Er war ein großartiger Chinese, ein richtiger safrangelber Vertreter des Reiches der Mitte, 25 Jahre alt, vielleicht auch 40? Weiß der Teufel! Ich glaube, er war 23.
Niemand weiß, warum der geheimnisvolle kleine Chinese ein paar tausend Werst durchflogen hatte wie ein dürres Blatt und nun am Flußufer unterhalb der angeknabberten gezackten Mauer stand. Er trug eine Mütze mit zottigen Ohrenklappen, einen kurzen Schafpelz mit geplatzter Naht, eine Wattehose mit zerfetztem Hinterteil und prachtvolle gelbe Schuhe. Es war zu sehen, daß er etwas krumme, doch sehnige Beine hatte. Geld besaß er keinen Groschen.
Ein unangenehmer Wind, so zottig wie die Ohrenmütze, blies unterhalb der gezackten Mauer. Ein Blick auf den Fluß genügte, um zu wissen, daß es ein teuflisch kalter, fremder Fluß war. Hinter dem kleinen Chinesen war eine leere Straßenbahn, vor ihm poriger Granit, hinter dem Granit lag auf der Böschung ein Boot mit zerschlagenem Boden, hinter dem Boot kam dieser verfluchte Fluß, hinter dem Fluß war wieder Granit, und hinter dem Granit standen Häuser, Steinhäuser, der Teufel mochte wissen, wie viele. Aus irgendwelchen Gründen floß der blöde Fluß mitten durch die Stadt.
Nachdem der kleine Chinese die hohen roten Schornsteine und die grünen Dächer betrachtet hatte, richtete er den Blick auf den Himmel. Nun, der war schlimmer als alles andere. Grau in grau, Dreck in Dreck … und ganz niedrig, so daß sie die Adler und die Zwiebeltürme hinter der Mauer streiften, glitten fette Wolken mit vorgerecktem Bauch über den grauen Himmel. Dieser Himmel gab dem kleinen Chinesen den letzten Schlag auf die zottige Mütze. Es war ganz offenkundig, daß, wenn nicht sofort, so doch binnen kurzem von diesem Himmel kalter, nasser Schnee fallen mußte und unter so einem Himmel nichts Gutes, Sättigendes und Angenehmes geschehen konnte.
»O-o-oh!« murmelte der kleine Chinese vor sich hin und fügte wehmütig ein paar Worte in einer Sprache hinzu, die niemand verstand.
Der kleine Chinese kniff die Augen zu, und sogleich schwebte vor ihm eine sehr heiße runde Sonne, er sah eine sehr gelbe staubige Straße und seitlich davon eine goldene Wand aus Hirse, sodann zwei ausladende Eichen, die ein Schattenfiligran auf die rissige Erde warfen, und die Lehmschwelle eines Bauernhauses. Der Chinese, ganz klein noch, hockt da, kaut einen leckeren Fladen und streichelt mit der freien linken Hand die glutheiße Erde. Er möchte sehr gern trinken, ist aber zu faul aufzustehen und wartet, bis die Mutter hinter der Eiche hervorkommt. Die Mutter hat am Tragjoch zwei Eimer hängen, darin ist eiskaltes Wasser.
Der kleine Chinese spürte innerlich einen messerscharfen Schmerz und beschloß, die Riesenstrecke zurückzufahren. Fahren – aber wie? Essen – aber was? Wird schon klappen. Bin Chines … Laßt mich in Waggon.
Hinter einer Ecke der gezackten Riesenmauer erklang in hohen Tönen ein Glockenspiel. Die Glocken bimmelten unverständlich durcheinander, aber es war offenkundig, daß sie harmonisch und sieghaft eine Melodie wiedergeben wollten. Der Chinese stapfte um die Ecke, äugte in die Ferne und aufwärts und überzeugte sich davon, daß die Musik in einer runden schwarzen Uhr mit Goldzeigern an einem hohen grauen Turm entstand. Die Uhr spielte eine Weile und verstummte. Der Chinese holte tief Luft, folgte mit dem Blick einem ratternden schäbigen Motorrad, das direkt in den Turm hineinfuhr, zog die Mütze fester und ging in unbekannter Richtung davon.
Am Abend war der Chinese weit weit weg von der schwarzen Uhr mit dem musikalischen Zaubertrick und den grauen Schießscharten. Er war am schmutzigen Stadtrand in einem zweigeschossigen Häuschen auf einem zweiten Durchgangshof, hinter dem sich unmittelbar ein Ödplatz auftat, bedeckt mit Streifen faulig-grauen Schnees und roten Ziegeltrümmern. Im hintersten Zimmerchen längs des stinkenden Korridors, hinter der Tür mit dem zerfetzten Wachstuchbeschlag, brannte in einem Öfchen mit drohend rötlicher Flamme ein Holzfeuer. Vor der Ofenklappe mit den glühenden runden Löchern hockte ein uralter Chinese. Er war an die Fünfundfünfzig, vielleicht aber auch Achtzig. Sein Gesicht sah aus wie Baumrinde, und die Augen schienen, wenn er die Ofenklappe öffnete, böse wie bei einem Dämon, wenn er sie schloß hingegen – traurig, tief und kalt. Der kleine Chinese saß auf einem verbogenen Klappbett mit speckiger Flickendecke, in welchem kühne große Wanzen hausten, und sah verschreckt, argwöhnisch zu, wie rote und schwarze Schatten über die verräucherte Decke wallten und wogten. Immer wieder ruckte er mit den Schulterblättern, schob die Hand hinter den Kragen, kratzte sich wütend und horchte auf das, was der alte Chinese erzählte.
Mit aufgeblasenen Backen pustete der Alte in den Ofen und rieb sich mit den Fäusten die Augen, wenn ihn der Qualm biß. In solchen Momenten brach seine Geschichte ab. Hatte er die Klappe wieder geschlossen, so versank er im Schatten und sprach weiter in der fremden Sprache, die niemand als der kleine Chinese verstand.
Die Geschichte des Alten war sehr kurz und betrüblich. Es klang ungefähr so: Brot – haben wir nicht. Überhaupt nichts haben wir. Hungrig. Zu verkaufen – haben wir nichts. Kokain – haben wir ein bißchen. Opium – haben wir nicht. Dies letzte betonte der schlaue alte Chinese ganz besonders. Wir haben kein Opium. Nein, gar keins. Ein Jammer, aber keins da. Die alten Chinesenaugen verschwanden dabei gänzlich in ihren schrägen Schlitzen, und die Reflexe aus dem Ofen drangen nicht in ihre geheimnisvolle Tiefe.
»Was haben wir?« fragte der kleine Chinese verzweifelt und ruckte krampfhaft die Schultern.
»Was wir haben? Wir hatten natürlich was, aber alles so was, worauf man besser verzichtet.«
»Kalt – haben wir. Tscheka erwischt – haben wir. Auf dem Ödplatz wegen einem Päckchen Kokain mit dem Messer gestochen. Der Mörder hat’s weggenommen, dieses Miststück, der Dreckskerl von der Nastka.«
Der Alte stieß den Finger gegen die dünne Wand. Der kleine Chinese lauschte und hörte heiseres Frauenlachen, dann ein Fauchen und Gluckern.
»Selbstgebrannter – haben wir.«
Dies erläuterte der Alte, dann schob er den Ärmel seiner verdreckten Strickjacke hoch und zeigte auf dem von einem Geflecht knotiger Adern durchzogenen gelben Oberarm eine frische, schräge, wohl zwölf Zentimeter lange Narbe, die offenkundig von einem wohlgeschärften Finnenmesser stammte. Angesichts der dunkelroten Narbe verschleierten sich die Augen des alten Chinesen, und der magere Hals lief dunkel an. Mit einem Blick auf die Wand zischte der Alte auf russisch:
»Bandit – haben wir!«
Dann bückte er sich, öffnete die Ofenklappe, steckte zwei Holzscheite in den feurigen Rachen und pustete mit aufgeblasenen Backen, was ihn einem bösen chinesischen Geist ähnlich machte.
Eine Viertelstunde später bullerte das Holz gleichmäßig und machtvoll, und das schwarze Rohr erglühte rot. Hitze füllte das Zimmerchen, der kleine Chinese kroch aus seinem Schafpelz, stieg vom Bett und hockte sich auf den Fußboden. Der Alte, den die Wärme gutmütig stimmte, saß mit untergeschlagenen Beinen und spann eine verworrene Rede. Der kleine Chinese klapperte mit den gelben Augenlidern, schnaufte vor Hitze, murmelte ab und zu traurig und erstaunt Fragen. Der Alte knurrte. Ihm, dem Alten, ist alles egal. Lenin – haben wir. Den Allerobersten haben wir sehr. Burshuis – nein, die haben wir nicht! Die Rote Armee aber – die haben wir. Viel haben wir. Musik? Ja, ja. Musik, weil wir Lenin haben. In dem Turm mit der Uhr – da er sitzen. Hinterm Turm? Hinterm Turm – da ist die Rote Armee.
»Nach Hause fahren? Nein, o nein! Kein Propusk. Guter Chinese friedlich sitzen.«
»Ich – guter Chinese! Wo leben?«
»Da leben – nein, nein und nein. Rote Armee – überall leben.«
»Roter Chines«, wisperte der kleine Chinese hastig und blickte in die feurigen Löcher.
Eine Stunde verging. Das Bullern verstummte, und die sechs Löcher in der Ofenklappe guckten wie sechs rote Augen. Der kleine Chinese, der in dem Geschwank von Schatten und rötlichen Reflexen das Gesicht in Falten zog und älter aussah, lag auf dem Fußboden und streckte die Arme flehend nach dem Alten aus.
Noch eine Stunde verging, noch eine. Die sechs Löcher in der Ofenklappe wurden blind, und durch die angelehnte Lüftungsklappe zog süßer schwarzer Rauch. Der obere Türspalt war mit Lappen verstopft, das Schlüsselloch mit schmutzigem Wachs verklebt. Das karge bläuliche Flämmchen der Spirituslampe flackerte am Fußboden, daneben auf seinem Schafpelz lag seitlich der kleine Chinese. Er hielt ein wohl fünfunddreißig Zentimeter langes gelbes Rohr in den Händen, auf dem sich eine Art Drachen oder Eidechse streckte. An seinem kupfernen Ende, das wie Gold aussah, schmolz als dunkelroter Punkt ein schwarzes Kügelchen. Auf der anderen Seite der Spirituslampe lag auf einer zerfetzten Decke der chinesische Greis, ein ebensolches gelbes Rohr in der Hand. Um die beiden Chinesen schmolz und schwebte schwarzer Rauch und zog zur Lüftungsklappe.
Gegen Morgen waren auf dem Fußboden neben dem verlöschenden Flammenzünglein undeutlich vier gefletschte Zahnreihen zu sehen, zwei schwarzgelbe und zwei weiße. Wo der Alte weilte, weiß niemand. Der kleine Chinese jedenfalls weilte in einem Kristallsaal unter einer riesigen Uhr, die jede Minute läutet, kaum daß die goldenen Zeiger einmal umgelaufen sind. Der Klang weckt Gelächter im Kristall, und heraus tritt, freudig gestimmt, Lenin in gelber Strickjacke, mit einem überlangen, straff geflochtenen glänzenden Zopf, ein Mützchen mit Knopf auf dem Scheitel. Er ergreift den Zeiger am Schwanz und treibt ihn nach rechts – da läutet die Uhr linker Hand, und als er den Zeiger nach links treibt, klingen die Glocken rechter Hand. Nach diesem Glockenspiel führt Lenin den kleinen Chinesen auf den Balkon, um ihm die Rote Armee zu zeigen. Leben – im Kristallsaal. Wärme – haben wir. Nastka – haben wir. Nastka, unbeschreiblich schön, geht an dem Kristallspiegel entlang, und ihre Füßchen in den Schuhen sind so winzig klein, daß man sie in einem Nasenloch verstecken kann. Der Dreckskerl von der Nastka aber, der Mörder, der Bandit mit dem finnischen Messer, will in den Saal hineinschlüpfen, doch der kleine Chinese erhebt sich kühn und fürchterlich wie ein Riese, holt mit dem breiten Schwert aus und schlägt ihm den Kopf ab. Der Kopf kullert vom Balkon, der kleine Chinese packt den enthaupteten Leichnam am Kragen und schmeißt ihn dem Kopf hinterher. Die ganze Welt ist froh und erleichtert, daß der Unhold nicht mehr mit dem finnischen Messer herumlaufen kann. Zur Belohnung spielt Lenin dem kleinen Chinesen eine dröhnende Melodie auf den Glocken vor und hängt ihm einen Brillantstern an die Brust. Wieder läuten die Glocken und erläuten endlich auf dem Kristallfußboden eine goldene Hirsesaat, über dem Kopf eine runde heiße Sonne und unter der Eiche das Schattenfiligran. Und die Mutter kommt mit dem Tragjoch, und in den Eimern ist eiskaltes Wasser.
Man weiß nicht, was in den nächsten vier Tagen in dem zweigeschossigen Häuschen vorging. Man weiß nur, daß der kleine Chinese am fünften Tag, um fünf Jahre gealtert, heraustrat auf die dreckige Straße, nicht mehr im Schafpelz, sondern in einem Sack, auf dem Rücken den schwarzen Stempel »Inv. Nr. 4712«, und nicht in seinen schicken gelben Schuhen, sondern in verfärbten Fetzen, aus denen die geröteten großen Zehen mit den perlmuttfarbenen Nägeln lugten. An der Ecke unter der schiefen Laterne warf der kleine Chinese einen gesammelten Blick in den grauen Himmel, machte eine entschlossene Handbewegung und sang wie eine Geige sich selbst vor:
»Roter Chines!«
Und schritt in unbekannter Richtung davon.
Zwei Tage danach befand sich der kleine Chinese in einem riesigen Saal mit halbrunden Gewölben. Er saß auf einer Holzpritsche, ließ die ärmlich beschuhten Füße baumeln, saß gleichsam in der Beletage, im Parterre hingegen häuften sich bartlose und schnurrbärtige Köpfe in Helmen mit großem Stern. Der kleine Chinese sah lange hinunter auf die Gesichter unter den Sternen, und als er endlich das Gefühl hatte, auf die allgemeine Aufmerksamkeit irgendwie reagieren zu müssen, zeigte er zunächst sein schönstes safrangelbes Lächeln und sagte sodann dünn und singend alles, was er auf seiner schrecklichen Reise von der runden Sonne bis in die Hauptstadt der Glockenuhr gelernt hatte:
»Brot … Laßt mich in Waggon … Bin roter Chines …« Dann fügte er drei Wörter hinzu, deren Verbindung eine verblüffende Kombination ergab und eine geradezu wundersame Wirkung hatte. Der kleine Chinese wußte aus Erfahrung, daß diese Kombination die Fähigkeit besaß, die Tür eines geheizten Güterwaggons zu öffnen, daß sie aber auch schwere Faustschläge auf den rasierten Chinesenkopf auszulösen vermochte. Frauen ergriffen vor dieser Kombination die Flucht, Männer hingegen verfuhren ganz unterschiedlich: Mal gaben sie Brot, mal schlugen sie drauflos. Heute waren die Folgen erfreulich. Eine donnernde Gelächterwoge schlug in den Saal und schwappte bis hinauf zur gewölbten Decke. Der kleine Chinese beantwortete dieses erste Gelächter mit dem Lächeln Nr. 2, dem er eine etwas verschwörerische Nuance verlieh, und mit einer Wiederholung der drei Wörter. Nun glaubte er zu ertauben. Eine gellende Stimme zerschnitt das Lachdröhnen:
»Wanja, komm mal her! Hier ist ein einjährigfreiwilliger Chinese, der flucht wie ein Kosak!«
Rund um den kleinen Chinesen brodelte es, doch dann wurde es still, und er bekam Machorka, Brot und einen Blechbecher mit trübem Tee. Im Nu hatte der kleine Chinese voller Gier drei Stücke Brot verschlungen, die ihm zwischen den Zähnen knirschten, den Tee ausgetrunken und sich hungrig eine Selbstgedrehte angebrannt. Sodann trat ervor einen Mann in grüner Feldbluse. Dieser Mann saß unter einer Lampe mit zerschlagener Glocke hinter einer Schreibmaschine. Er sah den kleinen Chinesen wohlwollend an und sagte zu einem Kopf, der sich durch die Tür schob:
»Genossen, was gibt’s da Besonderes? Ein ganz gewöhnlicher Chinese …«
Der Kopf verschwand, der Mann nahm ein Blatt Papier aus der Schublade, ergriff den Federhalter und fragte:
»Name? Vatersname? Familienname?«
Der kleine Chinese antwortete mit einem Lächeln, enthielt sich jedoch jedweder Äußerung.
Auf dem Gesicht des Mannes spiegelte sich Verwirrung.
»Ähem … was ist, Genosse, verstehst du nicht Russisch? Na? Wie heißte?« Er stieß den Finger leicht in Richtung des kleinen Chinesen. »Name? Aus China?«
»China sein«, sang der kleine Chinese.
»Na, na! Chinese bist du, das versteh ich. Aber wie heißte denn, Kamrad? Na?«
Der kleine Chinese verschloß sich in einem satten, strahlenden Lächeln. Sein Magen verdaute Brot und Tee und spendete ihm ein Gefühl wohliger Mattigkeit.
»Das gibt’s nicht oft«, murmelte der Mann und kratzte sich erbittert die linke Augenbraue.
Dann dachte er nach, musterte den kleinen Chinesen, steckte das Papier zurück in die Schublade und sagte erleichtert:
»Der Kriegskommissar kommt gleich. Dann werden wir sehen.«
Zwei Monate vergingen. Und als der Himmel nicht mehr grau war, sondern blau mit bauchigen cremefarbenen Wolken, wußten bereits alle, daß, so wie Franz Liszt dazu geboren war, seine ungeheuerlichen Rhapsodien auf dem Flügel zu spielen, der kleine Chinese Sen Sin Po auf die Welt gekommen war, um mit dem Maschinengewehr zu schießen. Zuerst waren es unklare Gerüchte, doch diese bauschten sich zu Legenden, umschwebten den Kopf des kleinen Chinesen. Es begann mit einer Kuh, die er in zwei Hälften zerschnitt. Und es endete damit, daß in den Regimentern gemunkelt wurde, der kleine Chinese könne auf zweitausend Schritt Köpfe abschneiden. Wie dem auch sei, er erzielte tatsächlich hundert Prozent Treffer. Der Gedanke kam auf, die Zahl Hundert sei unstabil und relativ. Vielleicht erzielte er hundertfünf Prozent? In den achatfarbenen Schlitzaugen saß von Geburt an ein wundersames Visier, anders war solches Schießen nicht zu erklären. Zu einem Übungsschießen kam in einem riesigen Auto ein wichtiger Mann in grauem Militärmantel mit einem buschigen Schnauzbart und äugte interessiert durch den Feldstecher. Der kleine Chinese, dessen eingekniffene Augen sich in die Ferne bohrten, drückte die Griffe des ratternden Maxim und schnitt ein Gebüsch ab, wie ein Weib, das Getreide mäht.
»Tatsächlich, das soll der Teufel verstehen! So was seh ich zum erstenmal«, sagte der Schnauzbärtige, nachdem das glühende Maxim-Maschinengewehr verstummt war. Und an den kleinen Chinesen gewendet, fügte er mit lachenden Augen hinzu: »Virtuose!«
»Viltusi«, wiederholte der kleine Chinese und sah aus wie ein chinesischer Engel.
Eine Woche später sagte der Regimentskommandeur im Baß zum Führer des MG-Zuges: »Dieser verdammte Kerl!« Er zuckte begeistert die Achseln und wandte sich an Sen Sin Po mit den Worten: »Eine Prämie auszahlen!«
»Plemili … zali, zali«, echote der kleine Chinese, und gelblicher Glanz ging von ihm aus.
Der Kommandeur rief dröhnend wie aus einem Faß, und die MG-Schützen antworteten ihm in schmetterndem Chor. Am gleichen Abend meldete in der Kanzlei unter der zerschlagenen Lampenglocke ein Mann in Feldbluse, ein Papier sei eingegangen, wonach der kleine Chinese zum Internationalen Regiment abkommandiert werde. Der Kommandeur lief puterrot an und verfiel ins tiefe C:
»Willst du mal riechen?« Dabei zeigte er seine gewaltige behaarte Faust. Der Mann in der Feldbluse setzte unverzüglich den Entwurf eines Befehls auf, der mit den Worten begann: Befehlsgemäß wird der MG-Schütze Sen Sin Po vom Eisernen Regiment, unser Stolz und Virtuose …
Ein Monat war vergangen, am Himmel kein einziges Wölkchen, die heiße Sonne stand direkt über den Köpfen. Die blauen Baumgruppen in zwei Werst Entfernung donnerten wie bei einem Gewitter, und das Eiserne Regiment hinten und links ging zurück, grub sich ein, knatterte trocken. Der kleine Chinese, mit einem Haufen Gurte behängt, stand auf einem abschüssigen Hügel bei seinem spitznasigen Maschinengewehr. Sein Gesicht zeigte eine gewisse Versonnenheit. Von Zeit zu Zeit richtete er den Blick gen Himmel, danach auf die Baumgruppen, wandte wohl auch den Kopf zur Seite und sah dann den MG-Schützen, den er kannte. Dessen Kopf und darunter die zottige rote Schleife auf der Brust lugten etwa vierzig Schritt entfernt aus den Büschen. Nach diesem Blick zur Seite schaute der kleine Chinese wieder blinzelnd in die liebe Sonne, die ihm die Mütze wärmte, wischte sich den Schweiß ab und wartete, was für eine Wendung alle diese brodelnden Ereignisse nehmen würden.
Sie entwickelten sich folgendermaßen: Unter den blauen Baumgruppen in der Ferne erschienen dünne schwarze Ketten und kamen, bald sich zu Boden werfend, bald aufrecht gehend, sich lockernd und wieder schließend, auf den abschüssigen Hügel zu. Das Eiserne Regiment hinten und links von dem kleinen Chinesen knatterte wütender und häufiger. Eine durchdringende Stimme stieg hinter dem kleinen Chinesen den Hügel hinan:
»Feu-eeer!«
Sofort hämmerte das MG des Schützen mit der Schleife im Gebüsch los. Irgendwo von links kam Antwort, und vor der näher rückenden Kette stieg Staubnebel von der Erde auf. Der kleine Chinese robbte dichter an das MG, legte seine gelben Virtuosenhände um die Griffe, blieb noch ein paar Augenblicke stumm, wobei er den Lauf sacht von rechts nach links bewegte, dann ratterte er kurz und einladend, hielt inne … ratterte wieder, und dann auf einmal spielte er in ohrenbetäubendem Geknatter seine fürchterliche Rhapsodie. In Sekunden spie er seine glühenden Kugeln von Flanke zu Flanke in die Kette hinein. Die Kette fiel zu Boden, stand wieder auf, wurde lückenhaft, begann zu bröckeln. Eine heisere Stimme brüllte begeistert von hinten:
»Chinese! Mäh sie nieder! Feuer! Feu-eeer!«
Durch Dunst und Staub schickte der kleine Chinese einen unablässigen Sturzregen von Kugeln gegen die zweite Kette. Aber da wuchsen weit rechts dunkle Streifen aus der Erde, überragt von Staubsäulen. Ein Strom von Unruhe lief unsichtbar hügelan. Eine Stimme, heiser, schrie überschnappend:
»Auf die angreifende Kavallerie …«
Ein dumpfes Brausen erschütterte die Erde bis zu der Stelle, wo der kleine Chinese lag, und die dunklen Streifen kamen ungeheuer schnell näher. In dem Moment, als der kleine Chinese das MG nach rechts schwenkte, zerbarst über ihm die Luft in weißem Feuer, und es warfihn mit der Brust auf die Griffe. Dann sah er nichts mehr.
Als er die Sonne wieder wahrnahm und das Maschinengewehr und das zerdrückte Gras vor ihm aus dem Nebel traten, war alles ringsum zerbrochen und davongeflogen. Das Regiment hinter ihm ließ Schüsse flackern und wurde still. Kaum atmend vor brennendem Schmerz in der Brust, wandte sich der kleine Chinese um und sah hinten eine staubumwölkte Masse Reiter dahinsprengen, von wo das Knattern des Eisernen Regiments kam. Der MG-Schütze rechts war verschwunden. Den Hügel in Halbmondform umfassend, rannten Männer in Grün kettenweise heran, und ihre Achselklappen blinkten als goldene Flecke. Es wurden ihrer immer mehr, und der kleine Chinese konnte schon die kupferroten Gesichter unterscheiden. Vor Schmerz mit den Zähnen knirschend, guckte er verwirrt, faßte die Griffe, richtete den Lauf und ratterte los. Gesichter und goldene Flecke fielen vor ihm ins Gras. Dafür wuchsen sie rechts aus der Erde und eilten auf ihn zu. Neben ihm war auf einmal der Führer des MG-Zugs. Einen trüben Moment lang sah der kleine Chinese Blut über dessen linken Ärmel laufen. Der Kommandeur rief ihm nichts zu. Hoch aufgereckt, streckte er den rechten Arm aus und jagte trockene Schüsse gegen die Anstürmenden. Dann schob er sich vor den Augen des entsetzten Chinesen die Mündung der Mauser in den Mund und drückte ab. Der kleine Chinese blieb für einen Moment stumm. Darauf ratterte er wieder los.
Das Gewehr im Anschlag, vom Laufen keuchend, stürmte von rechts ein kupfergesichtiger Junker vor seiner Kette her zu dem kleinen Chinesen.
»Laß das Maschinengewehr los … verfluchtes Schlitzauge!« röchelte er, und Schaumbläschen traten ihm auf die Lippen. »Ergib dich!«
»Ergib dich!« brüllte es von rechts und von links, und die goldenen Flecke und spitzen Stacheln hüpften schon den Hang herauf. Da-da-da-da-da! spielte das Maschinengewehr ein letztes Mal und wurde dann still. Der kleine Chinese erhob sich, unterdrückte mit Willenskraft den Schmerz in der Brust und die drohende Unruhe, die ihm plötzlich das Herz abklemmte. In den letzten Augenblicken sah er unter der heißen Sonne wundersamerweise noch einmal die rissige Erde und das Schattenfiligran und die goldene Hirsesaat. Nach Hause fahren, nach Hause. Den Schmerz bezwingend, rief er strahlende Kreise in sein schlitzäugiges Gesicht, er spürte schon ganz deutlich, daß die Hoffnung starb, dennoch sagte er, gen Himmel gewandt:
»Plemili … loter Viltusi … zali! zali!«
Der hünenhafte kupferrote Junker stieß ihm weit ausholend das Bajonett in die Kehle, so daß es die Wirbelsäule durchtrennte. Noch einmal spielte die schwarze Uhr mit den Goldzeigern die dröhnende Kupferglockenmelodie, und rund um den kleinen Chinesen glitzerte der Kristallsaal. Kein Schmerz konnte in ihn eindringen. Ohne Schmerzen und ruhig, mit einem Lächeln, das auf seinem Gesicht angefroren war, spürte er nicht mehr, wie die Junker mit Bajonetten auf ihn einstachen.
1923