Vorwort

Wie ist der Satz »Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen« überhaupt in die Welt gekommen?

Es war eine pampige Antwort auf eine dusselige Frage.

Neuerdings hat er immer wieder selbst eine Frage. Er stellt sie, wenn am Freitagmittag die Politikkonferenz der ZEIT zu Ende ist. Die meistens Kollegen haben dann schon den engen Raum verlassen, er selber wartet, bis ihm jemand hilft, seinen Rollstuhl durch die Tür zu bewegen. Er fragt also: »Glauben Sie, dass ich eben Unsinn geredet habe?«

Man ist versucht, dies als Koketterie abzutun, denn auf den Gedanken wäre man gar nicht gekommen: Helmut Schmidt wirkte eben noch wach und engagiert wie eh und je. Dann aber ist man doch angerührt, weil man merkt, wie wichtig ihm die Antwort ist. Vielleicht auch, weil man an einige ältere Freunde oder an die eigenen Eltern denkt, die jünger sind – und trotzdem gelegentlich so wirken, als hätten sie schon erste Aussetzer.

Helmut Schmidt aber scheint gegen die Vergreisung und andere Plagen des Alters auf wundersame Weise gewappnet zu sein. Er hat lange schon ein Gegenmittel gefunden, von dem er so gut wie keinen Tag lassen kann. Nein, es sind nicht die vielen Reyno-Zigaretten, die er immer noch unverdrossen raucht, sogar auf einem SPD-Parteitag, auf dem für alle anderen ein striktes Rauchverbot gilt. Es ist ein Stoff, den er noch stärker braucht als Nikotin: Arbeit. »Wenn ich damit aufhöre«, hat er einmal nach einem unserer Gespräche gesagt, »dann gehe ich ein.«

Dem Wirkstoff Arbeit ist mit Sicherheit auch diese Gesprächsreihe zu verdanken, die es eigentlich gar nicht geben sollte. Was hat der Altkanzler und ZEIT-Herausgeber nicht alles vorgetragen, um sich der Pflicht zum wöchentlichen Interview »Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt« endlich zu entledigen: zu anstrengend, zu kurz in der Form, zu unterhaltsam! Im Januar 2009 stellten wir die beliebte Kolumne im ZEITmagazin tatsächlich ein. Aber schon beim ersten Zusammentreffen danach fragte Helmut Schmidt völlig überraschend: »Was können wir denn als Nächstes machen?«

So entstand die Idee zu einer neuen Gesprächsreihe unter dem Titel »Verstehen Sie das, Herr Schmidt?«, mit Betonung auf dem Sie. Dieses Format kam ihm insofern entgegen, als die einzelnen Interviews um einiges länger sein und nicht mehr wöchentlich im Magazin erscheinen sollten. Für uns bestand der besondere Reiz darin, dass Helmut Schmidt sich damit auf etwas einließ, das er sonst zu vermeiden versucht: das Räsonieren und Kommentieren aktueller Ereignisse. So sind die auf den folgenden Seiten abgedruckten 22 Gespräche auch ein spannendes Abbild von drei Jahren Zeitgeschichte. Sie umfassen hochdramatische weltpolitische Ereignisse – den Zusammenbruch der Finanzmärkte zum Beispiel, den Volksaufstand in mehreren arabischen Ländern oder den GAU in Fukushima und den darauf folgenden Beschluss der schwarz-gelben Regierung zum Atomausstieg in Deutschland.

In diese Zeit fiel aber auch die größte persönliche Katastrophe für Helmut Schmidt: der Tod von Loki in der Nacht zum 21. Oktober 2010. 68 Jahre war er mit ihr verheiratet, kennengelernt hatte er sie, als sie beide zehn Jahre alt waren und in dieselbe Klasse an der Lichtwarkschule in Hamburg-Winterhude kamen. Nie zuvor haben sich die Menschen, die ihm nahe sind, so viele Sorgen um Helmut Schmidt gemacht wie in den Wochen des Sterbens seiner Frau. Der Trauergottesdienst im Hamburger Michel fand am 1. November statt, das Fernsehen übertrug die Zeremonie, und die Kameras sparten keine Einstellung aus. Sie hielten auch auf das schmerzverzerrte Gesicht von Helmut Schmidt, dem Alleingebliebenen. Es war kaum auszuhalten.

Danach gab es einen kleinen Empfang im Hotel Vier Jahreszeiten, an dem die Familie Schmidt und enge Freunde teilnahmen. Auch der Schriftsteller Siegfried Lenz war gekommen, auch er körperlich vom Alter gezeichnet. Irgendwann sagte Schmidt zu Lenz: »Siggi, eine Runde haben wir noch!« Helmut Schmidt machte sich wieder an die Arbeit. Schon kurz darauf fand das nächste Gespräch für das ZEITmagazin statt (Seite 135).

Man kann leicht den Eindruck gewinnen, er sei ein schwieriger Gesprächspartner, weil er fordernd und abweisend sein kann. Tatsächlich kann niemand so nervenaufreibend schweigen wie Helmut Schmidt, und wenn er einer Frage sein apodiktisches »Nö« entgegenhält, ist das für sein Gegenüber so, als würde er eiligen Schrittes gegen eine Glastür laufen. Aber im Großen und Ganzen ist er ein dankbarer Interviewpartner. Das liegt nicht nur an seiner Pointensicherheit, an seiner Fähigkeit, Aktuelles auf der Folie der eigenen Biografie zu deuten, oder an seiner Bereitschaft, sich auch persönlich zu öffnen. Einzigartig an ihm ist – man kann das angesichts der Erfahrung mit anderen aktiven und ehemaligen Politikern nicht oft genug herausstellen –, dass er Fragen nicht übel nimmt. Auch dann nicht, wenn sie zu deutlichen Meinungsverschiedenheiten führen, wie es in diesem Buch an manchen Stellen sichtbar wird, etwa wenn es um die Frage geht, ob er nicht mehr über die Verfolgung und Ermordung der Juden während des Nationalsozialismus hätte wissen können, oder um seine strikte Ablehnung militärischer Interventionen in heutigen Diktaturen, selbst wenn dort gerade Zivilisten massakriert werden. Solche Differenzen bleiben bestehen, wenn das Tonband ausgeschaltet ist, was eben auch zeigt: Helmut Schmidt ist nicht das Orakel von Hamburg-Langenhorn (wo er bis heute in einem flachen, polizeigeschützten Bungalow lebt, der noch ganz im Stil der sechziger Jahre gehalten ist), zu dem man ihn hier und da gerne stilisiert. Er ist ein streitbarer Mensch mit entschiedenen Meinungen, der seinen Zuhörern nicht nach dem Mund redet und allen Versuchen, ihn zum Vorbild zu machen, unwirsch begegnet.

Helmut Schmidt schaut bis heute skeptisch auf jene seltene Art von Politikern, die Charisma besitzen. Göring, Goebbels und ganz besonders Hitler, sagt er, hätten diese Gabe für die abscheulichsten Verbrechen benutzt. Wenn er heute an politische Leitfiguren mit großer Ausstrahlung denkt, dann ist er schnell bei Oskar Lafontaine, aber der ist für ihn, wie hier im Buch mehrmals nachzulesen ist, auch eher ein Gottseibeiuns. Viel wichtiger, so findet er, seien Politiker, die ein Land kenntnisreich und mit Verantwortungsgefühl regierten.

Wenn er so redet, dann denkt man an die vielen Porträts aus seiner Zeit als Minister und Bundeskanzler, in denen er als pflichtbewusster und effizienter Machtmensch beschrieben wird, als Gegenentwurf zu seinem Rivalen und Mitstreiter Willy Brandt, an dessen Charisma im Nachkriegsdeutschland niemand heranreicht.

Aber natürlich ist Helmut Schmidt inzwischen selbst eine Persönlichkeit mit großer Ausstrahlung. Sie schöpft aus ganz eigenen Quellen: der Standfestigkeit, der intellektuellen Redlichkeit, der Bereitschaft, Gegenwind auszuhalten. Und aus der Fähigkeit, ein Jahrhundert nicht nur zu leben, sondern auch zu denken.

 

Giovanni di Lorenzo, Ende Juli 2012

»Man muss etwas riskieren«

Über den Bundestagswahlkampf 2009

September 2009. Die Bundestagswahl steht unmittelbar bevor. Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier, eben noch Partner in der Großen Koalition, kämpfen nun gegeneinander um Stimmen. Von politischer Leidenschaft oder gar Aufbruchstimmung ist in Deutschland allerdings nur wenig zu spüren. Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan spielt im Wahlkampf kaum eine Rolle, obwohl das Thema die Öffentlichkeit sehr bewegt.

 

Herr Schmidt, alle Welt beklagt sich, dass dieser Wahlkampf so langweilig sei. Und dann wird voller Sehnsucht an die Schlachten der alten Kämpen erinnert, als zum Beispiel Helmut Schmidt noch Franz Josef Strauß abwehren musste. Wie empfinden Sie denn den Wahlkampf?

Zunächst einmal stimmt es, dass dieser Wahlkampf relativ langweilig ist. Wenn in der Kritik aber die Vorstellung mitschwingt, zu einem ordentlichen Wahlkampf gehörten Verbalinjurien, dann kann ich das nicht teilen. Was ich an diesem Wahlkampf auszusetzen habe, ist der Umstand, dass Themen, die die Menschen sehr berühren, nicht wirklich behandelt werden.

 

Welche Themen sind das?

An erster Stelle unser militärisches Engagement in Afghanistan. Zweitens die Frage, wie wir die finanzielle Stabilität unseres Sozialstaats aufrechterhalten können. Und drittens, wie wir mit dem großen Schuldenberg fertigwerden, der nicht nur den Sozialstaat bedroht, sondern auch die politische Handlungsfähigkeit kommender Generationen.

 

Fangen wir mit Afghanistan an. Auf Ihrem Schreibtisch liegt die Regierungserklärung der Kanzlerin. Sie hat den Einsatz erneut gerechtfertigt und Bündnistreue geschworen.

Viel anderes als das, was in ihrer Erklärung steht, hätte sie nicht sagen können. Eine ganz andere Frage ist, ob es nicht schon lange vor dem Wahlkampf tief greifende wiederholte Debatten im Parlament hätte geben müssen. Viele militärische Fachleute haben diese Operation von Anfang an mit großen Zweifeln begleitet. Meistens ganz leise, um nicht als Heckenschützen dargestellt werden zu können, aber doch mit Substanz. So zum Beispiel mein Freund Volker Rühe. Und ich selbst habe vor etwas mehr als einem Jahr versucht, Frau Merkel, ihrem Kollegen Jung und dem Generalinspekteur der Bundeswehr meine Vorstellungen in einem längeren Gespräch nahezubringen. Auch sehr leise, wir sind damit nicht in eine Zeitung gegangen.

 

Was war denn Ihre Empfehlung?

Es lief darauf hinaus, sich darüber klar zu werden, was der Westen kann und was er will – und darüber, ob beides zur Deckung gebracht werden kann. Mit den bisherigen Operationen, die nun schon seit fast einem Jahrzehnt laufen, ist das immer unschärfer gewordene Ziel offenbar nicht erreichbar.

 

In Afghanistan geht es darum, so heißt es, eine stabile Demokratie aufzubauen, die Taliban zu entmachten und der zum Teil übel unterdrückten Bevölkerung, besonders den Frauen, zu mehr Selbstbestimmung zu verhelfen.

Das sind Ziele, die nachträglich in den Vordergrund gestellt worden sind. In erster Linie ging es darum, al-Qaida die Grundlage zu entziehen. Das war das allererste und wichtigste Ziel des UN-Beschlusses – und das hat man nicht erreicht. Zwar ist in Afghanistan nichts mehr von al-Qaida zu sehen, dafür aber im Westen Pakistans, nur ein Haus weiter. Man hätte vorher wissen können, dass man dieses Ziel mit den Mitteln, die man zur Verfügung hatte, nicht erreichen kann.

 

Hätte man noch mehr Soldaten hinschicken müssen?

Richtig. Die Sowjets hatten etwas weniger als 150000 Soldaten in Afghanistan – und mussten nach knapp zehn Jahren mit eingezogenem Schwanz wieder rausgehen. Wenn man in Afghanistan militärische, politische und soziale Stabilität herstellen will, dann reichen selbst 200000 Soldaten offenbar nicht aus.

 

Aber wo ist dann der Ausweg? Sollen die Truppen aufgestockt werden, oder ist der Einsatz sinnlos geworden?

Ich möchte erst mal wissen, was der Westen will. Denn das Ziel ist unklar geworden, das kann man auch der Regierungserklärung von Frau Merkel entnehmen; denn sie schlägt für den Herbst dieses Jahres eine UN-Konferenz vor, um Klärung herbeizuführen. Ich habe den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan von Anfang an mit Skepsis begleitet. Ich habe jedoch größten Respekt vor den jungen Männern und Frauen, die dort ihr Leben riskieren. Ich möchte nicht dazu beitragen, dass ihre Bereitschaft, das zu tun, was ihre Regierung angeordnet hat, beeinträchtigt wird.

 

Aber wie soll denn über Afghanistan diskutiert werden, wenn nicht einmal Sie eine Antwort haben?

Immerhin habe ich ein paar Elemente genannt, und ich bleibe dabei: Der Komplex von Fragen hätte im Parlament längst tief greifend diskutiert und dann im Wahlkampf zugespitzt werden müssen. Das kann man nicht von heute auf morgen mit Schlagworten nachholen.

 

Helmut Kohl, Ihr Nachfolger als Bundeskanzler, hat einmal zu mir gesagt: Wenn man selbst den Krieg erlebt hat, so wie er und Sie, dann schickt man keine Soldaten mehr in den Krieg.

Jedenfalls hat man ganz große Bedenken, wenn man weiß, was für eine schreckliche Scheiße ein Krieg ist. Da gebe ich Helmut Kohl recht.

 

Wenn man Politikern ihre Abneigung vorwirft, sich im Wahlkampf auf etwas festzulegen, dann sagen sie: Wir haben aus der letzten Wahl gelernt; die Wähler bekommen den Wahlkampf, den sie wollen; je mehr wir sagen, desto weniger Stimmen gewinnen wir.

Ich halte das für bedenkenswert, aber nicht für akzeptabel. Ich selber habe da meine Erfahrungen mit dem berühmt-berüchtigten Nato-Doppelbeschluss gemacht. Es war offensichtlich, dass mir weder meine Partei noch eine Mehrheit der öffentlichen Meinung folgen wollte. Gleichwohl habe ich gesagt: Das ist notwendig im Interesse des deutschen Volkes, und deshalb machen wir das.

 

Es hat Sie die eigene Regierung gekostet!

Das muss man riskieren. Ein Politiker, der das nicht riskieren will, taugt nichts für die demokratische Regierung.

 

Die SPD liegt derzeit in Umfragen bei etwa 25 Prozent. Würden Sie sagen, dass sie jetzt den Preis dafür bezahlt, dass sie die Agenda 2010 umgesetzt hat?

Würde ich nicht sagen, nein.

 

Warum nicht?

Jetzt wollen Sie mich in die Lage bringen, meine eigene Partei zu kritisieren.

 

Ich frage nur, ob es in Ihren Augen nicht ungerecht ist, dass die SPD zwar das Richtige für das Land getan hat, aber dafür bis heute büßen muss.

Würde ich nicht unterschreiben.

 

Sie meinen, es gibt andere Gründe für die schlechten Umfragewerte als die Agenda 2010?

Die Agenda 2010 spielt durchaus eine Rolle. Aber sie ist nicht der ausschlaggebende Grund.

 

Ist es nicht furchtbar, mitanzusehen, wie die stolze, große SPD plötzlich so klein wird?

Ich möchte mich dazu nicht äußern.

 

Was müsste eine Kanzlerin oder ein Herausforderer den Menschen jetzt im Wahlkampf sagen?

Jetzt ist es zu spät. Wir haben tief im September, an dieser Art von Wahlkampf ist nichts mehr zu ändern. Man hätte von beiden Regierungsparteien verlangen können, dass sie klar und deutlich verteidigen, was sie in den letzten vier Jahren gemeinsam getan haben. Aber das geschieht kaum.

 

Warum eigentlich nicht?

Aus Feigheit vor Meinungsumfragen.

 

Was hat denn diese Regierung gut gemacht?

Eine ganze Menge. Ich würde umgekehrt fragen: Was hat sie denn eigentlich falsch gemacht?

 

Man könnte ihren Versuch nennen, Opel zu retten. Oder die Abwrackprämie und die Gesundheitsreform.

Opel: einverstanden. Abwrackprämie: einverstanden. Gesundheitsreform: nicht einverstanden – aber das kann ich nicht ausreichend beurteilen. Abwrackprämie und Opel sind jedoch bereits Beiträge zum Wahlkampf gewesen.

 

War die Rettungsaktion nach Ausbruch der Krise gut?

Es wird Sie wundern, was für ein Wort ich jetzt benutze: Die ökonomische Rettungsaktion nach dem Bankenkrach in New York, der die Welt mit der Gefahr einer Weltdepression konfrontiert hatte, durch das Team Merkel und Steinbrück war hervorragend. Diese beiden Personen haben ihre Sache so erstklassig und glaubwürdig gemacht, dass die Deutschen erstmals nicht mit ansteckender Angst reagiert haben. Es ist ein Fehler der Journalisten, das nicht zu konstatieren.

 

Aber wie können sie mit der Schuldenlast fertigwerden?

Das ist ein wichtiges Thema, besonders weil eine der beiden Volksparteien allen Ernstes davon redet, in der nächsten Legislaturperiode die Steuern senken zu wollen. Das ist Unfug – und sollte der Opposition eigentlich eine Menge Munition liefern.

 

Die andere Regierungspartei behauptet, sie wolle die Reichen stärker besteuern. Ist das nicht auch Unfug?

Kommt darauf an, was wirklich im Detail gemeint ist. Unter Adenauer, Erhard, Kiesinger, Brandt und Schmidt wurden die Reichen in Deutschland stärker besteuert als heute. Und damit sind wir sehr gut gefahren. Es ist also kein Unfug, die Wohlhabenden stärker zu besteuern. Wenn man es aber so macht, dass sie ihr Vermögen mit ziemlicher Leichtigkeit in die Schweiz oder nach Liechtenstein verlagern können, dann hat man es nicht gut gemacht. Steinbrück hat sich mit scharfen Worten an die Regierungen dieser kleinen Staaten gewandt. Jetzt sind die Schweiz und Liechtenstein dabei, einzuknicken. Gott sei Dank, das ist ein großer Fortschritt!

 

Trotzdem: Wie werden wir mit den Schulden fertig?

Jedenfalls nicht durch Steuersenkungen und auch nicht notwendigerweise durch Steuererhöhungen. Sondern durch den Ablauf der Zeit.

 

Das heißt durch Inflation?

Wir haben über längere Zeiträume hinweg immer eine schleichende Entwertung der Kaufkraft unserer Währung gehabt. Zwar hat sich die D-Mark in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren hervorragend bewährt, und der Euro bewährt sich deutlich besser als der Dollar – wir erwarten Währungsstabilität nach außen und nach innen. Dass aber auch der Euro über längere Zeit an Kaufkraft verlieren wird, das zeigt die Geschichte seit Jesus Christus.

 

Sie meinen, wir machen uns zu viele Gedanken über das Ausmaß der Schulden?

Ja, weil es in der Politik und im Journalismus Leute gibt, die immer etwas kritisieren müssen, taucht die Schuldenlast in Reden und Leitartikeln auf. So macht man den Leuten mehr Angst als nötig. Die Ökonomen auf der ganzen Welt, sofern sie vernünftig sind, haben sich längst damit abgefunden, dass eine Kaufkraftentwertung von zwei Prozent pro Jahr normal ist.

 

Was hat die erste Große Koalition unter Kiesinger von der heutigen unterschieden?

Die erste Große Koalition wurde von Personen gebildet, die sich noch kurz zuvor tief misstraut hatten: Kiesinger war ein ehemaliger Nazi, Wehner ein ehemaliger Kommunist. Und diese beiden waren die Eckpfeiler der Koalition! Das ist eine psychologische Hürde sondergleichen gewesen. Dagegen war es kein großes Kunststück, die zweite Große Koalition zu bilden. Sie war geboten – und damit Schluss.

 

In den USA schmähen Konservative und Rechtsradikale Präsident Obama wahlweise als Sozialisten oder Faschisten und werfen ihm Rassismus vor. Was sagt uns das über die amerikanische Gesellschaft?

Es zeigt, dass auch die amerikanische Demokratie anfällig ist für Dummheiten, sogar für Gemeinheiten. Und dass sie womöglich anfällig ist für Verbrechen.

 

Sie waren ein paar Monate lang krank. Wie geht es Ihnen jetzt?

Jedenfalls nicht besser als im Durchschnitt anderen Leuten, die neunzig Jahre alt sind.

 

Das birgt auch ein bisschen Hoffnung.

Hoffnung ist eigentlich nicht mein Fall.

 

Was heißt das?

Man muss es nehmen, wie es kommt. Das heißt es.

 

24. September 2009

Die neue Regierung, der Störfall Sarrazin und einige Erinnerungen an den 9. November

November 2009. Nach den »kürzesten Koalitionsverhandlungen, die es jemals gegeben hat« (Ronald Profalla), nimmt die schwarz-gelbe Regierung ihre Arbeit auf. Die SPD, bei den Wahlen im September auf 23 Prozent abgestürzt, muss sich nicht nur mit der neuen Oppositionsrolle auseinandersetzen, sondern auch mit Thilo Sarrazin. Seine Äußerungen im Interview mit der Kulturzeitschrift »Lettre International« über »kleine Kopftuchmädchen« und »türkische Wärmestuben« spalten die öffentliche Meinung. In Berlin und anderswo wird der zwanzigste Jahrestag des Mauerfalls gefeiert.

 

Lieber Herr Schmidt, haben Sie eine Vorstellung davon, was die neue Regierung will?

Das ist ganz schwer zu sagen. Auf jeden Fall sind CDU, CSU und FDP von dem Willen erfüllt, zu regieren: Alle drei denken, dass es gegen die göttliche Ordnung verstößt, wenn Sozialdemokraten an der Macht sind. Ansonsten tönt Schwarz-Gelb laut von Steuererleichterungen, und wenn Sie sich den Koalitionsvertrag, dieses monstrum simile mit seinen …

 

… 124 Seiten …

… 124 Seiten und 6000 Zeilen, genauer anschauen (holt das Papier unter einem Stapel anderer hervor), dann ist da von Entlastung des Mittelstandes und der Wirtschaft die Rede. Im ersten Kapitel, »Wohlstand für alle«, werden auch »goldene Regeln« aufgeführt, hier haben wir es gleich (blättert). Da steht in Gänsefüßchen: »Folgende ›goldenen Regeln‹ sind einzuhalten.« Diese Regeln sind zum Teil neu erfunden. Mir ist das recht, was die Koalition da schreibt, etwa in Zeile 557: »Das Ausgabenwachstum muss unter dem Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (real) liegen.«

 

Soll wohl eine Art Kostenbremse sein.

Das bedeutet eine Beschneidung der Ausgaben. Das durchzusetzen wird unangenehm sein, und es widerspricht dem allgemeinen Versuch, sich dem Volk angenehm zu machen. Das wird hier versteckt. Die nächste Regel in Zeile 559 ist da schon deutlicher: »Alle Maßnahmen des Koalitionsvertrages stehen unter Finanzierungsvorbehalt.«

 

Immerhin enthält dieser Koalitionsvertrag einige Ankündigungen, die man in dieser Deutlichkeit nicht erwartet hatte: einen Systemwechsel in der Steuer- und in der Gesundheitspolitik zum Beispiel.

Sofern die Ankündigungen realisiert werden, stimmt das. Aber Sie sehen gerade bei einer anderen Regierung, nämlich bei Obama, dass vor der Wahl große Reden gehalten werden, die Verwirklichung der Versprechen dann aber weit hinterherhinkt. Das ist normal, und das wird in Deutschland ähnlich sein. Ich bin nicht übermäßig optimistisch.

 

Die Bundeskanzlerin steht im Zenit ihrer Macht. Sie könnte jetzt auch eine Menge gestalten.

Frau Merkel hat in den Jahren, in denen sie in der Politik ist, gewaltig hinzugelernt, und sie hat das Amt eines Bundeskanzlers zweifellos sehr ordentlich ausgefüllt. In einem Punkt muss ich sie ausdrücklich loben, ich tue das gerne noch mal, weil mir das wichtig ist: Dank ihres Zusammenspiels mit Herrn Steinbrück waren die Deutschen wesentlich daran beteiligt, dass im Herbst des Jahres 2008, als wir unmittelbar vor dem Absturz in eine Weltdepression mit weltweit 150 Millionen Arbeitslosen standen, alle vernünftig reagiert haben. Nicht bloß die Europäer und die Nordamerikaner, sondern auch die Chinesen, die Russen, auch die Japaner und Inder. Dergestalt wurde die Weltdepression vermieden. Das hat es in der ganzen Weltgeschichte noch nicht gegeben.

 

Bevor Sie Bundeskanzler wurden, haben Sie viele Erfahrungen als Minister gesammelt. Jetzt sitzen dort die zwei Youngster Guttenberg und Rösler, beide in den Dreißigern, die mit dem Verteidigungs- und dem Gesundheitsministerium wichtige Ressorts leiten. Kann man in dem Alter schon solch wichtige Aufgaben bewältigen?

Ich habe mich zeit meines politischen Lebens mit Franz Josef Strauß gestritten, obwohl ich durchaus Respekt vor seiner Persönlichkeit hatte. Als Adenauer ihn 1956 zum Verteidigungsminister machte, war er 41, also nur wenige Jahre älter als Guttenberg jetzt. Strauß hat in diesem jugendlichen Alter schwere Fehler gemacht. Die hätte er vielleicht zehn Jahre später nicht mehr gemacht. Er war voller Tatendrang, und die Armee sollte so schnell wie möglich aufgebaut werden, das hatten der Alte und die Alliierten verlangt. Andererseits gab es in der Weltgeschichte noch viel jüngere Leute als Guttenberg, und wir bewundern sie heute noch. Ich denke an den britischen Premierminister William Pitt den Jüngeren oder an Alexander den Großen. Wenn der Mann sich in diesem schweren Amt bewährt, wird er zur ersten Garnitur des Führungspersonals der Bundesrepublik gehören.

 

Wie lange dauert es, bis man so ein Ministerium beherrscht?

Maximal ein halbes Jahr.

 

Kann man denn Finanzminister werden, ohne Volkswirtschaft studiert zu haben?

Ja, das kann man. Es ist aber schwierig. Ein Beweis dafür, dass man so etwas kann, ist Deng Xiaoping. Er hatte einen fabelhaften Instinkt für das, was möglich ist.

 

Herr Schäuble kann die Aufgabe also auch bewältigen?

O ja.

 

Die Leute wundern sich, wie das geht: heute Innenminister, morgen Finanzminister …

Das kann gehen. Was sich bei Schäuble positiv auswirken wird, ist die natürliche schwäbische Sparneigung. Er wird nicht so leicht Geld ausgeben, wenn es nicht sein muss.

 

Die neue Regierung weckt offenbar wenig Ängste. Woran liegt das? Ist das vielleicht ein Indiz dafür, dass die deutsche Politik längst sozialdemokratisiert ist?

Richtig, es geht den Deutschen ja auch gut. Auf der ganzen Welt gibt es nur wenige vergleichbare Staaten: die Schweiz, die skandinavischen Staaten, und dann kommen schon wir. Ich will daran erinnern, dass bei uns 21 Millionen Menschen, 25 Prozent der Gesamtbevölkerung, von staatlichen Renten und Pensionen leben. Dazu kommen sechs Millionen, die Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe bekommen, das sind noch mal acht Prozent. Ein Drittel der Menschen, die hier leben, ist also von Staats wegen versorgt. Das ist eine unglaubliche Leistung, die auch stolz machen kann.

 

Sie haben sich immer geärgert, wenn man Ihnen vorgehalten hat, der richtige Kanzler in der falschen Partei zu sein. Zu mir haben Sie einmal gesagt: »Unterschätzen Sie nicht, was es mir bedeutet, Sozialdemokrat zu sein.« Es muss Ihnen doch wehtun, dass die SPD so katastrophal schlecht abgeschnitten hat!

Ja, sicher. Die Frage ist aber nicht, wie sehr es schmerzt, sondern wie es zu diesem Absturz kommen konnte.

 

Und was ist Ihre Erklärung?

Da ist der Umstand, dass wir alle paar Jahre die Vorsitzenden gewechselt haben, dass einige Länderfürsten oder Möchtegern-Länderfürsten eine Politik gegen die Spitze der Partei gemacht haben. Da ist die Tatsache, dass die im Prinzip richtige Agenda 2010 von Gerhard Schröder ohne ausreichende öffentliche Diskussion ins Werk gesetzt worden ist. Außerdem hat die Regierung damals eine Reihe handwerklicher Fehler gemacht, die die jetzige Regierung korrigieren will. Es ist leider so.

 

Haben denn Herr Gabriel und Frau Nahles schon um einen Termin bei Ihnen gebeten?

Nein, das brauchen sie auch nicht.

 

Würden Sie die beiden Herrschaften denn empfangen?

Natürlich, aber was würde ihnen die Unterhaltung mit einem alten Mann nützen?

 

Jetzt stapeln Sie aber wirklich zu tief. Morgen kommt zum Beispiel der Bundespräsident zu Ihnen zum Mittagessen.

Ja, aber aus rein privaten Gründen.

 

Noch mehr Aufregung als um die neue Regierung gab es um die Äußerungen von Thilo Sarrazin über Migranten in Berlin. Sogar Sie haben das in einer unserer Redaktionskonferenzen thematisiert.

Ich habe mir Sarrazins Interview in der Zeitschrift Lettre International angesehen. Es ist ein sehr langes Gespräch zwischen einem Interviewer, der zurückhaltend fragt, und Sarrazin, der aus seiner großen Erfahrung heraus zum Beispiel die ökonomische Lage Berlins und Deutschlands analysiert. Die Passagen, die sich auf Ausländer bezogen und die von der deutschen Presse herausgezupft worden sind, sehen im Gesamtzusammenhang dieses Interviews ziemlich anders aus. Wenn er sich ein bisschen tischfeiner ausgedrückt hätte, hätte ich ihm in weiten Teilen seines Interviews zustimmen können.

 

Wenn Sarrazin sagt, osteuropäische Juden hätten einen um 15 Prozent höheren Intelligenzquotienten als der Rest der Bevölkerung, wenn er sagt, dass Türken »Kopftuchmädchen produzieren« – das ist doch nicht tischunfein, das ist diffamierender Unsinn, wenn auch im Falle der osteuropäischen Juden positiv diskriminierend!

Die Sache mit der Intelligenz wollen wir doch mal genau untersuchen (holt das Originalinterview hervor): Sarrazin wünscht sich Einwanderung nicht durch Türken und Araber, er sagt, es würde ihm gefallen, »wenn es osteuropäische Juden wären mit einem um 15 Prozent höheren IQ als dem der deutschen Bevölkerung«. Was auch immer, ich halte diese sachliche Aussage für richtig.

 

Sie glauben, dass Menschen von Geburt an intelligenter oder dümmer sind, weil sie einem bestimmten Volk oder gar einer Religionsgemeinschaft angehören?

Es spielen bei der Intelligenz natürlich zwei Dinge eine Rolle: die Begabung, das sind die Gene. Und es spielt das soziale Umfeld eine Rolle, die Schule, die Familie und all das, was man braucht, um aus der Begabung etwas zu machen. Das dürfte die moderne Wissenschaft heute ähnlich sehen und dafür ihre Fachausdrücke haben. Es gibt ja gar keinen Zweifel daran, dass die hohe geistige Bedeutung von Wissenschaft und Kunst in Berlin zur Zeit der Weimarer Republik ganz wesentlich den Juden zuzuschreiben war.

 

Und was soll es bringen, alle Türken pauschal anzurempeln und so hässliche Ausdrücke zu gebrauchen wie »Kopftuchmädchen produzieren«?

Ich hätte diese Ausdrücke sicherlich nicht gebraucht. Nach einem langen Gespräch, das umgangssprachlich geführt wurde, hätte ein Redakteur an drei oder vier Stellen Korrekturen vornehmen müssen. Das hat offenbar keiner getan.

 

Warum verteidigen Sie Herrn Sarrazin? Weil Sie ihn lange kennen und einmal einen guten Eindruck von ihm gewonnen hatten?

Nein, weil ich sein Interview ganz gelesen habe – im Gegensatz zu vielen Journalisten. Aber es stimmt auch, dass ich ihn seit mehr als dreißig Jahren kenne. Er hat als Berliner Finanzsenator hervorragende Arbeit geleistet.

 

Der Philosoph Peter Sloterdijk hat zum Fall Sarrazin geschrieben: »Man möchte meinen, die deutsche Meinungs-Besitzer-Szene habe sich in einen Käfig voller Feiglinge verwandelt, die gegen jede Abweichung von den Käfigstandards keifen und hetzen.« Gibt es bei uns wirklich einen solchen Druck zur Konformität?

Ich hätte es abermals anders formuliert, aber im Prinzip ist etwas Richtiges an dem, was Herr Sloterdijk schreibt. Ein wichtiger Punkt ist doch, dass die Volksmeinung überwiegend auf der Seite Sarrazins ist.

 

Sie haben oft genug gesagt, dass man dem Volk auch widersprechen muss!