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DER PAPALAGI

Die Reden
des Südseehäuptlings Tuiavii
aus Tiavea

Illustrationen von
Il-Young-Lee

Oesch Verlag

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3. Auflage 2012
Copyright © 2000 by Oesch Verlag AG, Zürich
ISBN 978-3-0350-2903-1

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Papalagi (sprich: Papalangi) heißt: der Weiße, der Fremde, wörtlich übersetzt aber der Himmelsdurchbrecher. Der erste weiße Missionar, der in Samoa landete, kam in einem Segelboot.

Die Eingeborenen hielten das weiße Segelboot aus der Ferne für ein Loch im Himmel, durch das der Weiße zu ihnen kam. – Er durchbrach den Himmel.

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Inhalt

Einführung von Erich Scheurmann

Vom Fleischbedecken des Papalagi

Von den steinernen Truhen

Vom runden Metall

Die vielen Dinge

Der Papalagi hat keine Zeit

Der Papalagi hat Gott arm gemacht

Der große Geist ist stärker

Vom Berufe des Papalagi

Vom Orte des falschen Lebens

Die schwere Krankheit des Denkens

Der Papalagi und seine Dunkelheit

Einführung
von
Erich Scheurmann

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Es war nie die Absicht Tuiaviis, diese Reden1 für Europa herauszugeben oder überhaupt drucken zu laßen; sie waren ausschließlich für seine polynesischen Landsleute gedacht. Wenn ich dennoch ohne sein Wissen, und sicherlich gegen seinen Willen, die Reden dieses Eingeborenen der Lesewelt Europas übermittle, so geschieht es in der Überzeugung, daß es auch für uns Weiße und Aufgeklärte von Wert sein dürfte zu erfahren, wie die Augen eines noch eng an die Natur Gebundenen uns und unsere Kultur betrachten. Mit seinen Augen erfahren wir uns selbst; von einem Standpunkt aus, den wir selber nie mehr einnehmen können. Obwohl, zumal von Zivilisationsfanatikern, die Art seines Schauens als kindlich, ja kindisch, vielleicht als albern empfunden werden mag, muß den Vernunftvolleren und Demütigeren doch manches Wort Tuiaviis nachdenklich stimmen und zur Selbstschau zwingen; denn seine Weisheit kommt aus der Einfalt, die von Gott ist und keiner Gelehrsamkeit entspringt.

Diese Reden stellen in sich nichts mehr und nichts weniger dar als einen Anruf an alle primitiven Völker der Südsee, sich von den erhellten Völkern des europäischen Kontinents loszureißen. Tuiavii, der Verächter Europas, lebte in der tiefsten Überzeugung, daß seine eingeborenen Vorfahren den größten Fehler gemacht haben, als sie sich mit dem Lichte Europas beglücken ließen. Gleich jener Jungfrau von Fagasa, die vom hohen Riff aus die ersten weißen Missionare mit ihrem Fächer abwehrte: »Hebt euch hinweg, ihr übeltuenden Dämonen!« – Auch er sah in Europa den dunklen Dämon, das zerstörende Prinzip, von dem man sich zu hüten habe, wolle man seine Unschuld wahren.

Als ich Tuiavii zuerst kennenlernte, lebte er friedlich und abgesondert von Europens Welt auf der weltfernen kleinen Insel Upolu, die zur Samoagruppe gehört, im Dorfe Tiavea, dessen Herr und oberster Häuptling er war. Der erste Eindruck von ihm war der eines massigen, freundlichen Riesen. Er war wohl an die zwei Meter hoch und von ungewöhnlich starkem Gliederbau. Ganz im Widerspruch dazu klang seine Stimme weich und milde wie die eines Weibes. Sein großes, dunkles, von dichten Brauen überschattetes, tiefliegendes Auge hatte etwas Gebanntes, Starres. Bei plötzlicher Anrede jedoch glutete es warm auf und verriet ein wohlwollendes lichtes Gemüt.

Nichts unterschied Tuiavii im übrigen von seinen eingeborenen Brüdern. Er trank seinen Kava2, ging am Abend und Morgen zum Loto3, aß Bananen, Taro und Jams und pflegte alle heimischen Gebräuche und Sitten. Nur seine Vertrautesten wußten, was unablässig in seinem Geiste gärte und nach Klärung suchte, wenn er, gleichsam träumend, mit halbgeschlossenen Augen auf seiner großen Hausmatte lag.

Während der Eingeborene im allgemeinen gleich dem Kinde nur und alleine in seinem sinnlichen Reiche lebt, ganz und nur im Gegenwärtigen, ohne jede Beschau seiner selbst oder seiner weiteren und näheren Umgebung, war Tuiavii Ausnahmenatur. Er ragte weit über seinesgleichen hinaus, weil er Bewußtheit besaß, jene Innenkraft, die uns in erster Linie von allen primitiven Völkern scheidet.

Aus dieser Außerordentlichkeit mochte auch der Wunsch Tuiaviis entsprungen sein, das ferne Europa zu erfahren; ein sehnliches Verlangen, das er schon pflegte, als er noch Zögling der Missionsschule der Maristen war, das sich aber erst in seinen Mannesjahren erfüllte. Sich einer Völkerschaugruppe, die damals den Kontinent bereiste, anschließend, besuchte der Erfahrungshungrige nacheinander alle Staaten Europas und erwarb sich eine genaue Kenntnis der Art und Kultur dieser Länder. Ich hatte mehr als einmal Gelegenheit zu staunen, wie genau diese Kenntnisse gerade in bezug auf unscheinbare Kleinigkeiten waren. Tuiavii besaß im höchsten Maße die Gabe nüchternen,vorurteilslosen Beschauens. Nichts konnte ihn blenden, nie Worte ihn von einer Wahrheit ablenken. Er sah gleichsam das Ding an sich; wiewohl er bei allen Studien nie die eigene Plattform verlassen konnte.

Obgleich ich wohl über ein Jahr lang in seiner unmittelbaren Nähe lebte – ich war Mitglied seiner Dorfgemeinde –, eröffnete sich mir Tuiavii erst, als wir Freunde wurden, nachdem er den Europäer in mir restlos überwunden, ja vergessen hatte. Als er sich überzeugt hatte, daß ich reif für seine einfache Weisheit war und sie keinesfalls belächeln würde (was ich auch nie getan habe). Erst dann ließ er mich Bruchstücke aus seinen Aufzeichnungen hören. Er las sie mir ohne jede Wucht und ohne rednerische Bemühung, gleichsam als ob alles, was er zu sagen habe, historisch sei. Aber gerade durch diese Art seines Vortrages wirkte das Gesagte um so reiner und deutlicher auf mich und ließ den Wunsch in mir aufkommen, das Gehörte zu halten.

Erst viel später legte Tuiavii seine Aufzeichnungen in meine Hand und gewährte mir eine Übersetzung ins Deutsche, die, wir er vermeinte, ausschließlich zu Zwecken eines persönlichen Kommentars und nie als Selbstzweck geschehen sollte. Alle diese Reden sind Entwurf, sind unabgeschlossen. Tuiavii hat sie nie anders betrachtet. Erst wenn er die Materie vollständig in seinem Geiste geordnet hatte und zur letzten Klarheit durchgedrungen war, wollte er seine »Missionsarbeit« in Polynesien, wie er es nannte, beginnen. Ich mußte Ozeanien verlassen, ohne diese Reife erwarten zu können.

So sehr es mein Ehrgeiz war, mich bei der Übersetzung möglichst wortgetreu an das Original zu halten, und wiewohl ich mir auch in der Anordnung des Stoffes keinerlei Eingriffe erlaubte, bin ich mir trotzdem bewußt, wie sehr die intuitive Art des Vortrages, der Hauch der Unmittelbarkeit, verlorengegangen ist. Das wird der gern entschuldigen, welcher die Schwierigkeiten kennt, eine primitive Sprache zu verdeutschen, ihre kindlich klingenden Äußerungen so zu geben, ohne daß sie banal und abgeschmackt wirken.

Alle Kulturerrungenschaften des Europäers betrachtet Tuiavii als einen Irrtum, als eine Sackgasse, er, der kulturlose Insulaner. Das könnte anmaßend erscheinen, wenn nicht alles mit wunderbarer Einfalt, die ein demütiges Herz verrät, vorgetragen würde. Er warnt zwar seine Landsleute, ja er ruft sie auf, sich vom Banne des Weißen frei zu machen. Aber er tut es mit der Stimme der Wehmut und bezeugt dadurch, daß sein Missionseifer der Menschenliebe, nicht der Gehässigkeit entspringt. »Ihr glaubet uns das Licht zu bringen«, sagte er bei unserm letzten Zusammensein, »in Wirklichkeit möchtet ihr uns mit in eure Dunkelheit hineinziehen.« Er betrachtet die Dinge und Vorgänge des Lebens mit der Ehrlichkeit und Wahrheitsliebe eines Kindes, gerät dabei auf Widersprüche, entdeckt dabei tiefe sittliche Mängel, und indem er sie aufzählt und sich zurückruft, werden sie ihm selber zu endlicher Erfahrung. Er kann nicht erkennen, worin der hohe Wert europäischer Kultur liegt, wenn sie den Menschen von sich abzieht, ihn unecht, unnatürlicher und schlechter macht. Indem er unsere Errungenschaften, gleichsam bei der Haut, unserem Äußeren, beginnend, aufzählt, sie völlig uneuropäisch und pietätlos beim nächsten Namen nennt, enthüllt er uns ein wenn auch begrenztes Schauspiel unserer selbst, bei dem man nicht weiß, soll man den Verfasser oder dessen Gegenstand belächeln.

In dieser kindlichen Offenheit und Pietätlosigkeit liegt meines Erachtens der Wert von Tuiaviis Reden für uns Europäer und das Recht einer Veröffentlichung. Der Weltkrieg hat uns Europäer skeptisch gegen uns selbst gemacht, auch wir beginnen die Dinge auf ihren wahren Gehalt hin zu prüfen, beginnen zu bezweifeln, daß wir durch unsere Kultur das Ideal unserer selbst erfüllen können. Daher wollen wir uns auch nicht für zu gebildet halten, im Geiste einmal herabzusteigen zu der einfachen Denk- und Anschauungsweise dieses Südseeinsulaners, der noch von keiner Bildung belastet und noch urtümlicher in seinem Fühlen und Schauen ist und der uns erkennbar machen hilft, wo wir uns selber entgötterten, um uns tote Götzen dafür zu schaffen.

Horn in Baden Erich Scheurmann

1 Die Reden des Südseehäuptlings Tuiavii aus Tiavea sind zwar noch nicht gehalten, doch aber gleichsam als ein Entwurf in der Eingeborenensprache niedergeschrieben, aus welcher sie ins Deutsche übersetzt wurden.

2 Das samoanische Volksgetränk, bereitet aus den Wurzeln des Kavastrauches

3 Gottesdienst

Vom Fleischbedecken
des Papalagi, von seinen
vielen Lendentüchern
und Matten

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Der Papalagi ist dauernd bemüht, sein Fleisch gut zu bedecken. »Der Leib und seine Glieder sind Fleisch, nur was oberhalb des Halses ist, das ist der wirkliche Mensch«, also sagte mir ein Weißer, der großes Ansehen genoß und als sehr klug galt. Er meinte, nur das sei des Betrachtens wert, wo der Geist und alle guten und schlechten Gedanken ihren Aufenthalt haben. Der Kopf. Ihn, zur Not auch noch die Hände, läßt der Weiße gerne unbedeckt. Obwohl auch Kopf und Hand nichts sind als Fleisch und Knochen. Wer im übrigen sein Fleisch sehen läßt, erhebt keinen Anspruch auf rechte Gesittung.

Wenn ein Jüngling ein Mädchen zu seiner Frau macht, weiß er nie, ob er mit ihm betrogen ist, denn er hat nie zuvor seinen Leib gesehen.1 Ein Mädchen, es mag noch so schön gewachsen sein wie die schönste Taopou2 von Samoa, bedeckt seinen Leib, damit niemand ihn sehen kann oder Freude an seinem Anblick nimmt.

Das Fleisch ist Sünde. Also sagt der Papalagi. Denn sein Geist ist groß nach seinem Denken. Der Arm, der sich zum Wurf im Sonnenlichte hebt, ist ein Pfeil der Sünde. Die Brust, auf der die Welle des Luftnehmens wogt, ist ein Gehäuse der Sünde. Die Glieder, auf denen die Jungfrau uns eine Silva3 schenkt, sind sündig. Und auch die Glieder, welche sich berühren, um Menschen zu machen zur Freude der großen Erde – sind Sünde. Alles ist Sünde, was Fleisch ist. Es lebt ein Gift in jeder Sehne, ein heimtückisches, das von Mensch zu Mensch springt. Wer das Fleisch nur anschaut, saugt Gift ein, ist verwundet, ist ebenso schlecht und verworfen als derjenige, welcher es zur Schau gibt. – Also verkündigen die heiligen Sittengesetze des weißen Mannes.

Darum auch ist der Körper des Papalagi vom Kopf bis zu den Füßen mit Lendentüchern, Matten und Häuten umhüllt, so fest und so dicht, daß kein Menschenauge, kein Sonnenstrahl hindurchdringt; so fest, daß sein Leib bleich, weiß und müde wird, wie die Blumen, die im tiefen Urwald wachsen.

Laßt euch berichten, verständigere Brüder der vielen Inseln, welche Last ein einzelner Papalagi auf seinem Leibe trägt: Zuunterst umhüllt den nackten Körper eine dünne weiße Haut, aus den Fasern einer Pflanze gewonnen, genannt die Oberhaut. Man wirft sie hoch und läßt sie von oben nach unten über Kopf, Brust und Arme bis zu den Schenkeln fallen. Über die Beine und Schenkel bis zum Nabel, von unten nach oben gezogen, kommt die sogenannte Unterhaut. Beide Häute werden durch eine dritte, dickere Haut bedeckt, eine Haut aus den Haaren eines vierfüßigen wolligen Tieres geflochten, das besonders zu diesem Zwecke gezüchtet wird. Dies ist das eigentliche Lendentuch. Es besteht zumeist aus drei Teilen, deren einer den Oberkörper, deren anderer den Mittelleib und deren ein dritter die Schenkel und Beine bedeckt. Alle drei Teile werden untereinander durch Muscheln und Schnüre, aus dem gedörrten Safte des Gummibaums verfertigt4, gehalten, so daß sie ganz wie ein Stück erscheinen. Dieses Lendentuch ist zumeist grau wie die Lagune zur Regenzeit; es darf nie ganz farbig sein. Höchstens das Mittelstück, und dies auch nur bei den Männern, die gerne von sich reden machen und den Weibern viel nachlaufen.

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