Und dennoch – was geschah weiter in Moskau, nachdem am Samstag abend bei Sonnenuntergang Voland die Hauptstadt verlassen hatte und samt seinem Gefolge von den Sperlingsbergen verschwunden war?
Daß noch lange Zeit die unwahrscheinlichsten Gerüchte fieberhaft durch die Hauptstadt schwirrten und sich sehr schnell bis in die fernsten und ödesten Provinzen ausbreiteten, bedarf keiner Erwähnung. Es ekelt einen an, die Gerüchte wiederzugeben.
Als der Autor dieser wahren Zeilen nach Feodossija fuhr, hörte er selber im Zug jemanden erzählen, in Moskau seien zweitausend Menschen im wahrsten Sinne des Wortes splitternackt aus dem Theater gekommen und in dieser Verfassung mit Taxis nach Hause gefahren.
Vom »Bösen« flüsterte es in den Schlangen vor den Milchläden, in Straßenbahnen, Kaufläden, Wohnungen, Gemeinschaftsküchen, in Vorort- und Fernzügen, auf Bahnhöfen und Zwischenstationen, in Datschen und Strandbädern.
Die Gebildeten und Kultivierten beteiligten sich selbstverständlich nicht an dem Gerede über den Bösen, der die Hauptstadt besucht hätte, sie lachten darüber und suchten die Schwätzer zur Vernunft zu bringen. Aber Tatsache, wie es heißt, bleibt Tatsache, und die kann man nicht einfach wegwischen, denn irgendwer hatte die Hauptstadt heimgesucht, und die verkohlten Reste des Gribojedow wie auch viele andere Dinge bestätigten das gar zu beweiskräftig.
Die kultivierten Leute stellten sich auf den Standpunkt der Untersuchungsbehörde: Hier war eine Bande von Hypnotiseuren und Bauchrednern am Werk gewesen, die ihre Kunst meisterhaft beherrschten.
Um ihrer habhaft zu werden, wurden sowohl in Moskau als auch außerhalb energische Maßnahmen ergriffen, die jedoch bedauerlicherweise keinerlei Resultate zeitigten. Der sich Voland genannt hatte, war mit seinen Spießgesellen verschwunden und tauchte weder in Moskau noch sonstwo wieder auf. Natürlich wurde gemutmaßt, er sei ins Ausland entwichen, aber auch dort trat er nicht mehr in Erscheinung.
Die Untersuchung seines Falles dauerte noch geraume Zeit. Es war schließlich ein ungeheuerlicher Fall! Ganz zu schweigen von den vier verbrannten Häusern und den Hunderten um den Verstand gebrachten Menschen, aber es gab auch Tote. Bei zweien ist das ganz sicher: bei Berlioz und bei dem unglückseligen Angestellten des Büros, das Ausländer mit den Sehenswürdigkeiten von Moskau vertraut machte, dem ehemaligen Baron Maigel. Sie waren getötet worden. Die verkohlten Gebeine des letzteren wurden in der Wohnung Nr. 50 in der Sadowaja gefunden, nachdem der Brand gelöscht war. Ja, es gab Opfer, und diese Opfer machten eine Untersuchung notwendig.
Es gab aber auch noch Opfer, nachdem Voland die Hauptstadt verlassen hatte, und diese Opfer waren, so traurig es ist, schwarze Kater.
An die hundert dieser friedfertigen, nützlichen und dem Menschen treu ergebenen Tiere wurden vielerorts im Lande erschossen oder mit anderen Methoden zu Tode gebracht. Anderthalb Dutzend Kater wurden, manchmal verstümmelt, in verschiedenen Städten bei der Miliz abgeliefert. So wurde in Armawir eines der gänzlich unschuldigen Tiere mit gebundenen Vorderpfoten von einem Bürger zur Miliz gebracht.
Der Mann hatte den Kater erwischt, als dieser wie ein Dieb (Was kann man dagegen tun, daß Kater so wirken? Es liegt nicht daran, daß sie lasterhaft sind, nein, sie fürchten, ein stärkeres Wesen – Hund oder Mensch – könnte ihnen einen Schaden oder eine Beleidigung antun. Beides ist nicht sehr schwierig, aber Ehre bringt es keine ein, ich versichere es, wirklich nicht!), ja, als er also wie ein Dieb in die Kletten schlüpfen wollte.
Der Mann stürzte sich auf den Kater, riß sich den Schlips ab, um ihn zu fesseln, und murmelte giftig und drohend:
»Aha, also zu uns nach Armawir sind Sie jetzt gekommen, Herr Hypnotiseur? Na, hier haben wir keine Angst vor Ihnen. Tun Sie nicht, als ob Sie stumm wären. Wir wissen schon, was Sie für ein Vogel sind!«
Der Bürger führte den Kater zur Miliz. An den Vorderpfoten, die mit seinem grünen Schlips gefesselt waren, zerrte er das arme Tier hinter sich her und erzwang mit leichten Fußtritten, daß es aufrecht auf den Hinterpfoten ging.
»Sie«, schrie der Bürger, dem eine Horde johlender Bengels folgte, »spielen Sie hier nicht den Dummkopf! Daraus wird nichts! Gehen Sie gefälligst so wie alle!«
Der schwarze Kater hatte Märtyreraugen. Von Natur aus der Gabe des Wortes ermangelnd, war er außerstande, sich zu verteidigen. Seine Rettung verdankte das arme Tier vor allem der Miliz, aber auch seiner Herrin, einem ehrwürdigen verwitweten Mütterchen. Kaum hatte der Bürger den Kater ins Revier geschafft, da roch man seine gewaltige Fahne und zog seine Aussagen alsbald in Zweifel. Unterdes hatte die alte Frau von Nachbarn erfahren, daß ihr Kater geschnappt worden war, rannte spornstreichs zum Revier und traf rechtzeitig ein. Hier stellte sie dem Kater das allerbeste Zeugnis aus, versicherte, sie kenne ihn schon fünf Jahre, das heißt seit seiner Geburt, und bürge für ihn wie für sich selbst, und sie führte den Beweis, daß man ihm nichts Übles nachsagen könne und er niemals nach Moskau gereist sei. In Armawir geboren und aufgewachsen, habe er auch hier gelernt, Mäuse zu fangen.
Der Kater wurde losgebunden und seiner Besitzerin zurückerstattet, nachdem ihm freilich Leids geschehen war und er am eigenen Leib erfahren hatte, was Irrtum und Verleumdung ist.
Außer den Katern hatten auch einige Menschen gewisse Unannehmlichkeiten. Vorübergehend festgenommen wurden: in Leningrad die Bürger Volman und Volper, ferner in Saratow, Kiew und Charkow je ein Wolodin, in Kasan ein Voloch und schließlich in Pensa aus unerfindlichen Gründen der Kandidat der chemischen Wissenschaften Wetschinkewitsch. Freilich war dieser von mächtigem Wuchs und von sehr dunkler Gesichtsfarbe.
Außerdem wurden an verschiedenen Plätzen neun Korowins, vier Korowkins und zwei Karawajews festgenommen.
Auf der Station Belgorod wurde ein Bürger gefesselt aus dem Sewastopoler Zug geholt. Er hatte sich einfallen lassen, die Mitreisenden durch Kartenkunststücke zu erheitern.
In Jaroslawl erschien um die Mittagsstunde in einem Restaurant ein Bürger mit einem Primuskocher in der Hand, den er soeben von der Reparatur geholt hatte. Kaum wurden die beiden Portiers seiner ansichtig, da verließen sie ihre Posten in der Garderobe und ergriffen die Flucht, und ihnen nach flohen sämtliche Gäste und Angestellten aus dem Restaurant. Dabei kam der Kassiererin auf unerklärliche Weise die Tageskasse abhanden.
Es gab noch vieles andere, doch an alles kann man sich nicht erinnern. Es gab eine große Wallung der Gemüter.
Immer wieder muß man der Untersuchungsbehörde Gerechtigkeit widerfahren lassen. Es wurde alles getan, nicht nur, um die Verbrecher zu fangen, sondern auch, um zu erklären, was sie angerichtet hatten. Und es wurde alles erklärt, und man muß sagen, die Erklärungen waren vernünftig und unwiderlegbar.
Die Vertreter der Untersuchung und erfahrene Psychiater stellten fest, daß die Mitglieder der Verbrecherbande oder vielleicht nur eines von ihnen (der Hauptverdacht fiel auf Korowjew) über einmalige hypnotische Kräfte verfügten und imstande waren, sich an Orten zu zeigen, wo sie gar nicht waren, in vorgetäuschten, verschobenen Positionen. Überdies suggerierten sie anderen mühelos, daß bestimmte Dinge oder Menschen sich an Orten befänden, wo sie in Wirklichkeit gar nicht waren, und entfernten umgekehrt Dinge oder Menschen, die in Wirklichkeit zugegen waren, aus dem Gesichtsfeld der Leute.
Im Licht solcher Erklärungen wird natürlich alles durchschaubar, selbst die die Bürger am meisten erregende, scheinbar unerklärliche Kugelfestigkeit des Katers, den man in der Wohnung Nr. 50 beim Versuch, seiner habhaft zu werden, unter Feuer genommen hatte.
Selbstverständlich war gar kein Kater auf dem Kronleuchter gewesen, niemand hatte daran gedacht, zurückzuschießen, und die Kriminalisten hatten auf eine leere Stelle gefeuert, während vielleicht Korowjew, der ihnen suggeriert hatte, auf dem Kronleuchter treibe ein Kater seinen Unfug, hinter den Schützen stand und sich grinsend seiner gewaltigen, aber verbrecherisch mißbrauchten hypnotischen Kraft erfreute. Natürlich war er es auch, der das Benzin vergossen und die Wohnung in Brand gesetzt hatte.
Stjopa Lichodejew war natürlich nicht nach Jalta geflogen (das hätte selbst Korowjews Kräfte überstiegen) und hatte auch keine Telegramme von dort geschickt. Er war in der Juwelierswitwenwohnung vor Schreck über Korowjews Trick, der ihm einen Kater mit einem aufgespießten marinierten Pilz vorgaukelte, in Ohnmacht gefallen, und Korowjew hatte ihm, um sich über ihn lustig zu machen, eine Papacha auf den Kopf gestülpt, ihn zum Moskauer Flugplatz geschickt und den wartenden Kriminalisten suggeriert, daß Stjopa dem Flugzeug aus Sewastopol entstiege.
Die Kriminalmiliz von Jalta behauptete allerdings, Stjopa barfuß bei sich aufgenommen und seinetwegen Telegramme nach Moskau geschickt zu haben, aber in den Akten wurde keine Kopie der Telegramme gefunden, woraus der zwar traurige, aber zwingende Schluß gezogen wurde, daß die Hypnotiseurbande die Kraft besaß, sogar auf gewaltige Entfernungen zu hypnotisieren, und nicht nur einzelne Personen, sondern ganze Gruppen. Unter diesen Umständen konnten die Verbrecher selbst Menschen von sehr kräftiger psychischer Struktur um den Verstand bringen.
Was sollte man da noch von solchen Kleinigkeiten reden wie dem Kartenspiel in einer fremden Tasche, dem Verschwinden von Damenkleidern, dem miauenden Barett und ähnlichen Scherzen! Solche Tricks kann jeder berufsmäßige Hypnotiseur mittlerer Begabung auf jeder Bühne vorführen, ebenso den läppischen Trick mit dem abgerissenen Kopf des Conférenciers. Der sprechende Kater war ebenfalls blühender Unsinn. Um den Leuten einen solchen Kater zu präsentieren, genügt es, die Anfangsgründe des Bauchredens zu beherrschen, und es wird ja kaum einer bezweifeln, daß Korowjews Kunst diese Anfangsgründe bedeutend überstieg.
Nein, es ging wirklich nicht um die Kartenspiele und die falschen Briefe in Nikanor Iwanowitschs Aktentasche. Das waren kleine Fische! Aber Korowjew hatte Berlioz unter die Straßenbahn gejagt und dem sicheren Tod preisgegeben. Er hatte den armen Poeten Iwan Besdomny um den Verstand gebracht, hatte ihm in qualvollen Alpträumen das alte Jerschalaim und den von der Sonne verbrannten wasserlosen Schädelberg mit den drei Gerichteten am Pfahl vorgegaukelt. Er und seine Bande hatten Margarita Nikolajewna und ihr Hausmädchen, die schöne Natascha, aus Moskau verschwinden lassen. Diesem Fall übrigens ging die Untersuchungsbehörde besonders sorgfältig nach. Sie mußte ja feststellen, ob die beiden Frauen von der Mörder- und Brandstifterbande geraubt worden oder ob sie freiwillig mit der verbrecherischen Gesellschaft davongelaufen waren. Aus den wirren und grotesken Aussagen Nikolai Iwanowitschs und dem verrückten Zettel, den Margarita Nikolajewna ihrem Mann zurückgelassen hatte und in dem sie schrieb, sie gehe davon, um Hexe zu werden, und schließlich aus dem Verschwinden von Natascha, die all ihre Kleidungsstücke zurückgelassen hatte, folgerte die Untersuchungsbehörde, sowohl die Frau als auch das Hausmädchen seien wie so viele andere hypnotisiert und in diesem Zustand von der Bande entführt worden. Dabei spielte auch der wahrscheinlich ganz richtige Gedanke mit, die Verbrecher könnten von der Schönheit der beiden Frauen verlockt worden sein.
Eines aber blieb der Untersuchungsbehörde völlig unklar, nämlich warum die Bande aus der psychiatrischen Klinik den Geisteskranken geraubt hatte, der sich Meister nannte. Das Motiv blieb unergründlich, wie es auch nicht gelang, den Namen des entführten Patienten zu ermitteln. Er war für immer verschwunden, und zurück blieb nur die tote Signatur – Nummer hundertachtzehn aus Block eins.
Es war also fast alles geklärt, und die Untersuchung ging zu Ende, wie überhaupt alles zu Ende geht.
Ein paar Jahre verstrichen, und die Bürger vergaßen allmählich Voland, Korowjew und die anderen. Viele Veränderungen vollzogen sich im Leben derer, die unter Voland und seinen Spießgesellen zu leiden gehabt hatten, und so klein und unbedeutend diese Veränderungen auch waren, sie seien doch erwähnt.
George Bengalski zum Beispiel verbrachte drei Monate in der Klinik, dann wurde er als geheilt entlassen, aber die Arbeit im Varieté mußte er aufgeben, und das in der heißesten Zeit, als das Publikum nur so herbeiströmte, um Karten zu bekommen: Die Erinnerung an die Schwarze Magie und ihre Entlarvung war doch noch sehr lebendig. Bengalski gab das Varieté auf, denn er sah ein, daß es zu qualvoll war, allabendlich vor zweitausend Menschen hinzutreten, unvermeidlich erkannt zu werden und immer wieder die hämische Frage zu hören, wie es denn nun besser sei, mit oder ohne Kopf.
Ja, und außerdem hatte der Conférencier einen bedeutenden Teil seines Frohsinns eingebüßt, der bei seinem Beruf unerläßlich ist. Geblieben war die fatale, lästige Gewohnheit, in jedem Frühjahr bei Vollmond in Unruhe zu verfallen, sich plötzlich an den Hals zu greifen, sich ängstlich umzusehen und zu weinen. Diese Anfälle gingen vorüber, aber er konnte doch seinen früheren Beruf nicht mehr ausüben. So setzte er sich zur Ruhe und lebte von seinen Ersparnissen, die nach seiner vorsichtigen Schätzung fünfzehn Jahre reichen mußten.
Er zog sich zurück und traf nie wieder mit Warenucha zusammen, der sich allgemeine Popularität und Zuneigung erworben hatte mit seiner selbst bei Theateradministratoren unwahrscheinlichen Höflichkeit und Verbindlichkeit. Die Freikartenjäger zum Beispiel nannten ihn ihren Vater und Wohltäter. Wer auch immer im Varieté anrief und gleichgültig zu welcher Zeit, stets ertönte im Hörer die weiche, aber traurige Stimme: »Ich höre.« Auf die Bitte, Warenucha ans Telefon zu rufen, antwortete dieselbe Stimme eilig: »Am Apparat.« Aber Warenucha hatte zu leiden ob seiner Höflichkeit!
Stjopa Lichodejew braucht nicht mehr im Varieté anzurufen. Gleich nach seiner Entlassung aus der Klinik, in der er acht Tage verbracht hatte, wurde er nach Rostow versetzt, wo man ihn mit der Leitung eines großen Feinkostladens betraute. Die Fama will wissen, daß er keinen Portwein mehr trinkt, sondern nur noch Johannisbeerknospenschnaps, was ihn sehr kräftigen soll. Es heißt, er sei schweigsam geworden und meide die Frauen.
Seine Entfernung aus dem Varieté bereitete Rimski nicht die Freude, von der er jahrelang so sehnsüchtig geträumt hatte. Nach dem Aufenthalt in der Klinik und einer Kur in Kislowodsk bat der steinalt gewordene Finanzdirektor mit wackelndem Kopf um seine Entlassung aus dem Varieté. Interessant ist, daß das Entlassungsgesuch von seiner Ehefrau im Varieté abgegeben wurde. Er selber fand nicht mal am Tag die Kraft, das Haus aufzusuchen, in dem er das mondlichtübergossene gesprungene Fenster und den langen Arm gesehen hatte, der nach dem unteren Riegel grapschte.
Nach seiner Entlassung ging der Finanzdirektor zum Puppentheater im Stadtteil Samoskworetschje. In diesem Theater hatte er in Sachen Akustik nichts mehr mit dem ehrenwerten Arkadi Apollonowitsch Semplejarow zu tun. Dieser war kurzerhand nach Brjansk versetzt und zum Leiter einer Pilzaufkaufstelle ernannt worden. Jetzt essen die Moskauer gesalzene Reizker und marinierte Steinpilze und sind des Lobes voll und freuen sich dieser Versetzung über alle Maßen. Es ist ja nun vorbei, und darum kann man sagen, die Akustik war bei Semplejarow nicht so recht in Fluß gekommen, und sosehr er sich bemüht hatte, sie zu verbessern, sie war geblieben, wie sie gewesen war.
Zu den Personen, die mit dem Theater brachen, ist neben Semplejarow auch Nikanor Iwanowitsch Bossoi zu nennen, obwohl dieser außer seiner Vorliebe für Freikarten nichts mit dem Theater zu tun hatte. Ins Theater geht Nikanor Iwanowitsch weder für Geld noch umsonst, mehr noch, sein Gesicht verzerrt sich bei jeder Erwähnung des Theaters. Nicht in geringerem, eher in noch stärkerem Maße als das Theater haßt er den Dichter Puschkin und den talentierten Schauspieler Sawwa Potapowitsch Kurolessow. Diesen haßt er in solchem Maße, daß er im vergangenen Jahr, als er in der Zeitung die schwarzumrandete Mitteilung las, Kurolessow sei in der Blüte seiner Laufbahn vom Schlag getroffen worden, so dunkelrot anlief, daß er beinahe dem Schauspieler gefolgt wäre, und brüllte: »Geschieht ihm recht!« Mehr noch, Nikanor Iwanowitsch, dem der Tod des beliebten Schauspielers eine Masse drückender Erinnerungen brachte, betrank sich am selben Abend ganz fürchterlich nur in Gesellschaft des Vollmondes, der die Sadowaja beschien. Mit jedem Glas verlängerte sich vor ihm die verfluchte Kette verhaßter Gestalten, und in dieser Kette waren Sergej Gerardowitsch Duntschil und die schöne Ida Herkulanowna und der rothaarige Besitzer der Kampfgänse und der ehrliche Nikolai Kanawkin.
Nun, was war mit ihnen allen geschehen? Ich bitte Sie! Nichts geschah mit ihnen, konnte auch gar nicht, denn sie hatten nie existiert, ebensowenig wie der sympathische Schauspieler-Conférencier und das Theater und die alte Geizschnepfe Tante Porochownikowa, die im Keller Devisen vermodern ließ, und natürlich hatten auch die goldenen Trompeten und die frechen Köche nicht existiert. All das hatte Nikanor Iwanowitsch unter dem Einfluß des Schurken Korowjew nur geträumt. Der einzige aus seinem Traum, der wirklich existierte, war Kurolessow, der Schauspieler, und der hatte sich nur deshalb in den Traum gedrängt, weil Nikanor Iwanowitsch ihn von seinen zahlreichen Vorträgen im Radio her kannte. Er existierte, die anderen nicht.
Also hatte vielleicht auch Aloisi Mogarytsch nicht existiert? O doch! Er hatte nicht nur existiert, er existiert noch, und er bekleidet den Posten, auf den Rimski verzichtet hatte, das heißt den Posten des Varietéfinanzdirektors.
Er war etwa vierundzwanzig Stunden nach seinem Besuch bei Voland irgendwo in der Nähe von Wjatka im Zug wieder zu sich gekommen und hatte festgestellt, daß er in seiner Bewußtseinstrübung von Moskau weggefahren war; er hatte vergessen, die Hosen anzuziehen, aber dafür unbegreiflicherweise das völlig nutzlose Hausbuch seines Vermieters gestohlen. Für eine enorme Summe erwarb Aloisi beim Schaffner eine speckige alte Hose und fuhr von Wjatka wieder zurück. Das Häuschen seines Vermieters fand er leider nicht mehr vor. Die alte Bude war von einem Feuer weggeleckt worden. Aber Aloisi war ein Mensch mit ungewöhnlichem Unternehmungsgeist. Zwei Wochen später bewohnte er bereits ein schönes Zimmer in der Brjussowski-Gasse, und nach wenigen Monaten saß er auf Rimskis Stuhl. Hatte früher Rimski unter Stjopa zu leiden, so bereitete jetzt Aloisi dem Warenucha Qualen. Dieser träumt nur davon, daß man Aloisi aus seinen Augen entferne, denn, wie Warenucha gelegentlich in intimer Gesellschaft flüstert, ein solches Aas wie diesen Aloisi habe er noch nie erlebt, und es gebe nichts, worauf man bei diesem Aloisi nicht gefaßt sein müsse.
Übrigens ist der Administrator möglicherweise voreingenommen. Man kann Aloisi keine dunklen Taten nachsagen, eigentlich überhaupt keine Taten, wenn man nicht rechnet, daß er an Stelle von Andrej Fokitsch Sokow einen andern zum Kantinenwirt ernannte. Andrej Fokitsch war neun Monate nach Volands Besuch in Moskau in der Universitätsklinik an Leberkrebs verstorben.
Ja, ein paar Jahre verstrichen, und die in diesem Buch wahrheitsgemäß geschilderten Ereignisse lagen lange zurück und waren aus der Erinnerung getilgt. Aber nicht bei allen, nicht bei allen.
Jedes Jahr, wenn der festliche Frühlingsvollmond anbricht, erscheint am Abend unter den Linden des Patriarchenteichboulevards ein Mann von etwas über dreißig Jahren. Er hat rotes Haar, grüne Augen und trägt bescheidene Kleidung. Es ist der Mitarbeiter des Instituts für Geschichte und Philosophie Professor Iwan Nikolajewitsch Ponyrew.
Unter den Linden setzt er sich stets auf dieselbe Bank, auf der er an jenem Abend gesessen hatte, an dem der von allen längst vergessene Berlioz zum letztenmal in seinem Leben den in Scherben zerfallenden Mond sah.
Jetzt ist der Mond unversehrt, zu Beginn des Abends weiß, später golden mit einem dunklen Drachenpferdchen, und gleitet über den ehemaligen Lyriker hinweg, während er doch hoch droben stillsteht.
Iwan Nikolajewitsch weiß und begreift alles. Er weiß, daß er in seiner Jugend das Opfer verbrecherischer Hypnotiseure wurde, danach in Behandlung war und auskuriert wurde. Er weiß aber auch, daß es etwas gibt, womit er nicht fertig wird. Das ist der Frühlingsvollmond. Kaum rückt er näher, kaum wächst sie und füllt sich mit Gold, die Leuchte, die damals hoch über den beiden Fünflichtern hing, da wird Iwan Nikolajewitsch unruhig und nervös, verliert den Appetit, kann nicht mehr schlafen und erwartet des Mondes Reife. Und wenn der Vollmond anbricht, kann nichts ihn zu Hause halten. Gegen Abend verläßt er das Haus und geht zu den Patriarchenteichen.
Auf der Bank führt Iwan Nikolajewitsch laute Selbstgespräche, raucht, blickt mit verkniffenen Augen bald auf den Mond, bald auf das denkwürdige Drehkreuz.
So verbringt Iwan Nikolajewitsch eine Stunde oder zwei. Dann erhebt er sich und geht mit blicklosen Augen immer dieselbe Strecke: durch die Spiridonowka in die Seitengäßchen des Arbat.
Er kommt am Ölladen vorbei, biegt bei der alten, schiefen Gaslaterne um die Ecke und schleicht zum Gitter, hinter dem ein üppiger, noch nicht belaubter Garten zu sehen ist; darin steht eine gotische Villa, deren eine Seite mit dem dreigeteilten Erkerfenster der Mond bescheint, die andere Seite ist dunkel.
Der Professor weiß nicht, was ihn zu dem Gitter zieht und wer in der Villa wohnt, aber er weiß, daß es keinen Zweck hat, bei Vollmond gegen sich selbst anzukämpfen. Überdies weiß er, daß er im Garten hinterm Gitter jedesmal unweigerlich dasselbe Bild sehen wird.
Er sieht einen betagten gutgekleideten Mann mit Bärtchen, Kneifer und etwas ferkelartigen Gesichtszügen auf einer Bank sitzen. Dieser Bewohner der Villa sitzt jedesmal in derselben verträumten Haltung da und blickt zum Mond. Iwan Nikolajewitsch weiß, der Mann wird, nachdem er den Anblick des Mondes genossen hat, den Blick zum Erkerfenster richten und dort hinstarren, als erwarte er, daß es sich öffne und etwas Ungewöhnliches auf dem Fensterbrett erscheine.
Auch alles Weitere weiß Iwan Nikolajewitsch auswendig. Er muß sich jetzt hinterm Gitter verstecken, denn gleich wird der Mann dort unruhig den Kopf drehen, mit flirrenden Augen nach etwas in der Luft haschen, selig lächeln und dann plötzlich in süßer Sensucht die Hände zusammenschlagen, dann wird er ziemlich laut murmeln:
»Venus! Venus! Ach, ich Trottel!«
»O ihr Götter, ihr Götter!« flüstert dann Iwan Nikolajewitsch, drückt sich ans Gitter und starrt mit glühenden Augen auf den geheimnisvollen Unbekannten. »Noch ein Opfer des Mondes … Ja, noch ein Opfer, genau wie ich …
Der Mann dort aber spricht weiter:
»Ach, ich Trottel! Warum, warum bloß bin ich nicht mit ihr davongeflogen? Wovor hatte ich Angst, ich alter Esel? Eine Bescheinigung mußte ich verlangen! Ach, das hab ich jetzt davon, ich alter Idiot!«
So geht es weiter, bis auf der dunklen Seite der Villa ein Fenster klappt, etwas Helles dort erscheint und eine mißtönende Frauenstimme ruft:
»Nikolai Iwanowitsch, wo bist du? Was soll der Unsinn? Willst du dir die Malaria holen? Komm Tee trinken!«
Dann kommt der Mann auf der Bank natürlich zu sich und antwortet mit verstellter Stimme:
»Ein bißchen Luft wollt ich schnappen, mein Schnuckelchen! Die Luft ist so schön!«
Sodann erhebt er sich von der Bank, droht verstohlen mit der Faust gegen das wieder geschlossene Fenster und trottet ins Haus.
»Er lügt, er lügt! O ihr Götter, wie er lügt!« murmelt Iwan Nikolajewitsch und tritt vom Gitter zurück. »Er will ja gar nicht Luft schnappen, wenn Frühlingsvollmond ist, er sieht etwas im Garten und droben im Mond! Ach, was würd ich alles dafür geben, in sein Geheimnis einzudringen und zu wissen, was für eine Venus er verloren hat und nach wem er jetzt fruchtlos in die Luft hascht …«
Wenn der Professor nach Hause zurückkehrt, ist er schon ganz krank. Seine Frau tut, als bemerke sie seinen Zustand nicht, und drängt ihn, sich hinzulegen. Sie selbst geht nicht zu Bett, sondern sitzt mit einem Buch unter der Lampe und wirft wehe Blicke auf den Schlafenden. Sie weiß, beim Morgengrauen wird er mit qualvollem Schrei erwachen, wird weinen, sich hin und her werfen. Darum liegen vor ihr auf dem Tischtuch unter der Lampe eine Spritze in Alkohol und eine Ampulle mit einer Flüssigkeit von der Farbe starken Tees bereit.
Die arme Frau, an einen Schwerkranken gebunden, ist nach der Injektion frei und kann ohne Bedenken zu Bett gehen. Iwan Nikolajewitsch wird mit glücklichem Gesicht bis zum Morgen schlafen und von etwas Schönem, Höherem träumen, wovon sie nichts weiß.
Was aber den Gelehrten in der Vollmondnacht weckt und ihm den kläglichen Schrei abpreßt, ist immer dasselbe. Er sieht den nasenlosen Henker mit dumpfem Keuchlaut hochspringen und dem an den Pfahl geschnürten und übergeschnappten Gestas die Lanze ins Herz stoßen. Aber der Henker ist nicht so schrecklich wie das unnatürliche Licht, das von einer Wolke ausgeht, die sich brodelnd über die Erde wälzt, wie es nur bei Weltkatastrophen zu sein pflegt.
Nach der Injektion wechseln die Bilder vor dem Schläfer. Vom Bett zum Fenster erstreckt sich eine breite Mondstraße, und auf diese Straße tritt ein Mann mit blutrot gefüttertem weißem Umhang und steigt empor zum Mond. Neben ihm geht ein junger Mann in zerrissenem Chiton und mit entstelltem Gesicht. Die beiden führen ein hitziges Gespräch, streiten sich, wollen zu einer Übereinkunft gelangen.
»O ihr Götter, ihr Götter!« sagt der Mann im Umhang, das hochmütige Gesicht seinem Begleiter zugewandt. »Diese blöde Hinrichtung! Sag mir doch bitte« – in das Gesicht tritt ein flehender Ausdruck –, »sie hat doch gar nicht stattgefunden! Ich beschwöre dich, sag mir, sie war doch gar nicht?«
»Natürlich war sie gar nicht«, antwortet der Begleiter mit heiserer Stimme, »es ist dir nur so vorgekommen.«
»Kannst du das beschwören?« bettelt der Mann im Umhang.
»Ich beschwöre es«, antwortet der Begleiter, und seine Augen lächeln.
»Weiter brauche ich nichts!« ruft der Mann im Umhang mit gebrochener Stimme und steigt immer höher zum Mond, seinen Begleiter mit sich ziehend. Hinter ihnen geht ruhig und majestätisch ein riesiger spitzohriger Hund.
Dann wallt der Mondstrahl auf, aus ihm hervor schießt ein Mondstrom und ergießt sich nach allen Seiten. Der Mond herrscht und spielt, der Mond tanzt und albert. Aus dem Strom formt sich eine Frau von überirdischer Schönheit, sie führt am Arm einen stoppelbärtigen Mann, der sich furchtsam umsieht, auf Iwan zu. Iwan erkennt ihn sofort. Das ist Nummer hundertachtzehn, sein nächtlicher Besucher. Iwan streckt im Traum die Arme nach ihm aus und fragt gierig:
»Damit also endete es?«
»Damit endete es, mein Schüler«, antwortet Nummer hundertachtzehn. Die Frau tritt auf Iwan zu und sagt:
»Natürlich endete es damit. Alles endete, und alles endet … Ich küsse Sie auf die Stirn, dann wird bei Ihnen alles so sein, wie es sein muß …«
Sie beugt sich über Iwan und küßt ihn auf die Stirn, und Iwan strebt ihr entgegen und blickt ihr in die Augen, aber sie tritt zurück, immer weiter zurück, und entfernt sich mit ihrem Begleiter zum Mond.
Dann beginnt der Mond zu toben, schleudert Lichtströme auf Iwan, versprüht Licht nach allen Seiten, im Zimmer beginnt eine Mondlichtüberschwemmung, das Licht wogt, steigt höher, überflutet das Bett. Dann schläft Iwan Nikolajewitsch mit glücklichem Gesicht ein.
Am Morgen erwacht der Professor schweigsam, aber ruhig und gesund. Sein wundes Gedächtnis verstummt, und bis zum nächsten Vollmond beunruhigt ihn nichts mehr, weder der nasenlose Mörder des Gestas noch der grausame fünfte Prokurator von Judäa, der Ritter Pontius Pilatus.
1929–1940