Barbara Traber
Tödliche Seilschaft
Eine Liebe in Südtirol
Ausgewählt von Claudia Senghaas
Personen und Handlung sind frei erfunden.
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Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Christoph Neubert
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © aussi97 / photocase.com
ISBN 978-3-8392-3902-5
Es ist eine alte Geschichte,
Doch bleibt sie immer neu;
Und wem sie just passieret,
Dem bricht das Herz entzwei.
Heinrich Heine (»Buch der Lieder«, 1827)
An einem warmen Junimorgen fuhr Eva mit dem Zug nach Basel. Alex kam von Frankfurt her mit dem Auto. Sie hatten vereinbart, sich im Bahnhofsbuffet zu treffen. Mindestens ein halbes Jahr hatten sie sich nicht gesehen, kannten sich noch kaum. Trotzdem hatte sie zugesagt, den Sommer mit ihm in Südtirol, der Gegend, von der er ihr vorgeschwärmt hatte und die er als seine eigentliche Heimat bezeichnete, zu verbringen. Ein Wagnis? Kaum, sie hielt es für selbstverständlich, denn sie hatte sich verliebt in den wilden Naturburschen und nahm an, sie würden zusammenbleiben. Für immer und ewig.
Ihr Herz begann heftig zu klopfen, als sie im hohen Saal des Bahnhofsrestaurants saß, Kaffee bestellte und auf Alex wartete. Würde er kommen? Worauf hatte sie sich eingelassen? Auf ein Abenteuer? Und würde sie ihn nach so langer Zeit wiedererkennen, den mehr oder weniger Unbekannten? Ganz fremd war er nicht, aber was genau wusste sie über ihn, und weshalb vertraute sie ihm? Sie hatten sich erst zwei Mal gesehen, sich in Rom ein einziges Mal geküsst und nachher lange Briefe ausgetauscht, bis sie eingewilligt hatte, mit ihm zu verreisen.
Plötzlich stand er in der Pendeltür des Restaurants. Sie erkannte ihn auf den ersten Blick. Er kam etwas zögernd auf sie zu, sah müde, angespannt aus und erklärte, die Fahrt habe länger gedauert als angenommen, der Bahnhof sei nicht leicht zu finden gewesen. Umarmte er sie spontan, küsste er sie oder gab er ihr nur die Hand? Sie konnte sich später nicht mehr an die ersten Momente des Wiedersehens erinnern, auch kaum mehr, ob sie sich wirklich gefreut oder ihr Herz eher aus lauter Nervosität und Spannung, einer Art Lampenfieber, heftig geklopft hatte – wie vor einer Theaterpremiere, in der sie die Hauptrolle spielte und den Text immer noch nicht auswendig konnte.
»Und jetzt, wohin gehen wir?«, fragte er.
»Auf der andern Seite des Bahnhofs könnten wir draußen auf der Terrasse sitzen«, schlug sie vor.
Alex! Da war er nun. Endlich. Nach dem wochen-, ja monatelangen Warten hatte sie ihn vor sich, den Ersehnten, nur aus Briefen Vertrauten. Er erzählte von der unausstehlichen Hitze in Saudi-Arabien, von seinen letzten Tagen mit dem Auto kreuz und quer durch Europa, um geschäftliche Angelegenheiten zu erledigen – und von seiner Vorfreude, sie wieder zu sehen und ihr das Klettern beizubringen.
Während er lebhaft auf Eva einredete, schaute sie ihn unverwandt an: schmales, kantiges, energisches Gesicht, blaue Augen, schmaler Mund, zerzaustes braunes Haar. Hatte sie ihn sich so vorgestellt oder sich ein falsches Bild von ihm gemacht? Dem Foto, das sie ständig mit sich herumgetragen hatte, sah er jedenfalls sehr ähnlich. Nur war es jetzt kein Traum mehr, jetzt galt es ernst; sie musste sich in der nächsten Minute auf den Mann einlassen, der sie fragend, auch etwas unsicher anschaute. Warum nahm er nicht zärtlich ihre Hand, wie sie das erwartet oder ersehnt hatte, sondern saß eher steif ihr gegenüber?
Einen Moment kam er ihr fremder vor als jeder andere Mensch im Lokal, und Panik ergriff sie. Sollte sie weglaufen – in die Freiheit? War alles nur ein Missverständnis? Aufstehen, sich entschuldigen, auf die Toilette gehen und nicht zurückkommen, sondern in den nächsten Zug einsteigen und nach Hause fahren … Blitzschnell ging ihr das durch den Kopf, und sie musste sich rasch entscheiden: Flüchten oder standhalten.
Sie blieb wie angewurzelt sitzen, trotz ihres Zögerns, ihrer leisen Befürchtung, das Falsche zu tun. Hielt sie Neugier, Abenteuerlust zurück, wollte sie deshalb die Herausforderung annehmen, sich auf diesen Menschen einzulassen? Oder war sie nur liebeshungrig, voller Illusionen und ein Stück weit naiv? Vermutlich, nun Mitte 20, immer noch das junge, verträumte Mädchen, das von einem Happyend träumte, ein hoffnungsloser Fall. Eine leichte Beute für einen Mann, der seinen Urlaub in den Bergen nicht allein verbringen wollte.
Eva setzte alles auf eine Karte. Jetzt gab es kein Zurück mehr, das wusste sie.
Selten fühlt man sich so fremd wie in einer unbekannten Stadt, in die man nicht gereist ist, um Urlaub oder Ferien zu verbringen, sondern um zu arbeiten, zu schreiben. Als würde man in eine andere Welt versetzt. Man sieht alles zum ersten Mal, ist offen für Neues. Nach dem Schleppen der schweren Koffer und der zehnstündigen Fahrt durch halb Österreich hatte Eva endlich vor dem modernen, großen Gebäude des Literaturhauses gestanden, in dem sie Gast sein durfte. Vom Atelier im dritten Stock in einer ehemaligen Teppichfabrik mit einer breiten Fensterfront, das nun für einen Monat ihr Zuhause sein würde, sah sie auf die nicht wirklich blaue Donau.
Am nächsten Morgen wurde sie sehr früh wach. Vogelgezwitscher, kaum Verkehrslärm. Kaffee kochen und trotz leichten Regens auf Entdeckung gehen. Sie schritt los Richtung Krems, durch die autofreie Innenstadt, dann landete sie irgendwo an der Donau und wusste einen Moment nicht mehr, in welcher Richtung die Doppelstädte Krems/Stein lagen. Sie ging und ging, fremd in einer fremden Gegend, die Füße begannen zu schmerzen – bis sie auf einmal Kirchtürme sah: Krems. Durch den Stadtpark – und zurück gegen das einstige Kapuzinerkloster »Und« (kein Witz, es hieß so, der Name stammte vom lateinischen unda, Wasser, Welle). Sie gelangte zur sogenannten Kunstmeile und weiter ins Städtchen Stein und kaufte in der nostalgisch anmutenden Post Briefmarken.
Wolfgang Kühn las bei einer Buchvernissage in einem Gasthof in Stein seinen witzigen Text »Zum Zugfahren mutiert«. Er erzählte, wie er sich mit 25 einer Disziplin stellen musste, die ihn nie wirklich interessiert hatte: dem Autofahren! Seit der »Meisterprüfung« im Autofahren war er aus Überzeugung auf den Zug umgestiegen. Und wie er das las! Mit jugendlichem Charme und viel Humor.
Eva kam nach der Lesung am runden Tisch ins Gespräch mit mehreren Leuten, treuen Besucherinnen des Unabhängigen Literaturhauses. Sie fragten sie zum Thema Mundart aus und schienen höchst erstaunt, dass sie keine Mühe hatte, den hiesigen Dialekt zu verstehen. Zwar nicht jedes Wort, es gab viele ungewohnte, fremde Ausdrücke und Begriffe selbst in der österreichischen Hochsprache, die sie sammelte wie Muscheln am Meer.
Autofahren und der österreichische Tonfall. Beides ließ sie an eine fast vergessene Liebesgeschichte denken, die auf einmal ganz nah zu sein schien, obwohl sie sich in Südtirol abgespielt hatte – nicht in der Wachau.
Die Autobahn zwischen Karlsruhe und München in jenem Juli. Alex, ihr Freund, wollte seinen Zweitwagen, einen roten Ford mit arabischen Nummernschildern, von einer Garage in Karlsruhe nach München bringen.
Für den Transport nach München brauchte er ihre Hilfe. Sie habe ja schließlich einen Führerschein, das sei doch kein Problem für sie, meinte er und zwinkerte ihr aufmunternd zu. Eva wurde sofort mulmig zumute. Sie gestand ihre Angst vor dem Autofahren ein, aber Alex fand ihre Einwände und Befürchtungen, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein, lächerlich. Schon sehr lange, seit Jahren sei sie nicht mehr gefahren und der Ford mit Steuerradschaltung ihr ungewohnt, gab sie zu bedenken. Umsonst. Alex erwartete von ihr, dass sie alles mitmachte. Sie hatte immer betont, sie sei ein Kumpel zum Pferdestehlen – und sie wollte ihn jetzt nicht enttäuschen, sondern beweisen, wie mutig sie sein konnte. Mutig oder eher unverantwortlich?
Was für eine verrückte Idee, den Wagen auf der Autobahn mehrere 100 Kilometer weit zu chauffieren! Zudem hatte der Mechaniker etwas nervös erklärt, das Auto verliere viel Öl, etwas stimme nicht, und er murmelte Unverständliches, den Motor betreffend. Bis München sei die Fahrt gerade noch zu schaffen, für längere Strecken könne er keine Garantie geben. Zudem empfehle er, eine Stunde zu warten, bis der Abendverkehr etwas abgenommen habe, um diese Zeit gebe es meist unangenehme Staus auf der Autobahn.
Mit zitternden Knien und unsicherem Gefühl setzte Eva sich in den ungewohnten Wagen. Es sei ein Kinderspiel, ihm nachzufahren, behauptete Alex.
Ich bin stark und kann das, ich darf Alex jetzt nicht enttäuschen! sagte sie immer wieder halblaut, um sich zu beruhigen. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, ihr Magen verkrampfte sich, und sie befürchtete, sie müsste sich demnächst übergeben.
Verkehrsampeln, Abzweigungen, Handzeichen von Polizisten, eine unendlich lange Kolonne von Autos vorne und hinten, Hupen und Kopfschütteln, wenn sie bei Grün nicht sofort weiterfuhr. Ständig sausten große, schnelle, starke Personenwagen auf der Autobahn an ihr vorbei, dann wieder musste sie schwere, langsame Lastwagen überholen, damit sie den Taunus ihres Freundes nicht aus den Augen verlor. Sie konnte nicht einmal mehr darüber lächeln, wie ungeschickt, zaghaft und ängstlich sie sich anstellte. Das ständige Auf und Ab der Fahrbahn machte sie beinahe schwindlig, und in der Dämmerung begann es plötzlich heftig zu regnen.
Sie saß verspannt am Steuer und schwitzte. Nach langem Suchen auf dem Armaturenbrett gelang es ihr, die Scheibenwischer anzustellen, aber das Abblenden der Scheinwerfer machte ihr Mühe. Immer wieder verschwand Alex’ Wagen vor ihr, und sie fühlte sich dann minutenlang entsetzlich allein und verloren, schutzlos den Gefahren der Straße ausgesetzt. Stoßgebete nützten nichts. Sie litt Höllenqualen, musste durchhalten – sonst würde sie umkommen auf dieser Autobahn, die sie aus tiefstem Herzen hasste.
Sie wollte doch leben, gerade jetzt. Ihre Hände umklammerten das Steuerrad, als stünde sie am Rand eines Abgrunds.
Kurz vor Ulm zweigte Alex endlich in eine Ausfahrt ab. Sie nahmen ein Zimmer in einem Motel. Eva fiel nach der furchtbaren Fahrt erschöpft in tiefen Schlaf. Doch auch im Traum fuhren riesige Trucks, denen sie nicht ausweichen konnte, ununterbrochen auf sie zu.
Selbst nach Jahrzehnten hatte sie das Trauma dieser Fahrt nicht ganz überwunden, hatte nicht vergessen, wie überfordert sie sich gefühlt und wie einzig ihre Verliebtheit sie angetrieben hatte, am nächsten Morgen noch einmal ins Auto zu steigen und bis München zu fahren, in eine Garage. Höchste Zeit, denn der Ford, der andauernd Öl verlor, musste dringend repariert werden. Eine Tollkühnheit, sich mit ihrer geringen Fahrpraxis ans Steuer eines fremden Wagens zu setzen, überlegte Eva. Heute würde sie das strikt ablehnen, eine solche Verrücktheit auf keinen Fall mehr mitmachen. Nur um der Liebe willen?
Der Auftakt zu ihrem gemeinsamen Sommer schien rückblickend weit gefährlicher als später sämtliche Kletter- und Hochtouren in den Dolomiten. Von Emanzipation oder Mut, zu ihrem Unvermögen zu stehen und sich entsprechend zu wehren, leider keine Spur. Sie passte sich schweigend an, nahm alles, selbst Lebensgefahr, in Kauf, weil sie Alex nicht verlieren wollte. Blind vor Liebe. Blöd aus Verliebtheit.
Heute würde sie einen solchen Mann zum Teufel schicken! Würde laut herauslachen über eine solch unsinnige Forderung – und sich vor allem kein bisschen schämen über ihre Ungeschicktheit und ihre Ängste beim Autofahren, hoffte sie.
Jahrelang wiederholte sich derselbe Alptraum, aus dem sie jedes Mal schweißnass erwachte: Ein Crash auf der Autobahn! Sie sah pausenlos Personen- und Lastwagen mit unheimlicher Geschwindigkeit auf sich zurasen, konnte weder ausweichen noch bremsen und wusste: Im nächsten Moment wird es krachen, und ich werde unter einer Blechlawine begraben sein! Die Angst, eines Tages auf einer Autobahn zu sterben oder schlimmer noch, andere in Lebensgefahr zu bringen, setzte sich in ihrem Kopf fest, wurde zu einer fixen Idee. Jahrelang versuchte sie vergeblich, sich dagegen zu wehren. Auto fahren wollte sie nie mehr, die Angst vor einem Unfall war zu groß.
Dem österreichisch gefärbten, leicht näselnden, liebenswürdigen Deutsch von Alex konnte sie nicht widerstehen, und blumige Komplimente kamen ihm – jedenfalls zu Beginn ihrer Beziehung – spielerisch über die Lippen. Wortverführen ließ sie sich leicht. Aufgewachsen war er in Rom als Sohn einer einst adligen k & k-Familie ungarischer Abstammung, darum stand ein goldenes Krönchen auf seiner Visitenkarte. Zugegeben, das beeindruckte sie, vor allem, weil es ihm nicht wichtig zu sein schien und er sich eher zu den »gewöhnlichen«, den kleinen Leuten hingezogen fühlte. Er sah ohnehin eher aus wie ein einfacher Bergler, keine Spur von eleganter Kleidung; einen Anzug oder gar eine Krawatte zu tragen lehnte er ab. Äußerlichkeiten schienen ihm egal zu sein. Der Vater war Chirurg in Rom, die Mutter, eine feine, gebildete Dame, lernte sie in jenem Sommer kennen und schätzen. Von seinen zwei älteren Brüdern erzählte er nie etwas, pflegte kaum Kontakt mit ihnen. Alex blieb auch als Erwachsener das Sorgenkind der Familie, wie ihr seine Mutter einmal lächelnd gestand.
Er war eben aus der saudiarabischen Wüste zurückgeflogen, wo er als Geologe, spezialisiert auf Hydrologie, für die FAO (Food and Agricultural Organisation) in Rom im Einsatz stand. Bis über beide Ohren verliebt, versuchte sie zu verdrängen, was er gleich zu Beginn ihrer Reise nach Südtirol in einem Münchner Hotelzimmer zu ihr sagte: »Wir werden eine schöne Zeit verleben. Doch dann … Ich mag jetzt nicht daran denken.«
»Woran? Was befürchtest du?«, erkundigte sie sich, überrascht und beunruhigt vom ernsten Ton seiner Stimme.
»Ich werde nach Saudi-Arabien zurückkehren müssen. Allein. Mein Vertrag läuft erst in einem Jahr ab. Ende Sommer ist alles aus.«
»Alles aus? Nein, ich werde dich begleiten«, meinte sie beschwörend.
»Das geht nicht. Eine Frau kann dort nicht leben. Ausgeschlossen. Schon allein das mörderische Klima … Und Wasser gibt es immer zu wenig, das wäre unzumutbar für eine Frau. Außerdem bin ich meist unterwegs, mit dem Zelt, und verbringe nur die Wochenenden im Basislager. Und ich will nicht, dass du auf mich warten musst.«
»Wir werden eine Lösung finden. Mir macht es nichts aus, ohne Komfort und ohne viel Wasser zu leben. Ich bin gesund, ertrage Strapazen. Hauptsache, wir bleiben zusammen.«
»Nein, es geht nicht.«
Er presste die Lippen zusammen und zog sich in ein Schweigen zurück, das schwer zu ertragen war. Einen Moment wurde ihr fast schwarz vor Augen. Was hatte Alex ihr gerade mehr oder weniger diplomatisch zu erklären versucht? Wollte er sie nach dem Sommer loswerden? Was konnte sie tun, um ihn nicht zu verlieren und ihm ihre Liebe zu beweisen? Sie war bereit, alles mit ihm zu teilen, nicht nur schöne Ferientage, sondern auch schwierige Zeiten.
Vorerst besuchten sie in München einen Freund von Alex, Otto, einen ehemaligen Bergkameraden, der inzwischen geheiratet hatte. Stolz stellte er ihnen seine junge Frau, eine hellblonde Dänin, vor, die ihr einjähriges Kind auf dem Arm hielt und sich bald mit dem Kleinen zurückzog. Die beiden Freunde unterhielten sich pausenlos über Klettertouren in den Dolomiten, schwärmten von waghalsigen Abenteuern, und Eva, die daneben saß und ihnen zuhörte, erfuhr, Otto habe seine Kerstin vor drei Jahren in Südtirol kennengelernt.
»Kommt ihr dieses Jahr auch nach Völs?«, erkundigte sich Alex.
»Nein, meine Frau fährt lieber ans Meer, wir haben ein Ferienhäuschen in Dänemark gekauft.«
»Otto, du hast das Klettern aufgegeben? Wie kannst du nur!« Alex schien fassungslos und enttäuscht.
»Man wird älter und vorsichtiger«, erklärte Otto ruhig. »Zudem will ich Kerstin mit dem Kleinen nicht immer allein lassen. Mir gefällt es auch am Meer. Die alten, verrückten Zeiten sind vorbei, Alex. Das verstehst du wilder Geselle noch nicht. Vielleicht bald einmal?« Er zwinkerte Eva zu.
Alex am Meer? Sie konnte es sich nicht vorstellen. Seine Liebe – seine einzig wahre? – gehörte den Bergen, und sie nahm sich vor, diese Leidenschaft oder gar Sucht mit ihm zu teilen. Nur wenn sie Teil davon wurde, erhielt ihre Beziehung eine Chance.
Jahrzehnte später las sie in einem Interview mit einem Chefarzt, dessen Hobby das Klettern und Bergsteigen war, es sei wie in der Liebe. Auch die suche man immer wieder gegen jede Vernunft. Beim Klettern erreiche man einen Ausnahmezustand, der so intensiv sei, dass einem etwas fehle, wenn man lange keinen solchen Kick mehr erlebte. Das Gefühl, auf ganz hohem Anforderungsniveau alles selber zu kontrollieren und die Aufgabe zu bewältigen, sei wunderbar. Das »Flash« setze jeweils kurz vor dem Gipfel ein, ein unglaublich intensives Glücksgefühl im ganzen Körper, er kenne keinen anderen ähnlich intensiven Zustand.
Sie musste und wollte Alex in den nächsten Monaten beweisen, dass sie nicht verwöhnt oder heikel war. Dass sie es klaglos auf sich nahm, ohne Komfort zu leben und sich im Völser Weiher zu waschen. Das kleine Holzhaus, von dem ihr Alex vorgeschwärmt hatte und in dem er mit ihr wohnen wollte, konnte romantischer nicht sein, fand sie. Ideal für den Rückzug eines verliebten Paares, das sich selber genügte.
Die Realität war dann allerdings hart: WC hinter den Büschen im Wäldchen, ab und zu ein rasches Bad im eiskalten Bergsee. Eva fühlte sich oft unwohl und schmutzig im alten, verschwitzten, zerknitterten Flanellhemd von Alex und alles andere als attraktiv in den ewig gleichen ausgebeulten Kletterhosen. Ihr blondes Haar wurde von der Sonne allmählich filzig und strähnig. Sie beneidete die Italienerinnen, die sich jeden Tag sorgfältig schminkten, modische Kleider und Schuhe mit hohen Absätzen trugen und ihrem Freund, den sie aus früheren Zeiten kannten, schöne Augen machten, was ihm sichtlich schmeichelte. Er war bis vor wenigen Jahren – oder jetzt noch? – in der Gegend als Schürzenjäger berüchtigt gewesen. Sein Ruf als einst verwegener Liebhaber ließ sich nicht verleugnen, selbst wenn er nun eine neue Freundin aus der Schweiz mitbrachte und sogar vom Heiraten sprach. Warum stellte er sie dann nicht als »Verlobte« oder »zukünftige Frau« oder Lebenspartnerin vor? Sie hätte es sich so sehr gewünscht.
Jeden Besuch bei Alex’ Mutter in einer Pension in Seis benutzte Eva dazu, in deren Badezimmer heimlich ihre Unterwäsche von Hand auszuwaschen. Sie schmuggelte die feuchte Wäsche in einem Plastiksack zum Völser Weiher hinauf und hängte sie dort an einem Kletterseil zwischen zwei Tannen zum Trocknen auf.
Ein Sommer der totalen Anpassung. Bis zum letzten Tag wollte sie jede Art Einschränkungen auf sich nehmen, das Spiel mitspielen, das sie sich selber eingebrockt hatte. Wozu? Nur um den Freund nicht zu verlieren? Um zu zeigen, dass sie mit einem schwierigen Menschen wie ihm umgehen konnte? Dass sie Verständnis für seine Krisen, seine Launen aufbrachte? Durchhalten als Liebesbeweis – wie in einem Märchen, in dem gefährliche Situationen und Prüfungen gemeistert werden müssen, damit man das Glück findet.
Was für ein Glück? Eine Ehe mit einem unsteten Menschen, der trotzdem von einer Familie samt Kindern träumte?
Eva erinnerte sich, wie Alex kam und siegte. Er hatte sie angesprochen – und sie auf der Stelle heiraten wollen. Wie im Märchen. Zuerst war sie skeptisch gewesen, hatte ihn ausgelacht: »Wir kennen uns doch überhaupt nicht!« Dann begann er ihr jedoch hartnäckig liebevolle, zärtliche, etwas unbeholfene Briefe in einer kindlich wirkenden Handschrift zu schreiben, und wenn sie die Sätze las, hörte sie seine Stimme – und wurde weich, ließ sich überreden, ihn wieder zu treffen und auf ihn zu warten.
Sie träumte sich immer mehr in das Foto hinein, das er ihr einmal geschickt hatte: Alex, der kühne Kletterer, mit seinem besten Freund Francesco auf dem Gipfel des Großglockners: groß, schlank, langbeinig, mit scharf geschnittenen Gesichtszügen, schmalen Lippen, Steigeisen an den Kletterschuhen, das Seil um die rechte Schulter geschlungen, eine Wollmütze über das kurz geschnittene, braune Haar gestülpt. Die Gletscherbrille verdeckte die blauen Augen. Das schmale Gesicht mit dem kantigen Kinn wirkte energisch, fest entschlossen; sie sah jedoch nichts Tollkühnes darin, im Gegenteil, es schien die sprichwörtliche Zuverlässigkeit des Bergführers widerzuspiegeln – und das beeindruckte sie, gefiel ihr. Er musste ein Mensch sein, dem man sich anvertrauen konnte, war sie überzeugt.
Die Ferienwochen in Südtirol, die sie planten, sollten Gelegenheit bieten, miteinander vertrauter zu werden. Hieß es nicht, auf Bergtouren lerne man einen Menschen wirklich kennen und könne sich gegenseitig prüfen?
Schon in München wurde Eva allerdings klar (obwohl sie dies lange verdrängte): Alex hatte keine gute Art, mit Menschen umzugehen. Er konnte rücksichtslos sein, ging unbeirrt seinen eigenen Weg. Und er war – äußerst geizig.
Unangenehme, geradezu peinliche Szenen kamen ihr in den Sinn:
In einem Münchner Sportgeschäft wollte sie sich mit einer Kletterausrüstung, mit Hosen, Schuhen, Pickel, Steigeisen, Gletscherbrille eindecken – und selbstverständlich mit ihrem eigenen Geld bezahlen. Alex jedoch verglich Preise, fand alles zu teuer, begann zu feilschen, als wären sie in einem orientalischen Basar. Sie schämte sich für ihn. Plötzlich forderte er sie auf: »Komm, wir finden anderswo etwas Günstigeres.« So gingen sie stundenlang von Geschäft zu Geschäft, und jedes Mal wiederholte sich dasselbe lächerliche Theater. Alex prüfte die Qualität, hatte an allem etwas auszusetzen, suchte noch Billigeres.
Sie verloren zwei Nachmittage mit der Suche nach Schnäppchen, und Eva hatte es gründlich satt. Noch nie war sie einem Menschen begegnet, der so geizig sein konnte. Auch in den Restaurants. Alex, der Knausrige, fand Trinkgeld überflüssig, und manchmal steckte Eva den Serviererinnen oder Kellnern hinter seinem Rücken einige Münzen zu, weil sie sich für ihren Freund schämte.
Sie erinnerte sich, wie ihr Vater sie in ihrer Jugend, wenn es beim Abendessen Pellkartoffeln und verschiedene Sorten Hartkäse gab, lachend aufgefordert hatte, sie solle bei der Wahl des Zukünftigen darauf achten, wie dieser die Rinde von Käse abschneide, das zeige sofort, ob er zu verschwenderisch oder zu geizig sei. Alex hätte auch noch die Rinde gegessen!
Allmählich fand sie den Grund heraus, weshalb er mit Geld nicht normal umgehen konnte: Schon als Junge gab es ständig Streit zwischen Alex und seinem strengen Vater, der wünschte, dass sein jüngster Sohn Medizin studiere. Alex weigerte sich. Er wollte von klein auf Geologie studieren, nichts anderes, das stand für ihn fest. Als der als Chirurg sehr gut verdienende Papa drohte, er werde den Sohn während des Studiums nur unterstützen, wenn er sich in der medizinischen Fakultät einschreibe, zumindest versuchsweise für einige Semester, brach Alex den Kontakt zu seinem Vater ab und flüchtete in die USA, um dort Geologie zu studieren. Er durchlebte eine harte Zeit, musste sich das Studium mühsam als Skilehrer in Colorado verdienen und rechnen, jeden Cent umdrehen. Manchmal schickte ihm die Mutter, die hinter dem Rücken des Vaters zu ihm hielt, heimlich einen Scheck.
Eva konnte deshalb Alex’ »vorsichtigen« Umgang mit Geld nachvollziehen und brachte von nun an mehr Verständnis auf für seinen Geiz. Verschiedener konnten sie als Paar jedoch kaum sein: Der Sparsame und die Großzügige. Würde das gut gehen? Und würde sie einen geizigen Partner auf die Dauer ertragen? Womöglich müsste sie später einmal als Alex’ Angetraute ein peinlich genaues Haushaltsbuch führen, überlegte sie, und über den kleinsten ausgegebenen Betrag Rechenschaft ablegen. Doch verliebt, wie sie war, und voller Vorfreude auf die gemeinsamen Ferien und aufs Klettern verdrängte sie die Gedanken an solch banale, lästige Dinge.
In der ersten Zeit ihres Schreibaufenthalts in Krems ging Eva die Geschichte jenes Sommers in Südtirol ständig durch den Kopf. Die Erinnerungen an die Zeit mit Alex bedrängten sie auf einmal wieder, obwohl sie gedacht hatte, das sei alles längst vorbei und vergessen.
Eines Tages wanderte sie von Stein aus auf den Pfaffenberg, zwei Stunden durch einen einsamen Wald, steil hinauf. Eine geradezu unheimliche Stille herrschte im düsteren, kühlen, vom morgendlichen Regen feuchten Wald. Vermutlich war seit langem kein Mensch mehr den überwachsenen, oben immer schmaler werdenden Weg gegangen.
Man fuhr hier lieber Velo auf dem Donauradweg. Ganze Heerscharen mehr oder weniger sportlicher Touristen radelten herum, verschwitzt, wie gehetzt und unheimlich ehrgeizig; manche mit einem Kilometerzähler und einer Landkarte vor sich auf einem Gestell, das wie ein Musikständer aussah. Sie nicht, nein, sie entschloss sich, zu den Außenseitern zu gehören und zu Fuß zu gehen.
Allerdings wurde der »Rundweg« auf den Pfaffenberg dann doch fast eine Kletter- oder Bergtour, und nur mit höchster Aufmerksamkeit fand sie den Weg zurück, folgte den grün-weißen, ab und zu auf die Rinde der Baumstämme gemalten Zeichen zur Orientierung, und erreichte Stein, kurz bevor ein heftiges Gewitter mit starkem Regen und Hagel einsetzte.
Immer noch die Abenteuerlustige, die Draufgängerin, dachte sie, erstaunt über ihren Mut oder eher die Tollkühnheit, allein eine solche Tour in ein ihr unbekanntes Gebiet zu unternehmen! Sie hätte sich leicht verlaufen, sich verirren, einen Misstritt machen, den Knöchel verstauchen, auf dem gefährlich schmalen, steilen Waldweg zurück nach Stein sogar abstürzen können! Man hätte sie vermutlich erst nach Tagen vermisst und nach ihr gesucht.
Das war ihr die ganze Zeit bewusst, und sie gab sich Mühe, auf jeden Schritt zu achten, langsam, vorsichtig hinunter zu steigen. Wie beim Klettern. Und sie motivierte sich laut: Gelernt ist gelernt, du kannst das. Den geringsten Anflug von Angst und Unsicherheit, den Weg nicht zu finden oder in die Tiefe zu stürzen, verscheuchte sie.
Einmal stand sie ganz oben und sah von einer Waldlichtung auf die sanfte, weite Donaulandschaft der Wachau hinunter, Richtung Melk. Eine Art Gipfelbesteigung ist das, dachte sie. Und dasselbe Glücksgefühl wie in den Dolomiten erfüllte sie, als sie später wieder in besiedeltes Gebiet zurückkehrte und unten plötzlich eine richtige Straße vor ihr lag und kurze Zeit später Häuser und Menschen auftauchten. Ein Vater spielte mitten auf der Straße mit seinem Töchterchen Federball. Sie grüßte, und er mahnte die Kleine, einen Moment zu warten, bis die fremde Wanderin vorbeigegangen war.
Sie dachte, hungrig geworden, an die pasta asciutta, die es jeweils in Südtirol in den Berghütten gegeben hatte: ein Teller heiße italienische Teigwaren, al dente, mit viel Parmesan als willkommene Belohnung nach den Mühen des Aufstiegs. An die Euphorie am Abend nach einer Klettertour, wenn die Schwierigkeiten überstanden waren. Muskelkater, schmerzende Glieder, Blasen an den Füßen – sie spürte das alles kaum mehr. Ein Glas Wein versetzte sie in einen Zustand, in dem sie gleich abheben konnte, Alex an ihrer Seite, auch er glücklich und zufrieden über den in der Stille der Berge verbrachten Tag. Nie schien das Leben intensiver und schöner als nach einer anstrengenden Klettertour. Als hätte man Drogen genommen. (Heute würde man das prosaisch als Adrenalinstoß bezeichnen, ging ihr durch den Kopf.)
Eigentlich müsste ich darüber schreiben, überlegte sie – und schon befand sie sich mitten in der alten Geschichte, die Erinnerungen ließen sich nicht mehr verdrängen.
Mit nur 24 Jahren hatte Alex sein Berufsziel erreicht, er besaß nun den Doktor in Geologie und begann sich auf Hydrologie zu spezialisieren. Er arbeitete mit an hydrologischen Projekten in Deutschland, auf der griechischen Halbinsel Peloponnes, in Arizona, in Jordanien und in der Wüste Nevada. Er veröffentlichte wissenschaftliche Berichte, erforschte Tropfsteinhöhlen und unternahm zwischendurch einige Erstbesteigungen von Gipfeln in den Colorado-Schluchten. Sein Diplom als Kletterlehrer hatte er schon in jungen Jahren in den Dolomiten gemacht und er publizierte auch Beiträge zum Thema Bergsteigen und Klettern in italienischen Fachzeitschriften.
Als Alex tatsächlich in die Schweiz reiste, um sie abzuholen, wusste Eva nicht, wie ihre Eltern, die bisher ihren amourösen Erlebnissen gegenüber eher skeptisch gewesen waren – zugegeben, meist zu Recht –, auf ihren neuen Freund reagieren würden. Erzählt hatte sie wenig über ihn, weil es noch kaum etwas zu berichten gab. Eine Visitenkarte mit Doktortitel und Adelskrönchen, das machte immerhin Eindruck.