Dialogische Traumatherapie
Manual zur Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung
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Klett–Cotta
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Printausgabe: ISBN 978-3-608-89131-7
E-Book: ISBN 978-3-608-10323-6
PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20046-1
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Vorwort
Prolog
1. Grundprinzipien der Dialogischen Traumatherapie
1.1 Notwendigkeit einer Humanistischen Traumatherapie
1.2 Dialogische Exposition und Gestalttherapie
1.3 Das Therapiekonzept: Dialogische Exposition in der Traumatherapie
2. Posttraumatische Anpassung
2.1 Posttraumatische Belastungsstörung
2.1.1 Diagnostische Kriterien
2.1.2 Verlauf
2.1.3 Begleitende Störungsbilder (Komorbiditäten)
2.1.4 Epidemiologie
2.1.5 Diagnostik der PTBS
2.1.6 Wirksamkeit von Traumatherapien: Integration trauma-fokussierter und nicht-fokussierter interaktioneller Interventionen
2.2 Entstehung der PTBS aus humanistischer / dialogischer Sicht
2.3 Dialogische Haltung
3. Behandlungsablauf (Beginn der Behandlung)
3.1 Zu Beginn der Traumatherapie
3.2 Kriterien und Ausschlusskriterien für eine Traumatherapie
3.3 Therapeutisches Verhalten
3.4 Ablauf und Einteilung der Sitzungen
3.5 Die traumatische Erfahrung erzählen – Narrative Konfrontation
4. Therapeutische Schwerpunkte
4.1 Fokus 1: Umgang mit Symptomen unter besonderer Berücksichtigung ihrer interaktionellen Aspekte (Symptomorientierung)
4.2 Fokus 2: Aktivierung von Ressourcen
4.3 Fokus 3: Kontakt- und Beziehungsgestaltung
5. Aufbau der Therapie
6. Phase I: Sicherheit
6.1 Aktivierung von Sicherheit Differenzierung von Sicherheitsaspekten
6.2 Kontaktaufnahme mit Sicherheit gebenden prätraumatischen Selbstanteilen
6.2.1 Aktivierung bestehender Ressourcen
6.2.2 Zugehörigkeit: Aktivierung sozialer Ressourcen bzw. unterstützender Beziehungen
6.3 Arbeit an den Intrusionen
6.4 Generierung von Sicherheit
7. Phase II: Innere Stabilität – »Selbst-Sicherheit«
7.1 Arbeit an Gefühlen – abseits vom Zentrum der traumatischen Erfahrung
7.2 Wichtige Gefühle – nicht nur in der Traumatherapie
7.2.1 Traumatische Angst
7.2.2 Trauer
7.2.3 Schuld
7.2.4 Scham
7.2.5 Ohnmacht, Ärger, Wut und Aggression
7.2.6 Ekel
7.3 Die Rolle der Kognitionen (Arbeit an inneren Dialogen)
7.4 Selbstwahrnehmung und Beziehungen
7.5 Interpersonelle Verteidigung der eigenen Bedürfnisse
8. Phase III: Konfrontation
8.1 Objektorientierte Exposition (Situative Exposition)
8.1.1 Aktive Kontrolle der Vorstellung
8.1.2 Weitere Themen der objektorientierten Konfrontation
8.1.3 Vorbereitung auf die Dialogische Exposition
8.2 Dialogische Exposition: Interaktionelle Konfrontation mit der Aggressorrepräsentanz
8.2.1 Dialogische Exposition
8.2.2 Dialog zwischen Selbst- und Objektrepräsentanz
8.2.3 Konfrontation mit eigenen aggressiven Anteilen
8.3 Transfer in den Alltag
8.4 Schwierigkeiten in der Dialogischen Exposition
8.4.1 Vermeidungsverhalten
8.4.2 Aktivierung von Bildern oder Beziehungen
8.4.3 Rationale Argumentation
8.4.4 Reaktualisierung, emotionale Überflutung
9. Phase IV: Integration
9.1 Annehmen der traumatischen Erfahrung und damit Annehmen der Veränderung
9.2 Identifikation isolierter entfremdeter Selbstanteile
9.3 Integration von aggressiven Anteilen
9.4 Trauer und posttraumatische Reifung
9.5 Desensibilisierung als bedrohlich erlebte Gefühle
10. Therapeutische Arbeitsprinzipien
10.1 Symptome der PTBS
10.2 Übungen der Dialogischen Traumatherapie
10.2.1 Awareness (Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsübungen)
10.2.2 Methoden der Selbst- und Bindungsunterstützung
10.2.3 Arbeiten mit und an Emotionen (Distanzierungstechniken, Techniken der Affektregulation)
10.2.4 Vertrauensbildung und Bewegung
10.2.5 Aufbau der Konflikt- und Dialogfähigkeit und Training sozialer Fertigkeiten
10.2.6 Allgemeiner Kompetenzaufbau
11. Reflexion und Rückfallprophylaxe
12. Indikatoren für den Therapieabschluss
13. Evaluation
14. Hilfreiche Übungen und Techniken in der Traumatherapie
14.1 Awareness (Aufmerksamkeit- und Wahrnehmungsübungen)
14.2 Methoden der Selbst- und Bindungsunterstützung
14.3 Arbeiten mit und an Emotionen
14.4 Vertrauensbildung und Bewegung
14.5 Grübeln
14.6 Schlafhygiene
14.7 Angsterleben
14.8 Diagnostische Kriterien der PTBS
Epilog
Literatur
»Wenn Du vor mir stehst und mich ansiehst, was weißt Du von den Schmerzen, die in mir sind und was weiß ich von den Deinen. Und wenn ich mich vor Dir niederwerfen würde und weinen und erzählen, was wüsstest Du von mir mehr als von der Hölle, wenn Dir jemand erzählt, sie ist heiß und fürchterlich. Schon darum sollten wir Menschen voreinander so ehrfürchtig, so nachdenklich, so liebend stehen wie vor dem Eingang zur Hölle.«
Franz Kafka in einem Brief an Oskar Pollak, 8. 11. 1903:
Dieses Buch ist das Ergebnis von drei Jahrzehnten Entwicklungsarbeit in Richtung einer integrativen, dialogischen Traumatherapie. Es vertieft u. a. die in den folgenden Büchern des Erstautors entwickelten Positionen einer humanistisch fundierten Traumatherapie: »Leben nach dem Trauma. Kreativität und Destruktion posttraumatischer Bewältigung« sowie »Trauma, Selbst und Therapie«. Es bietet vor allem aber eine erhebliche Ausarbeitung und Präzisierung der praktischen Anleitungen für therapeutisches Vorgehen, die in früheren Arbeiten noch nicht so detailliert ausgeführt werden konnten.
Es ist kein Manual im üblichen Sinne geworden, in dem jeder Therapieschritt explizit festgelegt wird und das keine Abweichung vom vorgegebenen Prozedere erlaubt. Es ist eher eine Veranschaulichung und auch Begründung von Arbeitsheuristiken für spezifische Therapiesituationen, eher lose geordnet in vier Therapiephasen. Wesentlich ist dabei der rote Faden eines allmählichen Überganges von hoch strukturierter verhaltenstherapeutischer Arbeit an der Symptomreduktion über die den humanistischen Verfahren innewohnenden Prinzipien des Gewahrseins (»Awareness«), der Ressourcenorientierung, der Selbstakzeptanz und -verantwortung. Gewissermaßen alles durchdringend ist das Ziel der Wiederherstellung der Kontakt- und Dialogfähigkeit von Menschen, die sich, erst einmal durchaus zu ihrem eigenen Schutz, von der Welt und den Menschen zurückziehen mussten.
Selbst wenn nach einer so konzipierten Traumatherapie keine substanzielle Verbesserung im Bereich der Traumasymptome erzielt würde – was aber in der Praxis ohnehin nie geschieht – aber die Dialogfähigkeit und Bereitschaft des betroffenen Menschen wieder hergestellt werden konnte, hätte sich die Therapie gelohnt.
Warum also bedurfte es eines weiteren Therapiemanuals? Um die Traumatherapien aus ihrer Fixierung auf die sogenannten Leitsymptome der PTBS und aus der Gefangenschaft zu befreien, die sich durch die ausschließliche Bewertung der Qualität der Traumatherapien an der Reduktion dieser Symptome ergibt.
Außerdem wollten wir den Versuch machen, einen grundsätzlich humanistischen Therapieansatz, der ja ganz erheblich auch von Intuition und Kreativität der Therapeutinnen lebt, so zu präzisieren, dass diese wichtigen Aspekte neben den rein technischen Hilfsmitteln spezifiziert und damit auch entmystifiziert werden. Das gilt in besonderer Weise auch für die zwischenmenschlichen Prozesse innerhalb einer Therapie, die Therapeut-Patient-Beziehung, die minutiös freigelegt und so fassbarer werden kann.
Basis dieser Arbeit in den Jahren der Therapieentwicklung, die den Jahren der empirischen Evaluation vorausgegangen ist, war die Traumaambulanz am Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie am Department Psychologie der LMU. Sie hat eine lange Tradition im Bereich der Entwicklung von Therapien zur Behandlung von Angststörungen, woraus sich Mitte der 80er Jahre der Schwerpunkt Traumaforschung / Traumatherapien, verknüpft mit einer zehnjährigen Präsenz des Teams in Bosnien ergab (1993 – 2003).
Zum Sprachgebrauch: Obwohl bei unseren Therapeuten und bei unseren Patienten die Mehrzahl Frauen sind, haben wir zugunsten der besseren Lesbarkeit uns für die männliche Form entschieden, aber an einigen Stellen nicht konsequent durchgehalten. In der Regel sind jedoch beide Geschlechter gemeint und angesprochen.
Wir bedanken uns besonders bei allen Patientinnen und Patienten, die sich vertrauensvoll an unsere Ambulanz gewandt haben und bereit waren, unser Therapiekonzept anzunehmen und bereitwillig mehrfach Rückmeldung gegeben haben. Wir bedanken uns auch bei unseren Therapeutinnen und Therapeuten, die über die Jahre bereit waren, sich auf ihre z. T. sehr belasteten Patienten in zum Dialog bereiter Weise einzulassen und ihre Erfahrungen in die Evaluation der Therapie haben einfließen lassen. Es sind dies Dr. Lars Auszra, Frau Hilke Ganzert, Dr. Imke Herrmann, Dr. Christiane Kelwing, Dipl. Psych. Armin Landes, Dipl. Psych. Anna Russo, Dipl. Psych. Barbara Spatzl und Dipl. Psych. Ulrike Lippoldmüller.
Allen voran gilt unser besonderer Dank Herrn PD Dr. Markos Maragkos, der wertvolle Vorarbeit für die Erstellung des Manuals geleistet hat und die Autoren auch in den weiteren Phasen der Entwicklung der jetzt vorliegenden Version unterstützt hat.
Ein besonderer Dank gilt unserer Kollegin Dr. Julia König, die als »leidenschaftliche Verhaltenstherapeutin« immer offen für kritische und anregende Diskussionen war und uns so Gelegenheit gab, fachlich fundierte Anregungen zu erhalten.
Schließlich geht ein großes Dankeschön an Frau Birgit Rösl in der Schaltzentrale der Traumaambulanz, die mit ihrer Geduld, Unterstützung und ihrem Engagement stets die Übersicht und Organisation behalten hat und den geordneten Ablauf des Ambulanzgeschehens erst möglich macht.
Und schließlich an Frau Dr. Christine Treml vom Klett-Cotta Verlag, die uns mit ihren Anregungen immer wohlwollend unterstützt hat.
Der 45-jährige Mann hat eine lange Anfahrt von Nordbayern nach München hinter sich. Er hatte per Mail, in der er seine Schicksalsschläge geschildert hatte, um einen einmaligen Gesprächstermin gebeten. Er hat in der Nähe seines Heimatortes schon eine vollständige Psychotherapie »erhalten« und wüsste nun gerne, ob es Sinn macht, an seiner ihn immer noch quälenden tiefen Einsamkeit, die ihn seit dem Tod seiner Frau und seiner Tochter erfasst hatte, doch noch einmal zu arbeiten. Die damals aufgetretenen Symptome, wie sie nach einem schweren Schicksalsschlag in der Regel auftreten, konnten weitgehend entschärft werden. Doch die sein Leben durchdringende Resignation, die er förmlich in jeder Zelle seines Körpers spürt und die sein bewusstes Erleben bei Tag und bei Nacht einnimmt, ist eher stärker geworden seit damals, als ihn die Katastrophe ereilte.
Vor sechs Jahren ist es geschehen. Anfangs war es ihm rasch besser gegangen, unterstützt durch die Therapie, doch dann stagnierte sein Zustand. Und nach Beendigung der Therapie begann sich sein Zustand wieder zu verschlechtern. Eher die gesamte Einstellung zum Leben und sein damit korrespondierendes Lebensgefühl waren es, die ihn auf der Stelle treten ließen.
Nun sitzt er mir (W. B.) gegenüber. Ich eröffne das Gespräch, indem ich an den Inhalt seiner Mail anknüpfe und ihm versichere, dass das, was er erleben musste, den wohl schlimmsten Albtraum eines Vaters und Ehemannes noch übertrifft und dass es mir sehr leidtäte, dass er das alles ertragen musste und muss. Ich teile ihm auch mit, dass ich zwar auch schon einige schwierige Vorfälle in meinem Leben zu bewältigen hatte, doch etwas derart Entsetzliches zum Glück nicht erleben musste. Ich bestätige ihm, wie extrem schwierig es ist, mit so einer Last weiterzuleben. Er nickt mir bestätigend zu und sagt, dass er auch froh wäre, dass ich so etwas nicht aus eigener Erfahrung kennengelernt hatte und mir auch wünsche, dass es nie dazu kommen möge. Ich danke ihm.
Es ist mir von Anfang an wichtig, nicht in den Fehler zu verfallen, aus Schreck über sein Schicksal zu versuchen, die Wucht dieses Ereignisses kleinzureden. Das Ereignis muss bleiben dürfen, was es ist – riesig, wuchtig, schier übermenschlich. Therapie soll meiner Ansicht nach niemals versuchen, den Menschen die Einmaligkeit und das seelische Gewicht ihrer Schicksalsschläge zu nehmen. Manche Menschen vermeiden Therapie genau aus dem Grund, da sie fürchten, Therapeuten würden ihnen ihre Trauer, ihr Entsetzen, ihre Verletztheit ausreden wollen. Sie wollen ihr Leid nicht auf Traumasymptome reduziert bekommen, die man wegtherapieren kann, so als wäre dann alles wieder gut. Menschen mit traumatischen Erfahrungen kämpfen um die Anerkennung ihres Leids. Und dafür, dass dieses Leid ihrem Leben, ihrem Wesen ein Gewicht geben darf, das, würde man es mittels therapeutischer Methoden oder mit medikamentösen Mitteln eliminieren, ihnen einen Teil ihrer Würde nimmt. Also anerkennen, dass das Erlebte existenziell ist. Die Ausgeliefertheit des menschlichen Seins im Kontakt mit dem Klienten annehmen. Die Abhängigkeit dessen würdigen, der Liebe und Bindung riskiert hat.
Ich interessiere mich zuerst einmal dafür, wie es ihm jetzt, in diesen Wochen, geht. Was bewegt ihn, jetzt dieses Gespräch zu suchen?
Er berichtet in einfachen, wohl formulierten Sätzen über seine Beschwerden. Vor allem seine Distanz zum Leben macht ihm zu schaffen. Es ist, als wäre zwischen ihm und der Welt eine Art Trennwand, durch die er zwar alles mitbekommt, was da draußen geschieht, aber berühren würde ihn nichts mehr so richtig. Und interessieren würde ihn das, was den Menschen so Freude macht, auch nicht.
»… Ich selbst habe gar keine richtige Lust mehr. Bin sehr müde.
Ich kann nicht verstehen, was da passiert ist. Ich bin in einer anderen Welt. Nichts ist wichtig. Es gibt keine Regeln, kein Ziel, keine Moral. Mir ist alles egal …«
Daneben die üblichen Symptome in eher abgeschwächter Form, Wiederkehren der Erinnerung an den Unfall, Selbstvorwürfe, Grübeln darüber, was er hätte anders machen können. Er schläft schlecht, schreckt aus quälenden Träumen auf, wünscht sich zu sterben.
Welche Träume ihn quälen? Einzelne Passagen des Unfalls, manchmal entstellt, manchmal klar so, wie es geschehen ist.
Ich lade ihn ein, mir den Ablauf der Ereignisse zu schildern. Er erzählt, wie er mit seiner sechsjährigen Tochter und seiner Frau in einer Gruppe von Freunden an einem verlängerten Wochenende eine an sich nicht gefährliche Bergwanderung machte. Seine Tochter stolperte am Wegrand, rutschte dann einen Abhang hinunter und verschwand im Wildbach. Seine Frau wollte hinterherspringen, er hinderte sie, bat die Freunde, sie festzuhalten, damit er an einer einfacheren Stelle zum Bach absteigen konnte. Als er weg war, riss sich seine Frau los und sprang in den Wildbach, um ihr Kind zu suchen. Auch sie verschwand in den Fluten. Beide wurden später tot geborgen, seine Frau noch am selben Tag, seine Tochter erst nach etlichen Tagen 25 km flussabwärts.
Er erzählt diese Begebenheit nüchtern, distanziert, als würde er einen Polizeireport vorlesen. Als wäre ein Paket zu übergeben, das längst geschnürt ist. So, als hätte er mit der ganzen Sache nichts zu tun, als wollte er die Wucht des Geschehenen nicht mehr an sich heranlassen. Das Ereignis liegt sechs Jahre zurück. Er hatte in der Zwischenzeit mehrere Versuche gemacht, im Leben wieder Fuß zu fassen, auch eine neue Partnerin gefunden, die gerne einen unbelasteten Mann an ihrer Seite hätte. Den kann er ihr, so meint er lakonisch, leider nicht bieten, obwohl er sich das, für sie in erster Linie, schon sehr wünschen würde.
Ich frage ihn, wie oft er an seine Frau und seine Tochter denken würde. Er sieht mich entgeistert an. Ständig, natürlich. Na ja, sie sind irgendwie latent präsent, doch richtig an sie denken würde er weniger. Es wären immer dieselben Bilder vom Unfall, die ihn einholen. Und da lenke er sich lieber ab und denke an etwas anderes.
Ich resümiere, dass er wohl nicht nur seine Frau und sein Kind verloren hätte, sondern auch die guten Erinnerungen an sie. Er sieht mich wieder konsterniert an, so als würde er sich um die Geordnetheit meines Verstandes Sorgen machen. Ich bitte ihn, mir etwas über die guten Zeiten davor zu erzählen. Als er damit beginnt, mischt sich zunehmend tiefer werdende Trauer in seine Schilderung gemeinsamer Schlüsselerlebnisse. Davon hatte er seit dem Unfall nicht mehr gesprochen.
Ich frage ihn, ob er seiner Frau und seiner Tochter noch gerne etwas sagen würde. Da gäbe es viel, meint er, doch dazu wäre es ja zu spät.
»Stellen Sie sich vor, ihre Frau sitzt hier«, schlage ich vor, »da, direkt vor Ihnen. Sprechen Sie zu ihr, sagen Sie ihr, was Sie auf dem Herzen haben.«
Erst windet er sich, sucht nach Ausflüchten. Das wäre doch nicht real, sie könne ihn doch nicht wirklich hören und Ähnliches. Ich helfe mir mit etwas Theorie: »Sie wollen das Geschehene bewältigen, indem Sie sich intuitiv von den beiden geliebten Menschen entfernen wollen, die bei dem Unfall gestorben sind. Gleichzeitig fühlen Sie sich schuldig für den Versuch und bleiben auf halber Strecke hängen. Ich schlage Ihnen das Gegenteil vor: Holen Sie die beiden geliebten Menschen, die Sie verloren haben, zuerst einmal wieder ganz nahe zu sich heran. Sprechen Sie direkt zu ihnen.«
Ich ermuntere ihn wieder, sie in seiner Vorstellung hierherzuholen und sie direkt anzusprechen. Ich schlage vor, sich zuerst an seine Frau zu wenden.
Viele Menschen versuchen Trauernde zu trösten, indem sie diese ablenken und ihnen empfehlen, die verlorene Person »gehen« zu lassen. So gut gemeint diese Ratschläge sein mögen, sie bewirken oft das Gegenteil. Wir sind vermutlich besser beraten, wenn wir den INNEREN KONTAKT zu einem verlorenen Menschen intensivieren und dadurch das innere Bild dieses Menschen stärken. Indem wir den INNEREN KONTAKT vertiefen, wird das Bild zu einem inneren Gegenüber, das dem Menschen insgesamt entspricht. Wir werden in unseren Erinnerungen frei von der – zugegeben schrecklichen – Fixierung auf den Moment des Unglücks. Wir erkämpfen uns inneres Beziehungsterritorium zurück, indem wir die positiven Seiten der traumatisch unterbrochenen Beziehung in der Vorstellung wieder aufnehmen. Wissend, dass wir zu Toten sprechen, doch indem wir sprechen, ersetzen wir damit das Verstummen, die Ohnmacht, die Agonie. In Anlehnung an Pedro Almodovars Film: Hable con ella!
Ich mache eine Handbewegung, die ihn einlädt, mit seiner Frau Kontakt aufzunehmen. Als er es tut, öffnet sich erst langsam, dann fast explosiv seine tiefste Traurigkeit, die er nun, ohne sich um seine Contenance zu kümmern, in sehr berührender Weise zum Ausdruck bringen kann.
Er spricht zu ihr von seiner Einsamkeit, seinen Schuldgefühlen, seiner Verzweiflung. Und davon, wie sehr er sie vermisst.
Als er schweigt und sich von ihr innerlich verabschiedet, ist er tief berührt und zugleich sehr erleichtert und froh. Nach sechs Jahren der Anspannung ist er erstmals wieder richtig froh und locker. Die innere Begegnung mit seiner toten Frau, die Erlaubnis, ihr innerlich wieder nahe zu sein, hat ihn sehr befreit.
Am Ende unseres Gesprächs blieben noch viele Fragen offen, doch entscheidend war die geänderte Richtung seiner gedanklichen und emotionalen Auseinandersetzung mit dem Unfall. Er konnte die innere Beziehung zu seiner Frau und im späteren Verlauf der Sitzung auch zu seinem Kind wieder aufnehmen. Obwohl beide tot sind.
Die posttraumatische Depression ist ein angesichts der Fixierung der Fachwelt auf die sogenannten Leitsymptome der Posttraumatischen Belastungsstörung vernachlässigter Problembereich, der jedoch klinisch und sozial bedeutsamer erscheint als die Leitsymptome. Ihre Bearbeitung erfordert die Aufhebung der Entfremdung (»Dissoziation«), die nach dem Trauma erlebt wird. Sie wird durch die Zuwendung zum Kern der Entfremdung möglich, sobald die Beziehung zu dem Menschen innerlich wieder riskiert wird, von dem man meint, sich distanzieren zu müssen. Dabei kann es sich um einen Verlustprozess handeln, aber auch um die Entfremdung nach erlebter Gewalt. Es können Menschen dieses innere Gegenüber bilden, aber auch Naturgewalten, staatliche Instanzen und viele andere Quellen von Unheil. In diesem Prozess wird das Selbst des Menschen wieder handlungsfähig, es kann sich wieder ausdrücken und so wieder finden. Unterstützt wird dieser Prozess durch die DIALOGISCHE EXPOSITION, ein aus den Arbeiten von Jacob Moreno und Fritz Perls abgeleitetes Vorgehen, das wir speziell für die Arbeit mit traumatisierten Menschen modifiziert haben.
Die hohe Prävalenz traumatischer Ereignisse und das hohe Risiko, infolge eines traumatischen Erlebnisses an einer (chronischen) Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zu erkranken, erfordern Konzepte, traumatisierte Menschen effektiv zu behandeln. Zur Behandlung der PTBS stehen Psychotherapeuten zahlreiche Interventionsmöglichkeiten zur Verfügung, wobei kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze in ihrer Wirksamkeit am besten erforscht und belegt sind (z. B. Ehlers, 1999; Ehlers & Clark, 2000; Resick & Schnicke, 1992, 1993). Einen Überblick über die Effektivität von Traumatherapien zeigen Metaanalysen (z. B. Bradley, Greene, Russ, Dutra & Westen, 2005).
Allerdings konzentrieren sich verhaltenstherapeutische Maßnahmen primär auf die Behandlung der Symptomatik. In der Praxis werden der Schweregrad und die Häufigkeit von Traumasymptomen häufig mithilfe von Fragebogen ermittelt, sodass die Erfolge der Therapie anhand von Mittelwerten im Vergleich zur Kontrollgruppe dargestellt werden. Abgesehen von den Fehlerquellen bei der Datengewinnung werden weitere Konsequenzen der posttraumatischen Entwicklung zu wenig berücksichtigt.
Dabei seien neben Aspekten von Sicherheit und Vertrauen insbesondere Aspekte der Kontakt- und Beziehungsgestaltung genannt, die in der Folge einer Traumatisierung in der Regel erheblich gestört wurden. Wir benutzen den Begriff »Kontakt« in einem gestalttherapeutischen Sinne, in dem Kontakt die Grenze zwischen »ich« und »nicht ich« aufzeigt. In diesem Verständnis formieren alle Erfahrungen, die wir machen – auch traumatische Ereignisse –, unser Selbst und damit die Beziehungen zu anderen und zur Welt im Allgemeinen. Trauma bedeutet somit in erster Linie eine Störung der Selbstprozesse, da sich diese an konkreten Kontaktprozessen bzw. der verinnerlichten Kontaktvor- und -nachbereitung konfigurieren.
Traumatherapie will neben den sogenannten Leitsymptomen Intrusion, Übererregung und Vermeidung auch die zentralen Prozesse der Selbstformierung erreichen, muss somit die Möglichkeiten der realen und der internalisierten Kontaktgestaltung vorrangig bearbeiten. Das heißt, Traumatherapie muss in erster Linie eine Beziehungstherapie sein, in der die Beziehungsprozesse in den Therapiesitzungen aktualisiert werden.
In der Literatur hat sich die Einteilung traumatischer Erfahrungen in Typ-I- (einmalige, kurze) und Typ-II- (wiederholte, lang andauernde, vorhersehbare) Traumatisierungen sowie in von Menschen verursachte (z. B. Gewaltereignisse, Krieg, Folter) und »schicksalhafte«, zufällige Ereignisse (z. B. Unfälle, Naturkatastrophen) weitgehend durchgesetzt (Terr, 1991) und impliziert die Annahme, dass je nach Art der traumatischen Erfahrung unterschiedliche Verarbeitungsprozesse ablaufen müssten. Der dialogische Ansatz geht davon aus, dass der traumatisierte Mensch peritraumatisch, also während der akuten traumatisierenden Erfahrung, eine Ohnmacht erlebt, die angesichts der realen Bedrohung erhebliche Angst, Hilflosigkeit und das Gefühl von Lähmung aktiviert. Das in diesem Prozess wahrgenommene Gegenüber, das kann ein Gewalttäter, eine bedrohliche Riesenwelle, ein Erdbeben oder auch ein aggressiver Verkehrsteilnehmer sein, formiert die traumabezogene Beziehungsgestaltung. Sie wird dann später, wenn Erinnerungsreize auftreten, reaktualisiert. Traumatisierte Menschen schaffen somit bei jeder Reaktivierung der traumatischen Erinnerungen eine Beziehung »zur Welt«, in der sie hilflose Opfer sind. In dieser Beziehung wird dann ihr Selbst als »Traumaselbst« aktiviert, das eben ohnmächtig, hilflos und schwach ist. Ein in der peritraumatischen Situation für das Überleben besonders wichtiger Unterwerfungsreflex schafft aber dann die Einprägung einer Beziehungsgestaltung, die durch bedingungslose Unterwerfung gekennzeichnet ist. Sie wird, außer es gelingt, sie erfolgreich zu behandeln, zu einem durchgängigen Merkmal der posttraumatischen Persönlichkeit.
Die so postulierten Prozesse gelten zwar auch für Typ-I-Traumatisierungen, in besonderem Maße aber auch für die Folgen von Langzeittraumatisierung (Typ II). Die Therapie wird die Reaktualisierung des Trauma-Selbst in den Alltagssituationen identifizieren, den Prozessen der Selbst-Schwächungen nachspüren, die ihnen zugrunde liegenden Überzeugungen überprüfen und alternative Fertigkeiten erarbeiten. Gegenwärtige Beziehungen werden danach neu justiert werden müssen, um dann erst, so von den Patienten auch gewünscht, die alten Traumata im Rollenspiel in die Gegenwart der Therapiesitzung zu holen und zu bearbeiten – ähnlich wie es zuvor mit den im Alltag gegenwärtigen Spuren des Traumas geschehen ist.
Auf dem Hintergrund gestalttherapeutischer Annahmen haben wir das Konzept der Dialogischen Traumatherapie entwickelt. Das Modell geht von der Annahme aus, dass die menschliche Psyche ständig für das eigene Selbst einen Interaktionspartner konfiguriert und dass die aggregierte Lebens-Interaktionserfahrung den Rahmen und das Erwartbare dazu bereitstellt. Das Selbst schafft sich im Gegenüber, es konfiguriert sich jeweils im Rahmen des Bekannten an den wechselnden Interaktionspartnern neu und stets etwas anders. Zu »Interaktionspartnern« können neben Menschen auch nichtmenschliche Inhalte werden, Tiere, die Natur, das Meer, die Erde usw.
In und nach der traumatischen Erfahrung stimmt nichts mehr von dem, was zuvor an Interaktionserfahrung gesammelt wurde. Die akute Bedrohlichkeit der neuen Erfahrung führt zur absoluten Dominanz des neuen Erlebens. Durch die extreme Selbsterfahrung im Trauma – Selbstauflösung, Unterwerfung, Wertlosigkeit – werden somit auch gewachsene Selbstwertprozesse durch die akute Stressbelastung quasi »überschrieben«. Das traumatisierte Selbst ist ein chaotisches, aufgelöstes Selbst, das sich erst wieder als »underdog« zu konfigurieren versucht. Bestenfalls bleibt ein gespaltetes Selbst. Die Therapie versucht nun, das überbordende traumatisierte Selbst auf ein realistisches Maß zurechtzustutzen und das prätraumatische Selbst wieder zu aktualisieren und mit der neuen Erfahrung zu integrieren. Die Dialogische Traumatherapie behandelt folgende Themen:
In der Psychotherapeutischen Hochschulambulanz (Traumaambulanz) der LMU München werden traumatisierte Menschen mit einem auf diese Menschen zugeschnittenen Therapiekonzept behandelt. Unser Ansatz verbindet einen gestalttherapeutischen Rahmen mit verhaltenstherapeutischen Elementen. Klinisch relevante, positive Ergebnisse dieses Behandlungskonzepts zeigen sich bereits in der Arbeit mit Angststörungen (Butollo, Rosner & Wentzel, 1999). In einer Pilotstudie mit N = 21-Patienten (Butollo, Karl, Henkel, König & Rosner, in Vorb.) wurden hohe signifikante Veränderungen in der posttraumatischen Symptomatik sowie in der allgemeinen Psychopathologie gefunden. Derzeit wird der Ansatz in einer randomisierten Studie an Patienten mit der Diagnose einer PTBS evaluiert (erste Zwischenergebnisse in Kap. 13). Der Ansatz wird ebenfalls erfolgreich bei Patienten mit komplexen Traumafolgestörungen angewandt, jedoch außerhalb des Studiendesigns.
Die Fachliteratur und neuerdings auch populärwissenschaftliche Organe berichten zunehmend über schnelle Erfolge durch Traumatherapien. Betrachtet man die diesen Berichten zugrunde liegenden wissenschaftlichen Untersuchungen etwas kritischer, werden leider sehr viele Mängel offenkundig, und die Verallgemeinerungen der AutorInnen erscheinen häufig voreilig.
Traumatherapie wird zu oft auf die durchschnittliche Behandlung der sogenannten Leitsymptome der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) reduziert, also das exzessive Wiedererinnern der erlebten Ereignisse, die Tendenz, diese Erinnerung nach Möglichkeit zu vermeiden, und die anhaltende physiologische Übererregung.
Häufig kommen kognitive Verfahren zum Einsatz, die mit Techniken zur Änderung des Denkens über die traumatischen Prozesse und die Bewertung derselben eine Besserung der Symptomatik erzielen. Diese Verfahren sind häufig überprüft und gelten als wissenschaftlich anerkannt. Eine andere Gruppe von Interventionen sind Techniken der Stabilisierung, deren unmittelbare Wirkungen sich leicht überprüfen lassen. Diese Verfahren sind sinnvoll und notwendig, aber in vielen Fällen zu kurz gegriffen.
Leider werden nur wenige Studien unter Einbeziehung von Patienten mit schweren, chronischen Traumafolgestörungen durchgeführt, und noch viel weniger Studien enthalten langfristige Nachkontrollen.
Die meisten Untersuchungen über die Wirksamkeit einer Therapie, nicht nur für den Bereich der Traumatherapien, werden in Instituten durchgeführt, die diese Therapien propagieren und in gewissem Sinne dann auch vermarkten. Da können dann leicht Fehlerquellen entstehen, die international unter den Begriffen Alliance-Effekt, Allegiance-Effekt oder Affiliations-Effekt beschrieben werden. Anders gesagt, findet man extrem selten Befunde publiziert, die gegen die in dem jeweiligen Institut entwickelte Intervention sprechen. Leider nur selten wird heute die alte und wesentliche Tradition der Replikation von Ergebnissen aus dem einen Institut in einem anderen, konkurrierenden Institut umgesetzt. Wahrscheinlich würde so eine Studie schon bei der Beantragung der Forschungsmittel durchfallen.
Es führt aber an dieser Stelle zu weit, auf die Schwächen und Fehlerquellen der Wirksamkeitsforschung bei Traumatherapien einzugehen, es sollte nur kurz auf die Fragilität von Forschungsbefunden in der Therapieforschung hingewiesen werden. Allerdings spricht die Fragilität der Therapieforschung nicht grundsätzlich gegen die Forschung, sondern gegen eine vorschnelle Verallgemeinerung der Ergebnisse dieser Forschung im Sinne von Affirmationen bestimmter Therapietechniken oder -heuristiken.
Wichtig ist vielmehr zu erwähnen, dass auch den als wissenschaftlich anerkannten Therapieansätzen gemeinsam ist, dass sie ein schnelles Verschwinden der Trauma-Leitsymptome suchen (und versprechen – manchmal auf durchaus suggestive Weise). Das ist legitim, gleichsam uralte medizinische Praxis – wenn es uns irgendwo wehtut, dann wünschen wir natürlich, dass das möglichst umgehend gelindert werden kann. Das zu vermitteln macht seit Jahrhunderten den erfolgreichen Arzt aus. Und es entspricht dem legitimen Bedürfnis des Patienten nach rascher Besserung.
Und im Falle der Mainstream-Traumatherapien gibt es tatsächlich eine ganze Reihe von Verfahren, die kurz- bis mittelfristige Linderung fördern – im Durchschnitt. Nicht für alle Patienten zwar und nicht für alle gleich stark. Und leider kann auch zu selten eine komplette Heilung erreicht werden. Doch die unmittelbaren Effekte sind ziemlich gut belegt. Diese Interventionen sind für viele Betroffene hilfreich.
Doch reicht das im Fall der Probleme traumatisierter Menschen wirklich aus? Die Verfahren des wissenschaftlichen Mainstreams übergehen dabei einige wesentliche Punkte, die sich in der Patient-Therapeut-Beziehung von Therapien allgemein, in besonderem Maße aber in der Traumatherapie ereignen. Nur einige können hier kurz angedeutet werden:
1. Dem Therapeuten folgen oder Selbstakzeptanz?
Traumasymptome sind protektiv, sie sind eine enorme Leistung des menschlichen biosozialen Systems und sollten in ihrer Schutzfunktion anerkannt werden. Sie als störende Symptomatik zu definieren, führt zu einer Vertiefung der Spaltung zwischen dem schutzbedürftigen, verletzten Selbstanteil und dem Selbstanteil, der sich erst wieder gut fühlt, wenn er die soziale Norm wieder erfüllen kann. Anpassung an Erwartungen anderer um jeden Preis unterdrückt die Bedürfnisse des schutzbedürftigen Selbstanteiles, des traumatisierten Selbstes. Traumatisierte Menschen fürchten, aus der Gemeinschaft zu kippen. Oft ist die Tat, das traumatische Ereignis selbst ja ein Akt des Ausschlusses, man denke an Folter, an durch Menschen ausgeübte Gewalt und ähnliche Erlebnisse der Verletzung, Demütigung und Ohnmacht. Aber im Grunde kann auch eine Naturkatastrophe von den Betroffenen als eine Art von Eliminierung aus der Gemeinschaft der lebenden Menschen verstanden werden. In diesem Zustand drohenden Ausschlusses ist der Betroffene nur allzu gern bereit, dem Angebot der Therapeuten zu folgen und eine »normalisierende«, die Erwartung des Therapeuten erfüllende Symptomreduktion anzustreben. Und als guter, angepasster Patient wird er manchmal auch seine Besserung in schönerem Licht darstellen, als es vielleicht der Realität entspricht. Er will ja nicht wieder durch den Raster der Normalität fallen … Umfassende, nicht nur auf kurze Entlastung ausgerichtete Traumatherapie wird versuchen, zusätzlich auch das Selbst der Patienten so zu stärken, dass sie widersprechen können, dass sie ihre gegenwärtige, vielleicht entstellte, verletzte und nicht voll funktionierende Art zu sein unterstützen und verteidigen können und wollen. Dass sie sich annehmen, auch wenn sie unter dem So-Sein ihres psychischen Zustandes schwer zu tragen haben.
2. Negative sozioökonomische Spirale:
Traumatisierte Menschen zeigen, oft mit verzögertem Beginn und gerade dann, wenn die ärgste Leit-Symptomatik zu schwinden beginnt, eine Verschlechterung in ihren sozialen und ökonomischen Lebensbedingungen. Sie werden scheuer, vermeiden Konflikte, auch in relativ zum Trauma unwesentlichen Auseinandersetzungen, vor allem aber in den für sie so wichtigen Konflikten mit Arbeitgebern und Versicherungen. Dies kann durchaus mit einer Erhöhung der Belastung im Binnenverhältnis familiärer Beziehungen einhergehen. Erhöhte Reizbarkeit, Misstrauen, emotionale Explosivität, Aggression, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Betroffenen laufen Gefahr, eine »Opfer-Identität« zu entwickeln, mit allen Vor- und Nachteilen.
Man könnte also mit gutem Grund zusätzlich zu den drei Leitsymptomen der PTBS die Schaffung einer weiteren Gruppe von Traumafolgen einfordern, diesmal aber als Leit-SYNDROM: den sukzessiven Verlust der Beziehungsfähigkeit, der sozialen Fertigkeiten und der sozialen Motivation. In einer umfassenden, der Komplexität posttraumatischer Störung gerecht werdenden und die Langzeitwirkung sichernden Therapie ist die Berücksichtigung dieser Prozesse von großer Bedeutung.
3. Traumafolgen im scheinbar unbelasteten Lebenskontext:
Wenn die These stimmt, dass die Traumatisierung sich primär als Problem im Bereich der sozialen Interaktionen kristallisiert, stellt sich die Frage, wie die Veränderung der interaktionalen Prozesse in ihrer Wirkung sichtbar und für die Betroffenen erfahrbar gemacht werden können. Wenn sich das traumatische Ereignis z. B. am Arbeitsplatz ereignete, wie wirken sich dann die psychischen Folgen z. B. auf die Gestaltung familiärer Interaktionen aus? Wie werden Kontakte im »ungestörten« Fall geplant, durchgeführt und durch Lernen modifiziert? Und wie stört die Repräsentation des Traumas diese Prozesse? Anders gesprochen, wie ändert sich die Gestaltung zwischenmenschlicher Kontakte und wie ändern sich die intrapsychischen Repräsentationen dieser Kontakte nach dem Trauma, wenn das Geschehen, das jetzt stattfindet, inhaltlich räumlich und zeitlich weit entfernt von dem traumatischen Ereignis stattfindet? Wie wird z. B. ein nervöser, fahriger, vergesslicher Patient in der Familie erlebt? Wie verändern sich dann die Bezugspersonen in der Folge auf das geänderte Verhalten des traumatisierten Familienmitgliedes? Traumatisierte Menschen erleben nicht nur die relativ leicht feststellbaren Hauptsymptome unmittelbar nach dem belastenden Ereignis, sondern sie verändern sich häufig in ihrem gesamten Verhalten, oft auch in ihrer Persönlichkeit. Das geschieht schrittweise, für sie selbst unmerklich, bis das soziale Umfeld alarmiert ist und nach Hilfe ruft bzw. auf Trennung drängt.
4. Symptombelastung und Menschenwürde:
Symptome und Defizite sind kein Makel des Menschen, den er zusätzlich zu der Erinnerung an das erlebte Trauma zu verstecken hat, um für »voll« genommen zu werden. Von vielen Überlebenden entsetzlicher Geschehnisse, nicht zuletzt von Überlebenden der Konzentrationslager aus der Zeit des Nationalsozialismus, haben wir gelernt, wie Menschen ihre Würde wiederfinden können, obwohl sie ihre Traumafolgestörungen nicht so verändern konnten, dass sie nicht mehr darunter zu leiden hatten. Der Aufbau neuer Qualität von Beziehungen steht im Vordergrund ihres Bemühens und nicht die Wiedererlangung einer »Normalität«, die über Symptomfreiheit definiert ist. Das bedeutet natürlich nicht, dass Symptomfreiheit nicht ein ganz wesentliches Ziel bleibt. Natürlich wird dies jede Therapie auch anstreben müssen. Aber die Symptomfreiheit kann Selbstsicherheit nicht gewährleisten. Diese gilt es von der Verknüpfung mit den Symptomen freizulegen um sie dann bearbeiten zu können, quasi ohne den Druck der nur über Perfektion wiedererlangten Selbstsicherheit. Das Ziel könnte demnach sein, ein entspanntes Verhältnis zur Traumasymptomatik zu gewinnen. Die Menschen nehmen sich auch als Verletzte an, seelisch und körperlich, statt sich möglichst schnell wieder an Normen anzupassen, die sie nicht selbst gewählt hatten.
5. Intrapsychische Balance zwischen Selbst und Nicht-Selbst:
Die menschliche Psyche, das kognitiv-emotionale System, auch Selbst genannt, entwirft ständig eine Repräsentation von sich und dem, womit es im weitesten Sinne kommuniziert, also dem Umfeld einschließlich anderer Personen. Es bedient sich dazu der Wahrnehmung gegenwärtiger Inhalte ebenso wie der Erinnerung und der Vorstellung von gegenwärtig nicht anwesenden Inhalten, Personen etc. Im günstigsten Fall ist die Repräsentation von sich selbst und der Welt »draußen« in guter, flexibler Balance. Gestalttherapeuten, wie etwa Yontef (1999) oder Polster & Polster (2001), haben diese Selbst-Prozesse als das System der Kontaktgestaltung detailliert beschrieben.
Nach traumatischen Erlebnissen, insbesondere nach durch Menschen ausgeübter Gewalt, gerät dieses System in Unordnung. Die Repräsentation des »Außen« wird übermächtig und bedrohlich, die des eigenen Ichs wird unklar und brüchig, unterwirft sich gleichsam. In der posttraumatischen Phase besteht die Gefahr, dass diese Imbalance zementiert wird, der Täter durch seine Repräsentation im Selbstprozess in zahllosen Wiederholungen immer stärker vertreten ist und dabei die Ohnmacht und Schwäche der Selbst-Repräsentation mit zementiert. Die Dialogfähigkeit geht verloren, was auf andere Interaktionsrepräsentationen generalisiert.
Dieser Prozess wäre zu unterbrechen, wenn es gelingt, die Repräsentation des eigenen Selbstes wieder zu stabilisieren. Dazu ist eine Selbstaktualisierung erforderlich, was grundsätzlich in der Gestaltung neuer Kontakte angestrebt wird. So verstandene Traumatisierung erfordert demnach Selbstaktualisierung in realen und vorgestellten Interaktionen. Ein schrittweise gestärktes Selbst wird dann dazu imstande sein, die Konfrontation mit dem »Täter« zu riskieren, sei es vorerst in der Vorstellung bzw. im Rollenspiel.
6. Gegenwärtigkeit:
Eine traumatische Erfahrung mit großer Intensität an Erregung absorbiert nach dem Ereignis die für einen geordneten Bewusstseinsablauf benötigten psychischen Kräfte. Der Betroffene muss sich vorrangig mit dem befassen, was er im Zuge der Traumatisierung erlebt hat, und hat keine Kraft und auch kein Interesse für gegenwärtige unbedrohliche Lebensereignisse.
Humanistische Therapien haben diese »Gefangenschaft im Vergangenen« aufgegriffen und die Notwendigkeit unterstrichen, Gegenwärtiges wieder unbelastet wahrnehmen zu können. Sie verfügen über Methoden, um diese Konzentration auf die Gegenwart wieder zu fördern und so das Handeln der Menschen auf die real vorhandenen Situationen abzustimmen. Sie sind dann mehr bei sich und in ihrer Situation und werden weniger von Befürchtungen und Erinnerungen getrieben. Fähigkeit zu Gegenwärtigkeit ist somit ein wesentliches Ziel einer humanistischen Traumatherapie. Sie zielt primär darauf ab, den Menschen wieder eine realistische Wahrnehmung ihrer gegenwärtigen Situation zu ermöglichen und sich nicht mehr von dominanten Katastrophenfantasien steuern zu lassen. Im Therapieraum beginnen sie, obwohl noch angstvoll erregt, zu erkennen, wo sie sich befinden, wer ihnen gegenübersitzt, wie die Mauern, der Vorhang, Teppich, Sitzmöbel und Tisch beschaffen sind. Sie realisieren die Ruhe, die Sicherheit der realen Situation und die Irrationalität ihres erhöhten Angstzustandes. Schrittweise lassen sie die Sicherheit der gegenwärtigen Situation in ihr Bewusstsein einsickern und beginnen allmählich, auch selbst zur Ruhe zu kommen. Gegenwart in Sicherheit vermittelt Ruhe auch dann, wenn man Schlimmes erlebt hat. Vorausgesetzt, man kann diese Gegenwart wieder wahrnehmen.
Gestalttherapie hat eine lange Tradition in der Arbeit mit traumatisierten Menschen. Die Methode der Bearbeitung sogenannter »offener Gestalten« (unfinished businesses), die mit starken Emotionen einhergehen, kann mit gestalttherapeutischen Techniken die Wahrnehmung und den Ausdruck von Emotionen fördern, die in der traumatischen Erfahrung gebunden sind.
Die allen humanistischen Therapieverfahren zugrunde liegende Trennung zwischen therapeutischer Arbeit und empirischer Forschung hat zur Folge, dass gestalttherapeutische Verfahren sowohl im universitären Setting wie auch im Praxisalltag wenig Anerkennung finden und ein Wirksamkeitsnachweis der Methode bei der Behandlung der PTBS nicht konsequent verfolgt wurde. Dennoch kann in den wenigen Studien gezeigt werden, dass gestalttherapeutische Ansätze in der Behandlung der PTBS effektiv sein können (z. B. Elliott, Greenberg & Lietaer, 2004). Greenberg und Kollegen haben die emotionsfokussierte Therapie (EFT) entwickelt, eine Therapieform, die gestalttherapeutische Methoden verwendet, z. B. die auf Moreno zurückgehende Technik des Leeren Stuhls: Man stellt sich vor, gegenüber sitzt die Person, zu der man seine Kontaktprobleme erforschen möchte, und beginnt sie anzusprechen.
Gestalttherapie ist ein weites Feld, in dem es vermutlich so viele Gestalttherapien wie Gestalttherapeuten gibt. Der besondere Charme dieses Therapieansatzes liegt in der Bedeutung der Kreativität der Therapeuten, für ihre Patienten Situationen zu gestalten, in denen sie sich mit ihrem Problem erfahren und mit möglichen Veränderungen experimentieren können. Er liegt auch in der Betonung der Kreativität der Patienten bei der Exploration und Veränderung ihrer Kontaktprozesse.
Gestalttherapie ist ebenso vielfältig wie das menschliche Leben und hat sich daher der wissenschaftlichen Untersuchung mittels empirischer Methodik, teils mit eher ideologischer denn sachlicher Argumentation, widersetzt. Eine RCT-Studie über Gestalttherapie scheint undenkbar, da diese Therapie wegen ihres Prozesscharakters nicht manualisierbar, also nicht auf ihre einzelnen Techniken reduzierbar ist. Sie lebt unter anderem von der Stimulation von Lebendigkeit im therapeutischen Kontakt, vom genuinen Interesse des Therapeuten am So-Sein seiner Patienten und an der Förderung der Fähigkeit zu genuinem Kontakt bei seinen Patienten. In der Therapie findet dialogische Begegnung statt, nicht nur Gespräche über das Problem des Patienten, also über ihn und sein Erleben. Der Patient bestimmt auch, woran er wie arbeiten will, wobei er vom Therapeuten mit Interesse begleitet und unterstützt wird, im Grunde aber selbst arbeitet.
Anders als in den meisten anderen Therapien aktualisiert sich in diesem Augenblick das Problem in Form von Limitierungen des eigenen Selbst und kann so, quasi in flagranti, erfahren, ausgedrückt und verändert werden.
In der Arbeit mit traumatisierten Patienten macht es jedoch Sinn, die völlige Weite des gestalttherapeutischen Ansatzes etwas zu strukturieren: Ausgehend von der Annahme, dass Traumata grundsätzlich soziale Traumata sind und intrapsychisch als entstellte Interaktionen repräsentiert und fixiert werden, bietet es sich an, diese Entstellung in einer Rollenspielsituation zu bearbeiten. Das Vorgehen muss demnach viel strukturierter sein, als es üblicherweise in einer nicht störungsspezifischen Gestalttherapie der Fall wäre. Wir denken allerdings auch, dass es der Gestalttherapie nicht geschadet hätte, viel früher »klinischer« zu werden, also für bestimmte Störungsbereiche spezifischere Erfahrungen zu sammeln, und zwar systematisch! Dem Gros der Gestalttherapeuten ein Unwort, obwohl Gestalttherapie vielleicht die erste systemische, wenn auch eher selten systematische, Therapie überhaupt gewesen ist.
Dabei muss die Prozessorientierung der Therapie nicht zwangsläufig zu kurz kommen. Prozessorientierung meint zweierlei: Einmal versteht man darunter die Konzentration auf die im Hier und Jetzt ablaufenden Prozesse, besonders in der Patient-Therapeut-Interaktion. Es geht dann weniger um den Inhalt des Erlebten, sondern stärker noch um die Interaktionsabläufe, die den Inhalt gleichsam tragen: WIE machst du jetzt gerade dein Gefühl der Gekränktheit oder den Zorn? Diese Frage tritt an die Stelle der Warum-Frage.
Die andere, weitere Form, wie Prozessorientierung verstanden werden kann, ist die Haltung des Therapeuten in der Sitzung: Er lässt die Patienten bei dem Inhalt bleiben, der dem Patienten wichtig ist, nimmt aber Anteil an dem Prozess, indem er sein eigenes Interesse bekundet und sich selbst, mit seinem Prozess in angemessener, dosierter Form mit einbringt,
Diese beiden Aspekte der Prozessorientierung können durchaus in der Traumatherapie zur Geltung kommen, selbst wenn die Therapie in ihren größeren Abläufen stärker strukturiert ist als eine völlig offene Gestalttherapie, wie sie ohne klinischen Leidensdruck vielleicht durchgeführt würde.
Wir planen also die Konfrontation mit dem für die Traumasituation bedeutsamen Interaktionspartner, das kann eine verlorene Bezugsperson, ein Täter oder ein sonst irgendwie bedeutsam gewordener Helfer sein, und explorieren die behutsame Annäherung an die emotional heißen Themen, die von den Patienten im Alltag gerne vermieden werden.
Die Details dazu werden unten beschrieben. Die Vorgehensweise ist also deutlich strukturierter als in der rein prozessorientierten Gestalttherapie, und um hier keine Verwechslungen aufkommen zu lassen, nennen wir diese Arbeitsweise auch »DIALOGISCHE EXPOSITION« – die behutsame Annäherung an die im traumatischen Geschehen verletzende Situation im Rollenspiel. Sie aktualisiert zuerst die beschädigten Selbstprozesse, erkennt die Schwächen an, akzeptiert sie und fördert dann schrittweise den Aufbau neuer Möglichkeiten, sich auszudrücken, sich zu artikulieren. Und sei es die erlebte Ohnmacht.