HAYMON verlag
Erzählungen
© 2010
HAYMON verlag
Innsbruck-Wien
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ISBN 978-3-7099-7480-3
Umschlag- und Buchgestaltung:
Kurt Höretzeder, Büro für Grafische Gestaltung, Scheffau/Tirol
Mitarbeit: Ines Graus
Coverfoto: www.shutterstock.com
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Der Gefangene Wawilow schien mir vom ersten Augenblick an ein äußerst sympathischer Mensch zu sein, und von daher tat es mir wirklich sehr leid, ihn sterben zu sehen.
Als er nach Saratow kam, hatte die lange Haft bereits deutliche Spuren an seinem Äußeren hinterlassen. Ich wusste, dass er in der Moskauer Lubjanka elf Monate lang von Leutnant Khvat verhört worden war, und ich konnte mir vorstellen, dass er in dieser Zeit nicht allzu viel Schlaf bekommen hatte. Leutnant Khvat pflegte seine Verhöre um elf Uhr vormittags zu beginnen und um drei Uhr nachts zu beenden, wobei er selbst natürlich Ruhepausen einlegte, während derer der Gefangene weiterhin stehen musste. Die Füße der Gefangenen schwollen bei solchen Prozeduren stark an, die Fußsohlen wurden blau und gespannt, so dass sie selbst bei leichten Schlägen schon platzten.
Die Augen von Nikolai Iwanowitsch Wawilow mussten einmal sehr lebhaft gewesen sein, denn lebhaft war auch der Kummer darin. Ihre Farbe war tiefbraun, beinahe schwarz, und in der endgültigen Schwärze der Pupillen tobte der Kummer wie Brandung, auf die man von einer hohen Klippe herabsah. Zu den Dingen, die man ihm zur Last legte, gehörten Hochverrat, Sabotage, Zerrüttung der sowjetischen Landwirtschaft, Mitgliedschaft in einer konterrevolutionären Vereinigung, Volksfeindschaft, Fraternisieren mit ausländischen Mächten und weißen Emigrantenzirkeln sowie Spionage für den britischen Geheimdienst. Sein Ziel war es gewesen, das System der kollektiven Landwirtschaft zu untergraben, die ausbeuterische Herrschaft der Kulaken wiederherzustellen und das sowjetische Volk durch weitere Hungersnöte zu schwächen. Dass er nun selbst Hunger leiden musste, schien in Anbetracht dieser Verbrechen nichts weniger als gerecht.
Die Gefangenen erhielten morgens zwei Löffel Buchweizen-Gretschka, mittags eine Suppe aus faulen Tomaten mit etwas Stockfisch, abends einen Löffel Gretschka. Darüber hinaus hatte jeder Anspruch auf 300 Gramm dunkles Gerstenbrot pro Tag – allerdings nahm, wie unter den Bedingungen von Nahrungsmittelknappheit üblich, zumeist der Kräftigste das gesamte Brot an sich. Dies war die Verpflegung in den Todeszellen, und doch unterschied sie sich für viele nicht allzu sehr von der draußen, denn ganz Russland hungerte zu jener Zeit, mitten im Krieg.
Als stellvertretendem Gefängnisdirektor oblag es mir, neu überstellte Gefangene in Augenschein zu nehmen. Nikolai Iwanowitsch war ein berühmter Mann, ein großer bourgeoiser Wissenschaftler, Botaniker, Genetiker, Geograph, Agronom und Forschungsreisender, Mitglied der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften, Träger des Lenin-Ordens und – nicht verwunderlich für einen Feind der Sowjetunion – zahlloser ausländischer Würden. Nun war er nichts mehr. Er, der Sohn eines leitenden Angestellten einer Textilfabrik, kniete vor mir, dem Sohn eines armen Tagelöhners (ich ließ die Gefangenen gerne niederknien, da ich so sitzen bleiben konnte, sie aber dennoch zu mir aufsehen mussten – eine rein praktische Überlegung). Als ich ihn seinen Namen und die Gründe für seine Verurteilung nennen ließ, konnte ich an seiner Zungenspitze die punktförmigen Einblutungen erkennen, die der Skorbut hinterlassen hatte. Seine Geheimratsecken stiegen hoch hinauf, seine Augenbrauen waren verzogen, als hätte man sie mit einem unregelmäßig eingezogenen Faden gerafft, und sein Stoppelbart – den er, wie man sehen konnte, mit unzureichenden Mitteln pflegte – hatte weiße Einsprengsel wie ein Wald nach dem ersten Schnee. Zu diesem Zeitpunkt war er dreiundfünfzig Jahre alt.
Es war für mich nichts Besonderes mehr, den tiefen Fall hoher Herren mitanzusehen, und es gab auf den ersten Blick keinen Grund, weshalb mir der Volksfeind Wawilow bemerkenswerter erscheinen sollte als ein anderer, dennoch erweckte er mein Interesse durch etwas, das ich als „unversehrten Kern“ bezeichnen möchte. Er schien unter seinem zermürbten Geist gewissermaßen ein Persönlichkeitsskelett zu besitzen, das ihn durch alle Erosionsvorgänge hindurch aufrecht hielt und das durch keine Einwirkung von außen zu verändern war.
Bei den meisten bourgeoisen Gefangenen zeigte sich sehr schnell, was übrigblieb, wenn man ihnen Beruf, Ämter, Wohnung, Kleider, Familie und Freunde wegnahm: ein jämmerlicher Hohlraum, umgeben von einem erbarmungswürdigen Nervenkostüm. Manche wurden zu Kriechern und versuchten sich einzuschmeicheln, andere blieben arrogant und hofften bis zuletzt, von einem Freund in den höchsten Rängen noch gerettet zu werden. Man konnte sich vorstellen, wie alles, was sie früher besessen hatten, zu ihrem Gefühl beigetragen hatte, etwas Besseres zu sein: der Spazierstock, die gesellschaftlich gewandte Ehefrau, der cremefarbene Sommeranzug, die Briefe einflussreicher Kollegen, die Datscha mit eigenen Bienenstöcken, die hübschen, artigen Kinder, der silberne Samowar, sogar die eigene Sprechweise, die eigene Schrift, die eingeübten Gesten. Dann war nichts mehr da, weder Spazierstock noch Gesten. Manieren verflüchtigten sich, nichts blieb als der blanke Egoismus – und das galt für die Popen nicht weniger als für die anderen.
Nikolai Iwanowitsch jedoch machte den Eindruck, als wäre er nie überheblich gewesen. Noch im Niederknien brachte er ein verbindliches Lächeln zustande, das auf eine Höflichkeit weit jenseits der Gefängnismauern verwies und mit dem verkrampften Grinsen der Kriecher nichts gemein hatte. Ich fragte ihn, ob er seine Taten bereue. Er nickte und erklärte, er bereue seine Taten tief. Ich fragte ihn, ob er alles anders machen würde, wenn er die Gelegenheit dazu bekäme. Oh ja, erwiderte er, er würde vieles anders machen.
Dies war natürlich ein klares Zeichen von Widerstand. Indem er sagte, er würde „vieles“ anders machen, nachdem ich „alles“ abgefragt hatte, wies er mich – wie wir beide wussten – auf reaktionäre Spuren in seiner Haltung hin. Damit ging er das Risiko ein, sich den letzten Rest seines Lebens unnötig schwer zu machen, ohne noch etwas hinsichtlich eines Unschuldsbeweises bewirken zu können, da er ja bereits zum Tod verurteilt war. Es hätte mich reizen können, seinen Willen doch noch zu brechen. Dennoch sah ich keinen kindischen, selbstzerstörerischen Trotz in seinen Augen, vielmehr die feste Überzeugung des Märtyrers, dass großer Schaden über die Welt gebracht würde, wenn er von seinem Glauben abschwörte.
Das war es aber nicht, was ihn mir sympathisch machte. Sympathisch machte ihn, dass ich in seiner Gegenwart das sichere Gefühl hatte, er würde mich, auch wenn wir da draußen in einem anderen Leben wären, er kein Gefangener und ich kein stellvertretender Gefängnisdirektor wäre, so behandeln, als wäre ich ein ebenso bedeutender Mensch wie er selbst.
Die Gefangenen in den Todeszellen erhielten als Bekleidung grobe Leinensäcke, in die Löcher für Arme und Kopf geschnitten waren. Die Säcke entstammten den umliegenden Kolchosen, sie waren nach vielmaligem Flicken so löchrig und fadenscheinig geworden, dass darin nicht einmal mehr Kartoffeln transportiert werden konnten. (Von meiner Frau Ljudmila, die auf der Kolchose arbeitete, wusste ich allerdings, dass manche Säcke auch deshalb nicht mehr geflickt wurden, weil es ohnehin nichts gab, womit man sie hätte füllen können.) Man verwendete die Säcke aus praktischen Gründen, man konnte die Gefangenen nach ihrer Erschießung gleich darin begraben. Für die Füße erhielten sie Schuhe aus Lindenbast, die wurden jedoch nach ihrem Tod weitergegeben. Höchstens sechs Wochen hielten diese Schuhe bei den Bauern auf dem Feld, in den Todeszellen kamen wir viel länger damit aus, da die Gefangenen die Zellen ja praktisch nicht verließen.
Die Gefangenen teilten sich zu dritt eine Zelle. Ein Bett und ein Tisch waren jeweils an den einander gegenüberliegenden Wänden festgeschraubt, nur ein dreibeiniger Hocker ließ sich bewegen. Zum Schlafen legten sich zwei der Gefangenen in das Bett, jeder den Kopf bei den Füßen des anderen, um den Platz besser auszunützen. Der dritte saß auf dem Hocker und döste, Arme und Kopf auf dem Tisch. Nach ein paar Stunden wurde er abgelöst und ein anderer musste an den Tisch.
Bei Wawilows Zellengenossen handelte es sich ebenfalls um Mitglieder der Bourgeoisie. Einer war der bekannte Philosoph Iwan Kapitonowitsch Luppol, dessen Leitsätze mein Sohn noch vor einigen Jahren in der Schule auswendig gelernt hatte: „Jede Revolution hat ihre Philosophie, aber nicht jede Philosophie hatte ihre Revolution.“ Der andere war Iwan Filatow, ein Ingenieur aus wohlhabender Familie, sein Onkel hatte vor der Revolution das größte Sägewerk der Stadt besessen. Sie waren alle drei gleichermaßen geschwächt, husteten und hatten Wasser in den Beinen, aber ich vermutete, dass es zumeist Luppol war, der das Brot an sich nahm.
Als ich eines Tages an ihrer Zelle vorbeikam und durch die Sichtluke schaute, bot sich mir ein eigentümliches Bild. Wawilow saß auf dem Tisch und schien eine Art Vortrag zu halten, während Filatow auf dem Bett und Luppol auf dem Hocker saßen und aufmerksam lauschend zu ihm aufblickten. Die Szene erinnerte an eine politische Versammlung und es verschlug mir beinahe den Atem vor so viel Dreistigkeit: Sollten sie es tatsächlich wagen, hier im Gefängnis noch reaktionäre Agitation zu betreiben? Nahmen sie an, dass sie in Anbetracht ihres nahen Todes Narrenfreiheit hatten?
Da die Gefangenen nur flüstern durften, konnte ich von außen die Worte nicht verstehen, also sperrte ich die Zelle auf und trat hinein. Wawilow hörte sofort zu sprechen auf und alle drei Gefangenen erhoben sich.
„Setzen“, sagte ich in normaler Lautstärke, und die drei setzten sich wieder. Dann wandte ich mich an Wawilow: „Sie werden nun in Ihrem Vortrag exakt dort fortfahren, wo Sie aufgehört haben, haben Sie mich verstanden? Wenn Sie auch nur ein Wort dem Umstand meiner Gegenwart anpassen, werde ich es bemerken!“
Nikolai Iwanowitsch nickte und der Anflug eines Lächelns hob seine Mundwinkel, als würde er sich freuen, dass ich mich für seine Ausführungen interessierte.
„Soll ich flüstern?“, flüsterte Wawilow.
„Selbstverständlich flüstern Sie“, sagte ich, „und zwar klar und deutlich, wenn ich bitten darf.“ Ich deutete Filatow, dass er sich auf den Boden setzen solle, und nahm auf dem Bett Platz. Wawilow schloss kurz die Augen, um sich zu sammeln, dann holte er tief Luft und begann zu flüstern. Er flüsterte ohne nennenswertes Stocken, gleichsam in einem Strom, als hätte er die Dinge, von denen er erzählte, schon oft für sich oder andere formuliert. Gleichzeitig stellte ich fest, dass ich es – ebenso wie die beiden anderen Zuhörer – vermied, mich zu bewegen, um nur ja keines seiner Worte in einem Rascheln zu überhören.
Wawilow sprach von Taumel-Lolch. Wie es schien, war er im vergangenen imperialistischen Weltkrieg in seiner Eigenschaft als Agrarexperte in den Norden Persiens entsandt worden, wo die russischen Truppen Opfer einer merkwürdigen Vergiftung geworden waren. Da die Soldaten wie betrunken herumtaumelten, Sehstörungen hatten und lallten, dachte man zunächst, sie würden über Gebühr dem Alkohol zusprechen, und versuchte, dem beizukommen, indem man sie bestrafte. Doch die Soldaten nüchterten nicht aus. Ihnen war schwindlig, sie vergaßen Befehle, waren zu nichts mehr zu gebrauchen. Schließlich stellte man fest, dass es das Brot war, das die Symptome hervorrief, konnte sich aber nicht erklären, wie das Gift in das Mehl gelangte. Wawilow reiste an, untersuchte die Felder und fand inmitten des Weizens Ähren von Taumel-Lolch. Taumel-Lolch war, wie ich nun erfuhr, ein Mitglied der Familie der Süßgräser und giftig, darüber hinaus waren die Felder mit einem Schimmelpilz namens Fusarium infiziert, der ebenfalls die Brot-Trunkenheit hervorrufen konnte.
An dieser Stelle unterbrach ich Wawilow und forderte ihn auf, keine lateinischen Ausdrücke mehr zu verwenden, denn mit diesen hatte er seine Schilderung überreichlich gewürzt. Ich hatte den Verdacht, dass er damit politische Ansichten codierte. Wawilow nickte, überlegte kurz und sprach dann von Schabdar. Ich wollte ihn sogleich wieder unterbrechen und ihm die Verwendung jeglicher Wörter, die nicht zum allgemeinen Wortschatz gehörten, untersagen, als er erläuterte, dass es sich dabei um eine zur Familie der Hülsenfrüchtler gehörige persische Futterpflanze handelte, deren rosa und purpurrote Blüten die Landschaft prächtig färbten und deren honigartiger Duft ihm angenehm in Erinnerung war. In der Folge verlor er sich in Ausführungen über verschiedene Sorten von Erbsen, Bohnen, Weizen, Roggen, Gerste und Hirse, welche er beim Volk der Tadschiken gefunden hatte, und verweilte lange bei der Beschreibung von Eintöpfen und Brotfladen, die er vor einem Vierteljahrhundert als ein Gast dieses Volkes verzehrt hatte. Da mein Magen zu knurren begann, gebot ich ihm wiederum Einhalt und fragte, was er denn mit dieser Veranstaltung bezwecke. Höflich erklärte mir Nikolai Iwanowitsch, er und seine Zellengenossen wären übereingekommen, abwechselnd Vorlesungen abzuhalten, um dadurch zu verhindern, dass sie den Verstand verlören. Luppol sollte über Geschichte und Philosophie sprechen, Filatow über Belange der Holzwirtschaft, und er selbst eben über sein Fachgebiet, die Pflanzen- und Landwirtschaftskunde.
„Sie wollen also“, sagte ich, „über eben die Dinge sprechen, die dazu geführt haben, dass Sie in dieser Zelle sind?“ Die drei Gefangenen beeilten sich zu versichern, dass ihre Vorträge vollkommen unpolitisch beziehungsweise in jeder Hinsicht dem marxistischen Geist entsprechend abgefasst wären. Natürlich kannte ich solche Beteuerungen nur zu gut, war aber doch so weit neugierig geworden (und, offen gesagt, ein wenig Abwechslung nicht abgeneigt), dass ich befahl, die Vorlesungen ab sofort ausnahmslos in meiner Gegenwart abzuhalten. Ich würde mich, kündigte ich an, zu unregelmäßigen Zeiten in der Zelle einfinden, man möge also stets vorbereitet sein.
Die Wärter wies ich an, regelmäßig durch die Sichtluke zu kontrollieren, ob in der Zelle etwas stattfand, was nach „Vorlesungen“ aussah. Manchmal nahm ich diese Kontrollen selbst vor und betrachtete die drei Männer dabei, wie sie sich flüsternd unterhielten, und oft, wie sie dumpf in sich hineinschwiegen. Die Gefangenen schienen sich an meinen Befehl zu halten. Sie versuchten, so gut es ging, sich zu beschäftigen, indem sie sich mit den Fingern die Haare kämmten, mit den Fingernägeln der einen Hand die Fingernägel der anderen säuberten oder sich lösende Teile ihrer Bastschuhe wieder feststeckten. Manchmal stand einer nur da, lange, mit dem Gesicht zur Wand, als würde er geduldig darauf warten, dass sie sich auftat. Wenn sie ein paar Schritte machten, sah man, dass sie den schlurfenden Gang der Ausgezehrten hatten, den energiesparendsten Gang, den der Mensch je erfunden hat: Sie hoben die Füße kaum vom Boden ab und kamen vorwärts, obgleich sie nur einen Bruchteil der normalerweise dafür nötigen Muskeln zu bewegen schienen. Wenn einer von ihnen auf dem Abortkübel saß, schauten die anderen weder betont weg noch betont hin – der Vorgang war ihnen selbstverständlich geworden. Sie hatten dünnflüssige Durchfälle und mussten oft viele Stunden mit dem Gestank leben, bis der Kübel geleert wurde.
In ihrem Verhalten unterschieden sich diese drei Gefangenen in nichts von den Gefangenen in den benachbarten Zellen. Ich fand es außerordentlich interessant zu beobachten, in welchem Ausmaß identische Lebensumstände identisches Verhalten zu begünstigen schienen. Es gab unter den zum Tode Verurteilten nur wenige, die sich selbst aufgaben und die Hoffnung fahren ließen. Die allermeisten klammerten sich an den Glauben, ihr letztes Gnadengesuch würde doch noch erhört werden, Bekannte und selbst Unbekannte würden sich für sie einsetzen und irgendwann, gerade noch rechtzeitig, Erfolg haben. Insbesondere die Intellektuellen versuchten gerne, sich an ihrem im Gehirn gelagerten Lehrwissen festzuhalten, war es doch ihr letzter Besitz, der zu verblassen und zu verschwinden drohte, wenn sie ihn nicht regelmäßig beschworen – so wie der Pope immer wieder seinen Gott anruft, damit dieser nicht von der Stille verschluckt wird. Phasen der Lethargie wurden von solchen hektischer Betriebsamkeit abgelöst, in denen sie im Geiste neue Gnadengesuche aufsetzten und bis ins kleinste Detail mit den Zellengenossen besprachen.
Bisweilen erschien es mir merkwürdig, Menschen so anzuschauen wie Schmetterlinge, die hinter einer Glasscheibe aufgespießt sind. Man betrachtete sie mit Interesse, manchmal sogar Bedauern, und dann ging man wieder fort, vergaß sie und kümmerte sich um sich selbst.
Der Umgang mit Todgeweihten hatte für keinen von uns etwas Besonderes an sich: Wie oft hatte man schon erlebt, dass Verwandte, Nachbarn, Bekannte von der einen oder anderen Krankheit dahingerafft wurden. Mila und ich hatten drei Kinder verloren, eines, ein Mädchen, wurde nur wenige Tage alt. Als ich sie zum ersten Mal sah, wusste ich sofort, dass sie nicht lange bei uns bleiben würde, obwohl nichts darauf hindeutete, sie normales Gewicht hatte und brav an der Brust ihrer Mutter trank. Es war etwas in ihren Augen, das zu sagen schien, dass sie auf einen längeren Aufenthalt in dieser Welt keinen Wert legte. Eines Morgens dann lag sie kalt und weiß in der Wiege, sie hatte wohl zu atmen aufgehört, während wir schliefen. Wir deckten sie zu, gingen zur Arbeit, und abends begruben wir sie wortlos hinter dem Haus. Die beiden anderen Kinder, ein Junge und ein Mädchen, waren schon älter gewesen, sie lagen auf dem Friedhof. Ich wusste, dass meine Frau manchmal zu den Gräbern ging und heidnische Rituale pflegte: Sie vergoss ein wenig süßen Tee und verstreute Brotkrümel, die sofort die hungrigen Krähen auffraßen.
Ich ließ die drei Gefangenen erst einmal warten, damit sie aufhörten, ständig mit meinem Besuch zu rechnen, und ich sie dementsprechend überraschen konnte. Meiner Erfahrung nach begann in solchen Fällen die Zuversicht nach etwa sieben Tagen zu korrodieren, nach zehn Tagen stellten sich ernsthafte Zweifel ein, die sich in der Folge zu bitterer Enttäuschung verhärteten. Nach etwa vierzehn Tagen begann sich diese wiederum mit Phasen wilder Hoffnung abzuwechseln, die durch weiteres Stillhalten zu frustrieren anzuraten war. Was die Gefangenen vermutlich nicht ahnten, war, dass dieser Vorgang auch der anderen Seite große Geduld abverlangte. Der Grund, weshalb ich sie unvorbereitet treffen wollte, nachdem ich ihnen geraten hatte, gut vorbereitet zu sein, bestand darin, dass man durch das Erzeugen von Unsicherheit und Verwirrung gemeinhin die besten Ergebnisse erzielte. Es war nämlich tatsächlich möglich, dass noch Begnadigungen eintrafen, und für diesen Fall lohnte es sich durchaus, Informationen über die Gesinnung der Gefangenen zu sammeln. Denn auch wir von der Gefängnisverwaltung mussten mit Unsicherheit leben, wir erhielten Hinrichtungsbefehle ebenso plötzlich wie Begnadigungen. Manchmal kam noch vor dem Morgengrauen die Order, Salven erklangen im Hof, Stimmen und Gesichter waren verschwunden. Dann wieder schien das Warten kein Ende nehmen zu wollen und die Gefangenen in den Todeszellen richteten sich auf ein langes Dahinsiechen ein.
Die Kriegswirren taten das Ihre dazu. Gefangene verschwanden, den Behörden selbst war es unmöglich herauszufinden, in welchem Gefängnis sie sich befanden, ob sie tot oder lebendig waren. Die deutsche Armee lag bereits vor Moskau, in letzter Minute hatte man von dort zehntausende politische Gefangene evakuiert. So war auch Nikolai Iwanowitsch nach Saratow verlegt worden.
Nachdem etwa drei Wochen verstrichen waren, ließ ich Wawilow, Filatow und Luppol um halb sechs Uhr morgens wecken und befahl, die Vorlesung zu beginnen. In der Folge kam ich zu unterschiedlichen Uhrzeiten, um elf Uhr nachts, ein Uhr mittags und so weiter. Filatows Ausführungen über die Holzwirtschaft konnte ich problemlos folgen, aber sie langweilten mich. Kahlschlag oder Durchforstung, Waldvegetationsformen, Brennholz, Bauholz, Transportwege, Planziffern. Gesinnungsmäßig konnte man ihm nichts anhaben. Als er einmal davon sprach, wie es zu verhindern wäre, dass gefällte Bäume durch unsachgemäße Lagerung verrotteten, fragte ich, ob es sich dabei nicht um ein vorrevolutionäres Problem handelte. Anstandslos und eilfertig führte er daraufhin aus, wie durch die Einführung der Kollektivwirtschaft jegliche Verschwendung von Ressourcen nachhaltig ausgeschaltet worden war.