zu verifizieren. Ich würde mir Fragen stellen in Hinsicht auf die Häufigkeit der geschichtlichen Paradigmenwechsel (oder was als solche in unserer Zivilisationsgeschichte empfunden wird), und über ihre jeweilige Zeitspanne. Auch würde ich vielleicht versuchen, einen solchen Umbruch wie das Ende des Sowjet-Imperiums, des Kalten Krieges (das ja unzertrennlich auch mit dem Zweiten Weltkrieg in Verbindung gestellt werden muss) zu den nationalistischen Revolutionen des 19. und zur Französischen Revolution des 18. Jahrhunderts in Beziehung zu setzen. Ich tue dies aber nicht und versuche, mich am Erlebnishaften dieses vor nun mehr als 20 Jahren eingetroffenen gesellschaftlichen Kollapses und seiner Konsequenzen zu halten. Dennoch: Was sind denn 20 Jahre in der Weltgeschichte? Nicht viel. Aber was sind sie im Leben eines Menschen? Sehr viel. Und was sind 40 Jahre einer gesellschaftlichen Praxis und Ideologie? In Hinsicht auf die Geschichte der Zivilisation nicht mehr als eine Fußnote, wie Stefan Heym zu sagen pflegte. Ja, aber meine eigenen 34 Jahre sind eben keine Fußnote in meinem eigenen Leben. Nein, sie sind meine Lebenslast und meine Lebenserfahrung, und ich weigere mich, diese Lebenserfahrung, dieses Erlebte und aus dem Erlebten Herausgearbeitete als irrelevant zu betrachten – und auch anderen mit ganz anderen Lebenserfahrungen lege ich es nahe, dies nicht zu tun, denn nur allzu schnell könnten ihrerseits 40 Jahre der Belanglosigkeit bezichtigt werden. Wie erwähnt, kenne ich zwar die Höhe nicht, die man erklimmen muss, um einen Überblick über die entfernteren tektonischen Bewegungen der Weltgeschichte zu erspähen. Ich nehme nur mit gesundem Menschenverstand, mit dem common sense (vorausgesetzt, dass es so etwas überhaupt gibt) an, dass auch relativ kurzlebige geschichtliche Gebilde nicht unbedingt aus dem Nichts entstehen und nicht wieder im Nichts verschwinden wie vulkanische Inseln, oder besser gesagt: Nicht einmal vulkanische Inseln entstehen eruptiv aus dem Nichts, sondern sind Produkte von Prozessen und Energien, die auch nach dem Erkalten dieser Inseln weiterhin am Werke bleiben.