Melanie Little
Der Schreiber
von Córdoba
Aus dem Englischen
von Christa Broermann
Carl Hanser Verlag
Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel The Apprentice’s Masterpiece. A Story of Medieval Spain bei Annick Press Ltd., Toronto/Vancouver.
ISBN 978-3-446-24096-4
© Melanie Little 2008
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© Carl Hanser Verlag München 2012
Alle Rechte vorbehalten
Aus dem Englischen von Christa Broermann
Umschlagsillustration: Ludvik Glazer-Naudé
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
E-Book-Konvertierung: Beltz Bad Langensalza GmbH
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Dieses Buch ist den Opfern von Intoleranz überall
auf der Welt sowie jenen gewidmet, die dadurch
Widerstand leisteten, dass sie Fragen stellten, und
sei es auch nur sich selbst.
Das Papier könnt ihr verbrennen,
aber was darauf steht, nicht,
denn ich trage es im Herzen.
Ibn Hazm, Córdoba
994–1064
DER SCHREIBER
VON CÓRDOBA
Prolog
Spanien war schon immer reich an Geschichten. Sogar der erste große Roman, Don Quijote, kam aus Spanien. Die Spanier des Mittelalters ließen sich von Erzählungen über Ritter und vornehme Damen verzaubern, und selbst die Könige und Adeligen liebten die eher weit hergeholte Geschichte ihrer Abstammung von dem griechischen Halbgott Herakles. Aber manchmal hatte diese Freude am Geschichtenerzählen auch eine gefährliche Seite.
In den Jahren vor der Ära, die in Geschichtsbüchern als das Goldene Zeitalter Spaniens bezeichnet wird, war das Land in drei verschiedene Reiche unterteilt: das christliche Kastilien in der Mitte, das christliche Aragón im Osten und das kleine, aber wichtige Granada an der Südspitze, das von der muslimischen Dynastie der Nasriden regiert wurde. Am 19. Oktober 1469 heiratete der Thronerbe von Aragón, Prinz Ferdinand, Prinzessin Isabella, die Thronerbin von Kastilien. Das war der erste Schritt zur Verwirklichung des großen Traums von einem geeinten Spanien.
Aber Spanien hatte schon einmal ein Goldenes Zeitalter erlebt. Vom Jahr 711 n.Chr. bis ins zwölfte Jahrhundert bezeichnete man es als Königreich al-Andalus, regiert von maurischen Herrschern, die aus Damaskus in Syrien gekommen waren. Der Koran, das heilige Buch der Muslime, lehrte die Anhänger des Islam, andere Religionen zu respektieren – besonders die der anderen sogenannten Buchvölker, Christen und Juden. Nach der Eroberung von al-Andalus durften die Christen weiter ihren eigenen Glauben praktizieren und ihre eigene Sprache sprechen. Ebenso die Juden, die schon seit der Römerzeit in Spanien ansässig waren. Viele entschlossen sich jedoch, Arabisch zu lernen, und es entwickelte sich eine blühende Gemeinschaft, geprägt von Kultur, Bildung und friedlicher Koexistenz (oft convivencia genannt). Über hundert Jahre lang war die spanische Stadt Córdoba der Sitz der Kalifen – der Oberhäupter der muslimischen Welt. Dank ihrer gelangten wichtige Bücher über Medizin, Naturwissenschaft und Philosophie nach Europa. Die Bibliotheken von Córdoba beherbergten mit der Zeit fast eine halbe Million Bücher.
Während der allmählichen »Rückeroberung« (reconquista) Spaniens wurden Muslime und Juden zunächst ähnlich respektvoll behandelt. Die drei Kulturen existierten weiterhin Seite an Seite. Muslime und Juden konnten ihren Glauben noch immer relativ frei praktizieren. Aber sie wurden mit einer drückenden Steuerlast belegt, wenn sie sich nicht zum Christentum bekehrten. Sowohl die Mudéjares – Muslime, die unter christlicher Herrschaft lebten – als auch die Juden wurden gedrängt und nicht selten gezwungen, in Stadtvierteln zu leben, die von Mauern umschlossen waren und bewachte Tore hatten. Neue Gesetze verboten ihnen die Ausübung bestimmter Berufe und untersagten ihnen, Christen zu heiraten oder als Arbeitskräfte zu beschäftigen und vornehme Kleidung zu tragen. An christlichen Feiertagen durften sie nicht einmal ihre Viertel verlassen. Sie mussten Abzeichen tragen – in Kastilien gelbe, wenn sie Juden waren, und rote, wenn sie Muslime waren –, damit die Christen wussten, mit wem sie es zu tun hatten, und gewarnt waren. Die Krone und die Kirche behaupteten, die Juden versuchten unablässig, Christen zum Judentum zu bekehren, aber dafür gibt es keine historisch belegten Anhaltspunkte. Im Jahr 1483 wurden die Juden aus Südspanien vertrieben.
Córdoba wurde zu einer Stadt, in der die Angst herrschte. Dort lebten jetzt große Bevölkerungsanteile von Conversos, Juden, die zum Christentum übergetreten waren. Viele hatte man gezwungen, gegen ihren Willen zu konvertieren – manche unter Androhung der Todesstrafe. Andere waren aus eigenem Interesse übergetreten, meist, um in Spanien bleiben zu können. Spanien – das auf Ladino, der Sprache der spanischen Juden, Sepharad hieß – war ihr neues Jerusalem, ihre geliebte Heimat.
Mit Billigung der Kirche begannen die Menschen, sich gegen die Conversos zu wenden. Einmal kam das wilde Gerücht in Umlauf, ein bekehrtes Judenmädchen habe aus einem Fenster Urin auf ein Bildnis der Muttergottes unten auf der Straße geschüttet. Daraufhin wurden Hunderte von Conversos umgebracht, angeblich als Vergeltung. Danach verschlechterte sich die Lebenslage der noch in Spanien verbliebenen Conversos drastisch. Man diskriminierte sie im Geschäftsleben und in vielen Berufen, in der Kirche und im Alltag. Oft wurden sie auf der Straße angepöbelt oder angegriffen.
Immer häufiger betrachtete man die übrig gebliebenen Juden, die Conversos und die Mudéjares als Nicht-Spanier. Die Krone und die Kirche, die einst von dem aufrichtigen Wunsch geleitet schienen, den christlichen Glauben zu verbreiten, waren nun wie besessen von der Idee der »Reinheit des christlichen Blutes«.
Im Jahr 1482 wurde das Heilige Offizium der spanischen Inquisition ins Leben gerufen. Sein Zweck war, Ketzerei gegen den katholischen Glauben aufzuspüren. (Unter Ketzerei verstand man eine Praxis, einen Glauben oder auch nur eine Meinung, die nicht mit der als gültig angesehenen Lehre übereinstimmten.) Seine Methode bestand darin, jeden spanischen Christen, auf den auch nur der Verdacht einer solchen Ketzerei fiel, zu verhaften, zu foltern und zu bestrafen. Die konvertierten Juden saßen in der Falle. Obwohl sie nun dem Gesetz nach Christen geworden waren, konnte die Inquisition ihnen den Prozess machen, weil sie nicht christlich genug waren.
Mit sogenannten Glaubensedikten forderte man die Leute auf, ihre Freunde, Nachbarn und Verwandten der Ketzerei zu bezichtigen. Aus der Bevölkerung wurden familiares ausgewählt und dazu bestimmt, ihre Mitbürger zu bespitzeln und anzuzeigen. Schon so einfache »Verstöße« wie die Weigerung, Schweinefleisch zu essen (was den Juden verboten ist), konnten jemanden – besonders einen Converso – hinter Schloss und Riegel bringen. Tausende von Menschen wurden bei riesigen Spektakeln, die man »Autodafé« nannte, lebendig auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Und die Richter des Offi-ziums verlangten normalerweise keine Beweise. Wer gegen jemanden einen Groll hegte, konnte ihn für Fehltritte anschwärzen, die er vielleicht gar nicht begangen hatte.
Bis dahin waren die Mudéjares nicht den gleichen Verfolgungen ausgesetzt gewesen, vielleicht, weil es im Süden und Osten mächtige maurische Königreiche gab, die den spanischen Muslimen zu Hilfe eilen konnten. Aber die Inquisition, die auch das Vermögen ihrer Gefangenen einzog, hatte Kastilien reich gemacht. Es war jetzt stark genug, das maurische Granada anzugreifen, das dritte Königreich auf der Spanischen Halbinsel. Es war das letzte Stück des Puzzles, das Isabella und Ferdinand zu vervollständigen suchten. Sie wollten ein vereinigtes christliches Spanien unter ihrer Herrschaft erreichen. Mit dem »Spanien der drei Kulturen« war es vorbei. Der Krieg der sogenannten heiligen Reconquista führte zum Sieg.
Eins
RAMÓN
Córdoba, Kastilien
1485–1486
Papas Credo für Schreiber
Ein Schreiber macht viel mehr
als einfach nur Wörter abschreiben.
Er lässt Welten
lebendig werden.
Sei stolz auf deine Kunst.
Übe Sorgfalt.
Nimm dir Zeit.
Ein guter Schreiber ist ein Krug.
Ein Krug nimmt Wein auf
und verliert keinen Tropfen.
So müssen Schreiber
mit Worten umgehen, die sie aufnehmen.
Schau sie genau an.
Wenn dir auch nur eines entgeht,
ist es fort. Vielleicht für immer.
Du musst auch auf das achten,
was du ausgießt.
Deine Hand muss ruhig sein.
Meide, was sie zum Zittern bringt.
Wein trinken – das ist eine Ursache.
Mädchen nachstellen eine andere.
»Und wenn der Krug
einen Sprung bekommt?«, frage ich.
»Dann ist er zu nichts mehr nütze«, sagt Papa.
»Keine Angst. Schau her!«
Er streckt eine Hand aus, die leicht vibriert.
»Sechzig Jahre alt und nie ein Zittern.«
Ich versuche, mit ihm zu lachen.
Aber wir wissen beide, sein ganzer,
gesegneter Körper ist neuerdings zittrig.
Papa tut, als bemerke er
meine Sorge nicht. Fest legt er mir die Hand auf die Schulter.
»Vor allem, Ramón,
musst du immer wahrhaftig sein.«
Unser neues altes Zuhause
Córdoba.
Blühend schon mindestens seit der
Römerzeit. Sogar Herakles,
der große Grieche, hat meine Stadt
geliebt.
Als die Mauren al-Andalus eroberten,
wählten sie das schöne Córdoba, umflossen vom Guadalquivir,
wie selbstverständlich zum Sitz ihres Kalifats.
Es wurde die Heimat des Oberhaupts aller Muslime,
des Kalifen.
Aber die Mauren wurden schon vor langer Zeit besiegt.
Seither ist Córdoba ein Juwel in den Kronen
unserer christlichen Könige. Und jetzt ist Isabella,
unsere huldvolle Königin, hierhergekommen.
Sie hält im mächtigen Alcázar Hof.
Ich kann an seine Tore gehen,
mit zweitausenddreiunddreißig Schritten.
Inmitten all dieser Pracht müssen wir Benvenistes
unsere Tage jetzt dort hinbringen,
wo einst die Diener gewohnt haben.
Unsere stickigen Räume ducken sich wie Bettler
tief in den hinteren Teil des Hauses.
Es ist ein schönes Haus, müsst ihr wissen:
so stattlich wie alle in unserer Straße.
Aber es gehört uns nicht mehr.
Als die Altchristen
uns aus Córdoba vertrieben, sagte Papa:
»Wir haben keine Wahl.«
Er wusste von einem Ort namens Gibraltar.
Wir verkauften unser schönes Haus und liefen
um unser Leben.
Als wir zurückkehrten,
stand das Haus noch.
Wir hatten Glück –
es waren nur noch wenige in unserem Viertel.
Aber es war auch der Mann noch da,
der es gekauft hatte.
Er wollte es uns nicht wiederverkaufen –
schon gar nicht für die paar Kröten, die er bezahlt hatte.
Aber er vermietet uns
diese vier kleinen Zimmer
– unsere Werkstatt mit eingerechnet –
zu einem anständigen Preis.
Sollten wir, frage ich mich,
Gott danken
für diesen Segen?
Warum?
Während der Unruhen
griff die ganze Stadt
das Viertel der Neuchristen an.
Hunderte von Conversos
– Menschen wie wir – wurden getilgt
vom Antlitz der Erde.
Ich war erst vier. Mama erzählt mir,
wir seien auf der Flucht aus Córdoba nur nachts
unterwegs gewesen. Am Tag versteckten wir uns.
Wer blieb und standhielt, wurde angegriffen.
Mit Knüppeln geschlagen.
Mit Fäusten und Steinen.
Ein Mann, von dem wir hörten,
wurde von einem Karren mitgeschleift, bis er tot war.
Warum also wiederkommen?
Gute Frage.
Wir blieben nur sechs Monate
in Gibraltar.
Mama sagt bloß:
»Es ging nicht.«
Es muss schlimm gewesen sein,
wenn es schlimmer war als hier.
Jetzt sind wir nur noch Diener
in unserem eigenen Haus.
Fell
Es ist seltsam.
Ich erinnere mich noch an ein Erlebnis
während der Unruhen – so lebendig,
als hätte ich es heute Morgen gehabt
und nicht vor zehn Jahren.
Ich bin bedeckt von weichem, warmem Fell.
Ich denke, dass jemand – ein Altchrist, der zaubern kann? –
mich vielleicht
in ein Kaninchen verwandelt hat.
Das erzähle ich jetzt Mama,
mit brennendem Gesicht. Ich bin fünfzehn!
Und dann so ein Babykram,
an den ich mich zu erinnern glaube.
Aber die Sache geht mir nicht aus dem Kopf.
Sie starrt mich mit offenem Mund an.
»Isidor«, ruft sie,
»komm her und hör dir das an.«
Papa gesellt sich zu uns.
Mama erzählt mir, was damals geschah.
Eine Dame, Altchristin,
sah uns von ihrem Fenster aus.
Wir kauerten in einem Graben.
Tapfere Seele, sie kam heraus.
»Folgt mir«, flüsterte sie.
Sie versteckte uns in einem riesigen Kleiderkoffer,
den ganzen Tag, ließ ihn einen Spalt offen,
damit wir Luft bekamen.
Ich erinnere mich nur noch
an das Gefühl von Fell.
Sie schütteln die Köpfe.
»Ist es nicht – beinahe – lustig?«, fragt Papa.
»In ein Kaninchen verwandelt!«
Wir sitzen da und starren
einander an.
Das Lachen bleibt aus.
Die Schreiber in ihren Werkstätten
Nicht jeder Schreiber
lebt in einer so kleinen Welt.
Manche Bücher werden
von einem ganzen Heer von Händen gemacht.
Ich habe von einer Bibel gehört, in Latein,
für die dreiundfünfzig Meister einen
ganzen Winter gebraucht haben. (Sie war für die Königin.)
Zehn Buchmaler haben
allein die verzierten Buchstaben
gezeichnet und mit Goldtinte ausgefüllt,
mit denen jede Seite beginnt.
Ich beklage mich nicht.
Ich habe gelernt, es so zu mögen.
Papa und ich, über unsere Pulte gebeugt.
Wir teilen die Werkzeuge, sprechen dieselbe Sprache
und haben einen gemeinsamen Feind: den Sonnenuntergang.
Mama kann nicht richtig lesen,
aber sie hilft.
Schrappt das Pergament mit einem Stein,
damit es geschmeidig und weich ist für unsere Tinte.
Manchmal zieht sie die Linien
für unsere Buchstaben. Ihre Hand zittert nie.
Ein stiller Kampftrupp von drei Personen: Papa, Mama und ich.
Sechs Tage in der Woche, ich liebe es.
Aber ein Teil von mir – vielleicht der Teil des siebten Tages –
träumt von einem ganz anderen Leben.
Von Rittern und Entdeckungsreisenden
und wie in aller Welt
ich je einer werden könnte.
Bücherwurm
Papa liebt nicht nur
das Auf und Ab, Hin und Her im Schwung
des Wörterabschreibens.
Jeden Morgen ist er schon
lang vor den Vögeln auf
und bohrt seine Augen in Bücher.
Er muss jede Seite lesen,
ehe sie abgeschrieben wird.
Wenn wir mit dem Buch fertig sind,
segelt es wieder zur Tür hinaus –
und aus unserem Leben.
Selbst zehn Jahre nach den Zeiten
– wie wir die Unruhen nennen –
läuft das Geschäft nicht wie früher, sagt Mama.
Zwar sind unsere Tage randvoll mit Wörtern,
aber eigene Bücher können wir uns nicht leisten.
Nichts davon verbittert Papa.
Bücher sind Schätze, sagt er mir.
Aber ihr Leben ist zerbrechlich –
zerbrechlicher als die Flügel
getrockneter Schmetterlinge.
Bücher haben drei Feinde,
die zu den gefährlichsten der Erde zählen:
Feuer, Wasser und ignorante Menschen.
(Auch Würmer sind schlimm,
aber sie arbeiten langsamer.)
Dennoch sind Bücher die edelsten Schätze von allen.
Nur einmal brauchen sie deine Augen
und dein Herz zu entzücken.
Dann bist du von ihrer Weisheit erfüllt
für immer.
Katzen
Die Welt könnte in Flammen aufgehen
oder rosa werden oder untergehen:
Mama und ich würden es
verschlafen.
Wir sind wie Katzen in der Sonne.
Wir stehen nicht auf.
Erst wenn wir uns über unsere
Schalen mit heißer Schokolade
und sahniger Ziegenmilch beugen können.
Papa macht Frühstück
und kehrt dann zu seinen Büchern zurück.
Er schüttelt den Kopf,
traurig für uns, wenn er geht.
Ich denke, sie ist ein Segen,
diese Gabe, tief zu schlafen.
In Córdoba ist jede Straße
mit Kirchen und Kapellen gespickt.
Ihr Läuten ist wie ein Würgehalsband
aus endlosen Perlenschnüren,
die sich ineinanderschlingen.
Jede Kirche hat eine Glocke,
die achtmal am Tag läutet.
Zur Matutin in der Morgendämmerung, zur Laudes
ein wenig später, zur Vesper
tief in der Schwärze der Nacht.
Es gibt noch mehr Namen, die ich
immer wieder vergesse. Papa sagt, sie bezeichnen
die Stunden, zu denen die Mönche beten müssen.
Aber ich denke, sie sind eine Art Folter,
die die Kirche ersonnen hat. Oder aber
sie läuten jedes Mal, wenn
ein von Flöhen zerbissener Mönch
sich am Kopf kratzt!
Angst
Eines noch dunklen Morgens wache ich doch auf.
Ein Mann wie ein Berg
reißt mir die Matratze
unter dem Rücken weg.
Er ist ein Spiegelbild der Soldaten,
die durch meine Träume reiten.
An seiner Seite das Schwert. Auf seinem Mantel
der Löwe und die Burg – die Zeichen unserer
guten Königin und unseres guten Königs.
Der Sonderrichter, sagt Papa.
Einem Dieb auf der Spur,
der seinem Zugriff entschlüpft ist.
Was ist so kostbar,
dass sie das Gefühl haben, sie müssten
halbwüchsige Jungen aus ihren Betten schütteln?
Mama ist ärgerlich. Auch sie wurde aufgeweckt.
Dann schaue ich hin. Sie ist es,
die statt meiner zittert.
Gerechtigkeit
Tage später erfahren wir es.
Sie suchten tatsächlich einen Jungen.
Viel jünger als ich.
Noch keine zehn.
Er brannte mit einem Kelch durch,
der vergoldet war.
Nur eine magere Beute.
Aber er wurde erhängt.
Er litt Hunger. War Waise.
Er versuchte, den Kelch gegen Kuchen zu tauschen,
in einer Stadt weiter südlich.
Er hatte noch eine Schwester,
und sie fanden nichts zu essen.
Die Königin empfahl Gnade,
in Anbetracht seines Alters.
Aber der Junge war Jude.
Und ehe sie es verhindern konnte,
wurde er von den Männern des Sonderrichters
aufgeknüpft. Alle, die durch das
Jakobstor kamen, konnten ihn dort sehen.
Neben ihm stand der Spruch:
et iustum est.
Es ist gerecht.
Als ich das höre,
denke ich wieder an die Hand,
die unter mein Bett kroch.
Und diesmal fällt mir das Schlafen
nicht leicht. Noch im Morgengrauen liege ich da
und zähle stattdessen Schafe.
Geständnis
Die meisten Juden verließen diese Stadt
vor zehn Jahren.
Die Königin machte ein Gesetz:
Jeder Jude in al-Andalus
muss sich taufen lassen
oder fortgehen. Dann folgten die
zwei kleinen Worte, die Königinnen so lieben:
bei Todesstrafe.
Die wenigen, die ihr trotzen,
verstecken sich in Kellern und Nischen
und Höhlen unter der Erde.
Ich bin eigentlich gar nicht da. Sie sind
schattenhafter als Geister.
Die Priester sagen, die Juden
glauben nicht, dass Christus Gott ist,
deshalb sind sie unsere Feinde.
Sie sind noch auf dieser Erde, um
uns zu erinnern, warum Christen besser sind.
Wir müssen sie meiden,
wie wir die Pest meiden würden.
Mama sagt mir, alle Seelen sind gleich,
wenigstens in den Augen Gottes.
Dann sagt sie, es sei Ketzerei,
mit Priestern zu streiten.
Bezweifelt ihr da, dass ich verwirrt bin?
Ich weiß nur so viel:
Früher waren wir Juden.
Taufen
Wenn eine neue Glocke gegossen
und in ihrem Turm hochgezogen wird,
wird sie getauft wie ein Kind.
Der Bischof salbt sie
mit heiligem Öl. Dann gießt er Weihwasser
über ihr metallenes Haupt.
Meine Ururgroßeltern
wurden gleichfalls getauft.
Sie hatten ebenso viel Wahlfreiheit
wie eine von diesen Glocken.
Die Unruhen in ihren Tagen, so sagt man mir,
waren schlimmer – viel schlimmer –
als diejenigen, die ich erlebt habe.
Damals wütete die Pest, der Schwarze Tod.
Ein Drittel aller Bewohner Europas starb
an dieser Krankheit.
Es wurde mit Fingern gezeigt.
Die Juden, so hieß es,
hätten die Brunnen vergiftet.
Nicht alle wurden getötet. Viele Juden beschlossen,
sich taufen zu lassen, um sich zu retten.
Andere wurden von der Menge festgehalten
und einfach getauft, ganz egal,
was sie wollten.
Also wurden Mamas Vorfahren Christen.
Selbst ihr Familienname wurde geändert.
Und Papas? Mein Papa spricht nur
von Gutem – oder soll ich sagen, Großem?
Dass mein Ururgroßvater
ein ganz großer Schreiber war.
Dass er Hebräisch und Arabisch sprach und schrieb,
nicht einfach nur fließend, sondern mit Schliff.
Als sein Leben endete, hatte er
einem Kalifen und einem König gedient.
Es endete zu früh.
Mama hat es mir gesagt.
Statt der Taufe wählte mein Ururgroßvater
den Tod.
Er nahm sich das Leben,
zusammen mit seiner Frau.
Welcher dieser großen Vorfahren
hat also die bessere Wahl getroffen?
Der Hausherr
Señor Ortiz
ist für eine Weile zu Hause.
Ich weiß es wegen des Stampfens,
das durch die Decke dringt, den ganzen Tag
und die ganze Nacht.
Er verhält sich, sagt Mama,
als hätte er Schuld auf sich geladen.
Als behielte er seine Stiefel an,
für den Fall, dass er weglaufen muss.
Wovor?, frage ich sie.
Aber Papa sagt: »Rahel, sei still.
Wie finden wir es,
wenn Leute dummes Zeug
über uns reden?«
Der Gast
Einmal in der Woche – wenn er hier ist –
geruht Señor Ortiz, zum Essen zu uns
herunterzukommen. Die Mahlzeit ist bescheiden,
aber das stört ihn nicht.
Er isst seinen Teller jedes Mal leer.
Ich hungere nach Geschichten von Abenteuern und Schiffen
und exotischen Ländern. Señor Ortiz
segelt an der Küste des Reiches entlang,
und verkauft kostbare Seidenstoffe aus dem Orient.
Aber unserem Hausherrn missfallen
meine unermüdlichen Fragen.
Er gehört zu den Leuten, die denken,
Kinderstimmen
seien Gott lästig.
Sooft er kommt, müssen wir Schweinefleisch essen.
Ich hasse es.
Aber es ist das Gericht der Wahl,
wenn wir Gäste haben.
Schweinefleisch essen ist ein Zeichen.
Es bedeutet, dass du deinen jüdischen Glauben
hinter dir gelassen hast.
Daher müssen gute Christen zeigen,
dass sie nicht genug davon bekommen können –
ob sie Schweinefleisch mögen oder nicht.
Glaubensedikt
Heute nach der heiligen Messe
wurden wir aufgefordert,
noch einmal unseren Glauben zu beschwören.
Zum dritten Mal in diesem Jahr.
Ein riesiges Kruzifix wurde
von zwei Priestern hoch in die Luft gestemmt.
Wir bekreuzigten uns, hoben unsere
rechte Hand. Schworen, das Heilige Offizium
zu unterstützen und hochzuhalten – und ebenso seine Vertreter auf Erden,
die Inquisitoren.
Wie, so fragt ihr vielleicht, soll ein gewöhnlicher Junge wie ich
das Offizium »hochhalten«?
Ganz einfach. Alles ist schon beschrieben
im Glaubensedikt.
Sie lesen es uns vor,
sooft sich die Gelegenheit bietet.
Es ist ellenlang.
Es handelt von Verfehlungen, die dich
das Leben kosten können.
Und doch schlafen sogar Männer dabei ein!
Ich kann das Edikt zusammenfassen
in einem Wort: beobachten.
Nachbar, beobachte deinen Nachbarn.
Freund, bespitzele deinen Freund.
Wenn einer von uns in die Irre geht,
leiden wir alle.
Was also tun?
Es der Mutter Kirche sagen.
Dein armer Kopf braucht sich nicht
um Beweise zu sorgen.
Wir werden dir glauben.
Ketzerei ist eine Pest,
und sie breitet sich in den Seelen der Menschen aus
wie ein Feuer im Stroh.
Übersieh nicht die kleinen Dinge.
Zieht sich dein Bruder gegen Ende der Woche
frische Wäsche an? Das ist ein Zeichen.
Er achtet den Sabbat am Samstag:
den heiligen Tag der Juden.
Will deine Schwester kein Schweinefleisch essen?
Das ist ein Zeichen. Sie befolgt die alten
jüdischen Speisegesetze.
Kreuzt dein Vetter die Finger hinter seinem Rücken,
während er Gott preist? Spuckt er während der heiligen Messe
auf den Boden? Scheint er zu lächeln, wenn die Heilige Jungfrau
– in Gestalt einer Statue – vorbeikommt?
Zeichen, Zeichen, Zeichen.
Die Seelen dieser Menschen rufen nach Hilfe.
Du musst sie retten.
Lieber hier auf Erden verbrennen,
als ewig dem Höllenfeuer anheimzufallen.
Auftrag
Schweinsfüße diesmal.
Ich dachte, das Abendessen
geht nie vorbei!
Endlich sind die Teller leer,
der Tisch wird abgeräumt.
Papa holt das eine Buch heraus,
das uns tatsächlich gehört – das Verzeichnis
aller Rechnungen unserer Werkstatt.
»Warum so viel Kredit?«, nörgelt Señor Ortiz.
Ihm gehört nämlich nicht nur das Haus,
sondern er ist jetzt auch Teilhaber unseres Geschäfts.
Also sagt er, was ihm gefällt.
Er findet, wir hätten kein Händchen für Geld.
Und ich muss sagen, er hat recht.
Wenn jemand nicht bezahlen kann,
schreiben wir auch für Fleischpasteten ab oder für Papier
oder für einen zukünftigen Gefallen.
Papa sagt, am Ende würde alles
seine Richtigkeit haben. Aber die Erde kann sich
gar nicht mehr so oft drehen, dass die Leute
uns noch zurückzahlen können, was sie uns schulden.
Als der Señor sich endlich vom Tisch erhebt,
sind Papas Augenbrauen fast bis zur Nase heruntergezogen.
Es gibt gute Neuigkeiten: Unser Hausherr
segelt morgen nach Lissabon.