Cover

Janet Edwards

Earth Girl. Die Prüfung

Aus dem Englischen von Julia Walther

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Janet Edwards

Janet Edwards lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in der Nähe von Birmingham. Sie hat in Oxford Mathematik studiert und ist ein großer Science-Fiction-Fan. «Earth Girl – Die Prüfung» ist ihr erster Roman – und der Auftakt zu einer Trilogie.

Über dieses Buch

Sie kommt von der Erde. Ihr Schicksal steht in den Sternen.

 

Jarra ist ein «Earth Girl». Während sich der Rest der Menschheit aufmacht, fremde Galaxien zu entdecken, ist Jarra zu einem Leben auf dem alten Heimatplaneten verdammt: Aufgrund eines Gendefekts kann sie nicht teleportieren. Sie gehört zu den Ausgestoßenen, den Wertlosen. Aber Jarra hat einen Traum: Sie will normal sein, will wie alle anderen studieren. Ihre Leidenschaft ist die Frühgeschichte – der faszinierende Zeitraum vor Erfindung der Portaltechnik. Damals lebten die Menschen in riesigen Städten wie New York, die heute nur noch Ruinen sind. Um ihren Traum wahr werden zu lassen, muss Jarra ihre Identität verleugnen. Sie ist bereit, diesen Preis zu zahlen. Doch als ein schreckliches Unglück droht und nur Jarra es aufhalten kann, beginnt sie sich zu fragen, ob es wirklich so erstrebenswert ist, normal zu sein ...

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel «Earth Girl» bei Voyager/HarperCollins Publishers, London.

 

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2012

Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Earth Girl» Copyright © 2012 by Janet Edwards

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Redaktion Jan Henrik Möller

Umschlaggestaltung und Motiv Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-499-25902-9 (1. Auflage 2012)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-47201-3

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-47201-3

1

Am Wallam-Crane Day entschied ich mich endlich für das Fach meines Grundstudiums. Issette hatte mir am Morgen extra noch eine Mail deswegen geschickt. Darin sprang sie im Schlafanzug auf ihrem Bett herum, schwenkte ein Kissen und sang: «Entscheide dich, Jarra! Tu’s einfach! Tu’s einfach! Gib dir einen, gib dir einen Ruck und triff die Entscheidung, Girl!» Sie sang es zur Melodie von Zen Arraths neuem Song. Issette steht total auf ihn, aber ich finde seine Beine nicht sonderlich toll.

Issette ist meine beste Freundin. Wir sind beide 17 und waren schon zusammen in Nursery. In den Jahren danach, in Home und Next Step, sind wir die ganze Zeit Zimmernachbarinnen gewesen. Issette hatte ihre Bewerbung für den Grundlagenkurs Medizin schon vor Monaten abgegeben. Issette ist gut organisiert und zuverlässig. Ich nicht. Auch die meisten meiner anderen Freunde hatten sich zu diesem Zeitpunkt schon entschieden, außer Keon, der sich vorgenommen hatte, überhaupt nichts zu tun. Das hatte er schon während der Schulzeit so gehalten, und ich muss zugeben, dass er echt gut darin war.

Da ich aber kein zweiter Keon sein wollte, musste ich eine Entscheidung fällen, und zwar möglichst schnell. Die Bewerbungsfrist endete gleich nach dem Feiertag.

Der Wallam-Crane Day ist auch auf der Erde ein Feiertag, genau wie auf allen anderen Welten, aber im Gegensatz zu denen gibt es hier aufgrund der besonderen Umstände keine Partys. Thaddeus Wallam-Crane hat das Portal erfunden und der Menschheit die Sterne geschenkt, aber wir hier auf der Erde gehören zu der winzigen Minderheit, die leider leer ausging, als er die Fahrkarte ins Universum erschuf.

Eine meiner kleinen, geheimen Phantasien ist es, eine Zeitmaschine zu bauen und fast sechshundert Jahre in die Vergangenheit zu reisen, nämlich zum 15. November 2142. Dann würde ich Wallam-Crane direkt nach seiner Geburt erwürgen. Wäre er nicht gewesen, dann wäre ich völlig normal und kein Neander, nicht als zurückgeblieben abgestempelt. Ja, ich bin eine von denen. Höfliche Leute würden mich wohl als Behinderte bezeichnen, aber ihr könnt mich auch Affenmädchen nennen, wenn ihr wollt. Der Name ändert ja nichts. Mein Immunsystem kann nirgendwo anders als auf der Erde überleben. Ich bin hier gefangen, und die Strafe ist lebenslänglich.

Falls ihr das hier immer noch lest, dann liegt es vermutlich daran, dass ihr so geschockt seid, dass ein Affenmädchen überhaupt schreiben kann. «Wahnsinn! Total krass!», werdet ihr euren Freunden erstaunt zurufen, aber eigentlich wisst ihr doch, dass ich im Grunde genauso bin wie ihr. Wenn die Würfel anders gefallen wären, hättet ihr genauso gut hier auf der Erde landen können, und ich würde jetzt zwischen den Welten herumreisen. Wenn ihr ein Baby bekommt, könnte es so werden wie ich. Dann müsste es innerhalb von Minuten auf die Erde teleportiert werden, weil es sonst stirbt.

Mein Therapeut sagt, ihr habt Angst vor uns. Er sagt, deshalb gebt ihr uns Schimpfnamen und hegt eure kleinen Aberglauben. Wir sehen das ja alles auf den Vids: Gegen Ende der Schwangerschaft verwandelt das Reisen zwischen den Welten Babys in Neander. Wer schwanger ist, sollte keine Karanth-Marmelade essen, sonst wird das Baby ein Affe. Diese jüngste Horrormeldung steht überall in den Newzies, und jetzt werfen alle ihre Karanth-Marmelade in den Müll, obwohl das überhaupt keinen Unterschied macht.

Alles totaler Schwachsinn. Die hochkarätigsten Wissenschaftler forschen seit Hunderten von Jahren nach den Ursachen und haben immer noch keine Hinweise gefunden. Jede andere Behinderung kann im Vorfeld erkannt und behoben werden, aber diese nicht. Ob man nun Karanth-Marmelade isst oder nicht, es kann jedes Baby genauso erwischen wie mich. Vielleicht finden sie ja eines Tages ein Heilmittel, aber ich wette, bis dahin bin ich schon tot. Wahrscheinlich sterbe ich einen Tag vorher, damit das Schicksal sich noch mal so richtig auf meine Kosten amüsieren kann.

Mein Therapeut sagt außerdem, dass ich noch eine Menge unaufgearbeitete Bitterkeit und Wut mit mir herumtrage. Er hat recht. Das ist euch sicher schon aufgefallen. Am 15. November 2788 war ich besonders sauer. In einer halben Stunde sollte ich Candace treffen und ihr meine Entscheidung über meinen Kurs, meinen Berufsweg, meine gesamte Zukunft mitteilen. Ich war immer noch unschlüssig und hätte echt mal ordentlich über alles nachdenken müssen. Natürlich zögerte ich das heraus, indem ich Vids schaute.

Die Infokanäle waren alle voll von irgendwelchen Jahrestagsendungen. Die Hälfte davon zeigte die uralte Aufzeichnung vom ersten Experiment, die jeder schon tausendmal gesehen hat. Wallam-Crane schaut feixend in die Kamera und sagt: «Ein kleiner Schritt für einen Mann, aber ein großer Schritt für die Menschheit.» Wusstet ihr, dass er den Satz von der ersten Mondlandung geklaut hat? Und wusstet ihr, dass man früher per Rakete auf den Mond geflogen ist, lange bevor es Portale gab? Vermutlich nicht. Nun, da habt ihr schon ein faszinierendes prähistorisches Detail gelernt, und noch dazu ganz ohne Ausbildungsgebühr.

Die anderen Infokanäle zeigten entweder Clips über die ersten interstellaren Portale oder über das Exodus-Jahrhundert, in dem die Erde sich leerte. Ich schaltete auf die Entertainment-Sender um, aber da waren überall bloß Vid-Stars zu sehen, die sich betranken oder auf gigantischen Partys zudröhnten. Ich entdeckte den männlichen Hauptdarsteller dieser neuen Vid-Serie Defenders: Arrack San Domex. Das ist mal ein Mann mit anständigen Beinen. Ich stehe total auf die Szenen, wenn er in seiner engen Militäruniform so sexy und heldenhaft dreinschaut, während er die Menschheit vor den sagenumwobenen Aliens rettet, die wir immer noch nicht entdeckt haben. Ich hörte einen Moment lang zu.

«… große Tragödie, dass das Genie Thaddeus Wallam-Crane so jung gestorben ist, bevor er überhaupt selbst durch ein Portal auf einen anderen Planeten rei…»

Ich schaltete das Vid aus, ehe Arrack seine Dummheit noch weiter unter Beweis stellen konnte. Hübsche Beine, aber nicht viel in der Birne. Aus lauter Frust brüllte ich den schwarzen Bildschirm an: «Hast du denn keine Ahnung, dass das Genie schon vierundsechzig war, als er das erste Portal zum Laufen brachte? Er ist nicht jung gestorben, sondern hat sogar noch seinen hundertsten Geburtstag gefeiert! Es hat nur eben noch mal hundert Jahre gedauert, bis jemand auf einen anderen bewohnbaren Planeten teleportieren konnte. Kannst dir ja ausrechnen, wie alt er hätte werden müssen, um das selber zu tun, du Schrumpfhirn!»

Es nervt mich so, wenn die Leute nichts über Geschichte wissen. Ich kann mich für solche Fakten total begeistern und …

Ja, ich geb’s zu. Ich wusste eigentlich schon die ganze Zeit, welchen Kurs ich belegen würde. Und ihr habt inzwischen sicher auch gemerkt, dass ich die geborene Historikerin bin. Ich habe mich nur dagegen gewehrt, Historikerin zu werden, weil das dann so aussieht, als würde ich mich einfach in mein Schicksal ergeben. Schließlich weiß jeder, was die Abkürzung KGB für den Planeten Erde bedeutet: Krankenhaus. Geschichte. Behinderung. Man kann auf der Erde auch andere Berufswege einschlagen, denn selbstverständlich brauchen wir die gleiche Infrastruktur wie alle anderen Welten, aber unsere beiden Spezialgebiete sind Medizin und Geschichte.

Darauf lief es also hinaus. Ich könnte eine pflichtbewusste, typische Behinderte sein und Historikerin werden oder rebellieren, indem ich nicht das studierte, was mir am Herzen lag. Tolle Auswahl. Dann fiel mir plötzlich eine dritte Möglichkeit ein. Etwas, das ich tun könnte, wenn ich nur verrückt genug oder wütend genug war. Als ich mein Zimmer verließ und das Portal in der Eingangshalle ansteuerte, grinste ich wie eine Bekloppte.

Ich traf Candace in der riesigen Tropenvogelkuppel des Europäischen Zoos. Im Afrikanischen Zoo gibt’s natürlich noch eine größere, aber interkontinentale Portalreisen sind teurer als regionale, und man bekommt außerdem Probleme mit den Zeitzonen. Das wusstet ihr vermutlich auch nicht, da die Erde die einzige Welt mit mehr als einem bewohnten Kontinent ist. Noch so eine kleine kostenfreie Information für euch.

Candace saß auf der Bank beim Guppy-Becken. Ich setzte mich neben sie, und eine Weile beobachteten wir einfach nur die winzigen purpurn, neonblau und smaragdgrün glänzenden Schwänze der männlichen Guppys, die versuchten, den einfarbigen Weibchen zu imponieren. Über uns leuchteten immer wieder die schillernden Federn fliegender Vögel auf. Ich liebte diesen Ort mit seinen üppigen Pflanzen, dem feuchten Dschungelgeruch und dem Vogelgezwitscher überall. Candace und ich trafen uns seit Jahren hier, und ich wurde es nie müde.

«Ich nehme mal an, du hast dich immer noch nicht entschieden», meinte Candace schließlich. «Ich will ja nicht nerven, aber wir müssen deine Bewerbung bis morgen eingereicht haben.»

«Nerv ruhig», sagte ich. «Du bist schließlich meine ProMum. Das ist doch dein Job.»

Ich wette, ihr habt noch nie von ProMums gehört. Man bekommt ProEltern, wenn die echten Eltern nichts von ihrem behinderten Baby wissen wollen. In zweiundneunzig Prozent aller Fälle dauert es weniger als einen Tag, bis die Eltern die Einwilligungserklärung unterzeichnet haben, mit der ihr peinlicher, zurückgebliebener Sprössling der Obhut von Hospital Earth übergeben wird. Dann lösen sie so schnell wie möglich ihre Ehe oder andere Verbindung auf und gehen getrennte Wege, wobei sie lauthals schimpfen, die zurückgebliebenen Gene kämen vom jeweils anderen.

Meine Eltern gehörten zu diesen zweiundneunzig Prozent. Mit vierzehn hätte ich versuchen können, zu ihnen Kontakt aufzunehmen, aber ich habe mir die Mühe gespart. Die Exos hatten mich einfach weggeworfen, und ich würde ihnen nicht hinterherlaufen und betteln. Das war so sicher wie das Chaos!

Ich habe eben das Exo-Wort benutzt. Wenn wir Affen höflich sein wollen, nennen wir Menschen wie euch ‹Norms›. Und ‹Exos›, wenn nicht. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich höflich gegenüber Eltern sein muss, die mich weggeschmissen haben.

Dass mein Therapeut meint, ich würde immer noch eine Menge nicht aufgearbeitete Bitterkeit und Wut mit mir herumtragen, habe ich schon erwähnt, oder?

Statt Eltern habe ich deshalb zwei Stunden die Woche Candace. Sie ist ProMum von zehn von uns. Ich weiß nicht, wer die anderen neun sind, und ich will es auch gar nicht wissen. Ich will auch nichts von ihren eigenen Kindern hören. Sie muss mindestens eine ernsthafte Beziehung gehabt haben und mindestens ein eigenes Kind, denn das ist die Voraussetzung für ProEltern.

Ich weiß also von der Existenz der anderen Kinder, die mit mir konkurrieren, aber ich ignoriere sie lieber und stelle mir vor, dass Candace mir und nur mir allein gehört. Das mag zwar nur für zwei Stunden pro Woche gelten, aber im Gegensatz zu all den anderen Erwachsenen in meinem Leben, die kommen und gehen, bleiben mir die zwei Stunden Candace für immer. ProEltern hat man ein Leben lang. Candace wird da sein, um mir Ratschläge zu geben, wenn ich mal eine Beziehung habe oder selbst Kinder bekomme oder Wallam-Crane bei der Geburt erwürge. Ich habe auch einen ProDad, und der war prima, bis ich etwa elf war. Seitdem kommen wir nicht mehr so gut miteinander zurecht.

Ich bin mal ein paar Kindern mit richtigen Eltern begegnet, die extra auf die Erde gezogen sind, um sich um ihren Nachwuchs kümmern zu können. Aber ich glaube, ich finde ProEltern besser. Die zwingen einen nur dann zu etwas, wenn es wirklich wichtig ist, und wenn man in Schwierigkeiten steckt, dann sind sie wie Superhelden. Ganz im Ernst, die haben unglaubliche Macht. Wenn sie das Gefühl haben, dass eines ihrer Kinder schlecht behandelt wird, können ProEltern sofort einschreiten, ihre Fürsprecherautorität geltend machen und Heime inspizieren oder schließen lassen, was immer sie wollen. Sie können einfach in eine Vorstandssitzung von Hospital Earth reinmarschieren, wenn sie das für nötig halten. Das ist doch wohl echt genial!

Es war immer gut zu wissen, dass Candace eine gewisse Macht besaß und auf meiner Seite stand. Sie hatte ihre Autorität für mich bisher nie einsetzen müssen, aber in Anbetracht dessen, was ich nun plante, würde ich sie vielleicht brauchen.

Es war an der Zeit, ihr meine Neuigkeiten zu erzählen. Allerdings ging ich es langsam und vorsichtig an. «Ich möchte Geschichte studieren, also muss ich im Grundkursjahr Vorgeschichte belegen.»

«Sehr schön», freute sich Candace. «Darauf arbeitest du ja seit Jahren hin, und ganz offensichtlich ist es das Richtige für dich. Nur die Art und Weise, wie du die Entscheidung herausgezögert hast, hat mir Sorgen gemacht. Ich dachte schon, du hast eine deiner Phasen und schneidest dir ins eigene Fleisch, indem du etwas anderes wählst. Ich habe deine Bewerbung schon fertig – wir müssen sie nur noch einreichen.»

«Es könnte ein bisschen komplizierter werden als das», wandte ich ein. «Ich möchte mich nämlich bei einer Universität von einem der anderen Planeten bewerben.»

Candace schloss ein paar Sekunden lang die Augen. Ich schwöre, sie hörte sogar auf zu atmen. Schließlich öffnete sie die Augen wieder. «Wir befinden uns jetzt aber nicht wieder in der Leugnungsphase, oder? Das hast du doch schon hinter dir. Du warst überzeugt, dass man sich in deinem Fall geirrt hat, wie so viele Kinder in dem Alter. Also hast du an deinem vierzehnten Geburtstag von deiner Option Gebrauch gemacht, die Erde zu verlassen. Du hast auf der anderen Welt einen anaphylaktischen Schock erlitten, das Sanitätsteam hat dich zu uns zurückgeschickt, und es hat eine Woche gedauert, bis du dich erholt hattest. Daran kannst du dich doch sicher noch erinnern.»

«Klar», erwiderte ich. Ich wäre fast gestorben. Ich hatte solche Angst. Das würde ich nie vergessen.

«Dann weißt du auch, dass es sich nicht um einen Irrtum handelt. Wenn du die Erde verlässt, stirbst du. Du kannst keine Universität auf einem der anderen Planeten besuchen!»

«Aber ich muss die Erde doch gar nicht verlassen.» Ich grinste wie verrückt. «Alle Vorgeschichtskurse im Grundstudiumsjahr werden auf der Erde abgehalten. Fürs Hauptstudium kann ich ja immer noch an die University Earth wechseln.»

Sie versuchte es mit allen vernünftigen Argumenten. «Die University Earth bietet doch genau denselben Grundlagenkurs an. Sie benutzen dieselben Einrichtungen, dieselben Ausgrabungsstätten, und der Unterricht ist genauso gut, wenn nicht sogar besser.»

Ich grinste weiter. «Ich will aber einen Kurs machen, der von einer der anderen Universitäten angeboten wird.»

«Dein Platz im Kurs der University Earth ist dir sicher. Für einen anderen brauchst du die richtigen Noten.»

«Ich habe ausgezeichnete Noten, das weißt du.»

«Was ist mit den Kosten? Hier auf der Erde ist für dich jede Ausbildung kostenlos, aber …»

Ja, ich bekomme ein kostenloses Studium. Seid ihr jetzt neidisch? Affenmädchen zu sein hat gewisse Vorteile. Wir bekommen garantiert einen Studienplatz, egal was wir studieren wollen, und wir müssen am Ende keine Ausbildungsgebühr zahlen. Wir bekommen auch garantiert einen Job, egal in welche Branche wir wollen. Wenn wir nicht arbeiten wollen, bekommen wir ein garantiertes Mindesteinkommen. So will mein Kumpel Keon den Rest seines Lebens mit Faulsein verbringen. Alle bewohnten Welten tragen großzügig dazu bei, die Außenseiter der Menschheit zu versorgen. Sie zahlen aus Schuldgefühl, um ihr Gewissen zu beruhigen. Ihr drückt einfach ein bisschen Geld ab, damit ihr eure Ausschussbabys auf der Erde abladen und sie dann vergessen könnt.

«Steht denn irgendwo, dass mein kostenloses Studium sich nur auf die University Earth beschränkt und ich keine andere Universität besuchen darf?», fragte ich.

«Das muss ich überprüfen. Bis jetzt fand das niemand relevant, deshalb …» Angesichts meiner Entschlossenheit gab Candace offensichtlich langsam klein bei. «Dir ist aber schon klar, dass die anderen Studenten … schwierig sein werden. Es wird ihnen möglicherweise nicht gefallen, dass du in ihrem Kurs bist. Geht es dir darum? Willst du da deine Wut herauslassen?»

«Nein, darum geht’s nicht. Zumindest nicht hauptsächlich. Ich will nicht, dass sie erfahren, was ich bin. Ich will, dass sie denken, ich bin eine von ihnen, normal.»

«Du bist normal, Jarra. Wärst du vor der Erfindung des Portals geboren worden, hätte niemand je gemerkt, dass es ein Problem mit deinem Immunsystem gibt.»

Diese Tatsache wurde mir regelmäßig vorgebetet. Ich sei normal. Ich solle mich selbst nicht als Ausschussware sehen. Ich solle mich wertschätzen. Diese nervigen Wiederholungen erreichten nur, dass ich immer mal wieder versuchte, mir vorzustellen, ich wäre vor sechshundert Jahren geboren worden. Dann fielen mir die ganzen Kriege und Hungersnöte in der prähistorischen Zeit ein, ich beschloss, dass ich die moderne Zivilisation doch vorzog, und träumte stattdessen lieber noch mal davon, Wallam-Crane zu ermorden.

Ich schüttelte den Kopf. «Das sagen mir die Leute ständig. Mein Therapeut sagt es, du sagst es, aber du bist auch behindert, deshalb hilft es nichts. Ich will, dass es die normalen Leute sagen. Ich will an diesem Kurs teilnehmen, und die echten Menschen sollen denken, dass ich eine von ihnen bin. Es ist mir egal, wenn ich es nicht das ganze Jahr schaffe. Selbst ein paar Tage würden schon reichen. Das würde bedeuten, dass ich wirklich etwas wert bin.»

Das war aber noch nicht alles. Am Schluss, wenn ich sie alle glauben gemacht hatte, ich sei eine echte Person wie sie, dann wollte ich ihnen eröffnen, wer ich wirklich war. Eine von den Neandern, eine von denen, deren Existenz sie ignorierten, hatte sich in ihr hübsches, sicheres Leben eingeschlichen. Ich würde den Schock und die Betroffenheit in ihren Augen sehen, wenn ihnen klarwurde, dass man sie getäuscht hatte. Dass sie geglaubt hatten, eine Zurückgebliebene sei eine von ihnen. Ich könnte sie anschreien, den ganzen Ärger und die Wut herauslassen und dann lachend davongehen. Es schien mir allerdings nicht sonderlich clever, Candace von diesem Teil meines Plans zu erzählen.

«Wenn es dazu beitragen würde, dass du dich selbst endlich zu schätzen lernst …» Candace saß da und dachte über die ganze Sache nach. «Es wäre nicht leicht, die anderen Studenten zu täuschen, Jarra, aber du wirst nicht einmal die Gelegenheit bekommen, es zu versuchen. Deine Bewerbung wird von einer Schule auf der Erde kommen, und sie wissen, was das bedeutet. Kinder, die hier ohne die Immunschwäche geboren werden, pendeln zu Schulen auf anderen Planeten, und ihre Bewerbungen kommen dann von dort.»

Ja, ich weiß, das klingt für euch unglaublich, diese enormen Kosten, jeden Tag zwischen den Welten hin- und herzureisen, bloß um in die Schule zu gehen. Aber es stimmt. Selbst wenn beide Eltern behindert sind, können in solchen Fällen neun von zehn Kindern ihre Schulbildung außerhalb der Erde erhalten. Das schlechte Gewissen der Menschheit bezahlt dafür, dass sie normale Schulen besuchen können, um so ihre Eingliederung in die ‹richtige Gesellschaft› zu fördern.

Wusstet ihr, dass man früher mal versucht hat, Babys auszutauschen? Man hat den behinderten Eltern auf der Erde ihre normalen Babys weggenommen und ihnen stattdessen ein behindertes Baby von außerhalb gegeben. Die Eltern wurden dazu gezwungen mitzuspielen. Ich wette, das habt ihr auf eurer Welt auch nicht in der Schule gelernt? Mein Therapeut sagt, ich solle solche Dinge vergessen, weil sie nur Feindseligkeit schüren, aber man sollte die Geschichte nicht vergessen, sondern daraus lernen.

«Die Verwaltungsangestellten wissen das vielleicht», antwortete ich, «aber das sind doch meine persönlichen Daten!»

«Du hast recht!» Candace hatte jetzt ganz auf ProMum-Modus geschaltet und kämpfte für das Recht ihres Kindes. «Angestellte haben zu persönlichen Daten nur Zugang für fachbezogene Belange. Der Herkunftsplanet deiner Schule weist auf deine Behinderung hin, daher besteht dafür derselbe geschützte Status wie für medizinische Daten. Wir können auf deiner Bewerbung ganz klar darauf hinweisen. Das Lehrpersonal weiß dann zwar Bescheid, aber es wäre ein Vergehen im Amt, wenn sie den Studenten davon erzählen. An welcher Universität sollen wir es versuchen?»

«Ähh … Asgard.» Meine Wahl war aufs Geratewohl gefallen, weil es sich dabei um den Heimatplaneten dieses schrumpfhirnigen Vid-Stars handelte, für den ich schwärmte. Arrack San Domex. Der mit den Beinen.

«Asgard …» Candace zog ihren Lookup aus der Tasche und tippte eine Frage ein. Daten füllten den Bildschirm, und sie nickte. «Die haben eine angesehene Geschichtsfakultät. Gute Wahl.»

Da hatte ich wohl ins Schwarze getroffen? «Sind meine Noten denn gut genug? Werden sie mich nehmen? Soll ich es irgendwo anders versuchen, wo es leichter ist?»

«Du hast erstklassige Noten, Jarra, und deine praxisrelevanten Vorkenntnisse und Erfahrungen sind auch unschlagbar. Du hast in einem Jahr mehr geschichtsträchtige Stätten besucht als die anderen Bewerber in ihrem ganzen Leben. Ich wette, die meisten von ihnen haben noch nie einen Fuß auf die Erde gesetzt. Wenn sie dich ablehnen, dann sollten sie besser nachweisen, dass jeder einzelne Student in diesem Kurs bessere Noten hat als du, oder ich sorge dafür, dass Hospital Earth in deinem Namen Einspruch einlegt.»

«Klasse!» Es war genial, eine ProMum mit Superkräften an meiner Seite zu haben.

«Und was die Kosten angeht … Das wird auch nicht mehr sein, als wenn du die University Earth besuchst. Wenn jemand Schwierigkeiten machen sollte, dann wende ich mich notfalls an die obersten Instanzen, bis wir es bewilligt bekommen.»

An diesem Tag bekam ich weit mehr als die mir zustehenden zwei Stunden Candace, denn wir schickten gemeinsam meine Bewerbung ab. Wenn die Zulassungsstelle der Asgard University nach dem Feiertag wieder ihre Arbeit aufnahm, würden die Angestellten dort einen schönen Schreck bekommen. Sie waren die erste Universität außerhalb der Erde, die eine Bewerbung von einem Affenstudenten erhielt, und sie würden mich annehmen müssen, weil Candace sonst den Rechtsweg einschlagen und sie in Stücke reißen würde.

2

Schlussendlich erzählte ich keinem meiner Freunde von der Asgard University, nicht mal Issette. Vielleicht würde Asgard doch einen Weg finden, meine Aufnahme irgendwie geschickt abzuwenden, und dann würde ich blöd dastehen. Ich sagte einfach nur, dass ich mich für Geschichte entschieden hatte, und sie zogen daraus ihre eigenen Schlüsse. Außerdem waren sowieso alle mit Keons überraschenden Neuigkeiten beschäftigt.

Wer hätte das gedacht! Keon eröffnete uns ganz seelenruhig, dass er sich für einen Grundlagenkurs Kunst beworben hatte! Wir anderen acht aus unserer Next-Step-Gruppe waren völlig sprachlos, dass der legendär faule Keon Tanaka sich überhaupt für einen Kurs bewarb, und total geplättet, dass er etwas so Kommerzielles wie Kunst gewählt hatte.

«Na ja, damit kann man ’ne Menge Kohle machen …», meinte Ross. «Aber man muss schon malen, bildhauern, lichtinstallieren oder sonst irgendwas können, um Künstler zu sein. Egal was man macht, es muss gut sein.»

«Es gab früher auch mal Zeiten, da war das nicht der Fall», erklärte ich.

Die anderen stöhnten. «Nein!», sagte Issette. «Bitte keine Geschichtsstunde. Böse, böse Jarra!»

«Kunst muss nicht gut sein», widersprach Keon, «sie muss nur mittelmäßig sein. Das ist der Sinn der Sache. Die Leute zahlen gut dafür, echte Kunst bei sich zu Hause zu haben, etwas Einzigartiges, das von Menschenhand erschaffen wurde. Es muss gut genug aussehen, damit man es anschauen kann, aber gleichzeitig schlecht genug sein, um nicht so zu wirken wie eine von zigtausend massenproduzierten Kopien eines genialen Originalkunstwerks.»

«Ja schon, aber kriegst du überhaupt erst mal mittelmäßig hin?», wollte Cathan wissen. Er schien ein bisschen beleidigt, weil er selbst Kunst machen wollte und das auch ernst nahm. Er betrachtete es als sichere Karriere mit sehr gutem Einkommen und hatte bereits genau recherchiert, wie Künstler von der Erde ihre Arbeiten über Agenten verkauften, um die Tatsache zu verheimlichen, dass sie von einem Affen stammten.

Ich war versucht, Cathan zu fragen, ob er selbst denn Mittelmaß zustande brächte, aber ich hielt brav den Mund. Zwischen Cathan und mir war die Lage etwas angespannt. Wir waren uns Anfang des Jahres ein bisschen nähergekommen. Auf der großen Year Day Party hatte es angefangen, aber die Beziehung hielt nur ein paar Monate, und wir stritten uns die meiste Zeit. Cathan hatte schöne Beine, aber er war schrecklich empfindlich. Wenn ich ihm nicht alle zwei Stunden mailte, bekam er gleich einen Anfall, und ihm passte auch nicht, wie viel Zeit ich mit Geschichtsinfovids verbrachte. Dann verlor ich ebenfalls die Geduld, denn schließlich hatte ich ein Recht darauf, Dinge zu tun, die mir Spaß machten, und … Na ja, Cathan war deshalb immer noch etwas nachtragend.

Keon zuckte mit den Schultern. «Vielleicht geh ich ja gar nicht zum Unterricht. Ich hab halt herausgefunden, dass man als Student mehr Kohle kriegt als den normalen Unterhalt, deshalb …»

Alle außer Cathan lachten.

Damit war das Thema Bewerbungen abgehakt. Für meine Freunde war die Sache auch nicht sonderlich spannend, denn sie hatten schließlich an der University Earth einen Platz sicher, egal welchen Kurs sie wählten. Ich hingegen war mit den Nerven total am Ende. Ich hatte über die Asgard University nachgelesen: Die Plätze in den Kursen dort waren heiß begehrt, vor allem in Geschichte, und man würde sicher alles daransetzen, einen Grund zu finden, weshalb man ein Affenmädchen ablehnen konnte.

Falls sie mich ablehnten … Nun, dann könnte Candace juristisch gegen sie vorgehen, aber mir meinen Platz dort mit jeder Menge Publicity zu erkämpfen würde mir nichts bringen. Alle würden wissen, was ich war, und der Sinn der Sache war doch, sie an der Nase herumzuführen und dann ihre Gesichter zu sehen, wenn sie die Wahrheit herausfanden. Vielleicht hätte ich vernünftig sein und mich parallel noch bei der University Earth bewerben sollen, aber dazu war es jetzt zu spät. Ich konnte nur hoffen, dass Candace, wenn nötig, ihren ProMum-Einfluss geltend machen und mir dort einen Platz sichern würde.

Wir sollten die Mail-Benachrichtigungen über unsere Grundstudiumskurse am ersten Dezember bekommen. Ich wartete den ganzen Tag darauf, von der Asgard University zu hören, und zuckte jedes Mal nervös zusammen, wenn eine Mail kam. Die meiste Zeit zappte ich durch Vid-Kanäle, doch ich konnte mich nicht einmal auf eine Folge von Defenders konzentrieren. Als es Abend wurde, war ich fuchsteufelswild. Sie hatten es noch nicht mal für nötig befunden, mir eine Absage zu schicken! Ich schrieb Candace in einer deutlichen Mail, was genau ich von den Exos hielt. Sie schrieb zurück, dass der bewohnte Kontinent von Asgard sich in einer Zeitzone befand, die elf Stunden hinter unserer lag, und man dort noch nicht einmal gefrühstückt hatte.

Habt ihr euch schon mal so richtig dumm gefühlt? Es gab überhaupt keine Entschuldigung für meinen Denkfehler, schließlich haben wir auf der Erde selbst genug Zeitzonen. Die Alltagsorte, zu denen wir teleportieren, liegen alle in einer lokalen, ähnlichen Zeitzone, aber bei ein paar unserer Schulausflüge mussten wir mitten in der Nacht starten, damit wir auf der anderen Seite noch bei Tag ankamen. Ich bin so ein Schrumpfhirn, echt.

Die Mail von der Asgard University kam fünf Stunden später. Sie hatten mich genommen! Sie klangen zwar nicht sonderlich begeistert, und sie wiesen extra darauf hin, dass keine besonderen Vorkehrungen getroffen werden konnten, um auf meine Behinderung Rücksicht zu nehmen, aber das war mir egal. Triumphierend tanzte ich durchs Zimmer.

Dieser spezielle Paragraph war dazu gedacht, mich einzuschüchtern, doch das tat er nicht. Sie konnten mich nicht davon abhalten, an allen Seminaren teilzunehmen. Vor zwanzig Jahren hatte es in der Geschichtswissenschaft einen Ruck gegeben, weil so viele Historiker noch nie auf der Erde gewesen waren. Das war vielleicht nicht so schlimm, wenn sie sich auf moderne Geschichte spezialisierten, aber sogar die führenden Experten für Vorgeschichte waren noch nie auf einer Ausgrabungsstätte gewesen. Sie wollten sich nicht bei uns Affen anstecken! Vorgeschichte zu unterrichten, wenn man noch nie auf der Erde war, ist so ähnlich, als würde jemand Literatur lehren, der sich noch nie ein Buch angesehen hat.

Also wurden harte Maßnahmen ergriffen. Im Grundstudium Geschichte ging es nun ausschließlich um Vorgeschichte, und der gesamte Kurs musste auf der Erde abgehalten werden. Das war ja auch sinnvoll. Man kann die Vorgeschichte nicht ignorieren. Schließlich ist sie der Ausgangspunkt für alles, was seit der Erfindung des Portals geschehen ist. Deshalb müssen jetzt alle Historiker Vorgeschichte studieren und gleich zu Beginn ihres Studiums die Ausgrabungsstätten auf der Erde erleben.

Nachdem ich meinen Tanz durchs Zimmer beendet hatte, schickte ich eine triumphierende Mail an Candace. Sie würde sie natürlich erst am nächsten Tag lesen, denn ich wagte es ganz bestimmt nicht, meine ProMum um Mitternacht mit einer Notruf-Mail aufzuwecken, wenn es sich nicht wirklich um einen Notfall handelte. Bei Issette hingegen sah die Sache völlig anders aus. Sie war meine beste Freundin, und ich wollte ihr sofort davon erzählen!

Also düste ich nach nebenan und drückte meine Hand auf den Türscanner. Ich konnte den leisen Klang der Meldung auf der anderen Seite der Tür hören. Eine kurze Melodie, gefolgt von einer Stimme, die sagte: «Deine Freundin Jarra bittet um Einlass.»

Ich wartete kurz, dann versuchte ich es erneut. Die Tür ging auf, und Issette stand in einem zerknitterten Schlafanzug vor mir. Sie sah mich aus müden, vorwurfsvollen Augen an. «Ich hoffe, du hast ’nen guten Grund! Bist du tot, oder was?» Sie drehte sich um, ohne eine Antwort abzuwarten, ging zum Bett hinüber und ließ sich mit einem übertriebenen Stöhnen darauffallen.

Ich folgte ihr ins Zimmer, worauf sich die Tür hinter mir schloss. «Ich hab die Antwort auf meine Bewerbung bekommen. Sie haben mich genommen!»

«Was? Und deswegen weckst du mich um diese Zeit?» Issette hob den Kopf, um mich böse anzufunkeln.

Ich grinste sie an. «Ich bin an der Asgard University angenommen worden.»

«WAAAS?!», kreischte Issette.

Eine Computerstimme unterbrach uns. «Bitte nehmt Rücksicht auf andere, die um diese Zeit schlafen wollen, und senkt euren Lärmpegel.»

Issette warf ihr Kissen nach der Sensorbox. Wir hassten es alle, diese Dinger in unseren Zimmern zu haben. Offiziell stellten sie keine Verletzung der Privatsphäre dar, weil die Apparate keine Informationen aufzeichneten oder weitergaben, sondern uns nur vorwurfsvoll zurechtwiesen. Wenn man sie zu lange ignorierte, gaben sie einen nervtötenden Ton von sich, wie ein Gong, der im Sekundentakt ertönte, so lange, bis sie einen kleinkriegten.

Sie beschwerten sich aber nicht nur bei Lärm. Brandgefahr monierten sie genauso wie unaufgeräumte Zimmer oder wenn sich Junge und Mädchen zu nahe kamen. Nichts killt einen romantischen Augenblick so endgültig wie eine Computerstimme, die verkündet: «Eure zwischenmenschliche Intimität übersteigt momentan das für eure Altersgruppe akzeptable Maß.»

Es gab immer wieder Gerüchte, dass es wohl ein paar Leuten gelungen war, ihren Zimmersensor kurzzuschließen, um damit die Überwachung zu umgehen. Aber die meisten schafften es lediglich, den Manipulationsalarm auszulösen, und mussten dann von ihrem persönlichen Guthaben in Credits eine neue Anlage bezahlen. Diese Dinger sind teuer, deshalb hab ich’s selber nie versucht. Das war Cathan nicht wert.

«Ich kann es kaum erwarten, Next Step zu verlassen und dieses Teil loszuwerden», fauchte Issette. Dann wandte sie sich wieder mir zu. «Das mit der Asgard University meinst du aber nicht ernst, oder? Das kann nicht sein!»

Ich verbrachte die nächste Stunde damit, sie zu überzeugen, dass ich es ernst meinte, und ihr meinen Plan zu unterbreiten. Der Computer beschwerte sich noch mehrmals über unseren Lärmpegel. Irgendwann begann Issette mir zu glauben.

«Ich würde ja zu gerne ihre Gesichter sehen, wenn sie es herausfinden», sagte sie. «Du musst mir versprechen, dass du das filmst und mir mailst.»

«Dafür musst du mir versprechen, es geheim zu halten. Du darfst niemandem davon erzählen, keinem von unseren Freunden, niemandem. Nur du und Candace wissen Bescheid. Wenn zu viele Leute Wind davon bekommen, dann wird irgendeiner quatschen. Und ich kann die anderen Studenten schließlich nicht täuschen, wenn sie schon von vornherein damit rechnen, dass ein Affe bei ihnen im Kurs sitzt.»

Issette verzog das Gesicht. «Jetzt nenn dich doch nicht so!»

«Bitte nehmt Rücksicht auf andere, die um diese Zeit schlafen wollen, und senkt euren Lärmpegel», mahnte die Computerstimme.

Wir stöhnten beide.

«Dann wirst du nicht mal deinem Therapeuten davon erzählen?», wollte Issette erstaunt wissen.

«Ich werde meinem Therapeuten den Laufpass geben. Sobald ich Next Step verlasse, bin ich ja nicht mehr dazu verpflichtet, ihn zu besuchen.» Ich hielt nicht viel von Psychotherapeuten und hatte das Gefühl, die Sitzungen mit meinem waren pure Zeitverschwendung.

«Ich wäre ohne meinen Therapeuten total verloren», seufzte Issette, aber sie widersprach mir nicht weiter. Sie glaubte eben an Therapie und ich nicht. Darüber hatten wir uns in der Vergangenheit schon zu oft unterhalten, um die Sache jetzt noch mal aufzuwärmen.

Stattdessen kam sie wieder aufs eigentliche Thema zurück. «Aber ich weiß gar nicht, wie du sie täuschen willst, selbst wenn du’s schaffst, es geheim zu halten. Du kennst doch gar nicht all ihre Eigenheiten. Was die richtigen Klamotten sind. Wie sie reden. Ich weiß, wir schauen die Vids, aber … Und jeder Sektor hat seine eigenen komischen Ausdrücke. Die kommen in den Vids, die wir hier empfangen, nicht vor. Wir kriegen ja von dem ganzen lokalen Zeug nichts mit, höchstens mal wenn sie in ’ner Comedysendung einen Witz drüber machen.»

Ich nickte. «Ja, die sprechen zwar alle Standard, aber ihre eigenen Dialekte haben sie trotzdem. Der Alphasektor hat den stärksten, denn da sind die Planeten, die während des Exodus-Jahrhunderts als Erstes besiedelt wurden. Je neuer der Sektor ist, desto mehr ähnelt sein Dialekt der Standardsprache, wusstest du das? Ich hab da ein Infovid über linguistische Geschichtskartographie gesehen und –»

Issette hielt sich die Ohren zu. «Kein Geschichtsvortrag. Böse, böse Jarra!»

«Hör auf damit.»

Sie nahm die Finger aus den Ohren. «Dann hör du auf, mir ständig Vorträge über Geschichte zu halten. Das machst du andauernd.»

«Stimmt gar nicht.»

«O doch. Du bist völlig besessen davon.»

«Bin ich nicht.»

Issette warf mir bloß ihren speziellen Blick zu. So eine Art vernichtendes Starren, das bedeuten soll, dass sie recht und ich unrecht habe und wir das beide genau wissen. Dem kann man wenig entgegenhalten, also gab ich nach.

«Na gut, wenn du meinst … Aber egal. Wenn ich so tue, als käme ich von irgendeinem der Sektoren, gibt es bestimmt noch andere Studenten von dort, und dann fehlt mir der Akzent, oder ich spreche den Dialekt nicht. Deshalb habe ich vor zu behaupten, dass meine Eltern beim Militär sind.»

Issette schaute misstrauisch drein. «Weil du ein Fan von Arrack San Domex bist?»

Das war nicht der Grund, ehrlich. Ich hatte Asgard wegen Arrack San Domex ausgesucht, und er spielt in Defenders jemanden vom Militär, aber diesmal hatte meine Entscheidung logische Gründe.

«Nein, nicht deshalb. Alle Sektoren haben ihre eigenen Dialekte, aber das Militär nicht. Da sprechen alle Standard. Wenn sie bei Einsätzen sind, wohnen ihre Kinder in genau solchen Einrichtungen wie Home oder Next Step, und die Kinder von Militärfamilien gehen normalerweise selber zum Militär. Da besteht keine Gefahr, dass ich in einer Klasse mit dreißig Geschichtsstudenten einem von ihnen über den Weg laufe.»

«Das könnte funktionieren», gab Issette zu. «Das würde auch deinen Namen erklären. Die Militärfamilien benutzen ja auch so blöde, altmodische Namen wie Hospital Earth. ‹Issette›, also bitte! Hast du in einem der Vids schon mal eine Issette gesehen, die unter achtzig ist?»

Ich kicherte. Issette hat zwar die Wut und Bitterkeit über ihre Behinderung erfolgreich überwunden, aber am Hass auf ihren Namen arbeitet ihr Therapeut immer noch mit ihr. Der einzige Grund, weshalb sie nicht schon vor Jahren eine Namensänderung beantragt hat, ist, dass sie sich für keinen neuen entscheiden kann.

Kurz darauf schlief Issette ein, also ging ich zurück in mein Zimmer und sah mir Infovids übers Militär an. Man kann den Fakten darin zwar nie ganz trauen, aber spannend war es trotzdem.

Also zumindest die, in denen es darum ging, wie Planet First neue Welten erschloss, waren spannend. Die über die Solarenergiefelder im All waren auch interessant, obwohl ich den technischen Einzelheiten nicht so ganz folgen konnte. Das Zeug über die Kontrollfunktion des Militärs erinnerte mich ein bisschen zu sehr an den Soziologieunterricht. Ja, ja, wir haben ein sektorübergreifendes Militär, damit die einzelnen Sektoren keine eigenen Armeen aufstellen und nicht in Versuchung geraten, den Krieg wieder zu erfinden. Ich sollte mich darüber nicht so abfällig äußern – schließlich will ich Geschichte studieren, und ich weiß, dass wir keine Kriege mehr wollen – aber manchmal wird das Ganze ein bisschen zu salbungsvoll.

Dafür waren die Bereitschaftsübungen gegen Außerirdische echt witzig. Selbst die Leute vom Militär, die daran teilnahmen, fingen manchmal mittendrin an zu lachen. Wie trainiert man denn für den Kampf gegen Aliens, wenn man noch nie welchen begegnet ist? Die Antwort darauf ist: Man sucht sich jemanden, der sich die wildesten Szenarien ausdenkt, sodass man dann zum Beispiel gegen computergenerierte, hüpfballähnliche Aliens kämpft, die an der Decke kleben können, oder gegen achtbeinige Viecher, die einem klebrige, bei Kontakt explodierende Bänder entgegensprühen.

Okay, das ist eigentlich schon eine ernste Sache. Wir sind bisher zwar keinen intelligenten Lebewesen begegnet, aber es wurde mathematisch bewiesen, dass es sie geben muss und dass die Menschheit irgendwann auf welche treffen wird. Einige dieser Aliens werden uns feindlich gesinnt sein. Es fällt mir zwar schwer, das zu glauben, aber dabei handelt es sich nun mal um eine wissenschaftliche Tatsache. Wir müssen darauf vorbereitet sein, und das Militär tut sein Bestes.

Ich schaute die ganze Nacht Vids und machte mir Notizen, was ich alles lernen musste. Mir blieb ein Monat Zeit, um mir eine Identität als Kind einer Militärfamilie zu erschaffen. Wenn ich damit Erfolg haben wollte, musste ich aus Militär-Jarra einen echten Menschen machen und mir alles aneignen, was sie wohl wissen würde. Je mehr ich recherchierte, umso mehr begriff ich, wie viel ich mir noch beizubringen hatte.

Das mit den Militärschulen zum Beispiel war ein echter Schock. Da Soldatenkinder normalerweise später selbst zum Militär gehen, wird bei ihnen in der Schule schon eine Menge Zeug durchgenommen, das sie auf diese Laufbahn vorbereitet. Das Militärische Grundtraining ist für neue Rekruten aus den Sektoren gedacht. Kinder aus Militärfamilien überspringen es, weil sie es schon in der Schule hatten.

Fast hätte ich aufgegeben, als ich herausfand, dass diese Kinder alle ein Training für unbewaffneten Nahkampf absolviert hatten. Mir blieb nur noch ein Monat bis zum Year Day, und die Universitätskurse fingen am Tag danach an. Wie konnte ich denn in so einer kurzen Zeit Kampfsport lernen? Sollte ich mir doch einen anderen Hintergrund ausdenken? Wenigstens gab es auch zu diesem Thema Infovids, und selbst wenn ich schlussendlich nicht alles übers Militär wusste, was ich eigentlich wissen sollte, so würden meine Kommilitonen mit ziemlicher Sicherheit noch viel geringere Kenntnisse haben.

Letzten Endes beschloss ich, bei der Militäridee zu bleiben. Ich erstellte Lebensläufe für meine ausgedachten Soldateneltern, trug Details zu einzelnen Stationen zusammen, wo ich angeblich gelebt hatte, und erkundigte mich per Mail bei Candace, ob sie für mich irgendein Kampftraining organisieren konnte.

Candace antwortete am nächsten Morgen gegen neun. Die Mail zeigte sie lächelnd mit einem Glas Frujit in der Hand. «Glückwunsch, Jarra. Ich werde mich in Sachen Training schlaumachen, aber vielleicht nimmst du das mit der Militärrecherche ein bisschen zu ernst. Du lässt dich ja gerne mal von Dingen mitreißen. Willst du nicht lieber was frühstücken und dann eine Weile schlafen?»

Ich beschloss, ihrem Rat zu folgen.

3

Die Year Day Party war ein bisschen … traurig. Wir hatten während Nursery, Home und Next Step alle neun immer zusammengewohnt, aber jetzt würden wir uns trennen. Ich zog in meinen persönlichen Krieg gegen die Asgard University. Die anderen gingen an die University Earth, jedoch zu verschiedenen Kursen und Campusorten.

Maeth und Ross belegten zwar unterschiedliche Studiengänge, würden aber beide auf demselben Campus in Mitteleuropa wohnen. Issette, Cathan und Keon zogen gemeinsam auf einen Campus in Südeuropa. Wir restlichen vier würden alleine losziehen. In meinem Fall hatte ich das natürlich immer schon gewusst, denn der Grundkurs für Vorgeschichte wurde an einigen der großen Ausgrabungsstätten abgehalten.

Issette wollte den Vorbereitungskurs fürs Medizinstudium machen. Cathan und Keon belegten beide Kunst, hatten jedoch unterschiedliche Richtungen gewählt. Cathan machte Schwerpunkt Malen, Keon Schwerpunkt Licht. Wahrscheinlich gut so. Sie hatten vor Kursbeginn jeweils eine Arbeit einsenden müssen, und Keon hatte für seine irgendeine Auszeichnung erhalten.

Ich hatte ein Vid über sein Werk gesehen: eine Laser-Skulptur aus Licht, das in allen Farben des Spektrums schimmernd aus der Tropenkuppel des Europäischen Zoos herausstrahlte und sich ineinander verwob. Die meiste Zeit wirkte das Ganze völlig abstrakt, aber ab und zu verschmolzen die Farben irgendwie, und man konnte erkennen, dass es sich um einen Vogel mit ausgebreiteten Schwingen handelte. Keon nannte es ‹Der auferstehende Phönix›. Man muss es gesehen haben, um es zu verstehen, aber es war echt cool. Wir waren alle total von den Socken, dass Keon offensichtlich tatsächlich Talent hatte. Die meisten von uns waren auf positive Art verblüfft, nur Cathan glich einem vor sich hin schwelenden Haufen Missgunst, der nur auf einen Anlass wartete zu explodieren.

Wir neun würden uns also trennen, und die Year Day Party ähnelte deshalb ein bisschen einem Begräbnis. Wir verließen nun Next Step. Sicher würden wir uns treffen, aber so wie bisher würde es nie wieder sein. Ihr, die ihr da draußen mit euren echten Eltern lebt, könnt das nicht nachvollziehen, aber wir neun waren eine Familie. Wir mochten uns zwar nicht immer – meistens gab es jemanden, mit dem Cathan gerade nicht redete –, aber wir waren alles, was wir hatten.

Die Jüngeren waren auch bei der Party und verabschiedeten uns so, wie wir die Jahrgänge vor uns verabschiedet hatten. Wir öffneten alle Trennwände der Gemeinschaftsräume, um sie in einen großen Saal zu verwandeln. Dort taten wir dann all die traditionellen Dinge und sangen kurz vor Mitternacht ‹Old Lang Zine›. Ich versuchte wie jedes Jahr, den anderen klarzumachen, wie alt dieses Lied in Wirklichkeit war, aber sie bewarfen mich mit ihren Fizzup-Bechern.

Dann schalteten wir die große Vid-Wand ein, um den Countdown bis Mitternacht zu verfolgen, und zählten im Chor mit, während die Zahlen über den Bildschirm flackerten. «Drei! Zwei! Eins! Glückliches Jahr 2789

Wir jubelten laut, weil wir damit alle ein Jahr älter wurden. Unsere Next-Step-Leiterin hatte sich bisher irgendwo in einer Ecke herumgedrückt, um die Sache im Auge zu behalten, doch nun trat sie nach vorn. «Herzlichen Glückwunsch an unsere frischgebackenen Erwachsenen. Wir wollen ihnen ganz viel Glück für die Zukunft wünschen.»

Die Jüngeren klatschten noch einmal. Ich merkte, dass meine Augen feucht wurden, was mir echt ein bisschen peinlich war. Issette hingegen heulte hemmungslos. Wir waren achtzehn, wir waren erwachsen, wir zogen in die Welt hinaus. Es gab mal eine Zeit, da zählten die Menschen das Alter von dem Tag an, an dem jeder Einzelne geboren wurde, statt vom Year Day an. Das muss echt chaotisch gewesen sein und auch ziemlich einsam bei Anlässen wie diesem.

Irgendwann zogen die Jüngeren ab ins Bett, und die Leiterin verabschiedete sich ebenfalls, sodass nur noch wir neun im Gemeinschaftsraum übrig blieben. Issette war inzwischen auf dem Fußboden eingeschlafen. Wir weckten sie auf, weil Ross und Maeth ihren ersten Paaringsvertrag abschließen wollten. Darauf hatten die beiden schon seit Monaten gewartet. Wir anderen schauten zu, während sie bei der Registratur anriefen, ihre persönlichen Daten durchgaben und die Bestätigung erhielten. Dann klatschten wir alle Beifall und jubelten laut.

Ross wollte später mal entweder bei einer Home- oder Next-Step-Einrichtung arbeiten, deshalb belegte er den Grundkurs in Betreuung und Gemeinschaft. Maeth hatte sich wahllos einen Kurs herausgesucht, der auf demselben Campus stattfand. Ihr war egal, was genau sie studierte, denn sie wollte sowieso ProMum werden, und dafür brauchte man keine Qualifikationen.

«Jetzt am Anfang kann man nur einen Dreimonatsvertrag abschließen», erklärte Maeth, «aber das bedeutet, dass wir bald unseren zweiten Paaringsvertrag machen können, mit dem wir dann ein Anrecht auf eine gemeinsame Studentenunterkunft haben.»

Ross nickte. «Noch mal einer für drei Monate, dann ein Sechsmonatsvertrag, und damit haben wir die Mindestmenge von drei Verträgen und einem Jahr, um heiraten zu dürfen. Ihr müsst uns alle versprechen, am nächsten Year Day zu unserer Hochzeit zu kommen.»

Wir versprachen es.

«Danach …» Ross grinste Maeth an.

Sie wurde rot. «Danach bekommen wir unsere Kinder. Im Idealfall hätte ich gerne, dass unsere Kinder mindestens zwei Jahre alt sind, bevor ich mit 25 als ProMum anfange.»