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Sandra Brown

Blinder Stolz

Thriller

Deutsch von Andrea Brandl

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Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
»Tough Customer« bei Simon & Schuster, New York.

Copyright © der Originalausgabe 2010
by Sandra Brown Management Ltd.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012
by Blanvalet Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Umschlagmotiv: mauritius images (Photosforyou/Alamy; Jordan Schaefer/Alamy)
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-08827-9
V003

www.blanvalet.de

Prolog

Er war bereits aus dem Geländewagen gesprungen, noch während die dichte Staubwolke um die Reifen aufstieg.

Die rotierenden Lichter des Krankenwagens, dessen Türen sperrangelweit geöffnet waren, flackerten über das nahegelegene Wäldchen. Vermutlich waren die Rettungssanitäter bereits im Haus.

Der Kies knirschte unter seinen Stiefeln, als er mit drei großen Schritten den Weg zur Veranda überwand. Er betrat eine großzügige Diele und ließ den Blick durchs Wohnzimmer zu seiner Linken schweifen. Leer. Alles wirkte auf den ersten Blick normal. Zwei leere Weingläser standen auf dem Couchtisch vor einem Hussensofa. Eines davon trug Lippenstiftspuren.

Das Sofa stand vor einem gemauerten Kamin mit einem Farn darin – offenbar war er während der heißen Sommermonate ins Haus geholt worden. Daneben ein Schaukelstuhl mit einer geflochtenen Sitzfläche. Auf der Armlehne des üppig gepolsterten Lehnsessels lag ein zusammengelegter Patchworkquilt. Bücher und Zeitschriften stapelten sich auf Tischen und in den Regalen.

Der Raum verströmte Behaglichkeit und Wärme.

Er brauchte nur wenige Sekunden, um die Einzelheiten zu registrieren. Hinter dem Wohnzimmer befand sich vor einem großen Panoramafenster der Essbereich, doch er betrat ihn nicht, da in diesem Moment Stimmen aus dem oberen Stockwerk drangen. Sein Blick richtete sich auf die über die gesamte Breite des Hauses verlaufende Galerie. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, lief er die Treppe hinauf und umrundete den Absatz, sorgsam darauf bedacht, den Geländerpfosten nicht zu berühren.

Er betrat die Galerie, ging einen kurzen Flur entlang und blieb vor einer geöffneten Zimmertür stehen. Auch hier genügte ein kurzer Blick: zueinanderpassende Nachttischlampen zu beiden Seiten eines ungemachten schmalen Doppelbetts, deren Lichtkegel die pfirsichfarben gestrichene Wand erhellten. Drei große Fenster. Durch die Schlitze in den Fensterläden war das Rotieren der Lichter des Krankenwagens zu erkennen.

Die Rettungssanitäter knieten neben einer Gestalt, den behaarten Beinen und den nackten Füßen nach ein Mann. Mehr konnte Nyland nicht erkennen, abgesehen von dem blutgetränkten Teppich unter ihm.

Einer der Sanitäter warf einen Blick über die Schulter und nickte knapp. »Hey, Ski. Wir haben schon auf Sie gewartet.«

Ski betrat den Raum. »Wie sieht’s aus?«

»Ziemlich üble Schussverletzung im linken Unterbauch.«

»Kommt er durch?«

»Wissen wir noch nicht.«

Erst jetzt bemerkte Ski, dass es sich bei dem zweiten Sanitäter um eine Frau handelte.

»Aber er war die ganze Zeit bei Bewusstsein, bis wir gekommen sind, hat die Frau gesagt. Das ist schon mal ein gutes Zeichen«, fügte sie hinzu.

»Die Frau?«

Der erste Sanitäter nickte in Richtung des Raums hinter der Tür, die sie im Moment blockierten. »Sie hat uns gerufen.«

»Name?«

»Ihrer? Hm …« Er richtete seine Aufmerksamkeit auf den Infusionsbehälter und korrigierte seinen Sitz. Offenbar konnte er sich nicht daran erinnern.

»King«, sagte die Sanitäterin.

»Caroline King? Die Immobilienmaklerin?«, fragte Ski verblüfft. »Das ist ihr Haus?«

Die Sanitäterin zuckte mit den Schultern. »So steht’s zumindest in der Datenbank.«

»Und wer ist der Mann, der angeschossen wurde?«

»Die Frau meinte, er heißt Ben Lofland.«

»Ist außer den beiden noch jemand im Haus?«

»Sieht nicht so aus. Die Haustür stand offen, als wir kamen. Wir haben sie schreien gehört und sind gleich nach oben gelaufen. Er lag hier, und sie kniete neben ihm, hielt seinen Kopf fest und weinte. Sonst haben wir niemanden gesehen. Die Frau ist ganz schön fertig. Das Ganze ist ihr ziemlich an die Nieren gegangen.«

»Hat sie auf ihn geschossen?«

»Das werden Sie schon selber herausfinden müssen. Ist doch Ihr Job, oder?«, gab die Sanitäterin zurück.

Allem Anschein nach war das Opfer inzwischen stabil genug, um auf die Rolltrage verfrachtet zu werden, die sie mit nach oben gebracht hatten. Was Ski Gelegenheit gab, einen Blick auf den Mann zu werfen. Er war Mitte dreißig, hatte ein ebenmäßiges Gesicht und wirkte ziemlich durchtrainiert; Läufer oder Tennisspieler, vermutete Ski. Kein Bart und weder erkennbare Tattoos noch sonstige besondere Merkmale.

Er trug lediglich graue Jerseyunterhosen, die auf der linken Seite zerschnitten worden waren. Ein Verband bedeckte die Schusswunde. Die Sanitäterin breitete eine Decke über ihn. Der Mann war noch immer bewusstlos, stöhnte jedoch, als sie die Gurte festzurrten.

Schritte ertönten auf der Treppe. Ski drehte sich um, als ein weiterer Deputy ins Zimmer gestürmt kam und abrupt stehen blieb. »Ich bin so schnell hergekommen, wie ich konnte«, stieß er atemlos hervor, während er erschrocken an Ski vorbei auf den dunklen Blutfleck auf dem Teppich spähte und dann das Opfer auf der Rolltrage anstarrte.

Er war gute zehn Jahre jünger als Ski, fast dreißig Zentimeter kleiner und hatte einen leichten Bauchansatz. Seine Apfelbäckchen waren gerötet, und er war außer Atem – vor Aufregung oder vom kurzen Sprint die Treppe herauf. Ein Grünschnabel. Dies war sein erstes Opfer mit einer Schussverletzung. Für ihn war das Ganze eine ganz große Sache.

»Helfen Sie denen mal, Andy. Könnte schwierig werden, die Trage um die Ecke zu manövrieren. Und fassen Sie bloß nichts an, solange Sie keine Handschuhe anhaben«, sagte Ski.

»Mach ich.«

»Hal hilft uns, das Haus zu sichern. Er ist schon unterwegs.«

»Wird wohl noch eine ganze Weile dauern.«

»Und bis dahin«, erklärte Ski streng, »werden Sie dafür sorgen, dass hier keiner reinkommt. Auch keiner von unseren Leuten. Ich verlasse mich auf Sie. Klar?«

»Klar.« Der Deputy zog seinen Pistolengürtel hoch, der ihm halb über die Hüfte gerutscht war, und begleitete die Sanitäter nach unten.

Ski trat durch die geöffnete Tür, in deren Rahmen das Opfer gelegen hatte, und spähte ins Badezimmer.

Eine junge Frau saß auf dem Wannenrand. Sie hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt, die Hände vors Gesicht geschlagen und wiegte sich rhythmisch vor und zurück. Er blickte auf ihren Kopf hinab. Ihr Haar war in der Mitte gescheitelt. Kastanienbraun, vermutete er, wollte es aber lieber nicht beschwören, da es nass war. Es hing ihr wie ein schwerer Vorhang zu beiden Seiten des Gesichts herab.

Sie trug einen dünnen Baumwollbademantel, den Gürtel nachlässig in der Taille gebunden. Die weiten Ärmel waren ein Stück nach hinten gerutscht und gaben den Blick auf ihre schlanken, mit blassen Sommersprossen bedeckten Arme frei. Der Stoff hatte sich über ihren Knien geteilt, sodass ihre nackten Beine zum Vorschein kamen. Ihre Zehen krallten sich in den flauschigen Duschvorleger.

Diese Frau war nicht Caroline King.

Die Badewanne war noch nass. Der Duschvorhang hing auf einer Seite, wo die Metallringe von der Stange gerissen waren, schlaff herunter. Eine Shampooflasche mit offenem Deckel stand auf dem Wannenrand.

Wahrscheinlich war sie beim Duschen gestört worden. Das würde die feuchten Stellen auf ihrem Bademantel erklären.

Direkt neben ihr lag ein .38er-Revolver, ein billiges Ding, wie man es an jeder Ecke bekam. Die Waffe stand in krassem Gegensatz zum unschuldigen Anblick ihrer nackten rosigen Zehen. Sie war durch die Toilette verdeckt, deshalb hatten die Sanitäter sie offenbar nicht bemerkt. Absicht?, fragte sich Ski.

Er zog ein Paar Latexhandschuhe aus der Tasche seiner Jeans und streifte den rechten über, ehe er sich behutsam vorbeugte und den Finger durch den Abzugsbügel schob. Er richtete sich wieder auf und drückte mit dem Daumen den Hahn nach vorn, worauf die Trommel heraussprang. In jeder der sechs Kammern steckte eine Patrone. Er roch am Lauf. Die Waffe war seit Längerem nicht mehr abgefeuert worden.

Als hätte sie erst jetzt bemerkt, dass jemand neben ihr stand, ließ die Frau die Hände sinken und sah zu Ski hoch. Trotzdem schien sie ihn nur vage wahrzunehmen. Ihre hellbraunen Augen waren vom Weinen gerötet. Sie war kreidebleich, ihre Lippen beinahe farblos.

Die Frau schluckte vernehmlich. »Geht es ihm gut?«

»Das würde ich nicht gerade sagen.«

Ein Wimmern drang über ihre Lippen, während sie an Ski vorbei auf den Blutfleck hinter der Tür blickte. »O Gott.« Sie presste sich die zitternden Finger auf die Lippen. »Ich kann nicht glauben, dass das passiert ist.«

»Was ist denn passiert?«

»Er muss wieder gesund werden. Ich sollte bei ihm sein. Ich muss gehen.«

Sie wollte aufstehen, doch Ski legte ihr die Hand auf die Schulter und drückte sie auf den Wannenrand zurück. »Nicht jetzt.«

Zum ersten Mal, seit er den Raum betreten hatte, sah sie ihm ins Gesicht. »Sind Sie … Wer sind Sie?«

Er zog das Ledermäppchen von seinem Gürtel, klappte es auf und hielt ihr seine Marke vor die Nase. »Deputy Ski Nyland, Büro des Sheriffs von Merritt County.«

»Verstehe.« Doch Ski sah ihr an, dass sie überhaupt nichts verstand. Sie nahm noch nicht einmal seine Dienstmarke richtig zur Kenntnis. Ein flehender Ausdruck lag in ihren tränenfeuchten Augen. »Bitte sagen Sie mir, dass er wieder in Ordnung kommt.«

»Wie heißen Sie?«

Sie schien erst über die Frage nachdenken zu müssen. Dann schob sie sich das feuchte Haar hinter die Ohren und antwortete mit belegter Stimme: »Berry Malone.«

Ski registrierte, dass der Nachname nicht derselbe war wie der des Opfers. Und dass keiner der beiden King hieß.

»Der Verletzte, Ben Lofland … richtig?«

Sie nickte knapp.

»Sie bringen ihn gerade ins Krankenhaus.«

»Er ist also nicht tot?«

»Vorhin war er es jedenfalls noch nicht.«

»Er hat viel Blut verloren.«

»Allerdings.«

»Er darf nicht sterben.«

»Das lässt sich womöglich nicht verhindern.«

Sie gab einen erstickten Laut von sich. »Ich muss seine Frau anrufen«, flüsterte sie.

»Seine Frau

Sie sah Ski sekundenlang an, dann schlug sie erneut die Hände vors Gesicht und begann laut zu schluchzen.

Ski verlagerte das Gewicht und baute sich breitbeinig vor ihr auf. »Was ist heute Abend hier passiert, Ms Malone?«

Ohne die Hände von ihrem Gesicht zu lösen, stöhnte sie und schüttelte den Kopf.

»Ist das Ihre Waffe da? Haben Sie damit auf Lofland geschossen?« Er glaubte es zwar nicht, zumindest nicht mit der Waffe, die er in der Hand hielt, aber er wollte sehen, wie sie auf die Frage reagierte.

Sie ließ die Hände sinken und starrte ihn an. »Was?«

»Haben Sie …«

»Nein!« Sie sprang auf, geriet jedoch ins Wanken und musste sich mit einer Hand am Waschbecken abstützen. »Ich habe die Pistole erst geholt, nachdem ich den Krankenwagen gerufen hatte.«

»Nachdem Sie den Krankenwagen gerufen hatten?«

Sie nickte und holte tief Luft. »Ich hatte Angst … ich hatte Angst, dass er zurückkommt.«

»Wer?«

Ehe sie antworten konnte, drang Lärm aus dem Erdgeschoss herauf. Eine Tür wurde zugeknallt. Stimmen wurden laut. Ski hörte Andy zu jemandem sagen, er dürfe nicht nach oben gehen, ehe ihm eine Frauenstimme mit derselben Beharrlichkeit befahl, aus dem Weg zu gehen. Offenbar erkannte Berry Malone die Stimme, denn sie stieß einen spitzen Schrei aus und rannte an Ski vorbei aus dem Badezimmer.

»Hey!« Er folgte ihr, sorgsam darauf bedacht, nicht in die Blutlache auf dem Boden zu treten. Auf halbem Weg durch das Schlafzimmer versuchte er sie am Arm zu packen, erwischte aber nur den Bademantel. Sie fuhr herum und entriss ihm den Stoff – wenn auch den Bruchteil einer Sekunde zu spät.

Ein Streifen nackte Haut und etwas Buntes blitzte auf, dann war sie zur Tür hinausgestürzt.

Er setzte ihr nach, stürmte die Galerie entlang und polterte hinter ihr her die Treppe hinunter.

1

Als das Läuten des Handys Dodge aus dem Tiefschlaf riss, dachte er im ersten Moment, es sei Derek. Bestimmt hielt sein Boss eines seiner legendären nächtlichen Brainstormings ab. Dazu sollte er seinen Beitrag leisten.

Er konnte sich zwar nichts vorstellen, was so wichtig wäre, dass es nicht bis morgen früh warten konnte. Andererseits bezahlte Derek ihn dafür, dass er ihm rund um die Uhr zur Verfügung stand, und wenn auch nur als Diskussionspartner oder Zuhörer.

Mit geschlossenen Augen grapschte er nach dem Handy, in der Erwartung, gleich losgeschickt zu werden, um irgendetwas zu erledigen. »Ja?«, meldete er sich barsch und ohne einen Funken Begeisterung.

»Dodge?«, sagte eine Frauenstimme.

Verblüfft setzte er sich auf und schwang die Füße über die Bettkante. Im Dunklen tastete er nach der Nachttischlampe und knipste sie an, ehe er mit den Lippen eine Zigarette aus dem Päckchen fummelte und sie anzündete. Er sog den Rauch tief in seine Lungen. Dabei fragte er sich, welche von seinen zahlreichen weiblichen Bekanntschaften er nun wieder verärgert hatte. Er konnte sich nicht erinnern, in letzter Zeit jemandem auf die Füße getreten zu sein, aber vielleicht war ja genau das sein Vergehen – sein mangelndes Erinnerungsvermögen.

»Ich spreche doch mit Dodge Hanley, ja?«, fragte die Frau. Noch hatte er keine Reaktion gezeigt, und eigentlich wollte er auch erst antworten, wenn er erfahren hatte, wer das wissen wollte. Normalerweise hielt er sich in puncto Identität eher bedeckt. Er hatte zwar einen Führerschein, aber nur, weil man sich ohne ihn nicht hinters Steuer setzen durfte, und die einzige Kreditkarte in seiner Brieftasche war auf Derek ausgestellt. Dodge benutzte sie nur, um Kosten für die Anwaltskanzlei zu begleichen. Privat hielt er sich ausschließlich an Bargeld, und nicht einmal Derek wusste, wo er wohnte.

»Dodge? Bist du’s?«

»Ja«, knurrte er, halb ein Wort, halb ein trockenes Husten.

»Hier ist Caroline.«

Das Feuerzeug entglitt seinen Fingern und fiel zu Boden.

»Caroline King.«

Als wäre der Nachname notwendig gewesen, um seinem Gehirn auf die Sprünge zu helfen.

»Bist du noch dran?«, fragte sie in die ausgedehnte Stille hinein.

Er nahm einen tiefen Zug und ließ den Rauch entweichen. »Ja. Ja.« Um sicherzugehen, dass dies kein Traum war, stand er auf und trat ein paar Schritte vom Bett weg. Doch seine Beine zitterten so sehr, dass er rückwärts taumelte und sich auf die weiche Matratze sinken ließ.

»Ich schätze, du hast nicht mit meinem Anruf gerechnet, was?«

»Ja.« Ein anderes Wort schien ihm nicht über die Lippen kommen zu wollen. Wie oft war das jetzt gewesen? Viermal? Fünfmal?

»Bitte entschuldige die Störung«, sagte sie. »Hier ist es schon ziemlich spät, und in Atlanta ist es noch eine Stunde später, das ist mir klar. Ich gehe doch davon aus, dass du immer noch in Atlanta bist, oder?«

»Ja.« Das war dann wohl Nummer sechs.

»Wie geht es dir? Geht es dir gut?«

»Ja.« Scheiße! Hatte er denn auf einmal das Reden verlernt? Lass dir endlich mal was anderes einfallen, verdammt noch mal! »Äh, mir geht’s gut. Na ja. Okay eben.«

Was auch stimmte, abgesehen von der plötzlichen Leere in seinem Kopf, seinem Puls, der in astronomische Höhen geschnellt war, und seinen Atemproblemen. Er tastete nach dem Aschenbecher auf dem vollgemüllten Nachttisch und legte seine Zigarette ab.

»Das ist schön«, sagte sie. »Freut mich zu hören.«

Beide schwiegen, bis die Stille in der Leitung förmlich zu vibrieren schien.

»Natürlich würde ich dich nicht belästigen, wenn nicht … ich würde dich niemals um etwas bitten, Dodge. Das ist dir bestimmt klar. Aber es ist wirklich wichtig. Es geht um Leben und Tod.«

Oh Gott. Sie war krank. Sie lag im Sterben. Sie brauchte eine neue Leber, eine neue Niere, ein neues Herz.

Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und presste sich die Hand auf die Stirn. »Was ist passiert? Bist du krank?«, fragte er beklommen.

»Krank? Nein, nein. Nichts Derartiges.«

Eine Woge der Erleichterung erfasste ihn, gefolgt von Wut, weil seine Gefühle im Nu die Oberhand gewonnen hatten. »Wieso rufst du mich dann an?«, fuhr er sie an, aus Frust, weil es ihm nicht gelang, kühl und nüchtern zu bleiben.

»Ich stecke in der Klemme.«

»Du steckst in der Klemme?«

»Ja, ich habe Ärger.«

»Was für Ärger?«

»Kannst du herkommen?«

»Nach Houston?« Eine Stadt, in die er, das hatte er sich geschworen, nie wieder einen Fuß setzen wollte. »Wozu?«

»Es ist kompliziert.«

»Was ist mit deinem Mann? Ist es für ihn auch zu kompliziert? Oder ist er etwa das Problem?«

Die Sekunden verstrichen. »Er ist tot, Dodge. Schon seit ein paar Jahren.«

Die Neuigkeit hallte in seinen Ohren wider, in seinem Kopf. Dumpf. Ihr Mann war tot. Sie war nicht mehr verheiratet. Das hatte er nicht gewusst. Aber woher auch? Schließlich hatte sie ihm keine Traueranzeige geschickt.

Er wartete darauf, dass sie fortfuhr, doch sie tat es nicht. »Du hast mir immer noch nicht verraten, um welche Art Ärger es sich handelt«, sagte er nach einer Weile.

»Um die Art, auf die du spezialisiert bist.«

»Das kann alles Mögliche sein.«

»Ich will das nicht am Telefon erklären, Dodge. Also, was ist? Kann ich auf dich zählen?«

»Wann soll ich da sein?«

»So schnell du kannst. Kommst du?«

Ihre störrische Weigerung, ins Detail zu gehen, ärgerte ihn. »Wahrscheinlich nicht.«

Eisiges Schweigen hing in der Leitung. Er griff nach seiner Zigarette, nahm einen Zug und stieß den Rauch aus. Am liebsten hätte er einfach aufgelegt. Er wünschte, er würde es tun; er wünschte, er könnte es.

»Ich verstehe ja, dass du nicht scharf darauf bist, dich da reinziehen zu lassen. Ehrlich.«

»Was hast du erwartet, Caroline?«

»Keine Ahnung. Ich habe spontan angerufen. Ohne mir vorher Gedanken darüber zu machen.«

»Scheiße noch mal, du rufst mich mitten in der Nacht an und erzählst mir einen Scheißdreck, was vorgefallen ist, aber ich soll alles stehen und liegen lassen und loslaufen, um dich aus irgendeinem Schlamassel rauszuholen? Und dabei weiß ich noch nicht mal, worum es geht!« Er machte eine effektvolle Pause. »Moment mal. Wieso kommt mir das bloß so bekannt vor? Klingt das für dich nicht, als hättest du das schon mal gehört?«

Sie reagierte genau so, wie er es erwartet hatte – gekränkt. »Ich bitte dich nicht, mir zu helfen, Dodge.«

»Prima. Denn …«

»Berry steckt in Schwierigkeiten.«

»Sieht ja fast aus, als würde tatsächlich jemand auf dem Ding kochen.« Dodge setzte sich an den Frühstückstisch in Dereks und Julies Küche, die zwar tadellos aufgeräumt war, aber sichtliche Gebrauchsspuren trug.

Derek lachte. »Ich erinnere mich nicht, dass ich vor unserer Hochzeit den Herd jemals angeschaltet hätte.« Er griff nach der Kaffeekanne und schwenkte sie einladend.

»Klar«, sagte Dodge. »Zwei Stück Zucker. Wenn schon, denn schon.«

Derek kehrte mit einem Kaffeebecher, der Zuckerdose, einem Löffel und einer fransenbesetzten Leinenserviette zum Tisch zurück. Dodge betastete den Saum der Serviette und musterte seinen Boss mit hochgezogenen Brauen.

»Julie besteht auf Stoffservietten.«

Dodge rümpfte die Nase und schaufelte Zucker in seinen Becher. »Benutzt sie diesen ganzen Krempel tatsächlich?«

Derek folgte Dodges Blick zu dem Keramikkrug, in dem allerlei Kochutensilien steckten. »Ja. Es ist unglaublich, aber es gibt für alles irgendeine Gerätschaft.«

»Wo ist sie überhaupt?«

»Oben. Sie übergibt sich.«

Dodge blies in seinen Kaffee und nippte daran. »Das ist ja nicht schön.«

»Nein, eigentlich ist sie sogar froh darüber.«

»Sie steht drauf, sich die Seele aus dem Leib zu kotzen?«

»Morgendliche Übelkeit ist ein gutes Zeichen. Es bedeutet, dass sich der Embryo in der Gebärmutter einnistet, was alle möglichen hormonellen Schwankungen auslöst. Deshalb kann es zu Übelkeit kommen, weshalb …«

»Danke«, brummte Dodge in seinen Kaffeebecher. »Eigentlich habe ich kein Bedürfnis, mich in Julies Gebärmutter wie in meinem Wohnzimmer auszukennen. Offen gesagt wäre es mir lieber, wenn die Geheimnisse der menschlichen Fortpflanzung auch weiterhin geheim blieben.«

»Dachte ich’s mir doch, dass ich deine Stimme gehört habe.« Julie betrat die Küche und lächelte Dodge an. Trotz ihres Übelkeitsanfalls sah sie wie das blühende Leben aus. »Wieso bist du so früh schon auf den Beinen? Für dich ist es ja noch mitten in der Nacht, oder? Noch dazu an einem Samstag.«

»Klingt, als hättest du einen anstrengenden Morgen hinter dir.«

»Halb so wild. Das legt sich bald, außerdem ist die Übelkeit ein gutes Zeichen. Der Embryo nistet sich in der Gebärmutter ein.«

Derek lachte. »Das habe ich ihm alles schon erklärt. Aber Dodge will nichts mehr davon hören.«

»Verstehe ich.« Sie erkundigte sich, ob Derek ihrem Gast bereits etwas zu essen angeboten hatte. Als er verneinte, schnitt sie ihm ein Stück Rührkuchen ab, das er gern annahm. Schließlich wusste er, was für eine ausgezeichnete Köchin sie war.

»Wärst du meine Frau, hätte ich garantiert schon zehn Kilo mehr auf den Rippen«, murmelte er und schob sich den zweiten Bissen in den Mund.

»Hast du Derek in letzter Zeit mal nackt gesehen?«

»Hey!« Derek gab ihr einen Klaps aufs Hinterteil, zog sie auf seinen Schoß und vergrub das Gesicht an ihrem Hals. »Du bist diejenige von uns, die dick und rund wird.« Er legte seine Hand auf ihren Bauch, der allerdings noch kein Anzeichen ihrer Schwangerschaft trug. Sie legte ihre Hand über seine, dann tauschten sie einen liebevollen, vielsagenden Blick.

Dodge räusperte sich. »Soll ich vielleicht lieber gehen?«

Julie glitt von Dereks Schoß und setzte sich auf einen Stuhl gegenüber von Dodge. »Nein, ich freue mich, dass du hier bist. Derek sieht dich ja fast jeden Tag, ich aber nicht.«

Dodge zog seinen Boss zwar regelmäßig damit auf, dass er wegen seines jungen Eheglücks völlig durch den Wind war, doch in Wahrheit freute er sich für die beiden. Derek und Julie Mitchell gehörten zu den wenigen Menschen auf diesem Planeten, für die Dodge zumindest ein Minimum an Toleranz aufbringen konnte. Er würde sogar so weit gehen zu behaupten, er respektiere und möge sie, trotzdem hielt er sie sorgsam auf Distanz, ebenso wie alle anderen Menschen um sich herum – wenn auch eher um deren Sicherheit als um seiner eigenen willen. Er tat anderen Menschen nicht gut. Er schien dazu verdammt, alles und jeden um sich herum zu ruinieren.

»Also, was verschafft uns die Ehre?«

Dereks Frage mochte sich ganz unschuldig anhören, doch Dodge ließ sich davon nicht täuschen. Derek hatte einen messerscharfen Verstand und einen untrüglichen Instinkt – Eigenschaften, die ihm in seinem Job als Strafverteidiger überaus gelegen kamen. Sein Boss hatte trotz des lockeren Geplänkels sofort gespürt, dass etwas im Busch war. Wann war Dodge das letzte Mal an einem Samstagmorgen um diese Uhrzeit bei ihm zu Hause aufgetaucht? Genau. Noch nie.

Dodge zuckte mit gespielter Lässigkeit die Schultern und nippte an seinem Kaffee, während er einen Anflug von Gewissensbissen niederkämpfte. Er würde den Mann belügen müssen, der beinahe so etwas wie ein Freund für ihn geworden war.

»Wie sauer wärst du, wenn ich dich fragen würde, ob ich ein paar Tage freinehmen kann?« Er starrte auf die schwarze Flüssigkeit in seinem Becher, trotzdem entging ihm nicht, dass Derek einen verwirrten Blick mit seiner Frau wechselte.

»Überhaupt nicht«, antwortete Derek. »Du hast dir einen Urlaub mehr als verdient.«

»Denk lieber nach, bevor du Versprechungen machst, Anwalt. Ich habe keine Lust, loszufahren und dich dann mitten in der Nacht an der Strippe zu haben, nur weil ich irgendeinen miesen Drecksack für dich aufstöbern soll …«

»Von mir hörst du keinen Ton, Dodge. Du bist längst urlaubsreif. Und sollte irgendetwas sein, während du weg bist, kann es bis nach deiner Rückkehr warten.«

»Einen Teufel kann es. Schon möglich, dass du nichts dagegen hast, wenn ich eine Weile weg bin, aber die Wichtigtuer, die für dich arbeiten, würden regelrecht ausflippen. Dabei reden die sowieso nur mit mir, wenn sie was wollen; nach dem Motto ›Wann kriege ich endlich die Hintergrundinformationen, Dodge?‹ oder ›Wann kommen Sie dazu, sich den Typen mal anzusehen?‹ und so.«

»Die Kanzlei läuft eben nicht ohne dich.«

»Genau das meine ich ja. Wenn ich ein paar Tage weg wäre, würde der ganze Laden zusammenbrechen.«

Dodge war eine enorme Hilfe bei der Lösung des Falls gewesen, in den Julie verstrickt gewesen war. Der Mord an Paul Wheeler war eine echte Tragödie gewesen, trotzdem hatten Derek und Julie es diesem Fall zu verdanken, dass sie einander gefunden hatten. Anfangs hatte Dodge Julie für eine manipulative Lügnerin oder sogar Schlimmeres gehalten. Sie hatte seine Feindseligkeit und seine Verdächtigungen mit großer Würde ertragen und schien sie ihm nicht nachzutragen. Vielleicht mochte sie ihn ja sogar.

Er sah sie an. Was vielleicht ein Riesenfehler war, denn sie musterte ihn mit unverhohlener Besorgnis. In seiner derzeitigen Verfassung war das womöglich noch gefährlicher als der instinktive Scharfsinn ihres Mannes.

»Ich hoffe, deine Bitte um eine Auszeit hat keine gesundheitlichen Gründe«, sagte sie sanft.

»Du meinst, ich brauche vielleicht etwas Zeit, weil ich an Lungenkrebs sterbe? Nein, nein, das ist es nicht«, erwiderte er, als er bemerkte, dass ihre Besorgnis in aufrichtige Angst umschlug. »Nicht dass ich wüsste. Zumindest noch nicht.« Er betastete seine Jacketttasche, um sicherzugehen, dass die Zigarettenschachtel noch darin steckte. Aber er würde eher die Mona Lisa anpissen, als sich in ihrer Küche eine Zigarette anzuzünden.

Er wandte sich wieder an Derek. »Vergiss es. War blöd, überhaupt zu fragen.« Er legte sich die Hand aufs Herz. »Die Firma braucht mich, und auch wenn Loyalität sonst ein Fremdwort für mich ist, hinter Mitchell and Associates stehe ich natürlich voll und ganz.«

»Hör auf mit dem Blödsinn. Was ist los?«

»Was los ist? Gar nichts. Ich wollte nur …«

»… ein paar Tage freinehmen, schon klar, und ich habe gesagt, dass das kein Problem ist. Aber jetzt fängst zu plötzlich an, mit mir herumzudiskutieren. Wieso?«

»Es gibt keinen Grund dafür. War eine Schnapsidee, das ist alles. Ich dachte, ich verziehe mich mal für ein paar Tage, aber …«

»Hattest du schon etwas Konkretes im Auge, wo du hin wolltest?« Derek grinste. »Eine dieser Tropeninseln, von denen du pausenlos schwärmst? Eines dieser National-Geographic-Paradiese, wo alle Frauen oben ohne herumlaufen?«

»Schön wär’s.«

»Wohin willst du dann?«

»In ein Hinterwäldlerkaff am Arsch von Texas.«

Dodge hätte sich am liebsten geohrfeigt. Es war nicht seine Absicht gewesen, damit herauszuplatzen.

Derek starrte ihn sekundenlang verdattert an. »Hat das Kaff auch eine Postleitzahl?«, fragte er dann.

Dodge hob die Schultern. »Egal. Ich fahre sowieso nicht.«

Einige Momente lang herrschte Stille. Dodge registrierte, wie Derek und Julie sich einen weiteren fragenden Blick zuwarfen. »Und was gibt es in Texas so Besonderes?«, fragte Julie schließlich.

»Texaner.«

Seine schlagfertige Erwiderung löste nicht den Heiterkeitsanfall aus, den er sich erhofft hatte. Wieder sah er sie an und konnte sich nur fragen, was verdammt noch mal heute Morgen mit ihm los war. Wieso musste er sie ständig ansehen? Okay, sie war schon immer eine Augenweide gewesen, doch diese hormonelle Berg-und-Tal-Fahrt in ihrem Körper schien allerlei sentimentale Regungen in ihm heraufzubeschwören, die so gar nicht seinem Naturell entsprachen.

Wenn ihn sonst jemand etwas Persönliches fragte, selbst wenn es noch so unverfänglich war, schnauzte er denjenigen an, sich gefälligst nicht in sein Leben einzumischen. Stattdessen ertappte er sich nun dabei, wie er antwortete: »Ich habe etwas Geschäftliches zu erledigen.«

Derek sah ihn verblüfft an. »Etwas Geschäftliches?«

»Entspann dich, Anwalt. Ich fahre nicht zu einem Vorstellungsgespräch. Es geht eher um etwas Persönliches.«

»Etwas Persönliches.«

»Heilige Scheiße, gibt’s hier drin vielleicht ein Echo?«, schnaubte er verdrossen. »Wieso machst du so einen Wind um die Sache? Es gibt etwas, um das ich mich kümmern muss – das könnte genauso gut eine Verstopfung sein.«

»Du musstest dich noch nie um irgendwelche Privatangelegenheiten kümmern, und schon gar nicht in Texas.«

»Tja, das beweist doch nur, dass du nicht alles weißt, oder? Aber wieso reden wir überhaupt noch darüber? Ich werde nicht fahren. Ich weiß doch, was passieren würde – kaum wäre ich dort, würde alle zwei Sekunden mein Handy läuten, und du würdest fragen, wann ich zurückkomme. Das ist es nicht wert. Vergiss es einfach.« Er warf die Leinenserviette auf den Tisch und stand auf. »Danke für den Kaffee. Der Kuchen war echt lecker, Julie, aber jetzt muss ich los.«

»Setz dich.«

»Wie war das?«

Derek musterte ihn streng. »Du wirst dieses Haus erst verlassen, wenn du uns erzählt hast, was verdammt noch mal los ist.«

»Ich hab’s doch schon gesagt. Ich hatte nur Lust …«

»Hier geht es nicht um einen Urlaub. Setz dich hin.«

Dodge ließ sich auf seinen Stuhl fallen, wenn auch widerstrebend. Mit feindseliger Miene saß er einige Sekunden lang da, dann hob er die Schultern. »Was?«

»Erinnerst du dich, als ich dir von Julie und mir erzählt habe?«, fragte Derek.

»Redest du von dem Paris-Flug?«

»Genau. Ich habe dir erzählt, weshalb ich befangen sei und Creighton Wheeler nicht als Mandanten vertreten könnte. Ich habe mein Innerstes vor dir ausgebreitet, weil ich wusste, dass ich dir mein dunkelstes Geheimnis anvertrauen kann. Den schwärzesten Fleck meiner gesamten Karriere. Meines Lebens

»Ja. Und?«

»Und Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit. Also, was ist los?« Derek wartete. Dodge schwieg. »Muss etwas sehr Wichtiges sein, sonst würdest du nicht so ein Riesentamtam machen, von wegen Urlaub und so. Du bist hergekommen, weil du uns etwas sagen willst, aber nicht weißt, wie du es anstellen sollst.«

»Bist du neuerdings auch Seelenklempner, oder was? Georgias heißester Strafverteidiger zu sein, reicht dir wohl nicht mehr, wie?«

Derek zuckte mit keiner Wimper.

»Was ist in Texas, Dodge?«, fragte Julie noch einmal.

Die Sanftheit ihrer Stimme berührte ihn mehr, als Derek es mit seiner Beharrlichkeit je vermocht hätte. Resigniert ließ er die Schultern sinken. »Nicht was. Sondern wer

»Okay, also, wer ist in Texas?«

Sorgsam darauf bedacht, Derek und Julie nicht ins Gesicht zu sehen, stand er auf, trug seine Tasse zur Spüle und kippte den Rest Kaffee in den Ausguss. »Meine Tochter.« Er spürte ihre Verblüffung, noch bevor er sich umdrehen und in ihre geschockten Gesichter blicken konnte.

»Du hast doch gar keine Tochter«, sagte Derek.

»Doch, habe ich.«

»Seit wann das denn?«

»Seit dreißig Jahren«, antwortete Dodge.

Derek schüttelte den Kopf. »Aber du hast explizit gesagt, du hättest keine Tochter.«

»Nein, das habe ich nicht.«

»Ich erinnere mich noch genau an das Gespräch, Dodge. Es war, als du Creighton Wheeler auf den Zahn gefühlt hast. Du hast gesagt, nach allem, was du über ihn herausgefunden hättest, würdest du nicht wollen, dass deine Tochter sich mit ihm einlässt. Und ich sagte: ›Aber du hast keine Tochter‹, worauf du gesagt hast: ›Aber wenn ich eine hätte.‹«

»Siehst du? Nicht ich habe das gesagt, sondern du.«

»Aber du hast es angedeutet.«

»Und? Dann verklag mich doch.«

»Dieser Hickhack bringt uns jetzt auch nicht weiter«, schaltete sich Julie ein und wandte sich an Dodge. »Wir sind nur überrascht, Dodge. Du hast zwei Exfrauen erwähnt, aber keine Kinder.«

»Nicht mehrere Kinder, sondern nur eines.«

Er starrte auf seine Schuhe und fragte sich, wann sie das letzte Mal anständig poliert worden waren. Falls überhaupt. Er müsste sie dringend in Schuss bringen. Vielleicht am Flughafen, wenn er ein bisschen Zeit hatte …

Flughafen? Der verdammte Flughafen. Er würde nicht fliegen.

»Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?«

»An ihrem Geburtstag.«

»An ihrem letzten?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ihrem ersten. Dem Tag, als sie geboren wurde.«

Tausend ungestellte Fragen schienen in der staunenden Stille zu schweben. Er wollte keine davon beantworten. Doch Derek hatte die Beharrlichkeit einer Bulldogge am Leib. »Wieso kommst du ausgerechnet jetzt auf die Idee, sie besuchen zu wollen?«

»Will ich gar nicht.«

»Lass uns doch für einen Moment einfach so tun, als wäre es so.«

Verärgert und unentschlossen kaute Dodge auf der Innenseite seiner Wange herum, ehe er sich zu seiner Verblüffung sagen hörte, dass seine Tochter in Schwierigkeiten stecke. »Ich weiß nicht genau, was passiert ist, jedenfalls ist die Polizei eingeschaltet. Und ihre … Jemand kam auf die Idee, dass ich ihr vielleicht helfen könnte. Wegen meines Jobs und so. Aber ich sehe das ein bisschen anders. Außerdem – wieso sollte ich das tun wollen?«

Derek und Julie musterten ihn weiter. Ihre Blicke sprachen Bände, ihr Schweigen war ohrenbetäubend. Er senkte den Kopf und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen. Schließlich ließ er seine Hand sinken und seufzte. »Scheiße, Scheiße und noch mal Scheiße.«