Schaufenster der Unmenschlichkeit
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Deutsche Erstausgabe Mai 2012
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Les éditions du Crieur Public GmbH, Hamburg
www.crieur-public.com
© des Originalwerkes:
Forschergruppe Achac / La Découverte, 2001, 2004, 2008 & 2011
Titel des Originalwerkes: Zoos humains
Übersetzt aus dem Französischen von Dr. Susanne Buchner-Sabathy
Titelbild: © Sammlung Les éditions du Crieur Public GmbH
Titelseitendesign: Jean-Christophe Courte, www.barbary-courte.com
Satz: Julia Dogan und Laurent Tournier
ISBN: 978-3-9815062-1-1
Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms
des französischen Außenministeriums,
vertreten durch die Kulturabteilung der französischen Botschaft in Berlin
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
MenschenZoos:
Schausstellungen „exotischer“ Menschen im Westen
Pascal Blanchard, Nicolas Bancel, Gilles Boëtsch,
Éric Deroo und Sandrine Lemaire
Teil I
Charakteristiken des MenschenZoos – Geschichten und Definitionen
Vom Wunder zum Defekt:
Außergewöhnliche Körper von der Antike bis heute
Rosemarie Garland-Thomson
Die „Hottentottische Venus“: A Freak is born
Gilles Boëtsch und Pascal Blanchard
P. T. Barnum, Joice Heth und die Anfänge der
Völkerschauen in den Vereinigten Staaten
Benjamin Reiss
London, Hauptstadt der Völkerschauen (1830-1860)
Nadja Durbach
Exotik als Attraktion
Robert Bogdan
Ethnografische Schaukästen: multimediale Erzählmuster
Raymond Corbey
Menschenzoos: wissenschaftlicher Rassismus
und populärer Rassismus im kolonialen Westen
Pascal Blanchard, Nicolas Bancel und Sandrine Lemaire
Menschenzoos: der „Wilde“ und der Anthropologe
Gilles Boëtsch und Yann Ardagna
Das Kino als Zoowärter
Éric Deroo
Teil II
Modelle des Menschenzoos – Der Blick auf die Anderen
Hagenbecks Europatourneen
und die Entwicklung der Völkerschauen
Hilke Thode-Arora
Tropenzauber um die Ecke: Völkerschauen bei Hagenbeck
Caroline Schmidt-Gross
Völkerschauen im Zoologischen Garten von Paris
William H. Schneider
Eine Ona-Truppe im Musée du Nord: Rekonstruktion
einer verlorenen Akte der Brüsseler Fremdenpolizei
Peter Mason
Die Amazonen erobern den Westen
Suzanne Preston Blier
Indien und Ceylon bei Kolonial- und Weltausstellungen
(1851-1931)
Catherine Servan-Schreiber
Cooper-Welten:
Zur Rezeption der Indianer-Truppen in Deutschland
Eric Ames
Die Aborigines: „professionelle Wilde“ und Gefangene
Roslyn Poignant
Doktor Kahn und die Niam-Niam
Bernth Lindfors
Fotografie: die Konstruktion des Bildes vom Anderen
Elizabeth Edward
Teil III
Bilddokumente – Menschenzoos & Völkerschauen
Teil IV
Nationale Identitäten – Der Menschenzoo im lokalen Kontext
Prinz Dido aus Kamerun im wilhelminischen Deutschland
Ausgestellt und vom künftigen Kaiser Wilhelm II empfangen
Albert Gouaffo
Völkerschauen in Österreich – Ungarn
Ashantees in Budapest und Wien, 1895-1897
Peter Plener
Menschen-Zoos in der Schweiz
Patrick Minder
Kolonialausstellungen und ethnische Hierarchien im modernen Japan
Arnaud Nanta
Imperiale Ausstellungen in Großbritannien
John MacKenzie
Kongolesen im „imperialen“ Belgien
Jean-Pierre Jacquemin
Afrikaner in Amerika: Afrika-Dörfer bei internationalen
Ausstellungen in Amerika (1893-1901)
Robert Rydell
Völkerschauen bei Kolonialausstellungen im liberalen
und im faschistischen Italien
Guido Abbattista und Nicola Labanca
Menschenschauen in Spanien: Kolonialismus und Massenkultur
Neus Moyano Miranda
Die Menschenzoos der Internationalen Kolonialausstellung
in Paris, 1931
Herman Lebovics
Nachwort
Menschenzoos in der Diskussion
Charles Forsdick
Allgemeine Bibliographie
Autorenübersicht
Einleitung
Pascal Blanchard, Nicolas Bancel, Gilles Boëtsch,
Éric Deroo und Sandrine Lemaire
Sehen heißt wissen!1
Im Konzept des „Menschenzoos“ verbinden sich in außergewöhnlicher Weise die Funktionen von Schaustellung, Vorführung, Bildung und Herrschaft. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Phänomen muss die engen Grenzen einzelner Fachdisziplinen sprengen, da historische, anthropologische und soziologische Aspekte zu berücksichtigen sind. Die Soziologie der Massenkultur ist ebenso von Relevanz wie die Kolonialgeschichte.2 Zunächst muss untersucht werden, wie sich dieses Phänomen in eine weiter gefasste Geschichte ähnlicher Erscheinungen einfügt. Die Praxis, „exotische“ menschliche Wesen auszustellen, die offenbar mit unterschiedlichen Formen der Schaustellung und mit unterschiedlichen Wissensgebieten in Verbindung steht, siedelt sich ganz klar im Bereich der Wissensproduktion an.
Dieser Ausstellungstyp entwickelte sich im 19. Jahrhundert aus dem Zusammenwirken unterschiedlicher politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Faktoren. Er entstand also zu einer Zeit, in der allgemein ein großes Interesse für ferne Länder, für Entdeckungsreisen ins Unbekannte und in die Fremde herrschte. Diese Vorliebe für weit entfernte Orte, für das Exotische und Andersartige ist von grundlegender Bedeutung für unseren Versuch, die Verbindungen zwischen Menschenzoos und älteren Schaustellungsphänomenen zu verstehen. Unter letzteren wären die am Ende des 16. Jahrhunderts an den großen europäischen Fürstenhöfen eingerichteten Wunderkammern3 zu nennen sowie die Kuriositätenkabinette, deren Zahl im 17. und 18. Jahrhundert deutlich zunahm. Dort wurden völlig wahllos seltene oder seltsame Objekte tierischer, pflanzlicher, mineralischer und menschlicher Herkunft gesammelt. Zu den Vorläufern des Phänomens „Menschenzoo“ zählen auch Menagerien, Tiergärten und Zirkusse.
In dieser langen Entwicklungslinie waren die Kuriositätenkabinette von besonderer Bedeutung. Zunächst deshalb, weil sich diese Einrichtungen, die in ihrer Form ebenso unterschiedlich waren wie in den von ihnen beherbergten Sammlungen, ab dem Ende der Renaissance in ganz Europa größter Beliebtheit erfreuten. Dann auch deshalb, weil diese eklektischen Sammlungen – in denen die unwahrscheinlichsten Objekte in ungebremster Neugier angehäuft wurden – erstmals den Wunsch nach besserem Verständnis des Gesammelten, nach Klassifikation, nach Hierarchisierung erweckten, und dies machte sie zu Vorläufern des modernen Museums.4 Schließlich auch deshalb, weil der unwiderstehliche Reiz des Wunderbaren und die faszinierende Verlockung des Seltsamen, die sich in diesen Kuriositätenkabinetten niederschlugen, die Entstehung und auch den Erfolg des Phänomens der Menschenzoos teilweise erklären.
Auch die frühen Menagerien — diese Sammlungen verschiedener Tiere, die anfänglich der Belustigung der westlichen Aristokratie vorbehalten waren — tragen zu unserem Verständnis der Menschenausstellungen innerhalb der zoologischen Gärten bei. Die Französische Revolution stellte in der Geschichte dieser Menagerien einen Bruch dar, der in ganz Europa Auswirkungen zeigte. In Frankreich selbst wurden die Tiere der königlichen Menagerie in Versailles in den botanischen Garten überführt, und zwar in der Absicht, die Volksbildung zu fördern und mit fürstlichen Privilegien zu brechen. Im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts schlossen sich London und andere europäische Großstädte nach und nach diesem Vorgehen an und eröffneten Zoos für ein großes Publikum. Diese Zoos waren entweder gratis oder zu einem geringen Eintrittspreis zugänglich.
Ein weiterer Faktor, der zur zunehmenden Anzahl zoologischer Gärten in den Großstädten beitrug, lag in der urbanen Entwicklung während der ersten industriellen Revolution. In den städtischen Zoos sammelte man Kombinationen von Tieren, die in freier Natur nicht denselben Lebensraum teilen. Man ordnete die Natur nach den Vorstellungen der Naturforscher des 18. Jahrhunderts neu. Diese Natur-Rekonstruktion entsprach einem tiefen gesellschaftlichen Bedürfnis. Die Millionen von Landbewohnern, die auf der Suche nach Arbeit in die großen Städte gezogen waren, empfanden ein tiefes Gefühl von Entwurzelung. Der zoologische Garten bot sich hier als Fluchtpunkt an: er stillte das Heimweh nach der verlorenen Natur. Er schuf aber auch ein „Anderswo“, das als das unglaubwürdige Abbild eines verlorenen Paradieses gelten konnte, als neue, aufgeklärte Arche Noah, in der immer mehr verschiedene Tierarten in exotischem Dekor Platz fanden. Diese Vielfalt ergab sich eher aus dem Wunsch, dem verschwenderischen Wesen der Natur Ausdruck zu verleihen, als aus dem Bemühen, den natürlichen Lebensraum der gezeigten Tiere nachzubilden. So war der Zoo zugleich ein Ort der Neugier und der Vorstellungskraft, ein Ort schweifender Phantasie. Er bot einen unterteilten und etikettierten Raum, in dem das Publikum Fortschritte in den Naturkenntnissen und in der Zähmung verschiedener Tiergattungen verfolgen konnte. Und genau an diesem Kreuzungspunkt von Exotik und Wissen, von Phantasie und Rationalität entstand der „Menschenzoo“.
Man machte die Zoos Wissenschaftlern zugänglich, damit sie dort seltsame oder wilde Tiere beobachten und untersuchen und bestehende Theorien zur Organisation der Lebewesen bestätigen oder widerlegen konnten. Aber bald öffnete man sie auch einem breiteren Publikum, das sich dort unterhalten und bilden sollte.5 Nun, wo die Welt der Pflanzen- und Tiere Gelehrten und Laien immer besser bekannt war, gab es auch ein gesteigertes Interesse an der Mannigfaltigkeit der menschlichen Morphologie, das durch die Entdeckung neuer Weltgegenden und die kolonialen Eroberungen weiter angestachelt wurde. Doch musste die menschliche Morphologie auch in die Erklärungsmodelle der Welt passen und so versuchten die Vertreter der physischen Anthropologie im 19. Jahrhundert, sie wissenschaftlich zu erklären. Der Mensch wurde zu einem zentralen Untersuchungsgegenstand, wobei zunächst Skelette und Kulturartefakte, später rekonstruierte, durch Trockenheit oder Mumifizierung konservierte Körper und schließlich „lebendige Exemplare“ untersucht wurden. Diese „Exemplare“ wurden zuerst in ihren „natürlichen“ Lebensräumen studiert und dann nach Amerika oder Westeuropa „transportiert“ und dort ausgestellt.
In Amerika – wo zwei Gruppen „exotischer“ Einwohner ansässig waren, nämlich die afro-amerikanischen Nachkommen der Sklaven und die amerikanischen Ureinwohner – lief dieser Prozess anders ab. Hier wurde exotische Ferne gegen 1850 in Wanderzirkussen inszeniert. Diese Zirkusse setzten die europäische Tradition fort, Tiere auf Jahrmärkten zur Schau zu stellen, allerdings ohne wissenschaftliche oder pädagogische Absichten. In Nordamerika trafen Völkerschauen und Freak-Shows aufeinander, befruchteten einander und verschmolzen. Wenn man die europäischen Kuriositätenkabinette und einige für die Aristokratie bestimmte Ausstellungen außer Acht lässt, wurden hier erstmals in systematischer Form und für ein breites Publikum Unterschiede zwischen verschiedenen Menschengruppen zur Schau gestellt. Die Nähe zwischen Völkerschauen und Freak-Shows verdeutlicht zudem, wie eng der visuelle Genuss bei Betrachtung des „Exotischen“ und/oder Seltsamen mit einer – zumindest oberflächlichen – pädagogischen Absicht verbunden war.
Hier muss auf die Aktivitäten des Phineas Taylor Barnum verwiesen werden, der dem Typus der „anthropo-zoologischen“ Ausstellungen seinen Namen gab. Aber auch Buffalo Bill’s Wild West Show, die zu weltweiter Berühmtheit gelangte, sollte erwähnt werden.6 Diese nordamerikanischen Profis in der Inszenierung der Differenz organisierten internationale Tourneen und entwickelten auf Reisen durch Europas Großstädte ein neues Konzept der Massenkultur. Sie stellten die „wildesten“ oder „bizarrsten“ Wesen aus, Wesen, die halb dem Reich der Menschen, halb dem der Tiere anzugehören schienen, und so ein noch recht naives Publikum faszinierten. Die Wild-West-Show transformierte dieses Modell, indem sie es mit dem technologischen Fortschritt der industrialisierten Welt und mit der Idee der amerikanischen Nation in Verbindung brachte, und einen Gegensatz zwischen dem „modernen“ Amerika und der „Wildheit“ der Indianer postulierte.
Auf beiden Seiten des Atlantiks bildeten sich also fast gleichzeitig, aber in unterschiedlichen und jeweils kulturspezifischen Kontexten, die Grundprinzipien eines modernen Typs von ethnografischen Ausstellungen heraus, und all diese Schauen verbreiteten eine ganz bestimmte Botschaft über „exotische“ Menschen.
Die Wurzeln des Phänomens
Bekanntlich wurde das Fremde und Andersartige immer schon zur Schau gestellt und inszeniert. Bereits im alten Ägypten stellte man „schwarze Zwerge“ aus dem Gebiet des Sudan aus, ganz so, wie man während des römischen Reichs besiegte „Barbaren“ und „Wilde“ im Triumphzug durch die Straßen der Hauptstadt führte, um die eigene Überlegenheit hervorzuheben und um die römische Hegemonie gebührend in Szene zu setzen. Im Laufe der darauf folgenden Jahrhunderte, in denen man die Welt erforschte und eroberte, brachten Reisende und Gelehrte „Menschenexemplare“ – tot oder lebendig – an die europäischen Fürstenhöfe. Dem Fremden, dem Andersartigen und vermeintlich Missgestalteten wurde also von jeher lebhafte Neugier entgegengebracht.
Die ersten „exotischen“ Menschen, die an den großen europäischen Fürstenhöfen präsentiert wurden, erfuhren – in Anlehnung an die damals so beliebten Kuriositätenkabinette – sehr unterschiedliche Behandlung.7 Gezeigt wurden an den europäischen Höfen unter anderen die Tupi-Indianer, die Hernán Cortés nach Europa gebracht und im Jahr 1550 dem französischen König präsentiert hatte, die vom Herzog Wilhelm V von Bayern gegen 1580 gesammelten „Wilden“, die gemeinsam mit einer erstaunlichen Anzahl von „Zwergen“ und „Krüppeln“ ausgestellt wurden, sowie der Tahitianer, den Bougainville im Jahr 1769 nach Frankreich gebracht hatte.8 Weiter wurde im Jahr 1784 in der Nähe von Frankfurt auf Initiative des Landgrafen Friedrich II von Hessen-Kassel eine „Afrikaner-Truppe“ angesiedelt, um ihre Sitten und auch ihre Körperbildung zu beobachten. Samuel Thomas Sömmering untersuchte einige dieser Afrikaner.9 In all diesen Fällen lässt sich ein bestimmtes Muster beobachten, das sich im Westen lang-sam, aber unerbittlich verfestigte.
Schließlich widmeten sich auch Kunst und Wissenschaft der Erforschung der Menschheit. So klagten Künstler – wie Charles Le Brun – darüber, wie schwierig es für sie sei, sich einen Überblick über die ganze Vielfalt auf der Erde anzutreffender menschlicher Gestalten und ganz besonders über die verschiedenen „Rassen“ zu verschaffen. Sie wollten die Beziehungen zwischen Körper und Seele verstehen. Nach Ansicht der Gelehrten und der Künstler jener Zeit besaßen die Europäer die „höchsten“ Gesichtswinkel, was als Beweis ihrer intellektuellen Überlegenheit über andere Völker gewertet wurde.10 Aber derartige Hypothesen mussten durch Vergleiche bestätigt werden, was Referenzsammlungen erforderlich machte. Am stärksten empfand der Naturforscher Johann Friedrich Blumenbach die Notwendigkeit, eine umfangreiche anthropologische Sammlung zu schaffen. Seine Sammlung umfasste Portraits von Individuen „unterschiedlicher Rassen“ und als Glanzstück 82 Schädel. In Frankreich beeilten sich die Professoren des naturkundlichen Museums [Musée national d’histoire naturelle], nun auch ihrerseits eine anthropologische Sammlung zu begründen. So bauten Georges Cuvier, Etienne-Antoine Serres und später Jean Louis Armand de Quatrefages eine der berühmtesten anthropologischen Sammlungen der Welt auf.11 Zu einer Zeit, in der Gelehrte versuchten, menschliche Hierarchien aufzustellen und zu verstehen, wurde die Erforschung „fremder“ Völker mittels solcher Sammlungen menschlicher Skelette gängige Praxis der Wissenschaft..
Zu diesem Zweck benötigten die Gelehrten anthropologische und ethnografische Sammlungen, doch mussten sie auch lebendige Menschen betrachten, berühren, abmessen, untersuchen können. Für dieses Problem gab es nur zwei Lösungen: entweder musste man „im Feld“ forschen, was lange, mühselige und kostspielige Expeditionen erforderlich machte, die sich nur Wohlhabende leisten konnten, oder man musste die Untersuchungsobjekte zu den Gelehrten bringen. So wurde der Wunsch, die unterschiedlichen „Rassen“ zu „sammeln“ und „auszustellen“, zu Beginn des 19. Jahrhunderts immer stärker. Dies demonstriert ein früher Plan für einen ethnografischen Park, über den der französische Architekt Edme Verniquet12 im Jahr 1802 berichtete. Jeder Mensch werde dort „nach der Sitte seines Landes gekleidet und in einer seinem Lebensstil angemessenen Umgebung untergebracht.“13 Auch in Schweden wurde ein ethnologisches Museum der „skandinavischen Völker“ begründet und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden in Europa und in den Vereinigten Staaten verschiedene Projekte von „Sammlungen“ lebender oder toter Menschen. Keines dieser Projekte war so erfolgreich wie das im Jahr 1841 in New York von Phineas Taylor Barnum begründete Museum, aber der Prozess war nun nicht mehr aufzuhalten.
Von zentraler Bedeutung für diese Entwicklung war das amerikanische Modell. In New York wurde das von Barnum 1841 gegründete und mitten in Manhattan gelegene American Museum zur beliebtesten Attraktion des Landes.14 Dreh- und Angelpunkt des dort Gebotenen waren „Freaks“.15 Barnums Erfindung bestand darin, an einer Stätte der Zerstreuung „Ungeheuer“ auszustellen, wobei er seinem Publikum gleichzeitig auch „wissenschaftliche“ Vorträge, Zaubertricks, Tänze und schauspielerische Rekonstruktionen bot. Es handelte sich hier um eine neue Form städtischer Unterhaltung16, die sehr rasch von Wanderzirkussen übernommen wurde. Diese bereisten die Vereinigten Staaten und ganz Europa. Im Jahr 1884 eröffnete Barnum – sozusagen als ideologische Krönung dieser ersten, kommerziell ausgerichteten Ausstellungen – den Grand Congress of Nations, der „fremde und wilde Stämme“ als eigene Nationen präsentierte. In diesem Rahmen zeigte er die australischen Aborigines des amerikanischen Schaustellers R.A. Cunningham17, „wilde Zulus“, Sioux-Indianer, einen „wilden Muslim“ aus „Nubien“ und einige andere „exotische“ Individuen.
In Europa hatte ein ähnlicher Prozess bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der Ausstellung der „Hottentottischen Venus“ in London und Paris (1810-1815) eingesetzt. Der Körper dieser Frau wurde zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung.18 London galt bald als Hauptstadt derartiger Schaustellungen „exotischer“ Menschen.19 Im Jahr 1817 wurden dort Indianer20 (amerikanische Ureinwohner) ausgestellt, im Jahr 1822 Lappen (Samen), im Jahr 1824 Eskimos (Inuit), im Jahr 1829 Feuerländer, im Jahr 1839 Guyaner und im Jahr 1847 „Buschmänner“. Zudem wurden mehrere Gruppen von Zulus zur Schau gestellt, unter anderem in der großen Ausstel-lung von 1853, die durch ganz Europa tourte.21 Diese Tournee beeindruckte Charles Dickens so sehr, dass er durch sie zu einem Pamphlet gegen den Mythos des „edlen Wilden“ angeregt wurde.
Im 19. Jahrhundert wurden in der Alten und in der Neuen Welt Paradigmen für eine Normierung der Natur entwickelt. Die Phänomene der sichtbaren Welt wandelten sich hierin zur Publikumsbelustigung und zur wissenschaftlichen Lektion, die die Entste-hung von Gelehrtengesellschaften nach sich zog.22 Die Funktion der Schaustellungen war es nun, ganz explizit die Berechtigung bestehender kolonialer Hierarchien und sozialer Unterschiede zu veranschaulichen. Obwohl die westlichen Gesellschaften sich allmählich von der Sklaverei abwandten, begann nun die Zeit der großen Kolonialreiche und die Weltordnung unterschied zwischen den ausgestellten Völkern einerseits und den Ausstellungsbesuchern und Zuschauern andererseits. Anlässlich der Londoner Weltausstellung von 1851 – der ersten ihrer Art – überraschten die dem Nahen und Fernen Osten gewidmeten Pavillons ihre Besucher durch die Qualität der dort ausgestellten künstlerischen Erzeugnisse. Der ägyptische Pavillon dagegen distanzierte sich vom technischen Fortschritt der europäischen Industrie. Zwar präsentierte man dort einige in Europa bereits bekannte antike Schätze, aber Furore machte dieser Pavillon vor allem mit der Nachbildung einer Straße des Kairoer Bazars mit einer Moschee, mit Läden, Tänzerinnen und Cafés – ein Erfolgsmodell, das von nun an bei jeder Weltausstellung wieder auftauchen sollte. Bei den Ausstellungen in Paris, Chicago, San Francisco, Berlin und Mailand lockte die gefällige Exotik dieser „Kairoer Straße“ hunderttausende Besucher an23 und verstärkte den Trend exotischer Rekonstruktionen, der alle Weltausstellungen im Westen prägte.
Die Entfaltung des Paradigmas
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war das Muster dieser Schaustellungen allerdings noch ein Phänomen von sehr eingeschränkter Wirkung, auch wenn sich in der Zulu-Tournee von 1859 ein neuer Ausstellungsmodus ankündigte. Noch hatten sich diese Schaustellungen nicht zu einem richtigen Wirtschaftszweig mit eigenen Regeln und eigenen Profis entwickelt, der bei großen Kolonialausstellungen eine wesentliche Rolle spielte. Noch war es eine spielerische Inszenierung von Kraft, Fremdheit, Neugier oder Grausamkeit. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildete sich jedoch ein Muster heraus, das das Modell der Menschenzoos als „rassisch“ gefärbte Schaustellungen „exotischer“ Menschen voll zur Entfaltung brachte. Diese Schaustellungen – von „Völkerschauen“ bis zu „Eingeborenen-Dörfern“ – standen entweder für sich allein oder waren Teil größerer Veranstaltungen wie etwa Welt- oder Kolonialausstellungen.
Die erste Truppe dieser Art wurde von Carl Hagenbeck im Jahr 1874 in Hamburg gezeigt, also genau in jenem Jahr, in dem Barnum nach Europa kam. Das Jahr 1874 stellte daher einen tiefen Einschnitt in der Entwicklung von Menschenausstellungen dar. Hagenbecks Truppe bestand aus einer Familie von sechs Lappen (Samen), die von etwa dreißig Rentieren begleitet wurde. Aufgrund des großen Erfolgs exportierte Hagenbeck seine Ausstellungen ins Ausland – im Jahr 1877 auch in den Pariser Zoologischen Garten24 – und betrieb sie professionell unter der Bezeichnung „anthropologisch-zoologische Ausstellungen“.25 Beinah gleichzeitig – nämlich im Jahr 1876 – organisierte Charles Rau von der Smithsonian Institution in Philadelphia im Rahmen der Philadelphia Centennial Exhibition mehrere Darbietungen, die das „extrem niedrige Niveau unserer fernen Ahnen“ demonstrieren und den Entwicklungsstand westlicher Gesellschaften im Vergleich mit „primitiven Gesellschaften“ besser einschätzbar ma-chen sollten.26
Zur gleichen Zeit wie der Deutsche Hagenbeck und der Amerikaner Barnum wurden nach und nach viele weitere Impresarios aktiv und stellten eigene Unternehmen auf die Beine. Darunter gab es auch Schausteller, die – wie John Tevi oder C. Nayo Bruce – aus den Kolonien stammten.27 Von da an verbreitete sich der Menschenzoo sehr rasch und wurde binnen wenig mehr als einem Jahrzehnt zu einem kulturhistorisch bedeutsamen Paradigma. Die große Neuerung im Vergleich zum 18. Jahrhundert und zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestand darin, dass das Publikum sich nicht länger mit Reiseberichten oder mit Stichen zufrieden geben musste. Stattdessen wurde eine Form der Präsentation entwickelt, die Wissenschaft und theatralische Darstellung miteinander verband und bei der man auf privatem oder öffentlichem Gelände Menschen zur Schau stellte, die „fremd“ und „anders“ waren.
Hier erfuhr der Status der Differenz, des Andersseins eine entscheidende Verwand-lung. Mittels einer wissenschaftlich erstellten (oder in Ausarbeitung begriffenen) Rassentypologie wurde er rationalisiert und rationalisierbar. Maßstab dieser Typologie blieb der westliche Typus, speziell der Kaukasier, an dem der französische Naturforscher Georges-Louis Leclerc, Graf von Buffon eine besondere körperliche Harmonie wahrnahm und bewunderte. Nun wurde die „Rassenlehre“ aber vom zivilisatorischen Fortschritt und von internationalen strategischen Interessen eingeholt. So hatte sich Japan als aufstrebende moderne Macht seit der Weltausstellung von Chicago im Jahr 1893 an das vorherrschende Modell angepasst.28 Diejenigen auszustellen, die „anders“ waren als man selbst, wurde zu einem sichtbaren und einfachen Zeichen für Modernität und nationale Größe. Umgekehrt untersagte Russland seinen Bürgern, an solchen Völkerschauen teilzunehmen, da man hierdurch eine Minderung ihres Status‘ befürchtete. Die wissenschaftliche Rationalisierung der Differenz führte damals zu einer Rassenhierarchie, die in Völkerschauen sichtbar gemacht und verbreitet wurde und deren Merkmale man aus imaginären Konstrukten von „Exotik“ und „Wildheit“ gewonnen hatte.29
Die Zurschaustellung „exotischer“ Völker legte auch nahe, dass diese einen geringeren Status als die Europäer besäßen und daher kolonisiert werden könnten. Allerdings herrschte bei einigen Gelehrten Zweifel darüber, ob diese Völker tatsächlich „zurückgeblieben“ seien. Abel Hovelacque, ein französischer Anthropologe, untersuchte die Frage, ob bestimmte Bevölkerungsgruppen „die letzten – oder die ersten – Stufen menschlicher Entwicklung“ darstellten.30 In seiner Arbeit bezog er sich auf Australier, Veddas, „Buschmänner“ und brasilianische Botokuden, deren materielle Kultur sich seiner Ansicht nach kaum über das Reich der Tiere erhebe:
„Ist es nicht deutlich, ist es nicht offenkundig, dass die vollkommensten Wohnstätten des Australiers, des Buschmanns, des Andamanen in Architektur und Bequemlichkeit den Nestern von Menschenaffen kaum überlegen sind?“31
Die Entstehung und die äußerst rasche Verbreitung von Menschenzoos war eng mit anderen zeitgenössischen Phänomenen verknüpft, zum Beispiel mit der Identitätssuche, die in Europa in Zusammenhang mit der Entwicklung der Nationalstaaten stattfand, mit der Behauptung einer „amerikanischen Sonderstellung“ nach dem Ende des Sezessionskriegs oder mit dem Konzept der Meiji-Zeit in Japan nach 1878. Diese ethnozentrischen Sichtweisen entstanden zu einer Zeit, die ebenso von verblüffenden wissenschaftlichen Fortschritten wie von massivem sozialen Wandel geprägt war. Beides ließ viele Ängste entstehen. Das neue Paradigma machte jegliche Orientie-rung zunichte: Raumkonzepte wurden durch den Bruch zwischen Stadt und Land und durch die Entwicklung des Verkehrswesens verändert. Zeitkonzepte wurden durch die beispiellose Reisegeschwindigkeit, durch die Eroberung von Kolonialgebieten und die Beschleunigung des Arbeitsrhythmus in den Städten verändert. Gesellschaftskonzepte wurden verändert durch die Entstehung einer Klasse von Fabrikarbeitern und durch den Verfall kommunaler und manchmal auch familiärer Bindungen. Kulturelle Konzepte verschoben sich, wenn die lokalen Traditionen einzelner Länder durch eine neu geschaffene politische Transzendenz ersetzt wurden, welche zentral war für die Entstehung von Nationalstaaten. Diese Veränderungen, die sich während nur zweier Generationen vollzogen, waren von unglaublicher Durchschlagskraft. Die zunehmende Verbreitung von Positivismus und Wissenschaftsgläubigkeit lässt sich nur vor dem Hintergrund tiefgreifender anthropologischer Besorgnisse verstehen, die das Sozialgefüge durchdrangen, die kollektive Psyche aufwühlten und die Zukunft verdunkelten. Die Menschenzoos waren also Teil eines breiter angelegten Versuchs, sich wieder der eigenen Identität zu versichern.
Im Falle der sowohl imperial als auch kolonial geprägten Vereinigten Staaten mit ihrer bedeutenden afro-amerikanischen Minderheit und ihren eigenen „Wilden“ – den amerikanischen Ureinwohnern –, musste die Grundidentität der Nation und des Staatsvolkes bestimmt und dabei ein rassisches Modell bestätigt werden, das in vielerlei Hinsicht auf Eugenik beruhte. In Japan finden wir einen doppelten Ansatz. Zunächst musste ein japanisches Rassenmodell entwickelt werden, in dem den Japanern deutliche Überlegenheit über die „zurückgebliebenen“ Völker der Nachbarländer bestätigt wurde. Dann sollten jene Völker zur Schau gestellt werden, die die neue Machtelite möglicherweise kolonisieren konnte, ganz besonders jene, deren Länder in geografischer Nähe zu Japan lagen, wie Koreaner, Taiwanesen, Okinawesen und Chinesen.
Die Erste Nationale Industrieausstellung in Japan fand 1877 in Tokyo statt, doch nach dem Ersten Japanisch-Chinesischen Krieg (1894-1895) wurden Ausstellungen häufiger und es gab erste „Kolonialausstellungen“. Entsprechend gab es im Jahr 1895 auf der Ausstellung in Okazaki (Kyoto) einen Pavillon mit „Exemplaren aus den auswärtigen Kolonien“ und erstmals auch einen Taiwan-Pavillon. Dies war nur ein Jahr nach der Ausstellung in Chicago, wo der Japanische Pavillon die Besucher so sehr beeindruckt und sogar die internationale Haltung zu Japan beeinflusst hatte. Dieses Muster wurde auch im Jahr 1903 bei der Fünften Nationalen Industrieausstellung in Osaka weiterentwickelt, wo die japanische Öffentlichkeit im anthropologischen Pavillon erstmals eine Ausstellung von „Eingeborenen“ und „exotischen“ Völkern aus den Kolonialgebieten zu sehen bekam. Die Aufsicht über den Pavillon – sowie über den taiwanesischen Pavillon und den Pavillon der „Kolonialexemplare“ – führte die Tokioter Gesellschaft für Anthropologie.32 In diesem Pavillon konnte das Publikum Chinesen betrachten, Ainu, Taiwanesen, Okinawesen, Koreaner, Malaien, Inder, einen Javaner, einen Angehörigen eines Turkvolkes und sogar einen Mann aus Sansibar.
In Europa legitimierten die Großmächte ihre kolonialen Entscheidungen mit Ausstellungen. Großbritannien zeigte seine Verbindung zu Indien, Frankreich tat dasselbe mit Algerien, Indochina und dem Afrika südlich der Sahara, Holland mit Niederländisch-Indien, und später Belgien mit dem Kongo, Deutschland mit Togo und Kamerun, Italien mit Nordost-Afrika und Portugal mit Ostafrika. Mittlerweile war Europa bestrebt, seine globale Dominanz auszubauen, indem es die Oberhoheit über andere „Rassen“ bean-spruchte, die ihrerseits vor einer ganz einfachen Entscheidung standen: Entweder sie wurden in ein Kolonialreich eingegliedert oder sie wurden ausgerottet. Jedes der gro-ßen Zentren westlichen Imperialismus nutzte diese Chance einer augenfällig gemachten Differenz in der Absicht, das eigene Verhalten in Übersee zu rechtfertigen.
Das fremde Fremde…
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts kam es zu einer immer stärkeren Rationalisierung und Kommerzialisierung in der Schaustellung der Differenz. Zirkusse, Jahrmärkte, Ausstellungen und Volksfeste florierten in der gesamten westlichen Welt und ganz besonders in Amerika und verschafften ihren zahlreichen Besuchern immer größeres Vergnügen und ihren Veranstaltern immer größeren Profit. Diese Begeiste-rung der Volksmassen für „Monströses“ lässt sich nicht vom Umstand trennen, dass man auf gesellschaftlicher Ebene immer mehr von unterschiedlichen Formen des Andersseins abrückte. Meisterhaft wird diese Entwicklung eines neuen Schaustellertypus’ von Guillermo Farini illustriert.33 Er erlangte als Seiltänzer und als Erfinder der „menschlichen Kanonenkugel“ Berühmtheit und positionierte sich später ganz neu als Schausteller des Abnormen und des Exotischen. Im Jahr 1879 stellte er zum Beispiel in London eine Truppe von „Zulu-Kriegern“ aus, bevor er sich dann auf das Zurschaustellen von „Buschmännern“ spezialisierte, die er höchstpersönlich aus der Kalahari holte. Nach einem weiteren Kurswechsel leitete er eine Truppe schwarzgesichtiger Minstrels – weißer Sänger mit dunklem Make-up – die die ganze englischsprechende Welt bereisten, inklusive Südafrika. Farinis persönliche Entwicklung – vom Zirkus über Völkerschauen bis zu den Minstrel-Shows – bildete im Kleinen die Entwicklung ab, die das ganze Genre um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nahm.
Das Konzept der „Abnormität“ änderte sich mit der Entstehung der Völkerschauen.34 Natürlich war das Zurschaustellen des Abnormen spätestens seit dem 16. Jahrhundert Teil der Populärkultur gewesen, doch kam es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie wir bereits betonten, zu einer neuen Blüte.35 So wurden die Merkmale des radikal Andersartigen durch die Völkerschauen auf größere Bevölkerungsgruppen ausgedehnt und wurden nun nicht mehr nur „missgestalteten“36, sondern auch „exotischen“ Menschen zugeschrieben.
In einem dialektischen Prozess wurde die Distanzierung vom „Anormalen“ am Ende des 18. Jahrhunderts dadurch gesteigert, dass die Normabweichung anhand von „Freaks“ und „Abnormitäten“ verstärkt sichtbar gemacht wurde.37 Siamesische Zwillinge38, die „Letzten Azteken“39, die beiden „Wilden aus Borneo“40, der „Menschenfressende Krieger aus Dahomey“41 und Truppen von „Albino-Afrikanern“ stellten eine Verbindung zwischen der Welt der „Freaks“ und der Welt der fremden Völker dar. Diese Attraktionen wurden durch Barnum42 und andere Impresarios mittels passender Kostümierung und passendem Bühnenbild sorgfältig in Szene gesetzt, so dass die Zugehörigkeit der zur Schau gestellten Individuen zu „unzivilisierten Kulturen“ mehr oder minder implizit kommuniziert wurde.43 Hierdurch öffneten sich neue Räume für die Ordnung der Welt.
Obwohl die formalisierte Andersartigkeit in den Völkerschauen als anthropologische Notwendigkeit gesehen werden kann, ermöglichte sie auch die Entwicklung von Stereotypen. Diese Ausdehnung und Neudefinition radikaler Differenz verstärkte sich ihrer Natur nach selbst immer mehr. Völkerschauen waren ja als neue Räume zur Schaustellung der Differenz die jüngsten Produkte eines langen Prozesses, der im 18. Jahrhundert begonnen und dazu geführt hatte, dass geistig und körperlich behinderte Menschen aus der Gesellschaft ausgeschlossen und in Asylen weggesperrt wurden.44 Diese Abspaltung veränderte ganz tiefgreifend das Gesicht ländlicher und städtischer Gesellschaften, in denen solche Individuen zuvor eine zwar minoritäre, aber doch gesellschaftlich legitime Stellung als Vermittler zwischen irdischer und göttlicher Welt innegehabt hatten. Der Umstand, dass die Normabweichung aus dem Zentrum der Gesellschaft verschwand, steigerte aber noch die Notwendigkeit, eine neue Form des Andersseins zu zeigen. Das Anderssein war nicht einfach ein Zustand. Es war ja gerade dieses Fremde, das der Assimilierung widerstand und das die Herausbildung einer sozialen, kulturellen und physischen Identität ermöglichte.
So erweckte um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Ausstellung eines „Menschenfressers aus Ozeanien“ in London oder der „Affen-Frau“ im Pariser Luna Park einen ebenso großen – wenn nicht noch größeren – Nervenkitzel wie der „Rüssel-Mann“, der „Liliputaner“ oder die „Schweine-Frau“, denn diese Darbietungen legten nahe, dass ein ganzes Volk diese physischen, kulturellen oder geistigen Merkmale teilte. Die Völkerschauen nahmen Abstand von der Zurschaustellung von Ausnahmen oder Fehlern der Natur, stattdessen zeigten sie die außergewöhnlichen Normen der nicht-westlichen Welten, jener Welten, die bald beherrscht, kolonisiert und verändert werden mussten.
Der Kolonialismus war ein Teil dieses Strebens nach Uniformität, dessen Ziel es war, die Welt nach dem Abbild des Westens neu zu schaffen und den „Wilden“ ebenso verschwinden zu lassen, wie der „Krüppel“ und die „Missgestalt“ bereits verschwunden waren. Dieses Projekt basierte auf westlicher Vernunft und auf der Utopie wissenschaftlicher Transparenz, die verleugnet, dass es ein Anderes geben muss, das in dem, was wir nicht sind, das bezeugt, was wir sind.
Heute kann man sich schwer vorstellen, welche Sogwirkung die Inszenierung von Jahrmarktsattraktionen in der visuellen Kultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgeübt hat. Zwar können wir, wie Gilles Boëtsch in diesem Band betont, kaum wissen, wie die große Mehrheit der Besucher auf diese Ausstellungen reagierte, da diese Publikumsreaktionen ja in keinerlei Form festgehalten wurden, aber dennoch verfügen wir über drei wertvolle Indikatoren. An erster Stelle sind hier die eindrucksvollen (und profitablen) Verkäufe von Postkarten zu nennen, die die ausgestellten Personen an den Ausstellungsstätten zeigten. Dann gab es in der nationalen und lokalen Presse eine gleichbleibend hohe Anzahl von Artikeln über solche Ausstellungen. Und schließ-lich wurden alle Arten von Veranstaltungsstätten – behelfsmäßige Bühnen für eine Wandertruppe ebenso wie Theater oder offizielle Ausstellungsareale – von einer konstant hohen Anzahl von Besuchern aufgesucht.
Ein Beitrag zur Massenkultur
Solch quantifizierbare Informationen zeigen deutlich, wie populär diese Shows waren45, auch in kleineren Städten46, und der finanzielle Profit, den sie ihren vielen Veranstaltern brachten, ist offensichtlich. Die Quellen belegen, dass diese Ausstellungen bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs immer höheren Profit abwarfen, und dass die zunehmende Anzahl von Truppen und von Weltausstellungen oder Internationalen Ausstellungen ab den 1880er-Jahren bewirkte, dass das Publikum zehnmal häufiger Gelegenheit hatte, „exotische“ Menschen zu sehen.
Noch unbeantwortet ist jedoch die komplexe Frage, wie eben dieses Publikum über die Ausstellungen dachte. Wir verfügen ja über keinerlei Dokumente, die uns Anhaltspunkte hierüber geben könnten. Es scheint, dass nur eine sehr geringe Anzahl jener Menschen, die damals derartige Ausstellungen besuchten oder darüber schrieben, ihnen kritisch gegenüberstanden. Hier gab es jedoch einige wenige Ausnahmen: in Frankreich äußerten sich einzelne Intellektuelle und Kolonialbeamte kritisch, in den Vereinigten Staaten erhoben einige religiöse Gruppen Einwände und in Großbritannien gab es einzelne Gruppen, die sich gegen Sklaverei wandten. Zum Beispiel kritisierte Louis-Joseph Barot, ein französischer Autor, der viel über das Afrika südlich der Sahara und die französischen Kolonialaktivitäten schrieb und später Bürgermeister von Angers wurde, „ethnografische Ausstellungen“, weil sie den Auftritt von Afrikanern als Maskerade inszenierten. Seiner Ansicht nach waren solche Ausstellungen nichts als „grobe Karikaturen“, in denen „einzelne Exemplare der menschlichen Gattung neben Kunststückchen ausführenden Hunden und anatomischen Kuriositäten“ zur Schau gestellt wurden.47 Und im Jahr 1902 schrieb er, dass man
„Schwarze nicht nach den Exemplaren beurteilen sollte, die in den Dahomey-und Senegal-Dörfern, deren Tourneen durch europäische Städte so heftig beworben werden, zu sehen sind.“
Hinsichtlich der Rezeption durch das breite Publikum können wir – auch wenn wir anerkennen, dass derartige Quellen nur in gewissen Grenzen verwendet werden können – aus Zeitungsartikeln ein Spektrum von Meinungen rekonstruieren, das, wie verschiedene Beiträge in diesem Band zeigen, die Publikumsreaktionen offenbar gut widerspiegelt. Als erstes fällt auf, dass ein Widerstand gegen diese Art von Schaustellungen die Ausnahme gewesen sein dürfte und wenn es ihn gab, so nur unter besonderen Umständen, etwa wenn Männer oder Frauen ausgestellt wurden, die ganz offensichtlich krank waren, oder wenn sie infolge ihrer rauen Schaustellungsbedingungen starben. Die meisten Journalisten akzeptierten diese Ausstellungen und gaben ein nuanciertes Spektrum von Publikumsreaktionen – von offener Verachtung bis zu ernst-hafter Bewunderung – wieder.48
Auch wenn diese Ausstellungen heute im Konzept und in der Ausführung schockie-rend erscheinen mögen, so spiegelten sie doch in großem Maße die damals aktuellen Vorstellungen wider. Jede Analyse der negativen Aspekte der in ihnen zum Ausdruck kommenden Einstellung gegenüber den Fremden sollte dies berücksichtigen. Auf praktischer Ebene gibt es viele Hinweise darauf, dass ausgestellte Personen gelegentlich grausam behandelt wurden. So stoßen wir – äußerst selten – auf den Gebrauch von Käfigen, häufiger auf den Gebrauch von Drahtzäunen, die Zuschauer und ausgestellte Personen trennen und schützen sollten, wir erfahren vom Tod ausgestellter Personen, von den dramatischen Bedingungen, unter denen manche der Truppen lebten, von Selbstmorden während der Tournee oder bei Rückkehr der zur Schau gestellten Individuen in ihre Heimat, sowie von schweren Traumen.49 Wir hören von der Unterbringung direkt an der Ausstellungsstätte oder in Tiergehegen50, von Gruppen, die gewaltsam gefangen genommen51 und gegen ihren Willen abtransportiert wurden. (Letzteres waren Einzelfälle52, die im 20. Jahrhundert nicht mehr vorkamen.) Wir hören, dass ganze Truppen durch einen Einzelagenten rekrutiert und unter einem einseitigen Gruppenvertrag engagiert wurden. Wir erfahren von Untersuchungen, die bei den Ausstellungen an lebenden oder toten Körpern vorgenommen wurden.53 Wir erfahren, dass unter den Ausgestellten auch Kinder waren, und lesen Berichte über öffentliche Geburten bei den Völkerschauen. Wir erfahren von Frauen, die in den „Eingeborenen-Dörfern“ absichtlich unbekleidet ausgestellt wurden. Obwohl die Todesfälle, die es 1897 in Tervuren, 1892 in Paris (unter den Kaliña) und 1896 in Barcelona gegeben hat, ebenso wie die Pockenepidemie in Chicago 1893 und die dramatischen Berichte über die „Hottentottische Venus“54, über Ota Benga55 und die 1883 am italienischen Hof ausgestellten „Pygmäen“56 bewiesene Tatsachen sind, sollten uns diese Beispiele doch nicht dazu verleiten, diese Todesfälle ausschließlich den grausamen Lebensbedingungen, die sich in ihnen widerspiegeln, zuzuschreiben.
Sehr bald wurden zwei Faktoren wirksam, die die Bedingungen, unter denen die „Darsteller“ engagiert wurden, veränderten. Zunächst erkannten die Veranstalter, dass Kranke der finanziellen Prosperität ihrer Unternehmen noch abträglicher waren als Tote. Sie brachten die Ausstellung ins Gerede und lösten unter den ausgestellten Individuen Misstrauen, bisweilen auch Auflehnung, aus, ganz zu schweigen von der öffentlichen Unruhe wegen möglicher Ansteckungsgefahr und spontanen Mitleidsbezeugungen. So entwickelte sich ein selbstregulierendes System, das das Schlüsselkapital dieser Ausstellungen – die zur Schau gestellten Personen – schützte. Dies sehen wir an Hagenbecks Reaktion auf den Tod einer ganzen Truppe von Eskimos (Inuit) und vieler Feuerländer. Danach ließ er die von ihm zur Schau gestellten Personen impfen. Als er „Eingeborenen-Dörfer“ auf eine Tournee durch Frankreich schickte, achtete er auch darauf, diese Impfungen unmittelbar nach der Ankunft der Truppe in jeder Stadt öffentlich bekannt zu machen. Dieses Publikmachen der Impfung sollte zeigen, unter welch guten Bedingungen die „Eingeborenen“ lebten, sollte aber auch die Zuseher in Bezug auf ihre eigene Gesundheit beruhigen und vor allem gewährleisten, dass die Ausgestellten nicht Träger irgendwelcher infektiöser Krankheiten waren.
Der zweite Faktor, der die Bedingungen für die zur Schau gestellten Individuen verbesserte, war die wachsende praktische Erfahrung der Veranstalter im Umgang mit unzufriedenen Darstellern und in der Rekrutierung ganzer Familienverbände (samt Kindern). Man meinte ja, dass die Anwesenheit von Familienmitgliedern Rebellion verhindern und die Bindung an die Truppe stärken würde. Eine Folgewirkung hiervon war, dass die Ausstellungen für Zuschauer attraktiver wurden. Schließlich trafen auch einige Kolonialbehörden gesetzliche Vorkehrungen gegen die Rekrutierung von „Wilden“. Dies geschah 1897 in Belgisch-Kongo, 1910 in den deutschen Kolonien und 1931 im französischen Kolonialreich. Andernorts wurden besondere Institutionen zur Überwachung der Organisation solcher Ausstellungen eingesetzt, etwa 1893 in den Vereinigten Staaten und 1906 in Frankreich.
Die Truppen wurden schnell professionell und ab den 1880er-Jahren schlossen sie Verträge mit den Rekruteuren ab, wobei die Darsteller häufig durch eine dritte Person vertreten wurden. Der Einsatz von Verträgen macht deutlich, dass man jetzt von gemeinsamen Interessen ausging und dass es eine neue Beziehung zwischen Veranstaltern und den Personen auf der Bühne gab. Wenn diese Beziehungen auch ungleich und ausbeuterisch blieben, so gab es doch einige Truppen, die zusätzlich zu den ihnen vertraglich zugesicherten Löhnen noch besondere Arbeitsbedingungen verlangten: sie verweigerten den Auftritt bei Schlechtwetter, streikten, um höhere Bezahlung zu erlangen, verlangten eine Beaufsichtigung der Tiere an Ruhetagen und forderten die Zahlung von Prämien für alle zusätzlichen Auftritte. Impresarios konnten aufgrund unterschiedlicher gesetzlicher Bestimmungen strafrechtlich verfolgt werden.
So wurden wirtschaftliche Interessen – wenn auch ungleich – geteilt. Von nun an reisten die Truppen bereitwillig von Ort zu Ort, planten die unterschiedlichen Rollen, die ihnen zugeschrieben wurden – „Kannibalen“ hier, „kriegerische Eingeborene“ dort, oder parodistische Wilde auf einer Varieté-Bühne – und illustrierten so die Phantasien und Projektionen, die das westliche Denken jener Zeit um das Konzept des „Wilden“ gesponnen hatte. Manche Truppen waren einige Jahre lang auf Tournee und „Häuptlinge“ – wie zum Beispiel Mamdou Seck – standen reihum mehreren Dörfern vor, überquerten den Atlantik, reisten von einem Land ins nächste und gaben ihr Wissen an ihre Nachfolger weiter. Die Bezeichnung „Eingeborenen-Darsteller“ wurde um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert für einen Beruf verwendet, den pro Jahr durchschnittlich 2.000-3.000 Personen in etwa zwölf betroffenen Ländern ausübten.
Offenbar entwickelte sich ein echtes Wirtschaftssystem, an dem zahlreiche Personen beteiligt waren: in Afrika, Asien, Ozeanien und Südamerika waren Rekruteure und Transportunternehmer tätig, Vermittler traten mit den städtischen Behörden in Kontakt, Ausstellungsveranstalter stellten Truppen zusammen, jede mit einem eigenen „Häuptling“ und mehreren „Dorfbewohnern“ (jeweils mit Familie). Hinzu kamen noch lokale Wirtschaftstreibende, die das Dorf bauten.
„Die indigenen Einwohner der Kolonialgebiete, die neben allen Arten von Objekten und Produkten ausgestellt wurden, gehörten bald zum Kernbestand internationaler Ausstellungen. Sie sollten westlichen Bürgern zur Belehrung und Unterhaltung dienen.“57
Alles in allem wurden während nur eines halben Jahrhunderts 20.000 – 25.000 Darsteller aus allen Teilen der Welt in dieser Form im Westen ausgestellt.
Die Ähnlichkeit zwischen den Ausstellungsmodellen und der schematischen Wahrnehmung der „Exotik“, wie sie in der nördlichen Hemisphäre verfügbar war, verdeutlicht den im Westen ablaufenden Prozess kultureller Projektion und Homogenisierung. Die Beiträge in diesem Band zeigen, dass die Schaffung eines imaginären Konstrukts einer auf Differenz basierenden Fremdartigkeit die große Kolonialisierungsbewegung der europäischen Mächte sowie den japanischen und amerikanischen Imperialismus nicht nur begleitete, sondern diesen Entwicklungen bisweilen auch vorauseilte. Es lässt sich daher argumentieren, dass die Schaustellungen „exotischer“ Völker nicht nur eine Folge des Imperialismus waren, sondern eher eine seiner kulturellen Vorbedingungen, da sie die Unterlegenheit bestimmter Menschengruppen augenfällig machten und auf diese Weise deren künftige Unterwerfung legitimierten.
Tatsächlich wird man beim Lesen der folgenden Kapitel feststellen, dass ab dem 19. Jahrhundert die wilden Tiere, die einigen Anspruch auf Exotik erheben konnten58, und die wenigen Bewohner ferner Länder, die den westlichen Eliten zur Zerstreuung dargeboten worden waren, durch „Menschenexemplare“ ersetzt wurden, die familien- oder gruppenweise eine Rasse (oder ein Volk) repräsentierten, meist in „authentischer“ Umgebung oder Kulisse ausgestellt. Diese Praxis war in beinah zwölf Ländern Asiens und Europas sowie in den Vereinigten Staaten weit verbreitet und betraf ungefähr zwanzig weitere Länder in geringerem Maße, wie die wegbereitenden Forschungsarbeiten von Bernth Lindfors59 und Raymond Corbey60 zeigten und die Untersuchungen in diesem Band deutlich bestätigen. Diese Praxis war damals also durchaus keine Randerscheinung. Sie war Teil der Entwicklung der Massenkultur rund um die Ausweitung unterschiedlicher Kommunikationsformen wie Zeitschriften, Ausstellungen und 61