Allitera Verlag
Der vorliegende Band enthält eine Auswahl von Texten, von denen angenommen werden darf, dass sie die Zeitläufte überdauert haben. Sie beschränken sich zudem auf meine ständige geografische Lebenswelt: die Schweiz, das schweizerischdeutsche Grenzgebiet, Paris sowie auf mein Herkunftsland Deutschland. Die Texte sind in verschiedenen Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien erschienen, oder es sind Erstdrucke wie Der Scheitel der Schweizer Geschichte, der Text zu einem Dokumentarfilm, und der Offene Brief an den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, für den sich im Sommer 2011 außer einem online-Magazin bezeichnenderweise kein Medium interessiert hat.
J. K.
Der Sprung aus dem Kopf
Essays und Texte 1981–2011
Mit einem Nachwort von Stefan Keller
Allitera Verlag
Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter:
www.allitera.de
März 2012
Allitera Verlag
Ein Verlag der Buch&media GmbH, München
© 2012 Buch&media GmbH, München
Umschlaggestaltung: Kay Fretwurst, Freienbrink
Printed in Germany · ISBN 978-3-86906-299-0
Inhalt
I
Der See, das Dorf
Fremde am See – 15 Fragmente für die Mohikaner
Ein deutsches Lied, ein deutsches – Über Berufsverbote, Zeitgenossen und den Umgang mit sich selber
Von draußen und von drinnen – Über Zugfahrten, Heimaten, Sprache und einen fernen See
Ein Ort unterm Himmel
Kurze Einladung zum Verlassen der Heimat
Wiesen und Wasser, Wolken und Wind – Oder wie eine Gegend nun gar keine ist
Die Stadt, die keine ist, am Meer, das keines ist
Das süddeutsche Gefühl
Reben und Reihengräber – Der Militärfriedhof von Sigolsheim im Elsass
Mein Alemannien – Ein misslingender Versuch über die Wirklichkeit
II
Vom Überschreiten kultureller Grenzen – Zur Eröffnung des Mare-Nostrum-Forums Europa II
Nachricht aus dem Zwischenland
Kein später Land – oder die Folgen des Rückzugs aus der Geschichte
Vom allmählichen Verschwinden der Gegend – Das Ende der Region, des Regionalismus und des sozialen und intellektuellen Austauschs
Literatur auf dem Land – Fünf Jahre Bodman-Literaturhaus in Gottlieben
Die bleiernen Jahre sind verflogen – Die Schweiz in Europa zu Beginn des neuen Jahrhunderts
Rotes Schloss und Goldener Tropfen – La Goutte d’Or-Château Rouge: ein Problem-Viertel in der Stadt Paris
Die Kelters aus Paris – Eine Geschichte der Migration aus früheren Zeiten
Mit dem Rücken zueinander – Österreicher, Schweizer und Deutsche trennt mehr als die Sprache
Die Entsorgung des Rütli
Von der Militarisierung zur Pauperisierung – Ein paar Einwürfe zur Geschichte der BRD von den siebziger Jahren zur Gegenwart
Wie wir die Gegend wegwerfen – Stadt und Landschaft in der Bodenseeregion als Spiegel von Geschichte und Gesellschaft
Unsere Identitäten – Über Migrationen in Räumen und Zeiten
Der Scheitel der Schweizer Geschichte – Mythos, Geschichte und Gegenwart der Gotthard-Region
Bericht vom Bodensee – Rauchzeichen aus einer belagerten Region
Allmählicher Abgesang – Paris und die Frankophilie einer Generation
Offener Brief an den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg
Werter Herr Verleger – Ein fiktiver Brief vor realem Hintergrund
Stefan Keller: Sprünge aus dem Kopf und zurück – Ein Nachwort
I
Der See, das Dorf
Trauben und Birnen reichen sich glänzend herum … Der Föhn malt auf Goldgrund die Nähe der Unendlichkeit. Wer Möwen mochte, braucht nur an Brot zu denken, und sie machen für ihn Kunstflugtag. Schwäne ziehen als andere Gedanken im Wasser die kurze Spur der Gegenwart.
Martin Walser: Heimatlob
Ich wohne auf dem Land. Wohne ich auf dem Land? Ja, damals habe ich wirklich auf dem Land gewohnt. Da waren Wiesen Wiesen. Aufsteigend hinterm Haus. Vorne über die Straße fallend bis zum See. Da hörte man die Kirche aus dem Dorf, die Post war neben der Scheune, und im Winter waren auf dem Schulhof die Soldaten. Die ließen auch mal ein Maschinengewehr auf dem Trottoir, matt schimmerndes schwarzes Ding, und holten am Kiosk mit dem roten Parsienne-Schild Zigaretten. Das Dorf blieb im Dorf und die Stadt zu sehen, musste man hinunter bis zum See laufen, vorbei an der Bootswerft, vorbei an der Bahnstation, durch die Wiesen, ins Ufergebüsch, sich an einer Weide halten und hinauslehnen. Da wusste man an manchen Tagen: da ist die Stadt. Im Winter schmolz der Schnee oft so schnell, wie er gekommen war. Meterhoch. Das Dorf lag auf dem Weg nach Österreich. Der Wind wehte. Unten auf der Straße fuhren die Autos. Oben auf der Straße durch den Ort fuhr niemand. Die Milka- und Suchard-Kühe bimmelten bimmelten. Die waren alle hellbraun. Im Dorf gab es Most. Im Dorf gab es Bier aus Flaschen. Die Nachbarn werden uns beäugelt und beohrt haben. Aber das ging uns nix an. In der Stadt waren unsere Bücher unsere Tische. Aber die waren auch nicht wirklich in der Stadt. Von der Stadt nahmen wir die hundertzwanzig Kilometer schnelle Straße. Im Dorf waren unsere Zelte aufgestellt. Die Straße nahmen wir nachts. Einer war aus Tirol. Einer aus Wien. Einer aus Worms. Und ich. Ich war nie in Worms. Aus den Seminarräumen hingen Fahnen und Spruchbänder. Aus den Dorffenstern hing der Himmel. Nachts hing er von den Hügeln durch unser Haus in den See. Der Gemeindepolizist hatte ein Moped. Der Gemeindepolizist trank zum Besuch einen Schnaps. Waffen wollte er nicht dulden. Auch keine Tiroler Jagdwaffen an der Wand.
Wenn ich den Namen des Dorfs denke: Altnau, denke ich: Blau. Blauer Himmel in grünen Hügeln. Das Dorf menschenleer. Auf einer Türschwelle streckt sich die Katze. Obst und Wiesen die Hülle und Fülle. Die Türklingel des Lebensmittelladens mit den hölzernen Wänden schlägt an, und aus dem Dämmerlicht neben der Theke schaut mir die Frau mit über dem Bauch gekreuzten Händen nach. Manchmal, wenn ich vorbeifahre, sehe ich dünnen Rauch aus den Kaminen des Dorfs aufsteigen.
Wohne ich auf dem Land? Ich wohne in der Nähe einer Stadt. Die Stadt geht in eine andere Stadt, eine kleinere Stadt, eine Kleinstadt über. Zwischen den beiden Städten ist eine Grenze. Wenn ich aus der kleinen Stadt hinausfahre, komme ich an Lagerhallen Werkhallen Tankstelle vorbei. Dann kommt die Chaussee. Die war früher gewölbt und führt immer noch unter Bäumen lang. Dann kommt mein Dorf. Ich fahre aus der Stadt hinaus in mein Dorf. Das Dorf liegt am Fuß des Seerückens. Im Dorf angelangt sehe ich ein wenig abwärts die Stadt. Ich wohne auf dem Land.
Die Grenze teilt die Stadt. Die Grenze teilt zwei Länder. Euch dies und uns jenes. Wir sind eine Grenze. Zwanzigmal in der Woche über den Äquator, von Währung nach Währung, von Sommer- nach Winterzeit. Man gewöhnt sich. Die Grenze ist in meinem Kopf. Ich bin bald da und bald dort. Ich schwebe schräg überhalb der Grenze. Manchmal lasse ich ein Bein drüben stehen. Wenn die Leute aus dem Dorf sagen: Ich gehe in die Stadt, gehen sie gleich ins Ausland. Dann nehmen sie das Bähnlein und lassen sich zwei Stationen weiter den Abhang hinunter kutschieren. In acht Minuten sind sie mitten in Europa. Oder nehmen gleich den Weg durchs Moos. Die Grenze hat ihr Gutes. Ich sehe auf die Stadt hinab und bin sicher, dass sie nicht zu mir heransteigt. Ich sehe Winterstürme Sommerstürme. Ich seh den Föhn fetzen. Ich sehe Ziegeldächer, den Sturm sich ausladen und das Fernmeldeamt. Ich hab eine Perspektive.
Die Stadt draußen, in die die Bewohner des Dorfs fahren gehen laufen radeln spazieren, ist die Seestadt. Die Konzilstadt. Die Kongressstadt. Die Universitätsstadt. Darin laufen Welsche Türken Kuhschweizer Sauschwaben Ausländer und Studenten. Sie war römisch alemannisch fränkisch reichsfrei österreichisch badisch und hinter dem Mond. Die beiden letzten Farben sind am kräftigsten eingeschossen. Weil die Einwohner der Stadt vor bald sechshundert Jahren den Hus verbrannt haben, sind sie über die sechshundert Jahre Gegenwart erhaben. Geben sich nicht ab. Haben ihre Sache gehabt bis ins neununddreißigste Glied. Rümpfen von herüben die Nasen. Lassen sich den Hus um die Nase wehn. Der stinkt fürchterlich aus den Kloaken. Besonders bei Föhn.
Die Stadt liegt am See, vorm See, hinterm See. Durch die Stadt fährt der Seerhein, über den Seerhein fahren zwei Brücken. Wenn man die eine nimmt (welche, sag ich nicht), landet man im Wirtshaus an der Grenze. Bestenfalls. Oder im Moos. Oder im Ried. Und hängt sich auf. Weil: Die Brücke ist ein Ärgernis. Der Oberbürgermeister, die Bürgermeister und Dezernenten, die Amtsvorsteher, der Präsident der Elefanten, der Präsident der Giraffen, die Stadträte, die Herausgeber der Zeitung und der Polizeichef wachen über das Wohl der Stadt. Sie sind gut Feind. Und verwandt mit den Ladenbesitzern Boutiquenbesitzern Wirtshausbesitzern. Manchmal tanzt ein Cousin aus der Reihe. Wechselnde Mehrheiten bescheren Kurzweil. Wir sind eine Grenze. Vor lauter Akkuratesse setzt es Ohrfeigen und Gelächter. Bürgermeister geben einen Scheck für das Hurenhaus her. Dezernenten berennen mit Auto und drei Promille die Brückenpfeiler. Der Mond hat’s gesehen. Die Badische Polizei auch. Und sitzen am nächsten Morgen zum Frühschoppen am Narrentisch. In der Stadt kaufe ich Socken und Bücher. Nachts trinke ich in der Stadt weißen Wein.
Aber ich will vom Land reden. Mir gönd in d’Stadt. »Wo bisch gsi? Z’Züri? In dere Hurestadt?« Wir liegen irgendwo zwischen Stuttgart und Bern. Da, wo sich der Himmel über den alemannischen Reichtümern am höchsten wölbt. Die Luft am dünnsten ist. Wo alles verschwebt und verschwimmt. Wo man im Nebel seufzt. Wo die Fäden hinüber herüber ganz dünn sind. Wo die Luft weich und klar ist. Man steht an dem Schwäbischen Meer und geheimnist Süden in die Gegend.
Ich beginne mir bewusst zu werden, dass ich im Dorf lebe. Ertaste seine Grenzen und Peripherien, erkenne Gesichter. Laufe durch die Wiesen, ein paar Ansichten von Leuten. Posthalter. Sizilianer. Briefträger. Verkäuferin. Ich weiß, wo der Pfarrer wohnt, besuche den Friedhof, die Gasthäuser und den Gemeindeschreiber. Ich lebe im Dorf.
Wie aber bin ich hergeraten? Die Frage stellt sich, nun, da ich mich einhole hier im Dorf. Indem ich ihr nachgegangen bin. Ein denkbar schlechter Start. Sie aber ist gegangen. Aus dem Dorf, weil es zu dörflich war und nicht in der Stadt. Aus meinem Kopf beinahe. Die nächste dann war ausgestattet mit einem Bund fürs Leben. Ich bin im Dorf geblieben. Ich bin träge. Ich habe hier überlebt. Ich bin zäh. Ich habe Nachbarn, Kollegen, Landsleute überlebt. Hier faltet sich die Zeit, hier bekommt man Falten. Hier bleibt nur, wer sich’s anders überlegt. Hier zahle ich Steuern. Ich kenne hier niemanden. Das ist mein Dorf. Bei der Einladung, dem Gesangverein beizutreten, bekomme ich einen Schreck. Wenn ich nachts den Wagen in die Garage gefahren habe, schaue ich in den Himmel.
Ich sehe Kürbisse wachsen. Sie sitzen dick und rund wie eine Anzüglichkeit auf diesen züchtigen Feldern. Saubere Markierungen. Propere Fahrwege, befestigt, angeschüttet. Die Kohlblätter sind riesig. Die Natur ist üppig. Der muss man beischneiden. Die Gärten Türen Fenster der Häuser sind von roten, von gelben Blumen vergattert. Blumen wie Kinderköpfe. Ich laufe durch herbstliches Ried mit den Blumenfeldern. Oben durch die Wiesen zwischen Birnbäumen Kirschbäumen Apfelbäumen. Die Bäuerinnen schauen hinterdrein, die Kinder feixen, die Pioniere bosseln an den Befestigungsanlagen.
Oben im Wald warte ich auf die letzte Kurve. Der Wald tritt zurück. Auf der Straße durch den Wald warte ich auf diesen Moment. Auf dem Weg über den Seerücken, während der Fahrt durch heimelige Thurgaudörfer, Pfyn, Müllheim, der Abzweig. Auf der Autobahn. Auf den Kriechspuren zur Stadt hinaus. Wenn ich aus Zürich zurückkomme, komme ich heim. Oben zwischen der Kurve, bei der der Wald zurücktritt und der letzten Kehre, die die Straße endgültig hinunterführt, fühle ich mich, als würde der Liebe Gott pfundweise Balsam verteilen. Die graue Fläche des Wassers, durch die das Silber schießt. Braun das Ried, nicht Wasser nicht Land. Konturen der Stadt, Wasser abermals. Hineingezogen in den Untersee die Klosterinsel mit Kirchen und dem schmalen Pappelband. Wenn hier keine Wiege der Menschheit stand, Kulturwiege, Wiege des Gartenbaus. Hier versammle ich mich. Da unten denke ich meine Grenze.
Ich wohne auf dem Land. Die Maschinen der Familienfabrik dröhnen und hämmern. Im Traum lauere ich den Erben auf. Der Autoladen unten an der Straße hat eine neue Verkaufshalle aufund einen Teil des Ausblicks abgestellt. Der Rebgarten des Gasthaus’ Waldhorn hat einer Terrasse mit unterirdischer Kegelhalle den Platz geräumt. Darauf verlieren sich die Arbeiter der Werkzeugfabrik, und der Wind zieht ihnen das Hemd aus.
Die Frau aus dem Nebenhaus geht in den Coop als Kassiererin, die von gegenüber macht sich hinter der Fabrik an einen Gemüsegarten, der Abwart hat seinen Dienst im Bahnhof. Aus dem Holzhaus der Straße zu kläfft ein Hund.
Auf meiner alten Ansicht der Stadt hat sich »Tegerwilare« verschoben zu »Dägerweyler Dorf« da hinten am Berg. Den Truppen, die die Stadt berennen wollten, diente das Quartier. Den Bauern wird beim Herannahen der Trosse manches geschwant haben. Und ihre marodierenden Kollegen aus den Bergen haben das eine, andere im Dorf wohl mitgehen lassen. Wenn sie im Winter zum Zündeln der Stadt anrückten, des bösen Worts Kuhschweizer wegen, Kuhplappart gar, beurkundet im Jahr des Herrn 1458. Ein stattlicher Flecken mit vierundsechzig Bauernhöfen, fetten Wiesen, strammen Bäumen und in der Stadt einem Zehntherrn. Dem werden wir’s auch noch brennen. Heute sind im Geschirr knapp dreißig, bauen Gemüse und allerlei Obst. Und das meiste davon besorgt die Biotta unter ihren gläsernen Brutkästen. Der Salat ist in der ganzen Gegend herum alternativ, Gespritztes wird gängig nicht verzehrt. Außer dem Schulhaus, aus dem die Geranien und die Kinder den Kreuzverkehr überblicken, haben wir das Gymnasium Hörnliberg. Das liegt am Berg. Die Kühe vom schiefen Hof nebenan schielen herein, und eine hohle Gasse führt abwärts. Da können die Bübchen aus der Stadt nachpauken. Ohne Gewähr. Das Schloss heißt der Einfachheit halber Castell, ist gotisch um neunzehnhundert und das Gemüse bestens. Wir schweißen spenglern veredeln und fahren Sie an gleich zwei Bahnhöfen vorbei. »Auch das kulturelle Leben kommt in Tägerwilen nicht zu kurz. Wir verfügen neben dem Musikverein noch über zwei Gesangvereine.«
Frank trank Bier aus Krügen. Er hatte nichts einzuwenden. Frank sprach nicht viel. »Bomb them where it hits them: in the pocket«, sagte Frank und verschwand in seinem Bierkrug. Eine Stimme hatte er, als wäre sie aufgeraut und geglättet. Einer dieser graublonden whiskytrinkenden Engel im Regen mit seiner Wasserstoffstimme.
Einer aß Kirschen den Baum herunter. Ein anderer suchte große blaue Blumen. Einer briet Fische. Der Wirt erzählte eine Zote nach der anderen. Ein Fernfahrer, der sein Ungetüm vor dem Haus schlafen gelegt hatte, erkundigte sich nach den Puffs jenseits der Grenze. Einer tat ihm Bescheid. Erzählt von Scharmützeln und Schwabenkrieg. Von gegen den Willen der Einwohner erzwungener Gegenreformation, die über Dienstadel und Vögte aufs Land ausgegriffen hat. Von der puritanischen Grundeinstellung der Landbewohner. Wie sie am Samstagabend über die Grenze huschen. Spielen. Huren. Die höchst indignierten Stadtbewohner auf ein Bier ins Weiberhaus laden. Der Fernfahrer verlangt Auskünfte anderer Art. »Hit them«, sagt Frank und verschwindet in seinem Bierkrug. Einer schweift in Ethnologie und Grammatik aus. »Verrückte«, sagt der Fernfahrer und bleibt noch ein Stündchen. Die Bedienung trägt einen Rock so kurz, als wolle sie sichtbar nicht nur gegen die Mode, sondern gegen die Zeitläufte im Ganzen ein Zeichen setzen. Das dicke Mädchen, das nächste Woche zum Feminismus bekehrt wird, girrt. Der Fernfahrer ist unruhig in seinem Halbschlaf. »Im Dorf«, sagt der Wirt, »gibt’s sogar solche, die sind nur halb verrückt.«
In den Büschen flackert das Licht. Das Licht funkelt durchs Rebdach. Im Fischbecken springen die Fische. Kohl und Salatköpfe tummeln sich. Die Kirschen hängen uns in den Mund. Durchs Rebdach rauscht der Wind und ist still. Das Licht verschwimmt.
Oben in den Wiesen liefern sich Frank und der Fernfahrer mit der Pfeife im Maul einen lautlosen Kampf. Auf Zehen und Ballen. Mit Armen und Händen. Mit Schenkel und Bauch. Der mit der Pfeife ist größer. Der mit der Pfeife deckt den Engel zu. Der Engel aus Irland ist behände und schnell. Er springt dem Großen davon, immer höher. Die beiden werden von Nebelschwaden umwogt. Springen zwischen Kirschbäumen Apfelbäumen Birnbäumen. Immer höher. Bier und Most fließen in Strömen. Die Worte schwimmen schon lange im Traum. Frank und der Große verschwinden hinter Bäumen und Nebel. Ein letztes Mal sind sie zu sehen. Die Angehörigen bestellen Bier nein Most nein Wein. Die Bedienung hat einen durchsichtigen Nachtmantel übergeworfen. Durchs Rebdach funkeln die Sterne. Jemand sagt: Es ist Nacht. Wir wachsen zu.
Bäume und Sträucher sind reformiert, kugel- oder kegelförmig zugestutzt. Die Kirche liegt auf dem Hügel und ist ein Klotz. Unter der Vorhalle mit den Säulen und dem Blätterdach ringsum, mit Kies und Rasen, möchte ein Pionier in Hemdsärmeln und mit nach hinten in einen Zopf gebürsteten Haaren hervortreten. Drinnen atmet sich Sonntagsschule. Viereckig einschüchternd schmucklos. Am Hügel der Gottesacker, abgesäumt von Rhododendron und Buchsbaum, mit allzeit geharkten Wegen. Kies, Immergrün, Ordnung: Das ist der Tod. Ein wenig verwunschen sieht nur das Fachwerk beim Bach aus. Das bleibt unten vorm Eingang. Beidseitig des Kirchenschiffs sind die Kastanien zu Sonnenschirmen gestutzt. Darunter die Ruhestätten. Da ruhen bei ihren Lieben die Obersten Ammann, die von Stockar und Castell, denkbare Ausbürger der Stadt allemal. Drunter liegen reihum Egloffs, Dütschs und Kellers. Kein Platz für Hecke, Absonderung und allerlei Schnickschnack. Dafür genießen sie Ausblick auf das Gasthaus zur Linde über der Straße und das Geburtshaus des Hermann Müller-Thurgau, der seinen Namen dem Wein aufgepfropft hat. Der wächst weiter den See hinab und heißt Riesling. Die feurigen Geranien auf den Gräbern, denen ein wenig an Haupteslänge fehlt, gleichen aufs Haar denen drüben im Fenster vom Gasthaus zur Linde. Kein steinerner Engel, keine marmorne Frauengestalt, die in lang gewordenem Schmerz ihr Gesicht in den Händen birgt. Wie im Schulzimmer stehen die Grabsteine ausgerichtet und blicken nach vorn. Heiter über Blumenbeetchen. Frisch angepackt! Hier ruhen sie aus in ihrem Dorf. Ein Grabstein ist schwarz und trägt eine Weltkugel.
Die großen V-6-Motoren blubbern und dröhnen. Fantastische Ungetüme rollen aus mannshohen Feldern, biegen aus Seitenwegen ein. Schwarz, rot, bronzen. Goldblitzend, starrend. Sie jagen die schnurgerade Straße unter der Bahnlinie dahin oder schleichen auf breiten Pfoten durch die Dörfer. Sie fahren der Stadt zu. Es ist Freitag, es ist Samstag. Sie fahren ins Theater Kasino Kino Bordell. Sie fragen die Bewohner der Stadt mit kehligem Laut nach Plätzen nach Bahnhof nach Wechselstube. Sie bringen das Ausland mit, aus der Tasche ziehn sie Alpenglühn. Denen vom Land ist ein eigener Himmel gespannt. Der reicht von Zürich, von Winterthur bis knapp hinter die Grenze. Der ist eingepflockt auf dem Weiß der Landkarte. Da, wo die Karte statt des Brauns der Berge und des Grüns der Täler nur mehr die Farbe der Fremde zeigt. Die vom Land kennen ihre zu kurz gekommene Kapitale nur als Banknote Spielcasino Kaufhaus Hertie. Die weißen Volvos stehen quer über der Landstraße. »Händ Sie gfeschtet?« Die Miene des Polizisten zeigt keine Beteiligung, als sie durch die Papiere blättert. Sein Gesicht entspannt sich, als er sie mir durchs Wagenfenster zurückreicht, und gesellt sich jetzt zu den Worten. Gute Heimkehr wird gewünscht. Verhaltene Fahrweise wird als ratsam anempfohlen. Zweite Lektion. Untersucht wird der Gepäckraum auf Warndreieck, Autoapotheke, das Profil der Pneus abgeleuchtet, Scheinwerfer werden an- und wieder ausgeschaltet. Aber im Führerschein stimmt die Hausnummer nicht. Die Polizeimiene zeigt leichte Befriedigung. Strafbar? »Unwissenheit schützt vor Strafe nicht«, zitiert der Beamte ich weiß nicht wen oder was. »Und das macht zwanzig Franken.« Überhaupt: der biblische Ton hier.
Von zu Hause bis zum Rhein fährt mir durch den halben Ort ein auffälliges Auto hinterdrein, ein knallsicherheitsfarbiges. Ich steige aus. Dem Osterei entsteigt ein Uniformierter. Der neue Gemeindepolizist. Nicht angegurtet. Ich weiß, was es geschlagen hat. Wissentlich geht auch nicht straffrei aus. Und macht zwanzig Franken. So machen wir uns bekannt. Im Weichbild des Orts versetzt mich Orange ab jetzt in Alarm.
Ich laufe in geliehener Sprache herum. Setze eine Maske aus lauter Laut auf. Trage falsche Kleider. Gebe meinen Artikulationswerkzeugen Befehle, gegen die sie sich sträuben. Die Eingaben sind falsch, das Ergebnis ist es nicht minder. Zeit wäre es, unsere Sprache zu lernen, statt mit Vorschrift Anleitung Formular von da draußen zu wedeln. Man tat mir Bescheid. Ich kam und hatte Schwierigkeit, mich einzufädeln, die Füße auf die Erde zu setzen, da es sich nicht länger umgehen ließ. Laut zu geben, statt Papiere zu füllen. Nun ist die Sprache keine. Ist nirgend zu finden. Hat ein Regelsystem, das tragen sie alle einzeln herum. Zwanzig Kilometer ziehen Lautverschiebungen nach sich. Von schattigem Gurren zu hellem Singsang. Zweitausend Schritt sind der Sprung von Hoch- zum Höchstalemannisch. Das weiß ich. Nur die so sprechen, scheren sich nicht. Diese Parallelschiene zu der wirklichen, der geschriebenen Sprache, die sich im Untergrund verliert, wieder auftaucht. Neben, weit fort, ganz nah bei der gelernten, der gefühlten Sprache. Dialekt steht so quer im Hals, da reicht ein fremdes Sprachsystem nicht heran.
Sprache lebt im Widerstreit der Handlungen, Menschen, Gefühle. Ohne ihn gibt es sie nicht. Den Beamten, der in schnarrendem Zürich-Deutsch die Italienerin am Schalter anherrscht, fahre ich plötzlich an. Deutsch sei zu sprechen. Macht er sich lächerlich? Eine Landessprache ist Italienisch nicht? Als ob ihr eine eurer Landessprachen beherrschtet. Landsleute, die sich exotisch ins Idiom begeben, tun meinen Ohren weh. Wie sich das flugs in fremdes Gewand stellt. Ich kenne euch! Ich stelle mich hinein und heraus. Wir sind eine Grenze. Die hat auch Abgründe. Unser Verhältnis zur Sprache ist satt eingefärbt von Geschichte und Vorurteil, von Klima, Geschick. Die helvetische Reichsfeindlichkeit, durcheinandergefärbt wie ein bunter Flicken, besteht auf artikulierten Endsilben und schleppendem Gang. In Stress und Reiz wird mir das Idiom zuwider. Halskrankheit, Gaumenkrankheit, Nasenkrankheit. Wo ich mich sammle, im Dorf, stolpere ich ohne Beklemmung hinein. Schiele meinen Sätzen nach in den Gesichtern der Angeredeten. Bringe ganze Kaskaden sauber zuwege. Drei Sätze. Schwätzer. Anderntags liegt mir die Zunge quer. Die geliehenen Kleider kontrolliere ich nicht. Sie ziehn sich zusammen und werden weit.
Im Reich der Kinder diesseits der Grenze haschpelt und gurgelt es weniger wild. Die Katze hat ein härteres Fell, kratzt schon einmal, schmiegt sich rauer. In der Stadt lärmen sie versteinerte Hysterie in den Obertönen. Gassenhauer. Nie hat man sein’ Ruh. Und jetzt noch die Türkenbengel. Aber im Dorf schwimmt ein Fisch. Der schwimmt im Hals. Der glättet die Kehlen. Alles ist aufgestellt und umfriedet. Und das alemannische Imperium schrumpft definitiv zur Welt der Zwerge und Puppenstuben. Chäschtli. Meitli. Guetzli.
Der See war ein Triptychon ohne Seitenflügel. Ein Breitwandpanorama, das nicht müde wurde, wenn man an ihm langlief oder -fuhr. Das immer zur Rechten oder zur Linken war. Vor dem man sich, aus dem Dorf kommend, entscheiden musste. Der See, den ich nicht bemerkte. Der See, der in den Schlaf trat. Der mich irritierte, weil er die Geografie der kürzesten Verbindungen durcheinander brachte. Im Winter hüllt er uns in Watte. Im Sommer breitet er die Illusion der Harmonie aus. Die Übergänge von Wasser, Land und Luft verschwimmen. Aber dass das Wasser eint, was das Land zu einen nicht in der Lage, ist eine, wenn auch keine fromme Lüge. Dafür kann man selten so klar wie hier erkennen, was man nicht kennt. Wir wissen nichts von denen drüben. Die wissen von uns herüben nichts. Das Wasser irritiert. Wie weit ist es bis dort? Einen Steinwurf? Zehn Kilometer? Jetzt, da ich weiß, wo er ist, sehe ich den See nicht mehr. Er bleibt verborgen hinter Häusern Bäumen Hügeln. Drüben, hier, jenseits. Der See ist überall. Der See ist in meinem Kopf. Er ist im Überlinger, im Zeller, im Gnadensee, er ist im Unter- und im Obersee. Nur im Seerhein ist er nicht. Da fließt der Fluss. Ich betrachte den See. Ich rieche den See. Ich fühle ihn. Im See bade ich nicht. Ich mache einen Bogen um den See. Ich befahre den See. Ich sehe ihn an. Ich komme ihm nicht zu nah. Das Gold des Sees knipsen andere weg. Der See hat keine Bestimmung. Er verteilt nicht, vereint nicht, er ist keine Krone und keine Schale. Er tränkt Städte. Er spielt verrückt, er glättet sich, er ist oktobergrün, er ist winterweiß, er ist sommerblau. Er ist nichts Bestimmtes.
Auf der Terrasse des Spitals, die fast zu ebener Erde liegt, kann ich die Felder glucksen und schmatzen hören. Der Schnee schmilzt. Das Wasser versickert in den Wiesen. Der Zigarettenrauch vergeht in Schwaden und Nebel. Zum Greifen nah sind die Möwen. Die schreien und lärmen. Die heben vom Dach und zerreißen die Stille. Die fliegen dem Wasser zu. Der erste Mensch, den ich erblicke, ist der See.