1. Kapitel
Als ich dem Tod zum ersten Mal persönlich begegnete, warf ich Mutters Krankenakte nach ihm. Ich traf daneben, wenn ich mich recht erinnere – schließlich war ich damals erst fünf –, und so nahm er es mir nicht übel. Manchmal wünsche ich mir allerdings, er hätte es doch getan, vor allem, wenn wir uns begegnen, während ich meinen Job ausübe.
»Miss Craft, das ist vollkommen inakzeptabel!« Henry Baker unterstrich seine Worte, indem er mit der Faust durch die Luft fuhr.
Hinter ihm ragte der Tod auf.
Achtzehn Jahre Übung halfen mir, den in Jeans gekleideten Seelensammler zu ignorieren und den Blick auf meinen Kunden gerichtet zu halten, dessen Gesicht sich von knallrot zu einem ungesunden Violett verfärbte. Ich ahnte schon, welche Richtung das Gespräch nehmen würde, und befingerte nervös das Trauergebinde aus weißen Lilien.
»Unser Vertrag beinhaltet, dass ich einen Schatten beschwöre. Genau das habe ich getan.«
Baker wischte meinen Einwand beiseite. »Sie haben mir Ergebnisse versprochen.«
»Ich sagte, dass Sie Fragen stellen können.« Ich lehnte mich gegen den Sarg seines Vaters. Das war nicht sehr respektvoll, aber immerhin hatte ich gerade den Schatten des alten Baker zurück in seinen Leichnam geschoben, zwei Stunden vor dessen Beerdigung. Mein Job hat nun mal nicht viel mit Respekt zu tun. Aber was soll’s, solange ich meinen Scheck bekomme.
Baker drehte sich auf dem Absatz um und stapfte den Gang entlang. Ich wartete. Ich wusste, was geschehen würde. Baker war ein geldgieriger Mensch, und ich hatte schon öfter mit Typen wie ihm zu tun gehabt.
Der Tod ging dicht hinter ihm. Ahmte jeden der stapfenden Schritt nach, machte sich über die schwerfälligen Bewegungen des plumpen Mannes lustig. Grinste die ganze Zeit, während sich der Blick seiner dunklen Augen keine Sekunde lang von mir löste.
Hoffentlich ist das lediglich ein Freundschaftsbesuch. Mein Blick traf den seinen, flehte ihn an, ermahnte ihn, dass er meinen Kunden in Ruhe lassen sollte. Perfekte Zähne blitzten auf, als der Tod mir ein strahlendes, nichtssagendes Lächeln schenkte.
Baker marschierte weiterhin auf und ab.
Okay, lass uns das schnell hinter uns bringen. »Entsprechend unserem Vertrag können Sie bar, mit Scheck oder per Überweisung zahlen. Brauchen Sie eine Quittung?«
Baker blieb abrupt stehen. Seine Augen traten vor; die Haut, die von seinen Wangen hing, schwabbelte. »Ich weigere mich, dafür zu bezahlen.«
Na, wunderbar! Ich drückte mich von dem Sarg ab. »Hören Sie, Mister. Sie wollten, dass ein Schatten beschworen wird. Ich habe einen Schatten beschworen. Wenn Ihr lieber alter Daddy nicht gesagt hat, was Sie hören wollten, ist das Ihr Problem, nicht meins. Wir haben eine gültige Vereinbarung, und falls …«
Er ließ die Faust sinken, seine Augen weiteten sich überrascht.
Das klappt ja besser, als ich dachte. Ich atmete tief aus, hielt die bösen Worte zurück, die mir schon auf der Zunge lagen, und setzte mein professionelles Lächeln auf. »Also, brauchen Sie nun eine Quittung oder nicht?«
Baker griff sich an die Brust und keuchte. Einmal. Zweimal. Dann, wie in Zeitlupe, wandte er den Kopf und warf einen Blick über die Schulter.
Der Tod wirkte jetzt nicht mehr amüsiert.
Mist, elender.
Todesengel, Seelensammler, Schnitter Tod – wie auch immer man ihn nennen mag, die meisten Leute sehen ihn nur ein Mal in ihrem Leben. Er trat vor, und Baker stolperte einen Schritt zurück.
Mist. Ich sprang vom Podest, auf dem der Sarg stand. »Nicht!«
Zu spät.
Der Tod griff in Bakers dicklichen Körper, und die Farbe wich aus dem Gesicht meines Kunden. Er schwankte. Der Tod trat zurück, und Baker blinzelte noch einmal, bevor er in sich zusammensank.
Ein Schrei gellte zu uns herüber, Stühle polterten. Der Bestattungsunternehmer rannte den Gang entlang, Bakers Frau und dessen Sohn, noch ein Teenager, folgten dichtauf, und die Assistentin griff zum Handy, das an ihrem Hosenbund befestigt war.
»Neun-eins-eins«, sagte sie, während Baker der Dritte – und Letzte – rhythmisch die Brust seines Vaters massierte. Armer Junge.
Ich schlich unauffällig davon, fort von dem Aufruhr. Die Familie ungestört zu lassen war alles, was ich noch tun konnte. Der Tod hatte die Seele bereits an sich genommen, es gab keine Möglichkeit mehr, Henry Baker ins Leben zurückzuholen. Aber ich würde garantiert nicht diejenige sein, die dies der Familie mitteilte.
Der Tod lehnte an der hinteren Wand, die muskulösen Arme vor der breiten Brust verschränkt. Er lächelte, ganz teuflische Unschuld, und sein dunkles Haar fiel ihm nach vorn bis zum Kinn.
Ich sah ihn böse an und hob meine Tasche vom Boden auf. Ich konnte ihm wegen Bakers Tod nicht wirklich einen Vorwurf machen, schließlich erledigte er nur seinen Job, aber …
»Du hättest wenigstens so lange warten können, bis er mir mein Geld gegeben hat.«
Er zuckte mit den Schultern. »Machte nicht den Eindruck, als hätte er das vorgehabt.«
Das stimmte. Vielleicht. Drüben gingen die fieberhaften Bemühungen um Baker weiter. Das dürfte verdammt schlecht fürs Geschäft sein.
Ich kramte in meiner Handtasche. Das Portemonnaie ignorierte ich, schließlich wusste ich ja, dass es leer war. Unter der Kreide, die ich brauche, um meinen Kreis zu ziehen, unter dem rituellen Keramikmesser, meinem Handy und meinem Führerschein fand ich drei einzelne Cent, ein Zehn-Cent-Stück, zerknülltes Silberpapier und eine Büroklammer.
Der Tod betrachtete die Schätze, die auf meiner Handfläche lagen. »Willst du ein Kaugummi kaufen?«
»Ich suche Busgeld. Um nach Hause zu kommen.«
Wir runzelten beide die Stirn. Dreizehn Cent reichten bei Weitem nicht, und die Tierarztrechnung hatte meine letzten Reserven aufgezehrt. Bis ich wieder Geld für einen Auftrag bekam, war ich pleite.
»Arbeitest du nicht für den Bezirksstaatsanwalt im Amanda-Holliday-Prozess?«, fragte der Tod.
Ich ließ die Münzen zurück in meine Tasche fallen. »Ich werde den Schatten erst morgen in den Zeugenstand rufen. Und dann muss ich warten, bis die Stadt oder wer auch immer den Scheck ausstellt.«
Ich sollte der Staatsanwaltschaft den besten Zeugen verschaffen, den es gab. Zum allerersten Mal würde das Opfer nicht durch den eigenen Tod davon abgehalten, seinen Mörder anzuklagen. Dennoch, die Schlagzeilen waren kontrovers: In manchen Zeitungsartikeln nannte man mich die »Stimme der Verstummten«, in anderen die »Fälscherin der Totenstimmen«. Lediglich eins war sicher: Es war eine aufregende Neuigkeit.
Mir aber war etwas ganz anderes wichtig: Falls mich die Verteidigung nicht in Stücke zerriss, hatte ich die Chance, auf der Gehaltsliste von Nekros City zu landen und dadurch zu einem festen Einkommen zu gelangen, statt nur gelegentlich als Beraterin der Polizei engagiert zu werden. Dann würde ich mich nicht länger mit solchen Geizkragen wie Henry Baker herumschlagen müssen.
»Bleibst du noch?« Der Tod deutete mit dem Kopf auf Bakers Leichnam.
Bakers Sohn versuchte immer noch, den Verstorbenen wiederzubeleben, mühte sich weiter darum, seinen Vater zurückzuholen. Doch die eben verwitwete Ehefrau hatte inzwischen alle Hoffnung aufgegeben. Sie klammerte sich an den Bestattungsunternehmer, der sie zu den Sitzen in der vordersten Reihe führte. Seine Assistentin konnte ich nirgends entdecken.
»Ja, ich bleibe. Ich habe keine Lust, mir vorwerfen zu lassen, ich hätte mich vom Tatort geschlichen.«
Der Tod hob die von schwarzem Stoff umspannten Schultern leicht an. Während er sie wieder sinken ließ, verschwand er. Ich hasse es, wenn er das macht. In der einen Sekunde ist er noch da, in der nächsten verschwunden. Doch er würde zurückkommen. Das tut er immer.
Ich zuckte zusammen, als Freddie Mercurys Stimme deutlich hörbar aus meiner Handtasche klang und »We will rock you« sang. Der Blick der Witwe schoss zu mir herüber, ihre Augen unter den mascaraschwarzen Wimpern hart wie Stein.
Vielleicht war dieser Klingelton doch nicht so angebracht in einer solchen Situation …
Ich wandte mich ab, holte mein Telefon heraus und schaute auf das Display. Die Nummer war mir unbekannt. Bitte, lass es einen Auftraggeber sein, niemanden, der Geld von mir will! Ich klappte das Handy auf. »Sie sind mit ›Eine Stimme für die Toten‹ verbunden. Alex Craft am Apparat.«
»Alexis?«
Ich nahm das Handy vom Ohr und blickte erneut auf das Display. Die Nummer war mir noch immer unbekannt.
»Alexis«, wiederholte die Frauenstimme, »bist du noch dran? Ich brauche deine Hilfe.«
»Casey?«
Als Bestätigung erklang ein erstickter Seufzer. Meine Schwester rief mich sonst nie an. Ich überlegte, was ich erwidern sollte.
»Was für Hilfe?« Ich verzog das Gesicht. In meinem Kopf hatte sich das viel sensibler angehört.
»Hast du die Zeitung gelesen?«
»Heute noch nicht.«
Casey versagte die Stimme. Sie brauchte zwei Anläufe, bis sie den Satz herausbrachte: »Sie haben Teddy gefunden.«
Teddy?
Das ärgerliche Klicken hoher Absätze klang durch den Raum, näherte sich mir. Oje. Ich deckte das Handy mit einer Hand ab, während ich mich umdrehte. Die frisch gebackene Witwe war einen Kopf kleiner als ich, aber doppelt so breit. Und in ebendiesem Moment schien es mir, als bedeutete jedes Extragramm nichts als reinen, boshaften Ärger für mich.
»Sie haben das getan!« Ihr Finger bohrte sich in meinen Arm.
Na, prima. Endlich hatte sie jemanden gefunden, dem sie die Schuld zuschieben konnte. Mir.
Ich zog den Kopf ein, räusperte mich und sagte: »Ihr Verlust tut mir sehr leid.«
Sie sprach weiter, als hätte sie mich gar nicht gehört. »Ich habe ihm gleich gesagt, dass er keine Hexe engagieren soll. Ich hab’s ihm gesagt.« Ihre Stimme wurde schrill, und sie sank gegen die Wand. »Ich habe es ihm gesagt.«
Ich wich zurück, sodass der Bestattungsunternehmer Mrs. Baker zu einem Sitz geleiten konnte. In der Ferne war eine Sirene zu hören.
Aus dem Handy quäkte es: »Alexis, bist du noch da?«
»Ja, bin ich. Du hast einen gewissen Teddy erwähnt.«
Das Schweigen dehnte sich so lange, dass ich mich schon fragte, ob sie aufgelegt hatte, aber dann sagte sie: »Theodore Coleman. Du hast doch sicher schon von ihm gehört. Die Polizei hat letzte Nacht seinen Leichnam gefunden. Ich muss wissen, wer ihn erschossen hat und wo er während der letzten beiden Wochen war.«
Fast hätte ich das Handy fallen lassen. Sie machte Witze, oder? Theodore Coleman, unser so ambitionierter Gouverneur? Die Überwachungskamera eines Restaurants hatte aufgezeichnet, wie man Coleman erschossen hatte, doch seine Leiche war einfach verschwunden. Und jetzt hatte man seinen Leichnam gefunden? Das war auf jeden Fall eine ganz große Sache. Wenn man allerdings seine enge politische Verbindung zur Humans-First-Partei bedachte und deren ablehnende Haltung gegenüber Hexen, würde man meine Einmischung wohl kaum schätzen.
»Casey, ich glaube nicht …«
»Bitte.« Ihre Stimme brach erneut. »Die Polizei glaubt, dass Daddy was damit zu tun hat. Sie waren schon ein paar Mal bei uns im Haus.«
Ich verdrehte die Augen. Die Polizei konnte lange suchen, aber sie würde nichts finden. Nicht bei Vizegouverneur George Caine. Gouverneur George Caine, denn das war er jetzt wohl. Unser Vater hatte reich gefüllte Taschen und immensen Einfluss. Auf diese Weise hatte er es auch geschafft, meinen Namenswechsel von Caine zu Craft und die Tatsache, dass seine Tochter eine praktizierende Hexe war, so geschickt zu vertuschen, dass die Medien noch immer nicht darauf gekommen waren, sonst hätten sie es wohl während des Wahlkampfs aus dem Dreck gebuddelt. Außerdem hatte ich seit meinem achtzehnten Geburtstag kaum noch ein Wort mit meinem Vater gewechselt. Ich sah ihn häufiger in der Zeitung oder im Fernsehen, wenn er für die Humans-First-Partei warb, als leibhaftig in Person. Warum also sollte ich jetzt für ihn in die Bresche springen?
»Casey, das ist wirklich nicht …«
»Bitte. Das ist doch dein Job, oder? Du bist doch so was wie ein Magisches Auge.«
Ich biss die Zähne zusammen. »Magisches Auge« nennt man umgangssprachlich die Hexen, die eine Lizenz als Privatdetektivin haben, jedoch nur selten »richtig« ermitteln. Auch wenn ich keine finsteren Gestalten durch dunkle Straßen verfolge und meine Nachforschungen normalerweise darin bestehen, dass ich die Toten befrage, finde ich doch die Antworten für meine Klienten, die sie suchen.
Ich atmete tief durch und befahl ein Lächeln auf meine Lippen, damit es in meiner Stimme durchklingen konnte. »Tut mir leid. Ich kann dir nicht helfen.« Die Worte klangen klebrig süß, doch ich redete nicht oft genug mit meiner Schwester, als dass sie den falschen Ton erkannt hätte. »Ich kann mich nicht in eine laufende Ermittlung der Polizei einmischen.«
»Ich bezahle dich auch.«
Stirnrunzelnd betrachtete ich das Handy. Nach dem, was ich wusste, hatte Casey ohne jede Bedenken die Einstellung der Humans-First-Partei gegenüber Hexen übernommen. Wenn sie trotzdem bereit war, mich zu engagieren, musste sie wirklich besorgt sein.
»Bitte, Alexis. Bitte! Ich brauche deine Hilfe.«
»Okay.« Verdammt. Also würde ich nun für meine Schwester arbeiten. Mal in den Fall reinschnuppern. Sehen, was ich herausfinden konnte. Ich seufzte, ratterte dann das übliche rechtliche Blabla herunter, nannte ihr meine Honorarsätze und fügte hinzu, dass ich ihr noch an diesem Nachmittag per E-Mail eine Kopie des Vertrags zukommen lassen würde.
Während ich gesprochen hatte, war der Klang der Sirene näher gekommen. Ich hängte mir meine Tasche mit den dreizehn Cent, dem Kaugummipapier und der Büroklammer über die Schulter.
»Wann wirst du mit seinem Geist reden?«
Geist? Ich verkniff mir ein Aufstöhnen und verzichtete darauf, sie zu korrigieren. Wenn sie in all den Jahren nicht kapiert hatte, dass Geister wandelnde, mit Bewusstsein versehene Seelen waren, Schatten dagegen lediglich Erinnerungen, dann hatte sie mir niemals zugehört.
Stattdessen erwiderte ich: »Wenn du dabei sein willst, um Colemans Schatten Fragen zu stellen, müssen wir warten, bis die Polizei den Leichnam freigibt und er begraben ist. Wenn du deine Antworten schneller haben möchtest, könnte ich ihn im Leichenschauhaus befragen, aber dann darfst du nicht bei dem Ritual anwesend sein.«
Sie sagte nichts, ich hörte nur ihr heftiges Atmen und ließ ihr einen Moment, um nachzudenken.
Die Sirene klang nun ganz nah.
»Im Leichenschauhaus.« Caseys Tonfall veränderte sich. »Wann kriege ich deine Rückmeldung?«
Es war nicht einfach, in einer laufenden Ermittlung Zugang zu der Leiche eines so prominenten Opfers zu erhalten, doch ich hatte in den drei Jahren, seit ich »Eine Stimme für die Toten« betrieb, einige Verbindungen aufgebaut. »Ich habe einen Freund auf dem Revier. Ich werde ihn anrufen, aber ich kann dir nichts versprechen. Falls ich heute noch ins Leichenschauhaus komme, melde ich mich gegen Abend bei dir. Wenn nicht, gebe ich dir morgen Nachmittag Bescheid.«
Ich beendete das Gespräch und speicherte Caseys Nummer, dann ging ich zur Tür, um den Sanitätern zu öffnen. Der Krankenwagen hielt gerade an, direkt dahinter kam ein schwarz-weißer Streifenwagen zum Stehen. Gut, dann konnten mich die Cops vielleicht mitnehmen. Die Eiseskälte in Mrs. Bakers Blick kroch meine Schultern hoch. Hoffentlich würde ich vorn im Streifenwagen sitzen, nicht hinten, unter Arrest stehend.
Während die Sanitäter die Treppe heraufeilten, ging ich auf dem Handydisplay die Nummern meiner Kontaktpersonen durch, bis ich die eines gewissen mir gut bekannten Detectives im Morddezernat gefunden hatte. Nach dem dritten Klingeln meldete sich seine brummige Stimme.
»He, John«, sagte ich und trat beiseite, um den Jungs Platz zu machen. »Kannst du mir einen Gefallen tun?«
Die Türen der Zentralen Polizeibehörde von Nekros City glitten zur Seite, und kalte Luft schlug mir entgegen. Der Schweiß, der nach dem kurzen Fußweg an meinem ganzen Körper klebte, kühlte augenblicklich ab. Es war sechs Uhr am Nachmittag, und die Temperatur war immer noch nicht unter siebenunddreißig Grad gefallen. Man muss den Süden schon sehr lieben, um ihn im Sommer zu ertragen.
Ich strich eine blonde Strähne, die aus meinem Pferdeschwanz entwischt war, aus dem Gesicht und wandte mich noch einmal um, um den beiden Polizisten zuzuwinken, die mich mitgenommen hatten. Ich war wegen Bakers Tod nicht festgenommen worden, allerdings hatte es im Beerdigungsinstitut durchaus einige angespannte Momente gegeben.
Doch schließlich war Tamara, die Gerichtsmedizinerin, aufgetaucht und hatte nach einer ersten Untersuchung bestätigt, dass sich keine magische Beeinflussung an Baker feststellen ließ, und ich hatte endlich zum Leichenschauhaus aufbrechen können. Dort wollte ich mich mit John treffen. Mein Lieblings-Detective aus dem Morddezernat hatte zugestimmt, dass ich mir Colemans Leiche anschauen dürfe, doch nur, wenn ich ihm ebenfalls einen Gefallen tue. Was nichts anderes hieß, als dass ich einen weiteren Schatten beschwören sollte.
Die Cops fuhren vom Parkplatz. Ich hielt auf den Sicherheitsbereich zu und nahm meine Brieftasche und das rituelle Messer aus meiner Handtasche, bevor ich die Tasche aufs Band legte. Während sie durchleuchtet wurde, deponierte ich das Messer in dem Körbchen, das mir die Wache reichte. Ich gab dem Mann das Körbchen zurück und händigte ihm dann meine Brieftasche aus, die ich bereits aufgeschlagen hatte, damit er meine Detektiv-Lizenz sowie mein Magier-Zertifikat sehen konnte, ausgestellt von der OMBM, der Organisation für magisch begabte Menschen. Er überprüfte beides und konfiszierte das Messer, was ich auch nicht anders erwartet hatte. Schließlich passierte ich den Metalldetektor. Alles war okay, der Magiedetektor jedoch schlug an, als ich hindurchging.
Die Wache hielt mich an und griff nach einem Stab, mit dem sich Magie überprüfen ließ. »Hände hoch, Handflächen nach außen!«
Ich tat, was er verlangte, und verbarg meine Ungeduld, während er den Stab, der mit einem einfachen Identifizierungszauber belegt war, über meinen Körper führte. Die gläserne Kugel an der Spitze leuchtete grün, als sie über meine rechte Hand und den Obsidianring glitt, in dem ich meinen Magievorrat speicherte. Grün bedeutete ungebundene Magie, kein aktiver Zauber.
An meinem anderen Handgelenk verfärbte sich die Kugel gelb, als der Stab über mein Schutzarmband fuhr – aktive Magie, jedoch kein Zauber, der Böses bewirken konnte. Ein bösartiger Zauber, selbst wenn er inaktiv war, ließ die Kugel rot aufleuchten. Was sie in meinem Fall nicht tat.
Der Mann nickte mir zu und legte den Stab beiseite. Ich durfte die Hände runternehmen und griff nach meiner Handtasche, meiner Brieftasche und dem Schnipsel, den ich brauchte, um mein Messer zurückzubekommen, wenn ich das Gebäude wieder verließ. Dann ging ich zu den Aufzügen.
Das karge Gebäude, in dem mehrere Dienststellen untergebracht waren, befand sich mitten in der Innenstadt von Nekros City, im Justizviertel, wie die Leute es nannten, weil hier Gouverneurspalast, Oberster Gerichtshof und die Zentrale Polizeibehörde beieinanderlagen.
Im Erdgeschoss war das Polizeihauptquartier untergebracht, ebenso die Büros des Stellvertretenden Leiters der Polizeibehörde. Die oberen Stockwerke beherbergten das zentrale kriminaltechnische Labor und die Räume des Bezirksstaatsanwalts. Doch ich wollte nicht nach oben, sondern ins Untergeschoss. In den Bereich der Gerichtsmedizin, dorthin, wo sich das Herzstück von Tamaras Reich befand: das Leichenschauhaus.
John Matthews, der beste Detective, den man meiner Meinung nach in Nekros City finden konnte – nun ja, er war ein guter Freund von mir –, wartete vor dem Haupteingang zur Gerichtsmedizin auf mich. Ein Bär von einem Mann, der auf dem orangefarbenen Plastikstuhl sicherlich nicht sehr bequem saß. Doch sein Kinn lag auf der Brust, die Augen waren geschlossen. Also bequem genug für ein Nickerchen. Seine braune Jacke war völlig zerknittert. Anscheinend hatte er die Nacht durchgearbeitet, denn Maria hätte ihn so niemals aus dem Haus gelassen.
»Alles klar, John?«, fragte ich, während ich das Schildchen, das mich als Besucherin auswies, am Träger meines Tops befestigte. Ich schrie nicht, na ja, nicht wirklich, doch ich zuckte selbst zusammen, weil meine Stimme von den Wänden widerhallte.
Johns Kopf schoss hoch. Die Akte, die auf seinem Schoß gelegen hatte, fiel herunter, lose Seiten wirbelten über den Boden.
»Alex? Bitte, tu so was nie wieder!«
Okay, vielleicht hätte ich ihn doch etwas sanfter wecken sollen.
Ich kniete mich hin und sammelte die Papiere auf. Auch Fotos waren herausgefallen, und ich griff nach einem, das unter den Stuhl geflattert war. Die bleiche Schulter darauf stand in scharfem Kontrast zu den schwarzen Müllbeuteln, die das Bild beherrschten. Aus einem der dunklen Plastiksäcke ragte zudem eine kraftlose Hand, die schmale, zarte Hand einer Frau.
Ich reichte John Foto und Papiere. »Menschlicher Abfall?«
John nickte und rieb sich die müden Augen, unter denen dunkle Schatten lagen. »Schon das dritte Mädchen in diesem Monat. Und alle Morde nach dem gleichen Muster.«
Das dritte? Da mussten die Cops aber wirklich dichtgehalten haben, dass sich die Medien nicht auf gleich drei Mordfälle stürzten, die miteinander zu tun hatten. Ich hätte zu gern einen Blick in die Akte geworfen. Morbide Neugier ist nun mal eine Charakterschwäche von mir, aber ich verdiene meinen Lebensunterhalt ja auch damit, dass ich mit Toten spreche. Ich drängte John nicht, zumindest noch nicht. Er würde mir so viel erzählen, wie er für ratsam hielt.
Ich deutete mit dem Kopf auf den Bericht. »Ist sie diejenige, die ich für dich beschwören soll?«
Er nickte. »Ja. Meine Müllsack-Leiche.«
Unidentifiziert. Unbekannt. »Ich nehme an, bei den beiden Morden zuvor gab’s auch keinen Hinweis auf den Täter.«
»Wäre ja sonst nicht fair, dich um Hilfe zu bitten.« Er sagte dies leichthin, doch seine Schultern sackten nach unten. »Hast du einen Stift?«
Ich zog den Kugelschreiber hervor, den ich dem Mann stibitzt hatte, bei dem ich mich als Besucherin der Gerichtsmedizin hatte eintragen müssen. John blätterte die Seiten durch und zog einige heraus. Der übliche Papierkram, den ich abzeichnen musste, einschließlich der Erklärung, mit der ich mich verpflichtete, über alles zu schweigen. Mein Standardhonorar wurde durchgestrichen und mit einem roten Stift »pro bono« darübergeschrieben.
Ich biss mir auf die Lippen, als ich meine Unterschrift daruntersetzte. Umsonst zu arbeiten tat weh, aber John erwies mir einen Riesengefallen damit, dass er mich einen Blick auf Colemans Leiche werfen ließ. Und indem er mir ganz offiziell einen Fall zuwies, verschaffte er mir einen legitimen Grund, mich im Leichenschauhaus aufzuhalten. Was mich dennoch nicht über die »Große Null« hinwegtröstete.
Ich gab ihm die unterzeichneten Dokumente zurück, und John steckte sie sorgfältig weg, bevor er die Tür zum Leichenschauhaus aufstieß. Über unseren Köpfen summten die Neonlampen, das Summen vermischte sich mit dem Geräusch, das unsere Schuhe auf dem Linoleumboden verursachten. Tabletts mit sterilen Instrumenten waren an den beiden freien Obduktionstischen befestigt, die sich links und rechts im Raum befanden. Am hinteren Ende schloss sich der Kühlraum an, daneben lag das Büro des Gerichtsmediziners, durch dessen Fenster gelbes Licht drang.
Die Bürotür öffnete sich, und ein Assistenzarzt mit zottigem Haar erschien. »Detective Matthews? Miss Craft? Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« Sein Blick schweifte von John zu mir.
Miss Craft? Ich sah ihn stirnrunzelnd an. Tommy Stewart war seit einem Jahr Assistent in der Gerichtsmedizin, und schon seit seiner zweiten Woche redete er mich nicht mehr mit meinem Nachnamen an. Vor einem Monat waren wir mal auf ein paar Drinks miteinander ausgegangen, und … Na ja, eins hatte zum anderen geführt, doch es war nichts Ernstes gewesen. Jedenfalls nicht für mich.
»Tommy«, sagte John, »wie wär’s, wenn Sie mal ’ne Zigarettenpause machen?«
Es war keine Frage.
Tommy schob die Hände in die Taschen seines weißen Kittels und straffte die Schultern. »Brauchen Sie einen Leichnam?«
»Ich habe das Okay.« John wartete. »Also, wie ist das mit der Zigarettenpause?«
Tommy schüttelte den Kopf. »Detective Andrews sagte …«
John ließ ihn nicht ausreden. »Ich regle das schon mit Andrews.«
Tommy verzog den Mund, kniff die Augen zusammen, doch dann meinte er nur: »Also gut, Zigarettenpause.«
Er ging zum Ausgang, drehte sich an der Tür aber noch einmal um. Sein Blick traf mich, hart, bitter. O Mann, ich weiß echt, wie man eine Freundschaft zerstört! Ich seufzte, als sich die Tür hinter ihm schloss.
»Wer ist Detective Andrews?«, fragte ich John, der gerade im Kühlraum verschwand.
Er drehte sich nicht einmal um. »Mach dir seinetwegen keine Gedanken.«
Ich wippte auf den Fersen, während ich wartete, und konnte mehrere mit weißen Tüchern bedeckte Bahren sehen – war wohl eine arbeitsreiche Woche in der Gerichtsmedizin gewesen.
Eine durchscheinende Gestalt bewegte sich zwischen den Leichen umher und murmelte etwas vor sich hin. Seine ausgebeulten Jeans und das karierte Flanellhemd waren farblos und schimmerten bei jedem seiner Schritte. Hätte ich meinen mentalen Schild gesenkt, ich hätte die Farbe seines Haars erkennen und hören können, was er da brabbelte, doch so neugierig bin ich nun auch wieder nicht.
Geister, zumindest die echten umherwandernden Seelen, gibt es nur wenige, und sie sind eine ziemlich unerträgliche Bande. Schließlich muss man schon ganz schön stur sein, wenn man sich den Bemühungen des Todes widersetzt, einem die Seele wegzunehmen. Dummerweise waren die meisten Geister, denen ich begegnet bin, nicht sehr glücklich über ihren Erfolg, sondern einfach nur stinksauer, dass all ihr Widerstand ihnen nicht geholfen hat, am Leben zu bleiben.
Ich musste einen Laut von mir gegeben haben, denn der Geist blickte auf und sah, wie ich in seine Richtung schaute. Er schob eine schimmernde Brille seine Nase hoch, dann zeigte er mir den Stinkefinger. Idiot. Ich erwiderte die rüde Geste, und ihm fiel die Kinnlade nach unten. Ich vermag keine Lippen zu lesen, aber dass er fragte »Kannst du mich wirklich sehen?«, war so offensichtlich, dass ich nickte.
Nicht so einfach waren seine nächsten Worte zu erraten. Seine Lippen bewegten sich schnell, die Hände glitten durch die Luft, unterstrichen seine lautlose Rede mit übertriebenen Gesten. Na, großartig – ein reizbarer Geist. Wie lange mochte er schon tot sein? Die meisten Geister brauchen eine Weile, bis sie begreifen, dass niemand sie sehen kann. Na ja, niemand außer Schattenhexen, wie ich eine bin.
Vielleicht hätte ich meinen Schild doch ein klitzekleines bisschen geöffnet, gerade weit genug, um zu hören, was der Geist sagte. Doch in ebendiesem Moment tauchte John wieder auf. Das heißt, als Erstes sah ich die Bahre, die er schob und die die schimmernde Geisterform durchbrach. Der Geist kniff die Lippen zusammen, während er die Bahre betrachtete, die durch seine Hüften glitt.
Ich schaute schnell weg, um nicht zu sehen, wie auch noch John durch den Geist glitt. Es ist beunruhigend, solche Dinge zu beobachten.
»Welche Leiche ist das?«, wollte ich wissen und deutete mit dem Kopf auf die Gestalt, die sich unter dem Laken abzeichnete.
»Sag du’s mir.« John blieb in der Mitte des Raums stehen. Sein Schnauzbart zuckte, als er lächelte. »Und? Schaffst du es, heute Abend zum Essen zu kommen?«
Stimmt, heute ist ja Dienstag. Ich nickte. »Kannst du mich in deinem Wagen mitnehmen?«
»Klar.« Er schob eine zweite Bahre herein. Der Leichnam befand sich noch in einem schwarzen Leichensack. Der Geist war inzwischen verschwunden. John schob die Bahre neben die andere. »Maria macht Koteletts. Ein paar der Jungs vom Revier werden auch da sein.«
Mein Magen knurrte. Ich drückte mit den Armen dagegen, versuchte, ihn zum Schweigen zu bringen. Ganz toll, posaun doch gleich heraus, dass ich nicht nur das Frühstück, sondern auch das Mittagessen hab ausfallen lassen.
Ich stellte meine Tasche neben mir auf den Boden und zog die schwarze Lippenstifthülle heraus, in der ich meine Ölkreide aufbewahre. Dann bückte ich mich, drückte die Kreide gegen den Linoleumboden und begann, den Schutzkreis zu ziehen. Im Entengang bewegte ich mich um die beiden Bahren herum.
Inzwischen bereitete John alles für die Aufnahme vor. Eigentlich diente die Kamera dazu, die Autopsien aufzuzeichnen, doch John lieh sie sich jedes Mal aus, wenn ich einen Schatten beschwor.
»Hab gehört, dass du fast unter Mordverdacht geraten wärst.«
Mir fiel die Kreide aus der Hand. »Was? Nein, ich …« Die Kreide rollte Richtung Abfluss, und ich krabbelte hinterher. »Ich meine, die Witwe dachte, dass ich … Aber Tamara hat mich von jedem Verdacht reingewaschen.«
Johns Schnauzbart zitterte heftig bei dem Versuch, nicht zu lachen. Ich runzelte die Stirn, als das Lachen doch aus ihm herausbrach.
Es war nicht komisch.
Trotzdem wirkte sein Lachen ansteckend. Ich ertappte mich dabei, wie ich lächelte, während ich den Kreis schloss.
»Aber es hätte schon ernst werden können«, sagte ich und schob die Kreide zurück in die Hülle. »Wenn ein anderer Gerichtsmediziner gekommen wäre, säße ich jetzt vielleicht in einer Zelle und müsste das Ergebnis der Autopsie abwarten.« Dem Verdacht ausgesetzt zu sein, durch Magie getötet zu haben, ist etwas, was ich definitiv niemals erleben will. Magisch Unbegabten fällt es auch so schon schwer genug, den Unterschied zwischen Todesmagie und Schattenmagie zu begreifen – wobei unglücklicherweise Letzteres mein Spezialgebiet ist.
Gott sei Dank war Tamara nicht nur die Chef-Gerichtsmedizinerin, sondern auch eine zertifizierte sensitiv Begabte. Schneller und genauer als jeder Identifizierungszauber konnte sie Magie entdecken, und außerdem vermochte sie deren gewünschten Zweck zu erkennen – wozu ein Identifizierungszauber nicht in der Lage ist. Außer dem Ritual, mit dem ich den Schatten heraufbeschworen hatte, und einem Zauberspruch, der die Blumen frisch halten sollte, hatte sie keine Magie am »Tatort« aufspüren können. Bakers Ableben war also nicht durch einen Zauber bewirkt worden.
Nun, da der Kreis geschlossen war, richtete ich mich wieder auf und steckte die Kreide weg.
John drückte auf einen Knopf, und die Kamera lief. »Fertig?«
Ich nickte, schloss die Augen und machte meinen Kopf von allem Überflüssigen frei. In dem Obsidianring an meiner rechten Hand pulsierte die Energie, die ich gespeichert hatte. Mit meinem Geist zapfte ich sie an, zog einen hauchdünnen Faden Magie heraus. Viel war nicht mehr vorhanden, ich hatte keine Gelegenheit gehabt, den Ring nach dem Ritual für Henry Baker wieder aufzuladen, doch es würde reichen. Ich leitete die Energie in den Kreis, wo sie lebendig wurde. Mit hellblauer Kraft summte sie hinter meinen Lidern.
Nun kam der »vergnügliche« Teil.
Ich unterbrach die Verbindung zu der in meinem Ring gespeicherten Magie und öffnete den Verschluss meines schmalen Silberarmbands mit all den vielen Anhängern, um es in meine Hosentasche zu stecken. Der zusätzliche Schutz, den es mir verschafft hatte, verblasste. Grabeskälte drückte gegen meinen mentalen Schild, schlug wie eisiges Wasser gegen den Rand meines Bewusstseins. Ich atmete tief ein, versank tiefer in meine Trance und spürte die Kraft der Schatten. Beharrlich drängte sie gegen meinen Verstand. Bittend. Verlockend. Fordernd.
Ich ließ meinen Schild fallen.
Ein heftiger Windstoß durchfuhr mich. Die klamme Berührung des Todes streifte meine Haut, drang in mein Fleisch.
Ich öffnete die Augen.
Meine Sicht hatte sich verändert, die Welt war auf einmal von einer grauen Patina überzogen. Rostflecken hatten sich in den glänzenden Stahl der Bahren rechts und links von mir gefressen. Der Wind, der durch mich brauste, kräuselte das fadenscheinige zerlumpte Laken, das den Leichnam zu meiner Linken bedeckte. Das Linoleum unter meinen Füßen hatte sich aufgelöst, der Zementboden begann zu bröckeln. Johns zerknitterte Jacke war voller Löcher, doch er selbst war von Licht erfüllt, denn seine Seele strahlte in blendend gelbem Glanz.
Ich schaute weg.
Der Wind gewann an Stärke, brüllte in meinen Ohren und löschte jeden anderen Klang aus. Die Kälte griff nach mir, nagte an meiner Haut, biss in mein Blut.
Es tat weh.
Ich war lebendig. Ein Wesen, warm und atmend, nicht kalt und still. Nicht dem Tod gehörend. Meine Lebenskraft brannte gegen die Kälte an, kämpfte gegen die Kraft der Schatten, die sich in meine Seele wand. Schweiß bedeckte meine Haut, obwohl ich zitterte.
Eine Atempause wäre nicht schlecht.
Die seelenlose Gestalt in der schwarzen Hülle rief mich zu sich. Ich brauchte die Macht nicht zu leiten. Ich hörte auf, gegen sie anzukämpfen, und meine lebendige Wärme floss in den wartenden Leichnam. Während die Wärme mich verließ, füllte Grabeskälte angenehm meine Glieder. Das Brausen des Windes verstummte. Ich blinzelte. Ich konnte nur einen Leichnam innerhalb des Kreises spüren – die Frau in dem schwarzen Leichensack.
Seltsam.
Mein Geist griff nach ihr, die mir angeborene Gabe folgte dem Pfad, den die Wärme geschlagen hatte. Doch obwohl meine Lebenskraft ihn erfüllte, war der Schatten, den ich berührte, schwach und zerrissen. Wie kann ein Schatten, der nie beschworen worden ist, so schnell verblassen?
Meine Magie floss die klaffenden Schnitte entlang, die den Schatten schwächten. Die tiefen Verletzungen hatten ihn fast zerfetzt. Noch nie war mir etwas Ähnliches begegnet.
Ich ließ mehr Magie in den Leichnam strömen, ließ meine Kraft die Wunden füllen. Der Schatten fühlte sich immer noch zerbrechlich an, vermochte sich kaum zu erinnern. Doch meine Wärme und meine Kraft stützten ihn, verliehen ihm genug Substanz, sich zu erheben.
Ich atmete noch einmal tief durch, dann stieß ich den Schatten der toten Frau sanft an. Meine Kraft lockte sie aus ihrem Körper, geleitete sie über den Abgrund, der die Lebenden von den Toten trennte.
Schreiend erhob sie sich vor mir.