Planetenroman

 

Band 18

 

Tariga sehen und sterben

 

Harmlose Urlauber verschwinden spurlos – Spuk auf der Erholungswelt

 

Hubert Haensel

 

 

 

Tariga ist eine künstliche Urlaubswelt, ein Paradies für jeden Besucher. Eine ehemals öde Felswüste präsentiert sich dank des Einsatzes modernster Technik als phantastischer Planet. Geboten wird alles, was das terranische Herz begehrt – und niemand kann sich vorstellen, dass in einem solchen Paradies eine Gefahr droht.

Im 13. Jahrhundert Neuer Galaktischer Zeitrechnung stellen sich auch auf Tariga kritische Fragen: Ist der Planet wirklich vollständig erforscht? Was lauert außerhalb der Kuppeln mit ihrer hochgezüchteten Technik?

Schon seit langem werden von allen Verantwortlichen die sonderbaren Vorkommnisse ignoriert, die während der Bauzeit aufgetreten sind. Man will das Geschäft nicht gefährden. Doch dann verschwinden die ersten Urlauber – und es kommt zur Panik ...

Prolog

 

Wir wissen mittlerweile durch zahlreiche Belege aus früher und frühester Zeit, dass die Milchstraße schon immer das Interesse kosmischer Mächte geweckt hat. Die Ursachen dafür sind vielfältig und werden vermutlich nie vollständig zu ergründen sein. Nicht weniger als zwei Superintelligenzen nannten diese Galaxis ihre Heimat, das Zentrum ihrer Mächtigkeitsballung.

All dies ist bekannt und vergleichsweise gut dokumentiert, ebenso wie die zahlreichen sich daraus ergebenden Konflikte, wie die Auseinandersetzungen mit den negativen Superintelligenzen STROWWAN und Seth-Apophis, die Angriffe von QUON-KIN und des Suprahet, die Reiche der Varganen und die Herrschaften der Frequenz-Monarchie ...

Interessanter aber, wenngleich auch vor dem Hintergrund der großen kosmischen Geschehnisse letztlich unerheblich, sind die Besuche anderer Völker, Wesen und Wesenheiten. Viel ist im Verlauf der über einhundert Millionen Jahre alten Geschichte der Milchstraße verloren gegangen, und so nimmt es nicht wunder, dass selbst heute noch immer wieder neue Informationen aus der Frühzeit der Galaxis auftauchen.

Oft sind diese Informationen an Zufälle geknüpft. Häufig ergeben sie sich aus Krisensituationen und können deshalb nur ungenügend dokumentiert werden, da kein ausreichend geschultes Personal vor Ort ist. Und oft handelt es sich um geradezu »kosmische Randnotizen«, die von Aufstieg und Untergang ganzer Völker berichten. Vermutlich ist nicht einmal in den Zeittafeln von Amringhar alles verzeichnet, was sich im Verborgenen in der Milchstraße abgespielt hat.

Ein solcher Zufall hilft Anfang des dreizehnten Jahrhunderts, den Zipfel um die historischen Geheimnisse der Milchstraße ein klein wenig mehr zu lüpfen. Es handelt sich um eine kleine Begebenheit, die zu einer Zeit stattfindet, in der keine der großen Gestalten der Galaxis anwesend ist, in der sich die Unsterblichen auf der Expedition zur Großen Leere befinden.

Es zeigt sich, dass wir in der Heimatgalaxis der Menschheit immer wieder auf unerwartete Geheimnisse der Vergangenheit stoßen, selbst in völlig unverfänglichen Zusammenhängen, in denen wir sie gar nicht erwarten würden. Und es zeigt sich, dass es nicht immer nur die Zellaktivatorträger sind, die sich diesen Geheimnissen zu stellen und sich vor ihnen zu bewähren haben.

 

(Aus: Hoschpians unautorisierte Chronik des 14. Jahrhunderts NGZ; Kapitel 2.0.17, Kosmische Vorgeschichte: Die Dunkelziffer)

Kapitel 1

Eine Welt verändert ihr Gesicht

 

»Auf diesem miesen Planeten will ich nicht begraben sein – jedenfalls nicht, solange ich es mir aussuchen kann. Er ist der langweiligste, trostloseste, dreckigste ...« Yukio Shionoyas Schimpftirade endete mitten im Satz. Mit beiden Händen wühlte er durch sein Haar, wandte sich ruckartig von der Bildschirmgalerie ab und fixierte sein Gegenüber. »Als ich mich für das Projekt bewarb, ahnte ich nicht, dass wir ausgerechnet an den Arsch der Galaxis abkommandiert werden. Wenn das der Fortschritt sein soll, wünsch ich mir die Steinzeit zurück. Ich hab's satt, endgültig satt – verstehst du, Cotter? Ich schmeiß den Kram hin und verschwinde mit dem nächsten Zubringerschiff. Lieber keine Leistungsprämie, als noch einen Monat in dieser Hölle auszuharren.«

Cotter Pasolini schwieg dazu. Was hätte er auch sagen sollen, was Yukio nicht längst in einem seiner Anfälle von verständlichem Selbstmitleid festgestellt hatte?

Ein dumpfer Schmerz im Kiefer erinnerte Pasolini, dass er die Zähne zu fest zusammenbiss – Zeichen seiner eigenen Unsicherheit. Aber verdammt, was brachte es, wenn jeder nur fluchte und sich endlos einredete, Tariga sei die Hölle?

Tariga war die Hölle!

Pasolini ballte die Hände. Ungeduldig blickte er über die Hologalerie, die Panoramaaufnahmen von einem Dutzend Baustellen lieferte. Zwölf gigantische Areale ... Wie Pockennarben verunstalteten sie die äquatoriale Ebene, die vor Äonen den Grund eines Ozeans gebildet hatte. Die im Sand gefundenen Fossilien waren längst Legion, aber zugleich lästiges und unangenehmes Beiwerk. Zeugen der Entwicklungsgeschichte eines unbedeutenden Planeten in einem unbedeutenden, sternenarmen Seitenarm der Milchstraße interessierten niemanden.

Mit den Versteinerungen exotischer Tierarten war kein Vermögen zu verdienen; sie taugten nicht einmal für Wanderausstellungen. Cotter Pasolini selbst wäre nicht bereit gewesen, auch nur einen Galax für Eintrittsgeld auszugeben. Die Einzigen, die nicht davon erfahren durften, waren die staatlichen Archäologen, denn sie hätten es fertiggebracht, das Projekt Tariga vermutlich auf Jahre hinweg lahmzulegen. Und das nur bizarrer Knochen wegen.

»Wann kommt der nächste Zubringer?« Yukio Shionoya redete wie ein Schlafwandler. Er blickte Cotter an, doch er schaute durch ihn hindurch; sein Blick verlor sich in unergründlicher Ferne.

»Du weißt es.« Pasolini seufzte ergeben. »Du kennst den Zeitplan – wie jeder auf Tariga.«

Sie gifteten sich an. Wie so oft. Die Sandwüste, die gigantischen Baustellen, die häufig unerträgliche Einsamkeit – all das drückte aufs Gemüt. Schon vor Jahren hatten die Techniker ihre Bewerbung für das hochtrabendste Freizeitprojekt abgegeben, das jemals von privater Seite geplant worden war. Derart aufreibende Umstände hatte keiner vorausgesehen.

»Diese Welt macht mich krank.« Yukio Shionoya schien die knappe Antwort völlig überhört zu haben. Oder er war es endlich leid, auf die im Tonfall verborgenen Vorwürfe seines Kollegen zu reagieren. Mit zitternden Fingern fischte er seine letzte Vitaminzigarette aus der Brusttasche und klemmte sie sich in den Mundwinkel. »Ich hau ab«, murmelte er, mehr im Selbstgespräch, als für Pasolini bestimmt. »Endgültig! Diese verfluchte Leere bringt mich um. Tariga wird nie und nimmer eine Welt, wie wir sie uns wünschen.«

Das sagte er oft. Zu oft. Fast schon als Standardphrase. Für ihn war die sandüberflutete Ödnis gleichbedeutend mit der Ewigkeit und Tariga ein Planet, an dem Jahrtausende spurlos vorübergingen. Nur die Menschen schickten sich an, diese Welt zu verändern.

»Wovor haben wir überhaupt noch Respekt?« Schneidend scharf kam jedes Wort. Und so völlig ungewohnt.

Pasolini schaute überrascht auf. »Was meinst du?«, wollte er wissen.

Aber der kleine, stämmige Terraner, dessen Stammbaum sich angeblich bis zu den Samurai zurückverfolgen ließ – Pasolini hatte in einem Geschichtsarchiv nachgeschlagen, um dem Begriff Samurai überhaupt eine Bedeutung abzugewinnen –, beachtete ihn nicht mehr. Zögernd strichen seine Hände über die variablen Schaltfelder, er veränderte die Bildausschnitte der Hologramme.

Ödnis.

Sand, der den Planeten wie ein graubrauner Ozean bedeckte. Dutzende von Metern tief.

Hin und wieder verspürte auch Cotter Pasolini ein verwirrendes Gefühl; dann verglich er die Dünen ebenfalls mit einem in der Ewigkeit erstarrten Meer. In solchen Momenten glaubte er zu erkennen, was in Yukio vor sich ging. Aber Gefühle und Arbeit vertrugen sich nicht miteinander, waren völlig verschiedene Dinge. Außerdem bewegte sich der Sand. Manchmal sogar sehr schnell, wenn sich in der giftigen Atmosphäre einer der schweren Stürme zusammenbraute. Ansonsten nur wenige Zentimeter am Tag. Ein unaufhörliches Rascheln, Raunen und Schaben war allgegenwärtig, eine akustische Kulisse, die Menschen in den Wahnsinn treiben konnte. Nach den ersten bedauerlichen Zwischenfällen vor einem Jahr waren die Servos in den Arbeitsanzügen so programmiert worden, dass sie diese akustische Umweltverschmutzung ausfilterten. Seither war Tariga für die Techniker endgültig ein toter Planet.

Areal drei meldete eine Gaseruption.

Solche Ausbrüche waren nicht vorhersehbar. Unvermittelt stiegen Gasblasen aus der Tiefe empor und wirbelten Tonnen von Sand in die Atmosphäre.

Der gelbgrüne, eben noch wolkenlose Himmel über der Baustelle verdunkelte sich in Gedankenschnelle. Nur Sekunden hatte die Fontäne Bestand, danach regnete der Sand ab. In unbeschreiblichem Farbenspiel durchbrachen die Lichtfinger beider Sonnen den Hunderte von Metern hoch aufgewirbelten Dreck. Ein Regenbogen aus düsteren, ineinander verlaufenden Tönungen breitete sich über der Baustelle aus. Vergeblich suchte Cotter Pasolini nach einem Vergleich. Das Einzige, was ihm in den Sinn kam, waren Aufnahmen des ringförmigen Helix-Nebels, eines sterbenden Sternes, nur vierhundertfünfzig Lichtjahre von der Erde entfernt.

»Schadensmeldung!«, wisperte die Servostimme. Die nachfolgende Auflistung verriet den erschreckenden Umfang des Ausbruchs. Baustelle drei würde um Tage im Zeitplan zurückfallen. Es gab kaum eine Möglichkeit, den Verlust aufzufangen.

Verzögerungen des Fertigstellungstermins gingen zu Lasten der beteiligten Techniker und schmälerten ihr erfolgsabhängiges Arbeitshonorar. Das war eine der Vereinbarungen, die sehr viel Geld wert sein konnten, die jeden Arbeiter aber auch an den Bettelstab bringen konnten. Nur ein großer Konzern wie die Interstellar Adventurers Group war mächtig genug, solche Klauseln überhaupt durchzusetzen.

Entsprechend ungehalten reagierte Pasolini, als er Yukio Shionoya leicht vornübergebeugt, jedoch gänzlich untätig vor den Kontrollen sitzen sah.

»Die Schirmfelder aktivieren! Sofort! Wir brauchen eine Schadensbegrenzung.«

Oft folgten einem Ausbruch innerhalb von Minuten zwei oder drei weitere. Das bedeutete, dass der Sand fertige Bauabschnitte ebenso unter sich begrub wie frisch stabilisierte Bohrungen. Vor allem hatten sich die anschließend erforderlichen Säuberungen als zeitraubend erwiesen. Und deshalb war ganz Tariga bald am Rand des Zeitlimits angelangt. Noch zweieinhalb Wochen Verzögerung – Pasolini hatte dies vor wenigen Tagen errechnet –, dann mussten die Techniker jede Hoffnung auf ein Zusatzhonorar begraben. Weitere dreieinhalb Wochen, und sie hätten sich besser nie auf dieses Vorhaben eingelassen.

Cotter Pasolini spürte Verbitterung. Er hatte die Galax bereits im Voraus verplant.

Er rüttelte Shionoya an den Schultern. »Was ist los mit dir, Yukio? Reiß dich gefälligst zusammen!«

Aufdringlich huschte die Sekundenanzeige weiter. Eine Minute fünfzehn bereits ...

»Die Schirmfelder aktivieren!«

Zu spät. Eine neue Eruption brach sich dort Bahn, wo Desintegratorbohrer tief in den gewachsenen Felsen vordrangen, um Verankerungen zu ermöglichen und Platz für Versorgungseinrichtungen zu schaffen.

Gelb-orange-rote Lichtreflexe überfluteten die südliche Region von Areal drei. Yellow, das kleinere der beiden Muttergestirne, eine Sonne vom Sol-Typ, stand hoch im Vormittag und warf nur noch kurze Schatten. Red Eye hingegen stieg erst langsam über den Horizont hinauf – ein riesiger lodernder Glutball – und überschüttete allmählich auch die tiefen Regionen mit rotem Feuerschein.

Shionoya reagierte nicht auf die Berührung an der Schulter. Erst als Pasolini die Fingerspitzen in sein Schlüsselbein grub, begann der Japaner verhalten zu stöhnen.

»Sie rufen nach uns«, kam es kaum verständlich über seine Lippen. »Sie sind da.«

»Wer? Wer ist da? Wovon redest du überhaupt?«

Shionoyas Hände zuckten hoch, verkrampften sich um die Schläfen. Alles, was jetzt noch über seine Lippen kam, war ein unverständliches Ächzen, waren Laute, wie menschliche Stimmbänder sie nur schwer produzieren konnten.

Zwei winzige Punkte kreisten in der Ferne über dem Gelände. Raubvögel in einer Welt ohne Leben?

Cotter Pasolini griff an dem Japaner vorbei und aktivierte die Vergrößerung. In einem der Holokuben schnellte ihm der dreckverhangene Himmel entgegen.

Die fahlen Punkte entpuppten sich als Roboter, ovale Landvermesser, die Feinjustierungen im Bereich der Fundamentierungen dirigierten. Areal drei war als Übergang zum ultimativen Abenteuer geplant, unter anderem mit der mit technischen Tricks nachgebildeten Hohlwelt Horror. Nur wenig auf Tariga würde auf virtueller Grundlage ablaufen, sehr viel mehr wirklich greifbar sein. Die Konzeption klang vielversprechend. Ob aber die Konkurrenz zu virtuellen Programmen auf Dauer Bestand haben konnte?

Die Bevölkerung war träge geworden. Cotter kannte in seinem Umfeld genügend Personen, die ihre vier Wände monatelang nicht verließen, die – wann immer die Monotonie ihren Tribut forderte – lediglich im virtuellen Netz auf Entdeckung gingen. Er selbst hatte es nicht oft versucht; der Reiz des Aufregenden war stets wie ein Rausch verflogen und hatte in ihm nur Leere hinterlassen sowie das unklare Empfinden, um Wichtiges betrogen worden zu sein. Vorgegaukelte Empfindungen gingen nicht in die Tiefe, sie erzogen zur Gleichgültigkeit und stumpften ab für die wirklichen Schönheiten des Lebens.

»Leben heißt kämpfen«, murmelte Cotter Pasolini, während er den Blick zum wiederholten Mal durch die wild zerklüftete Baustellenlandschaft schweifen ließ, »ohne Kampf kein Leben.« Eine abgedroschene Phrase aus düsterer Vergangenheit, doch sie hatte heute wie vor Jahrtausenden ihre Berechtigung. Kaum zu glauben, dass auf Tariga in nicht einmal zwölf Monaten die ersten Gäste wohnen sollten.

Mehrere Holokuben erloschen. Areal drei übermittelte keine Aufzeichnungen mehr. Nur noch einige wenige digitalisierte Daten. Letztlich bedeutete das ein weiteres Puzzleteil im stetig wachsenden Mosaik aus Unwägbarkeiten, Ärger und Terminüberschreitungen.

Mit einhundertdreiunddreißig Jahren stellte Cotter Pasolini keine überzogenen Ansprüche mehr ans Leben und begnügte sich damit, begonnene Aufgaben wirklich zu Ende zu führen. Seine Abgeklärtheit half ihm, Dinge hinzunehmen, die nicht zu ändern waren. Wie Yukio hatte er einen befristeten Arbeitsvertrag unterzeichnet – aber nicht, um sein Stundensoll für die nächsten Jahre am Stück abzuleisten, sondern schlicht, weil Müßiggang ihm nie behagt hatte. Und da er sein Auskommen besaß und kaum Zusatzeinnahmen für individuellen Luxus benötigte, stellte er die Hälfte seines Gehalts wohltätigen Zwecken zur Verfügung.

Auch im 13. Jahrhundert Neuer Galaktischer Zeitrechnung war nicht alles eitel Sonnenschein. Er spendete für eine Welt im Zentrumsbereich, auf der eine Gataser-Kolonie durch fehlerhaftes Terraforming nahezu ausgelöscht worden war. Im Wettlauf gegen die Zeit bemühten sich Aras, Arkoniden und Terraner mit einem ehrgeizigen Gen-Tech-Programm, den letzten dieser betroffenen Blues ein würdiges Dasein zu erhalten.

»... dennoch machen wir auf Tariga weiter, als wäre nie etwas vorgefallen.« Pasolinis Finger glitten über die Sensortasten, deren Zuordnung ebenso schnell wechselte; Yukio schimpfte wieder, aber Cotter achtete nicht darauf. Er wusste längst, dass der drahtige Umwelttechniker theatralische Auftritte liebte.

Das Summen der Klimaanlage in dem engen Kontrollzentrum schien lauter geworden zu sein. Nur zwanzig Quadratmeter, vollgestopft mit hochmoderner Kommunikations- und Steuertechnik, standen beiden Männern zur Verfügung. Der Container, ein unregelmäßiger Vielflächner mit einem Hauptdurchmesser von wenig mehr als fünfzig Metern, schwamm auf Antigravfeldern in der endlosen Sandwüste.

Noch vor hundert Jahren wäre ein Heer von Spezialisten nötig gewesen, alle Arbeiten auszuführen, schoss es Pasolini durch den Kopf. Und eines Tages wird man vielleicht auf Menschen ganz verzichten. Aber was bleibt uns dann außer Müßiggang und Dekadenz?

»... hörst du mir überhaupt zu?« Yukios Stimme klang ärgerlich. »Cotter, ich will wissen, ob du die Roboter lokalisieren kannst!«

»Ich bekomme keine relevanten Daten ...«

Shionoya hämmerte mit der zur Faust geballten Rechten in die linke Handfläche. »Der Totalausfall vorletzte Woche bei acht ...«

... hatte ähnlich begonnen. Und auch dort, sechshundert Kilometer entfernt, waren die Fundamentierungsarbeiten jäh ins Stocken geraten.

Der Terraner hustete gequält. »Tariga macht uns alle kaputt. Darauf verwette ich meinen Kopf.«

Pasolini verzichtete auf eine Antwort. Endlich wechselte die Wiedergabe in den Kuben, wurden die Aufnahmen einer der Sonden eingespielt, die zur Überwachung im geostationären Orbit standen.

Die Falschfarbenaufnahmen zeigten eine endlose, sonnendurchglühte Wüste. Lebensfeindlich und steril. Aber gerade deshalb ideal für Investoren.

Baustelle drei präsentierte sich dem Beobachter aus über fünfhundert Kilometern Höhe als gigantische Grube. Die ersten Verankerungen waren weit in den Boden getrieben und mit dem Tiefengestein verschmolzen worden. Kleeblattförmig würden vier gigantische Kuppeln ineinanderwachsen als eines von mehreren Zentren, imposante hundert Kilometer durchmessend und in jeder Hinsicht autark.

Pasolini hatte irgendwo aufgeschnappt, dass Tariga in spätestens zehn Jahren in der Milchstraße und darüber hinaus den Ruf als Erholungswelt haben sollte, den Lepso als Spielhölle besaß.

Syntronisch überblendet wurden Winkelverschiebungen, Höhenlinien, Ausgrabungen für Versorgungseinheiten und die ersten durch atomare Umwandlung des feinkörnigen Sandes erstellten Fundamente.

»Abweichung bei fünfundsiebzig Grad im Peripheriebereich«, meldete der Servo.

»Vergrößern!«

Die Wiedergabe zentrierte einen unregelmäßigen Krater, mit wenigen Metern Durchmesser winzig und keineswegs auffällig, wäre nicht die glasiert wirkende Oberfläche gewesen.

»Kurzfristige Freisetzung hoher Temperaturen«, kommentierte Shionoya. »Die Auswirkungen sind identisch mit denen von vor vierzehn Tagen.«

»Das heißt, wir werden von dem teuren Molekularwandler wieder nur noch Schlacke vorfinden?«

Yukio zuckte die Achseln. »Das ist nicht mehr mein Problem«, kommentierte er. »Wie schon gesagt ...«

Cotter Pasolini hatte nie versucht, einen Menschen zu etwas zu überreden. Wenn Shionoya nicht mehr wollte, musste er den Entschluss akzeptieren, und in seinem Zuständigkeitsbereich allein zu arbeiten war ihm immer noch angenehmer als die tägliche Konfrontation mit Yukios Leichenbittermiene. Miese Laune steckte an.

Erst drei oder vier Minuten waren seit dem Ausfall der Bildübertragung verstrichen, als die Messdaten aus dem Orbit eintrafen. Die Temperatur im Schmelzkrater betrug noch 428 Grad Celsius, fiel aber rapide ab. Ein Vorgang, den normale Abkühlung allein nicht erklären konnte.

»Der Sand besitzt absorbierende Eigenschaften«, vermutete Pasolini. »Wir haben ihn nie dahingehend analysiert.«

Shionoya klopfte die Taschen seiner Kombination ab, fand aber nicht, wonach er suchte. Dass er eben erst die letzte Vitaminzigarette verpafft und die leere Packung in den Müllschlucker geworfen hatte, schien er vergessen zu haben. Seine Miene verdüsterte sich weiter.

»Radioaktivität?«

»Keine Strahlung messbar.«

»Das sehe ich mir aus der Nähe an«, entschied Shionoya. »Begleitest du mich, Cotter?«

»Wozu?«

Der Terraner mit japanischen Vorfahren vollführte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich lasse mir nicht nachreden, ich hätte die Arbeit vernachlässigt. Von niemandem. In vierundzwanzig Stunden landet ohnehin der Zubringer, dann sieht mich niemand auf Tariga wieder. Diese Welt ist unheimlich, Cotter, sie mag uns nicht. Ich spüre es deutlicher als je zuvor.«

Pasolini schüttelte verständnislos den Kopf.

»Was bist du, Yukio? Ein esoterischer Spinner?«

»Ich will nichts mehr hören! Nichts als Sand, Sand – immer nur Sand!« Shionoya wurde lauter. Schwer stützte er die Ellbogen auf die Schaltkonsole und vergrub das Gesicht in den Armen. Pasolini, der ihn eindringlich musterte, gewann den Eindruck, dass Yukio sich die Abneigung gegen Tariga förmlich einredete.

Abrupt sprang der »Japaner« auf, zerrte seinen Arbeitsanzug von der Magnethalterung, stieg hinein und klappte den Falthelm nach vorne. Ebenso wortlos betätigte er den Schließmechanismus für die Innenschleuse.

Die Atmosphäre auf Tariga war dünn und für Menschen nur bedingt atembar, aggressive Bestandteile zerfraßen innerhalb kurzer Zeit die Lungenbläschen.

 

Red Eye stand inzwischen über dem Horizont. Ein beklemmender Anblick, an den Yukio Shionoya sich nie gewöhnt hatte. Auch jetzt empfand er den Flug mit dem Gleiter wieder, als würde er geradewegs in die Sonne rasen. Red Eye war riesig, ein gigantischer, lodernder Glutball, von dem Protuberanzen weit in den Weltraum schossen. Das Gestirn wies zudem eine heftige Sonnenfleckentätigkeit auf. Allerdings drangen die tödlichen Strahlungsschauer nicht bis zur Oberfläche Tarigas vor; sie wurden von einem starken Magnetfeld über dem Planeten abgefangen und entluden sich in den oberen Atmosphäreschichten in farbenprächtigen Eruptionen.

Das Sonnensystem hatte bis vor drei Jahren dem akonischen Einflussbereich angehört, eine Enklave, die horrende Kosten, aber nie einen Nutzen mit sich gebracht hatte. Was Wunder, dass die Akonen die Doppelsonne samt dem einzigen Planeten und zwei ebenfalls unattraktiven Monden sowie eine Handvoll Kometen fast für einen Apfel und ein Ei verkauft hatten. Nicht an eine der im Galaktikum vertretenen Regierungen, sondern an eine private terranische Investorengruppe. Hinter vorgehaltener Hand kursierten Gerüchte, dass auch akonisches Kapital in das Freizeitprojekt floss, doch solche Gerüchte zu beweisen, würde sogar einem Homer G. Adams schwerfallen.

Shionoyas Kehle war wie zugeschnürt. Er atmete schwer. Schon der Anblick der endlosen Sanddünen machte ihm zu schaffen, aber besonders schlimm wurde es, wenn er allein hier draußen war. Dann glaubte er, einen Hauch der Ewigkeit zu spüren, eine eisige Hand, die sein Herz umklammerte.

Er schwitzte und fror zugleich. Der Schweiß brannte wie Feuer in seinen Augen und zwang ihn zu hastigem Blinzeln.

Yukio wusste, was kommen würde; er hatte Angst davor, empfand sogar Panik, aber er sehnte genau diesen Moment auch herbei. Sein Blick wurde starr. Er sah nur noch Red Eye. Alles andere versank in Bedeutungslosigkeit. Zeit und Raum vereinten sich in dem atomaren Feuer.

Er sehnte sich danach, in der Sonne zu verglühen und eins zu werden mit der Ewigkeit. Ähnliches musste ein Schmetterling empfinden, der in die offene Flamme einer Kerze taumelte.

Seltsame Gedanken ... Er war versucht, sich selbst als verrückt zu bezeichnen. Seit er auf der Wüstenwelt gelandet war, empfand er diesen Zwiespalt, anfangs nur als vage Last, inzwischen als tödliche Beklemmung. Tariga widerte ihn an. Alles – der Sand, die leblose Monotonie. Zwangsläufig musste Red Eye wie die Erlösung von allen Qualen erscheinen.

Eine Stimme redete. Wie aus weiter Ferne drang sie heran. Er verstand den Sinn nicht.

Shionoyas Hände umkrampften die Steuerung des Gleiters. Bleich traten die Knöchel unter der Haut hervor.

Jeder Atemzug wurde zum gequälten Rasseln. Tief sog er das Glühen der Sonne in sich auf, und ein ungeahntes Glücksgefühl durchflutete ihn.

»Lagestabilisierung!«, dröhnte die Stimme.

Sie erschien ihm so fremd wie alles ringsum.

»Materialbelastung zehn Prozent. Achtung: Kurskorrektur erforderlich! Der Gleiter ist nicht für extreme Höhenflüge geeignet.«

Das Lodern der Sonne begann zu pulsieren. Das Endstadium des Roten Riesen hatte begonnen. Ein überwältigendes Schauspiel.

Leben und Sterben – nahe beieinander. Das Ende einer Sonne, einer Galaxie, des gesamten Kosmos ...

»Belastungsgrenze erreicht in zehn Sekunden.«

Dunkelheit. Alles Licht erloschen. Ausgebrannte Sonnen, unsichtbare Materie. Nicht einmal mehr ein heller Schimmer.

Ist das die Ewigkeit?, fragte er in Gedanken.

Nein, pulsierte von irgendwoher die Antwort. Das ist die Zeit der Läuterung, der Übergang vor dem Neubeginn.

»Sieben Sekunden ...«

Ein Hauch von Wehmut. Die Erinnerung geht in der Schwärze verloren. Und das Leben?

Verständnislosigkeit breitete sich aus.

»Sechs Sekunden ...«

Die dunkle Materie vereint sich, sie kollabiert. Alles wird eins, wird Singularität – und zugleich bedeutungslos.

»Fünf Sekunden ...«

Ein Glimmen in der Schwärze, ein rotes Aufflammen, wo eben noch Unendlichkeit war. Das Licht stach wie mit Nadeln unter die Haut, und aus schwerelosem Schweben wurde ein schrecklicher Sturz.

Der gurgelnde Aufschrei brach abrupt ab, als Shionoya sich im Pilotensitz verkrampfte. Vergeblich versuchte er, den Gleiter wieder auf Kurs zu bringen, doch die Steuerung war blockiert.

»Der Syntron hat die Kurskontrolle übernommen, fünf Sekunden vor dem Endpunkt und zu deinem eigenen Schutz«, meldete der Servo.

»Freigabe«, keuchte Yukio. »Ich verlange die sofortige Freigabe. Ich muss fliegen.«

»Du bist krank«, wisperte die Stimme. »Die Analyse deines Hautwiderstands und der Netzhaut lassen Schockeinwirkung erkennen. Entspanne dich, Yukio Shionoya, lehne dich zurück und versuche, die letzten Minuten des Fluges in Ruhe abzuwarten.«

»Ich will mich nicht zurücklehnen«, protestierte der Techniker. »Ich will, dass die verfluchte Maschine ...«

Etwas Warmes, Weiches berührte seinen Hals. Bevor er danach schlagen konnte, erklang ein kaum wahrnehmbares Zischen.

»Diagnose, Zustand nach psychischem Schock, bestätigt. Die Injektion wird deine Körperfunktionen auf Normalwert senken. Damit beendet das automatische Medosystem seine Intervention.«

Shionoya wollte aufbrausen, er konnte es nicht mehr. Das Medikament brachte ihm die Ruhe und Gelassenheit, die er seit Wochen vermisste.

Im Zentralholo erschien Areal drei. Der Syntron landete den Gleiter im Zentrum der riesigen Baustelle.

 

Der Molekularwandler, der Sand, Geröll und Felsgestein desintegrierte und die heißen Gase anschließend unter dem Einfluss formgebender Energiefelder zu Bausegmenten aushärtete, musste sich selbst zerstört haben. Eine andere Erklärung fand Shionoya nicht, als er einen Detailscan vornahm. Und sein Kopfschütteln änderte herzlich wenig an den Tatsachen. Ausgeglühte Bruchstücke hatten sich mit verheerender Wucht in die frisch geformten Fundamente gebohrt.

Er ließ die letzten Fertigungsprotokolle überspielen. Abgesehen von einer unverhältnismäßig langen Zeitspanne des Datentransfers fand er nichts, was der Erwähnung wert gewesen wäre. Der Wandler war vor zwei Tagen generalüberholt worden, er hatte fehlerfrei gearbeitet und noch dazu in leichtem Gelände.

»Eine unschöne Sache«, meldete sich Vaclav Kocur, Statikingenieur eines der anderen Teams, über Funk. »Ich habe eben den Kurzbericht im Holo. Irgendwie müssen wir es schaffen, den Verlust aufzufangen. Was sagt Cotter dazu?«

Das ist mir völlig egal, wollte Shionoya antworten. Mich interessiert Tariga nicht mehr, ich hab genug ... Doch er biss sich auf die Zunge und zuckte lediglich die Achseln. Im nächsten Moment unterbrach er die Funkverbindung. Kocur war ihm egal, Cotter Pasolini ebenfalls.

Sein Blick schweifte über den Horizont, suchte das Feuerauge Red Eye. Eine unbeschreibliche Sehnsucht wühlte ihn auf.

Wie lange noch?

Er wusste es nicht, wusste nur, dass er mit menschlichen Sinnen diese ungeheure Zeitspanne nicht ermessen konnte.