Menschenrechte als Alibi
Die Nahostpolitik des Westens muss glaubwürdig werden
EIN STANDPUNKT VON BAHMAN NIRUMAND
Standpunkte: unbequeme Einsichten, provokante Ansichten, weitsichtige Vorschläge. Die sich in der Essayreihe »Standpunkte« zu Wort melden, wollen die Debatte über grundsätzliche und aktuelle Fragen der Politik vertiefen und in die Breite tragen. Die Klarheit der Argumentation lädt den Leser ein, die eigene Meinung zu schärfen – und sie ebenso energisch zu vertreten.
Menschenrechte als Alibi
Die Nahostpolitik des Westens muss glaubwürdig werden
EIN STANDPUNKT VON BAHMAN NIRUMAND
»Werfen wir einen Blick auf das, was das christliche Abendland und das islamische Morgenland zu verantworten haben«: Der Autor zieht Bilanz der Kriege und Massaker des 20. und 21. Jahrhunderts. Für die angeblich zivilisierte Welt, die westliche, fällt der Vergleich ungünstig aus, auch wenn »die Muslime keine Unschuldslämmer waren«. Zwei Weltkriege, der Holocaust, die Unterstützung lateinamerikanischer und arabischer Gewaltherrscher, der Putsch gegen den iranischen Demokraten Mossadegh, die Apartheid, die Kriege in Vietnam, Afghanistan oder Irak, das Blutbad auf dem Balkan, andere Konflikte, ganz zu schweigen von den Gemetzeln der Kolonialherren, »sind nicht von Muslimen ausgegangen«. Am meisten Barbarei ausgerechnet in jenem Teil der Menschheit, der sich auf die amerikanische und Französische Revolution beruft und darauf, dass »die Menschen frei und gleich an Rechten geboren werden«. Wobei 1789 der Pariser Konvent lange debattierte, ob dies auch für die Sklaven in Übersee gelte.
Leichthin vergisst der Westen – soweit es ihn als Ganzes noch gibt –, dass vor dem Hintergrund der jüngeren Geschichte seine Glaubwürdigkeit schwächer ist als seine Macht. Dieser ambivalente Westen hat zugleich eine seltene Fähigkeit und eine besorgniserregende Unfähigkeit: Einerseits hat er in Europa sehr bewusst aus Verbrechen gelernt, wie Deutschlands grundlegender Wandel und der Aufbau der Europäischen Union als »Vorbild für Frieden, Freiheit und Menschenwürde« beweist, so Bahman Nirumand. Andererseits pocht zwar der Westen auf seine Werte, die er dann aber realpolitisch ignoriert oder opportunistisch mit Füßen tritt. »Was uns trennt, sind nicht Religionen oder Kulturen. Uns trennen Fakten – Fakten, die demütigend, erniedrigend und entwürdigend sind, Fakten, die tiefe Wunden hinterlassen und Wut, Hass und Rachegefühle erzeugen.«
Dem Autor muss man nicht in allem folgen, aber man darf ihm dankbar sein. Die Lust der westlichen Welt, sich kritisch zu betrachten und dabei zu wachsen, schwindet. Nach 1968 war westliche Selbstkritik so rituell und intensiv geworden, dass viele sie für Selbsthass hielten und weghörten. Jetzt wird sie nötiger denn je, nicht als Mantra, sondern in einer globalisierten Welt als Voraussetzung erfolgreicher Außenpolitik: namentlich gegenüber islamischen Ländern, deren Aufbruch – wie einst der demokratische Aufbruch des Westens – auf irren und wirren Wegen erfolgt. Wer um seine bedingte Glaubwürdigkeit weiß, wird mehr Gehör haben für Nirumands Rat, die Beziehungen zu Diktaturen nicht etwa abzubrechen, aber neu zu gestalten: sich »stärker auf die Seite der Unterdrückten zu stellen« und deren Zivilgesellschaften zu fördern. Zum Beispiel mehr Bildung und Ausbildung, dafür weniger Waffengeschäfte, »so kann Europa das verlorene Vertrauen zurückgewinnen«.
Berlin, im September 2012
»Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.« So lautet Artikel 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Und in der Präambel der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika von 1776 lesen wir: »Wir halten folgende Wahrheiten für unumstößlich: Alle Menschen wurden in Gleichheit erschaffen; der Schöpfer hat ihnen unveräußerliche Rechte gegeben, deren erste da sind: das Recht auf Leben, das Recht auf Freiheit, das Recht auf das Streben nach Glück.« Auf diese folgte 1789 die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der Französischen Revolution, die unter dem Motto »Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit« die universale Feststellung traf, dass »die Menschen frei und gleich an Rechten geboren werden und es bleiben«.
Der Geist, der in diesen drei Zitaten zum Ausdruck kommt, die Erkenntnis, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, dass die Menschen einzig aufgrund ihres Menschseins, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Rasse, ihres Glaubens und ihres Geschlechts gleichberechtigt sind, gehört zu den wunderbarsten Errungenschaften, die die Menschheit nach Jahrtausenden ihrer Geschichte hervorgebracht hat. Auf diese Errungenschaft kann der Westen stolz sein. Die Anerkennung der Menschenrechte hat es mehr Menschen als je zuvor ermöglicht, ihre Begabungen zu entfalten, hat die Wissenschaften und die Künste zur Blüte gebracht, und sie hat nicht zuletzt zu der bisher besten Staatsform, der Demokratie, geführt, die, zumindest ihrem Anspruch nach, ein Höchstmaß an Freiheit und sozialer Gerechtigkeit gewährleistet und die Rechte der Individuen garantiert.
Zwischen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949 liegen beinahe 200 Jahre, die u.a. die Zeit der europäischen Aufklärung einschließt. Die Geschichte zeigt einerseits das unermüdliche Streben nach Realisierung und Durchsetzung der Menschenrechte, andererseits aber auch, dass diese nicht einmal der eigenen Bevölkerung, geschweige denn Fremden gegenüber eingehalten wurden.
So war die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika für die einheimische Bevölkerung des Kontinents mit unzähligen Opfern und Knechtschaft verbunden. Es entstand eine von europäischen Auswanderern gegründete Gesellschaft, in der Dunkel- und Schwarzhäutige geknechtet, diskriminiert und durch mindere Rechte ausgegrenzt wurden. Auch in Europa tobte der Rassenwahn noch bis vor wenigen Jahrzehnten und fand seinen Höhepunkt in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts in der Ermordung von sechs Millionen Juden, Sinti und Roma und vielen anderen.
Die Bekenntnisse zu Demokratie und Menschenrechten, auf die besonders die Europäer mit Recht stolz waren, hielten sie jedoch nicht davon ab, die außerhalb der Grenzen ihrer Länder liegenden Regionen zu plündern, auszubeuten und sie als Kolonien unter ihre Herrschaft zu bringen. Die reiche Beute verhalf dem Westen zu ungeahnter Wirtschaftsblüte, zur Anhäufung von Kapital, aber auch zum Aufbau von Strukturen und Abhängigkeiten, mit deren Hilfe über Jahrhunderte hinweg westliche Staaten den gesamten Globus unter ihre Kontrolle bringen konnten.
Und selbst dann, als die geknechteten Völker sich zum Widerstand formierten und ihre Unabhängigkeit erlangten, setzten sich die Plünderungen mit anderen Mitteln fort. Diese leidvolle Geschichte bildet den Hintergrund und den eigentlichen Kern der wichtigsten Konflikte auf unserem Planeten. Hier liegt eine der wichtigsten Ursachen für Gewalt und Gegengewalt, Rebellionen und Revolutionen sowie Terrorismus.
Der Krieg gegen Afghanistan, der nach den Anschlägen vom 11. September erfolgte, richtete sich im Grunde gegen Terrornetzwerke, die die USA mit saudischer und pakistanischer Unterstützung selbst organisiert, finanziert und mit modernsten Waffen versorgt hatten. Er sollte die Netzwerke vernichten und dem islamischen Fundamentalismus die Basis entziehen, lautete die offizielle Version. Für den Irakkrieg, der zweieinhalb Jahre später folgte, konnte diese Begründung nicht gelten. Denn das Regime von Saddam Hussein hatte weder mit dem islamischen Fundamentalismus noch mit dem internationalen Terrorismus etwas zu tun. Die Herrschaft von Saddam Hussein war keine klerikale, sondern eine laizistische Diktatur. Da diese keinen geeigneten Kriegsgrund bot, musste ein anderer gefunden werden.
Wie kam es also zu diesem Krieg? Da sich die offiziell angegebenen Gründe für den Angriff nachträglich teils als dramatische Irrtümer, teils als bewusste Lügen herausgestellt haben, fragt man sich, was die USA und ihre Verbündeten letztlich zu diesem militärischen Abenteuer veranlasst hat. Wenn es, wie behauptet, neben der Verhinderung des Baus von Nuklearwaffen tatsächlich um Menschenrechte und den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft ging, dann hätte man Länder wie Iran, Saudi-Arabien, Syrien oder auch Pakistan ebenfalls angreifen können. Warum also war für die USA und ihre »Koalition der Willigen« ausgerechnet Irak Ziel dieses militärischen Abenteuers? Sicher, im Irak herrschte eine unbeschreiblich brutale Diktatur. Aber wohin würde es führen, wenn der Westen gegen jede Diktatur militärisch intervenieren würde? Und warum konnte man mit anderen Diktaturen wie jenen in Ägypten, Tunesien, Saudi-Arabien und den Golfstaaten engste Beziehungen pflegen, mit der irakischen aber nicht?
Der Irakkrieg erscheint plausibel, wenn wir dessen Vorgeschichte betrachten. Schon Ende der siebziger Jahre hatten gravierende Ereignisse, wie der Sturz des Schah-Regimes im Iran und der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan, im Westen zu der Befürchtung geführt, dass das Gebiet um den Persischen Golf, das bis dahin zur westlichen »Interessensphäre« gehörte, außer Kontrolle geraten könnte. Allein die islamische Revolution im Iran hatte die gesamte Architektur des Nahen und Mittleren Ostens ins Wanken gebracht. Sie bedurfte einer Neuordnung. Die USA hatten, um ihre ökonomischen und geostrategischen Interessen wahren zu können, bereits vor dem Sturz des Schah-Regimes damit begonnen, neue Verbündete in der Region zu suchen. Dazu gehörten Saudi-Arabien und andere Golfstaaten wie Oman, Bahrain, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate, die man militärisch ausrüstete; alles Länder, die von despotischen Königshäusern regiert und in denen die Menschenrechte permanent verletzt werden. Der damalige US-Präsident Jimmy Carter hatte in einer Doktrin die Golfregion zur »Interessensphäre« des Westens erklärt und all jenen mit militärischer Gewalt gedroht, die sich diesen Interessen in den Weg stellten.
Die Machtübernahme der islamischen Geistlichen im Iran, die bereits bei der Gründung der Islamischen Republik westliche Interessen am Persischen Golf in Frage stellte, wurde aus der Sicht des Westens als große Gefahr gesehen, die mit allen Mitteln abgewehrt werden musste.
Dazu gehörte neben der Errichtung neuer Stützpunkte am Persischen Golf die verstärkte Aufrüstung der mit dem Westen verbündeten Staaten, vor allem die des Iraks. Das Ziel war eine Art Schutzwall, der eine etwaige Einflussnahme des neu gegründeten iranischen Gottesstaates auf die Nachbarstaaten verhindern sollte. Damals herrschte im Irak bereits derselbe blutrünstige Diktator Saddam Hussein, der später von den Amerikanern zum Feind Nummer eins erklärt wurde. Ihn ermunterten die USA und einige Staaten Europas zu einem Angriff auf den Nachbarn Iran. Der Krieg dauerte acht Jahre. Das Absurde war, dass sowohl der Iran als auch der Irak vom Westen mit Waffen ausgestattet wurden, wobei die Lieferungen an den Irak bei Weitem die an den Iran überstiegen. Israel – auch das ist erstaunlich – gehörte zu den wenigen Ländern, die Iran mit Waffen versorgten.
Der ehemalige stellvertretende Unterstaatssekretär im US-Verteidigungsministerium, Stephen Bryen, berichtete dem US-Sender ABC, die US-Regierung habe amerikanische Unternehmen ermutigt, mit Irak Geschäfte zu machen. Die Politik der Administration habe darin bestanden, Saddam Hussein zu unterstützen und ihm bedenkenlos all das zu liefern, was er wollte. »Wir hätschelten ihn, wir unterstützten ihn, er war unser Junge. Und dass er Raketen baute oder nukleare Potenziale entwickelte – die CIA warnte davor, inzwischen hat sich das bestätigt –, spielte für uns keine Rolle.«
Unter diesen Exporten befanden sich auch pathogene, toxigene und andere biologische Forschungsmaterialien, die gemäß den Bestimmungen und mit Zustimmung des US-Handelsministeriums an den Irak geliefert wurden. In Washington war es kein Geheimnis, dass der Irak sowohl gegen iranische Truppen als auch gegen irakische Kurden chemische Waffen, Senfgas, Sarin, VX-Gas und andere giftige Substanzen einsetzte, die übrigens auch aus Europa, insbesondere aus Deutschland, importiert wurden. Selbst das Nachrichtenmagazin Newsweek schrieb Jahre später: »Es ist kaum zu glauben, dass während der 1980er Jahre die USA praktisch ununterbrochen der irakischen Atombehörde den Import von Bakterienkulturen erlaubten, die für biologische Waffen eingesetzt werden können. Aber dies ist tatsächlich passiert.«
Mitte der achtziger Jahre, als der Irakkrieg tobte, reiste Donald Rumsfeld als Sonderbotschafter des US-Präsidenten in den Irak. Dort erhielt er ein Telegramm, in dem Außenminister George Shultz ihm die Anweisung erteilte, er solle dem irakischen Außenminister Tarik Asis mitteilen, dass die jüngste Erklärung der USA zu chemischen Waffen (CW) »lediglich wegen unseres starken Widerstands gegen den Einsatz von tödlichen und kampfunfähig machenden CW abgegeben« worden sei. Die Erklärung bedeute keineswegs eine Kehrtwende der bisherigen Politik, und das Ziel der Verbesserung »bilateraler Beziehungen in dem vom Irak gewünschten Tempo« habe unvermindert Bestand, hieß es in dem Telegramm weiter. »Diese Botschaft ist es wert, dass sie während Ihrer Gespräche mehrfach betont wird«, wurde dem Sonderbotschafter empfohlen.
Das bedeutete, dass die Erklärung, die Washington damals veröffentlichte, nur für die Außenwelt bestimmt war und dass die irakische Regierung unwidersprochen weiterhin ihre Gegner mit chemischen und biologischen Waffen bombardieren konnte. Damit nicht genug. US-Aufklärungsflugzeuge stellten den irakischen Streitkräften permanent Informationen über die Vorgänge auf der anderen Seite der Front zur Verfügung! Menschenrechte? Fehlanzeige.