Patricia Clough
VOM
VERGNÜGEN,
EINE ÄLTERE
FRAU
ZU SEIN
Aus dem Englischen
von Rike May
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Copyright © 2012 by Patricia Clough
Copyright © 2012 by btb Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-07980-2
V002
www.btb-verlag.de
»Igitt!«
Reaktion einer Teenagerin, als sie hört, dass ihre Mutter, fünfundfünfzig, mit einem Mann schläft.
»Ein Hobby für Omas im Ruhestand.«
Anglikanischer Pfarrer über die Berufung älterer Frauen zu Priesterinnen oder Diakonissen.
»Es geht leider nicht mehr, Sie sind zu alt.«
Antwort auf die Bewerbung einer Vierundsechzigjährigen.
»Was wollen Sie denn? Sie sind doch verheiratet.«
Ein Beamter in einer akademischen Stellenvermittlung, der einer knapp Fünfzigjährigen erklärt, dass es für Frauen ihres Alters keine Stellen gibt.
»Ich werde das Leben genießen,
bis mir das letzte Stündchen schlägt.«
Aus dem Film »Carmen Jones«
1
KRISE!
Hilfe!
Hilfe, dachte ich, während ich in meinen Schubladen nach Taschentüchern kramte. Was soll ich denn jetzt sagen? Ich war sprachlos, panisch. Mit allem hatte ich gerechnet, nur nicht damit. Sissi* war von der Arbeit gekommen und hatte mir ein paar Sachen zurückgebracht, die sie sich für ihren Fünfzigsten ausgeliehen hatte. Eigentlich wollte sie nur schnell einen Kaffee bei mir trinken, bevor sie sich auf den Weg zu irgendeinem Sportkurs machte. Drei Stunden später saß sie immer noch auf dem Sofa und heulte. Ein Häufchen Elend. Ihr Leben sei vorbei, meinte sie. Ernsthaft.
Ihre Geburtstagsparty war grandios gewesen. Alle ihre Freunde waren gekommen, die ganze Familie. Ihr Chef war da gewesen und auch die Kollegen aus dem Hotel, in dem sie als Rezeptionistin arbeitet. Selbst die ganz alten Freunde waren gekommen, ihre Weggefährten. Einige, wie ich, waren von weither angereist. Sissi strahlte Ruhe aus, Eleganz, sie war die perfekte Gastgeberin. Ihr Mann Dirk, der Bankdirektor, war gesellig und offen, er gab jedem Einzelnen das Gefühl, willkommen zu sein. Reden wurden gehalten, Komplimente gemacht, Sissi wurde als Freundin gewürdigt, als Kollegin, als Frau und als Mutter. Es gab Blumen, Geschenke. Ihre Kinder, die längst keine Kinder mehr sind, führten einen lustigen Sketch auf. Alles passte: das Büfett vom Catering, das wunderschöne Haus, die Musik. Es wurde bis spät in die Nacht hinein getanzt, die letzten Gäste gingen um drei.
»Ein toller Abend«, sagte ich. »Ist doch prima gelaufen, du hast umwerfend ausgesehen. Du bist bestimmt sehr zufrieden.« Sissi schwieg und trank einen Schluck Kaffee.
»Deine Gäste fanden es auf jeden Fall toll, sie reden immer noch darüber«, fügte ich hinzu. Ihr Schweigen irritierte mich. Sissi starrte in ihre Tasse. Nach einer Weile antwortete sie: »Ja, war wohl ganz nett. Freut mich, dass die Leute ihren Spaß hatten.«
»Und du? Hattest du keinen Spaß?«
»Nein, eigentlich nicht. Eigentlich gar nicht. Es war merkwürdig, ich fand es so, na ja, bedeutungslos. Ich habe mich so leer gefühlt, als hätte ich eine Rolle in einem Stück, das um mich herum aufgeführt wird.«
»Aber …«
»Ich weiß, was du jetzt sagen willst. So viele Freunde, die tolle Familie, ein Mann, auf den ich mich – einigermaßen – verlassen kann, das Haus, mein Job, der zu mir passt. Eine tolle Party. Ich habe alles. Es sieht tatsächlich so aus, als hätte ich alles, als ließe mein Leben nichts zu wünschen übrig.« Nach einer Pause sagte sie: »Doch in Wirklichkeit bin ich total verzweifelt.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Aber das verstehe ich nicht …«
Sissi legte die Beine hoch und fuhr sich mit den Fingern durch das kastanienbraune Haar. Sie ließ sich sehr viel Zeit mit ihrer Antwort. »Weißt du, vor ein paar Tagen habe ich mich in einem Schaufenster entdeckt, ich sah mein Spiegelbild und dachte: Wer ist diese alte Frau, und warum trägt sie meine rote Jacke? Erst da verstand ich, dass ich mich selbst sah. Mich selbst! Ich hatte mich gesehen, wie andere Menschen mich sehen, und nicht das Gesicht, das ich so gut kenne, weil es mir täglich im Spiegel begegnet.«
»Aber warum sagst du alte Frau?«, rief ich. »Du bist doch überhaupt nicht alt. Die fünfzig sieht man dir auf keinen Fall an.«
»Na ja, manchmal schon«, antwortete sie, »aber darum geht es mir gar nicht. Oder nicht nur. Es war, als würde auf einmal alles gleichzeitig passieren.«
Das verstehe ich, das kenne ich nur zu gut. Der Schock, wenn man merkt, dass man sein eigenes Spiegelbild nicht erkennt. Sozusagen der »Augenblick der Wahrheit«.
Vor einiger Zeit hatte Sissi festgestellt, dass sich ihr Mann mit einem Interesse, das nicht nur beruflicher Natur war, um eine junge Praktikantin in der Bank bemühte, was ihr in unangenehmer Weise in Erinnerung rief, dass sie in der letzten Zeit kaum an Sex gedacht hatte. Auch das war ein solcher Augenblick der Wahrheit. Und dann gab es noch einen, vor ein paar Wochen, als sie zu einem ganz besonderen Abendessen eingeladen waren. Sissi zog ein weißes, schulterfreies Kleid an, in dem sie aufregend aussah. Eigentlich. Das wusste sie. Nur diesmal war alles anders. Es war, als wäre sie aus der Form geraten. Ihre Figur hatte sich verändert, das Kleid saß an einigen entscheidenden Stellen – den falschen – zu eng. Es sah aus wie jedes andere Kleid, durchschnittlich, langweilig. Doch sie hatte keine Zeit, sich noch einmal umzuziehen. Sie wickelte sich in eine große Stola und hoffte, dass es niemandem auffallen würde.
Was sie auch noch bemerkt hatte, war, dass die Gäste, die zum Einchecken an die Rezeption des Hotels traten, in dem sie arbeitete, sie nicht mehr wahrzunehmen schienen. Früher hatte sie immer dieses gewisse Interesse gespürt, ein Blitzen in den Augen der Männer. Doch das war offenbar vorbei. Wegen ein paar Fältchen? Sie legte immer noch größten Wert auf ihr Äußeres. Um die Hüften herum hatte sie etwas zugelegt, obwohl sie regelmäßig ins Fitnessstudio ging. War es deswegen? Wer weiß. Und jetzt auch noch die Wechseljahre.
Sissi war eine vernünftige, eine intelligente Frau. Sie wusste, wo sie stand. Wie alles in ihrem Leben nahm sie die Wechseljahre mit Humor, mit einer Art Lebensklugheit. Sie hatte eine Menge über das Thema gelesen, hatte mit ihrem Gynäkologen gesprochen und Hormonpillen geschluckt, bis sie spürte, dass sie auch ohne diese Hilfe mit den Gemütsschwankungen und Hitzewallungen fertigwurde. Sie war entschlossen, kein Drama daraus zu machen, und es schien ihr zu gelingen. Dachte ich zumindest.
Doch nun lag sie da auf meinem Sofa. Zusammengekrümmt wie ein Embryo lag sie da und weinte, weinte, weinte. Ich hatte ihr statt des Kaffees ein Glas Wein gebracht, in der Hoffnung, sie ein wenig zu trösten, aber der Alkohol verstärkte nur den Sog des Elends, der an ihr zerrte.
»Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn irgendein Idiot, der sich unheimlich witzig vorkommt, fragt: Na, wie fühlt man sich denn so nach einem halben Jahrhundert?« Noch mehr Tränen. »Ich spüre es ganz deutlich, es ist alles vorbei. Mein Leben ist vorbei«, schluchzte sie, »von nun an geht’s bergab. Ich werde immer schlimmer aussehen, bis ich irgendwann deswegen gefeuert werde. Die Kinder sind aus dem Haus. Dirk flirtet mit diesem Mädchen – wer weiß, ob er nur flirtet. Und dann? Was kommt dann? Rente und Rückenschmerzen. Bald bin ich eine alte Frau, eine Rentnerin, die von niemandem mehr wahrgenommen wird.«
Unfassbar. Sissi war fünfzig und redete, als wäre sie zehn, zwanzig Jahre älter. Ich kannte diese Verzweiflung, diese Hilflosigkeit nur von Frauen, die wesentlich älter waren, Frauen ab sechzig, Frauen um die siebzig. Sissi war zwanzig Jahre jünger. Zwanzig Jahre jünger als ich.
Nicht jede von uns durchlebt eine solche Krise, doch in einer Zeit, in der das Altern von Frauen immer weniger mit dem zu tun hat, was sich die Menschen im Allgemeinen darunter vorstellen, kann man auch nicht mehr von Ausnahmen sprechen. Ich weiß nicht genau, warum sich Sissi gerade mir anvertraute. Ja, sie war eine gute Freundin, wir kannten uns seit vielen Jahren, aber sie hatte andere, gleichaltrige Freundinnen, die ihr näherstanden. Vielleicht lag es gerade an meinem Alter, vielleicht hatte es damit zu tun, dass ich selbst in den letzten zwanzig Jahren eine Menge durchgemacht hatte. Vielleicht wusste sie auch, dass ich zu dem Thema einiges zu sagen hatte, auch wenn ich noch nie darüber geschrieben hatte.
Ich nahm es als Kompliment. Und suchte weiter nach Taschentüchern. Was sollte ich denn nun sagen? Wie könnte ich ihr helfen? Also: die Wechseljahre. Klar, dass sie ein bisschen emotionaler war als sonst, dass sie nicht recht wusste, wohin mit sich. Doch was sie sagte, war nicht von der Hand zu weisen, ihr Problem war echt, ich konnte es nicht abtun. Die meisten Frauen stellen irgendwann überrascht fest, dass sie älter werden, und je älter sie sind, desto offensichtlicher ist ihr Problem. Wir haben vom Altern völlig überholte Vorstellungen, das macht es so absurd. Als Gesellschaft treten wir uns quasi selbst auf die Füße. Wir werden immer älter, sind aber nicht bereit, uns darauf einzustellen. Stattdessen stakst eine Parade von Models über die Bildschirme, die wir bewundern und nachahmen sollen. Die merkwürdige Einstellung der Gesellschaft zum Alter hat sich nicht geändert, sie hat sich sogar verfestigt. Alte Menschen, besonders alte Frauen, werden schlicht nicht wahrgenommen. Sie kommen nicht vor. Kaum einer kann sich den längst überholten Vorurteilen entziehen, die alte Menschen als hässlich, tattrig und unwert abtun, dabei sollten es einige von uns wirklich besser wissen. Nur beim Wein, bei Möbeln und historischen Bauwerken gewinnt man dem Alten etwas Positives ab.
Sissi ist fünfzig, und das bedeutet, sie ist nicht alt. Selbst mit sechzig oder siebzig wird sie nicht alt sein. Sie ist attraktiv, gesund und quicklebendig. Wenn sie nicht gerade auf dem Sofa liegt und heult, strahlt sie ein gewisses Selbstvertrauen aus. Sie sieht anders aus als die Frauen der vorangegangenen Generation. Ihr Auftreten ist ein ganz anderes, ihr Selbstbild, ihr Lebensstil. Als die Generation ihrer Mutter in diesem Alter war, hatten die Frauen andere Erwartungen. Erwartungen, die mit Sissi nichts mehr zu tun haben. Sie ist einfach in eine neue Phase eingetreten, eine Phase, in der die Person, die sie geworden ist, kaum noch zu dem Bild passt, das die Gesellschaft, und unbewusst wohl auch sie selbst, von einer Frau ihres Alters hat. Sissi hat die erste Welle des Feminismus in den Siebzigern nicht erlebt, sie war noch zu jung. Sie hat nicht gesehen, wie Millionen von Frauen aufgebrochen sind, um ein völlig neues Terrain zu erobern. Uralte Vorurteile schlugen ihnen entgegen, während sie unter den schwierigsten Umständen versuchten, ihr Leben neu zu gestalten. Und auch wenn Sissi von all dem damals noch nichts verstehen konnte, so steht sie doch heute vor ganz ähnlichen Problemen. Sissi muss aufbrechen. Es ist Zeit für eine neue Revolution.
»Hör mal, Sissi«, fing ich an, »du bist jetzt fünfzig. Wahrscheinlich hast du noch fast die Hälfte deines Lebens vor dir. Natürlich wirst du älter, das ist aber nichts Neues. Seit deiner Geburt wirst du älter. Dein ganzes Leben ist eine einzige Veränderung, und das wird auch weiter so sein. Aber du bist, wer du bist. Du bist einzigartig, du bist wertvoll, das war doch schon immer so. Du musst die Jahre, die noch vor dir liegen, nutzen und etwas ganz Besonders daraus machen. Sonst schlitterst du einfach langsam ins Vergessen. Das kostet natürlich Mut. Es kostet Kraft, gegen Konventionen anzugehen, und manchmal ist man dabei auch allein.«
Oder? Stimmte das überhaupt? Nicht unbedingt. Sissi war nicht allein. Ich kenne eine Menge Frauen, die, jede auf ihre Art, in den letzten Jahren und Jahrzehnten ihres Lebens einen neuen Weg gegangen sind. Einige haben sich ganz neu erfunden. Die meisten waren glücklicher, zufriedener als je zuvor.
Die ersten Feministinnen brauchten Vorbilder, und die fanden sie auch. Frauen, die ihnen vorausgegangen waren, deren Erfolge sie inspirierten.
»Sissi«, sagte ich, »denk mal an Marianne, an Angela und Sarah. Sie haben sich auch nicht der Verzweiflung hingegeben, nur weil sie älter geworden sind. Was für großartige Frauen!« Marianne hatte, nachdem ihre Kinder aus dem Haus waren, eine Ausbildung gemacht. Mit fünfundfünfzig konnte sie nochmal dastehen und von sich sagen: Jetzt darf ich mich Fotografin nennen. Als Angela sechzig war, hat ihr Mann sie verlassen. Erst war sie sehr zögerlich, doch bald blühte sie auf, reiste durch die ganze Welt und baute sich einen neuen Freundeskreis auf. Und Sarah hatte mit siebenundsechzig einen alten Studienfreund wieder getroffen. Sie hatten sich gleich verliebt und ein neues, ein gemeinsames Leben begonnen.
Sissi erhob sich aus der Seitenlage und putzte sich die Nase. »Und Michi«, sagte sie nachdenklich.
»Und Christiane«, fügte ich hinzu, alles gemeinsame Freundinnen. »Oder denk an Gesine Schwan. Beinahe unsere erste Bundespräsidentin. Hat mit einundsechzig geheiratet. Das war noch nicht alles, Sissi. Eigentlich geht es jetzt erst richtig los.«
Wir redeten noch eine lange Zeit so weiter. Einmal ging ich zum Telefon und rief Dirk an. Er solle sich keine Sorgen machen, erklärte ich, Sissi sei bei mir, sie würde bei mir schlafen und nach dem Frühstück nach Hause kommen. Wir sprachen über die Schwierigkeiten, über das, was uns beschäftigt, wenn wir älter werden. Vor allem aber sprachen wir über die Frauen, die wir kannten oder von denen wir gehört hatten, die diese Schwierigkeiten überwunden hatten. Gegen drei Uhr am Morgen schlossen wir eine Art Pakt: Sissi würde sich aufraffen, auf ihr bisheriges Leben zurückblicken und sich klarmachen, was sie erreicht hatte. Sie würde neue, positive Ideen für die Jahre, die vor ihr liegen, entwickeln. Und sie würde mir Frauen vorstellen oder mir von ihnen erzählen, Freundinnen, Bekannte, denen es ähnlich ergangen war. Ich versprach im Gegenzug, dass ich mich in das Thema einarbeiten und Frauen interviewen würde, die den traditionellen Erwartungen nicht entsprochen haben, die aus dem letzten Lebensabschnitt etwas Besonderes gemacht haben. Einige kenne ich gut, andere muss ich noch finden. Ich hatte sowieso vor, einige Monate in Berlin zu verbringen. Wir würden uns regelmäßig treffen und sehen, wie weit wir gekommen waren.
Aus unserem nächtlichen Pakt ist dieses Buch entstanden.
* Sissi und einige andere Frauen möchten nicht unter ihrem vollständigen Namen in diesem Buch erscheinen. Deshalb werden viele nur mit Vornamen genannt, die teilweise auch frei erfunden sind. Andere wiederum haben mir erlaubt, ihre vollen Namen zu verwenden.