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edition lichtland

Für Carin

© Claus Kappl

edition Lichtland

Stadtplatz 4, 94078 Freyung

Deutschland

Umschlaggestaltung: Edith Döringer

Umschlagfoto: Georg Knaus

Foto radioactive barrels: bioraven/Shutterstock.com

ISBN: 978-3-942509-23-7
eISBN: 978-3-942509-89-3

www.lichtland.eu

Claus Kappl

ENDLAGER

Altlasten im Granit

Kommissar Kleintalers zweiter Fall

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Die Personen

Johannes Behr

Landwirt

Maria Behr

seine Frau

Christoph Behr

Sohn

Jakob Lechner

Schreiner

Dr. Hanno Bauernfeind

Polizeihauptkommissar

Johann Häusl

Polizeihauptkommissar i.R.

Georg Stiefelbeck

Polizeimeister

Thomas Höpfner

Polizeimeister

Tina Hartmann

Polizeimeisterin zur Anstellung

Otmar Papke

Diplomingenieur

Dr. Gabriele Vohland

Agraringenieurin

Felix Liggner

Schreiner

Georg Kleintaler

Polizeikommissar

Marianne Kleintaler

seine Frau

Martha Gabler

Marianne Kleintalers Tante

Handlung und Personen sind frei erfunden.

Mögliche Ähnlichkeiten mit noch lebenden Personen entspringen allein der Phantasie des Lesers.

Inhalt

Prolog

Granit

Epilog

Prolog

Die Luft roch schon nach Frieden an jenem milden Donnerstagmorgen, man schrieb den 26. April im letzten Kriegsjahr.

Der zehnjährige Johannes Behr stand fröstelnd auf der untersten Stufe jener breiten Steintreppe, die zur Stadtpfarrkirche St. Peter und Paul empor führte. Zwar schien die Frühlingssonne bereits warm vom Himmel, Johannes stand jedoch im Schatten des mächtigen Bayerwalddomes, dem Wahrzeichen der niederbayerischen Stadt Waldkirchen, und spürte die kalte Luft, die von den Granitquadern abstrahlte. Das buntkarierte, kurzärmelige Hemd und die knielange Drillichhose wärmten ihn kaum, seine kleinen Füße steckten in alten, spreißeligen Holzschuhen. Johannes fror aber noch aus einem anderen Grund, er fror aus Angst. Heimlich hatte er sich von zuhause weggeschlichen, sich vor der verhassten Stallarbeit gedrückt, fürchtete schon jetzt die drohende Strafe des jähzornigen Vaters.

Johannes wartete bereits seit einigen Minuten auf seinen Freund Jakob Lechner. Erst gestern hatten sie sich verabredet, nach der Trauungszeremonie, die gerade in der Kirche vor sich ging, dem Brautpaar symbolisch den Weg zu versperren, um sich ein paar Pfennige Taschengeld hinzu zu verdienen. Geld war rar in diesen Zeiten, aber Brautleute waren zumindest an ihrem Jubeltag großzügig. Johannes wusste mittlerweile, dass er vergeblich wartete. Sicherlich hatte der ängstliche Jakob seinen Vater um Erlaubnis für dieses Unternehmen gefragt, die dieser ihm verweigert hatte. Und mit Recht, wie Johannes sich eingestehen musste, denn seit gestern standen „die Amerikaner“, stand die 11. US-Panzerdivision am Sicklinger Berg, hatte Röhrnbach schon eingenommen, und die Besetzung Waldkirchens war nur eine Frage von Stunden. Auch er hatte Angst vor dem Kommenden, obwohl noch alles ruhig war, weder Gewehrfeuer noch Panzergeräusche zu hören waren.

Johannes, der schon recht kräftig für sein Alter war, hatte das eine Ende seines mitgebrachten Kälberstricks mit einem Stein auf der Stufe befestigt, das andere Ende hielt er in der Hand. Er blickte hinauf zur Kirchturmuhr, es war fünf Minuten vor zehn. Hinter der verschlossenen Eichentür der Kirche verklang die Orgelmusik, die Trauungsmesse war vorüber, gleich musste das Brautpaar erscheinen. Tatsächlich öffneten sich in diesem Augenblick die schweren Flügel der Kirchentür, einige eilige Besucher liefen die Treppe hinab, stürmten nach Hause aus Angst vor dem Krieg, der für sie jetzt greifbar wurde. Der kleine untersetzte Pfarrer erschien, hinter ihm das Brautpaar. Wer in diesen unruhigen Zeiten heiratete, musste Gründe haben. Johannes wusste beim Anblick der Braut, trotz seines geringen Alters, Bescheid. Das schlichte weiße Brautkleid, vermutlich von einer Freundin geliehen, spannte über dem Bauch verdächtig. Die Braut war bereits in gesegneten Umständen, „überständig“, wie der Volksmund sagte, und wollte nicht ins Gerede kommen. Ihr Ehemann, der in Waldkirchen in Friedenszeiten als Bäckergeselle arbeitete, stand in der feldgrauen Uniform der Fallschirmjäger neben ihr. Johannes erkannte dies an den Epauletten und den beiden übereinanderliegenden Adlerschwingen am Revers. Vermutlich hatte er für seine Hochzeit ein paar Tage Fronturlaub bekommen. Tage, die ihm das Leben retten konnten. Der Pfarrer gratulierte dem Brautpaar noch einmal und verschwand dann im Innern der Kirche. Langsam stiegen die frisch getrauten Eheleute die Stufen hinunter, gefolgt von nur wenigen Verwandten. Johannes zog den Strick straff und lächelte das Brautpaar an. Seine lustigen blauen Augen heischten um Verständnis, verfolgten die Hand des Bräutigams, die langsam in die linke Uniformtasche glitt, Johannes erwartete eine kleine Belohnung.

Die Hand blieb jedoch mitten in der Bewegung stehen, wurde aus der Jackentasche herausgerissen, ergriff den rechten Arm der Braut und zog sie die letzte Stufe hinunter. „Tieffliegerangriff“, schrie der Bräutigam und suchte mit seiner Ehefrau Schutz an den Mauern des gegenüberliegenden Geschäftshauses. Johannes ließ den Strick fallen und rannte die Treppe nach oben, flüchtete sich hinter die Kirchentür. Der erwartete Beschuss blieb jedoch aus, statt dessen ertönte vom Karoli-Berg her das dumpfe Feuer einer Vierlingsflak, die das amerikanische Aufklärungsflugzeug unter Beschuss nahm.

Johannes hatte zum ersten Mal den Todeshauch des Krieges gespürt. Er zitterte, war unfähig zu weinen und wusste nur, dass er schleunigst nach Hause gehen musste. Vorsichtig blickte er von seinem Versteck aus auf den Marktplatz. Kein Mensch war zu sehen, auch die Hochzeitsgesellschaft schien spurlos verschwunden zu sein. Johannes rannte die Treppen hinunter, sprang über den Marktbach und befand sich im Schutz der oberen Bürgerhäuser, als der Artilleriebeschuss des Marktes begann. Salven um Salven schlugen nun in die Häuser auf der rechten Marktseite ein. Tief geduckt hastete Johannes weiter. Der Bauernhof seines Vaters hinter der Geier-Mühle schien ihm unerreichbar weit. Beim Schreibwarengeschäft musste er links zur Passauer Straße abbiegen, aus dieser Richtung kam der Beschuss. Johannes verharrte, vernahm den pfeifenden Einschlag einer Granate im Haus gegenüber. Mauern barsten, Mörtelstaub verklebte Augen und Nase, er hustete würgend.

In diesem Augenblick vernahm er eine helle Stimme hinter sich: „Do drieben is de Nebendüre offen, gomm, da versteggen ma uns.“ Ein etwa achtjähriges Mädchen kauerte hinter ihm, Johannes wusste nicht, woher sie plötzlich gekommen war. Sie nahm ihn an der Hand und zerrte ihn zur offenen Tür des Schreibwarengeschäftes, zog ihn in das vermeintlich sichere Gemäuer. Während schweres Artilleriefeuer den Marktplatz mit Beschuss belegte, atmete Johannes auf und besah sich die Kleine, die neben ihm kauerte. Ihr schmales, blasses Gesicht, eingerahmt von rötlich blonden Locken, der Blick ihrer grünen Augen ließen ihn ruhiger werden, nahmen ihm ein wenig die Angst. Sie trug ein blaues Kleid, das aus einer alten Uniform genäht war. „Wer bist du denn?“, flüsterte Johannes.

„Ich bin die Anna“, antwortete sie in schönstem Sächsisch. „Du brauchst keine Angst zu haben, Luftangriffe habe ich in Dresden schon erlebt. Da sind wir ausgebombt worden. Deshalb hat man mich auch hierher verschickt. Ich wohne oben in einer Baracke hinter der Mädchenschule. Ich wollte gerade Brot holen.“

„Was machen wir denn jetzt?“, fragte Johannes unsicher.

„Warten bis die Amerikaner kommen. Hier sind wir sicher.“

„Ich muss aber nach Hause. Wenn ich noch länger weg bin, dann erschlägt mich mein Vater“, flennte Johannes.

„Ach was, wenn du später gesund nach Hause kommst, ist er froh, dass du überhaupt noch lebst“, antwortete Anna lächelnd.

Johannes lauschte. Das Feuer war eingestellt worden. Er sah sich in dem kleinen Flur um. Eine Steintreppe führte in das Obergeschoss, eine braune Holztür versperrte den Blick in die hinteren Geschäftsräume. Johannes stand auf und versuchte die Holztür zu öffnen. Als er seine Hand auf die Türklinke legte, zerriss ein fürchterliches Pfeifen die Luft. Das Haus erzitterte, Mauern brachen. Johannes wurde von dem Granateneinschlag unter die Steintreppe geschleudert. Mörtelstaub nahm ihm die Sicht, Gesteinsbrocken prasselten herab, er vernahm einen gellenden Schrei. Dann war es plötzlich still.

Johannes wischte sich über die Augen. Rotz und Tränen hinterließen Spuren in dem staubverdreckten Gesicht. Feucht lief es ihm die Beine hinunter. Er hustete, erbrach sich. Nach einer kleinen Weile hatte sich der Staubnebel etwas gelichtet. Sein Blick suchte nach dem Mädchen.

„Anna? Anna, wo bist du?“

Er versuchte dorthin zurück zu kriechen, wo das Mädchen noch vor wenigen Minuten gekauert hatte. Gesteinsbrocken, Teile der Granittreppe versperrten ihm den Weg. Johannes kroch darüber, sah den Ausschnitt der Seitentür, der zur Hälfte weggerissen war.

„Anna! Anna! Wo bist du denn?“, krächzte er.

„Hier!“ Ein markerschütternder Schrei zerriss die Stille.

Und dann sah er sie. Sie lag unter einem Mauerteil, verschüttet bis zum Hals. Sie musste fürchterliche Schmerzen haben, denn sie schrie wie ein zu Tode verletztes Tier.

Ihr Schrei gellte in seinen Ohren. Johannes sah das schmerzverzerrte Gesicht, der Mund eine klagende Höhle. Er schloss die Augen, nicht fähig ihren leidenden Anblick zu ertragen. Dann war sie still.

„Hilf mir, so hilf mir doch!“ Ihre Stimme wurde leiser. Johannes kroch zu ihr. Seine Hände gruben in dem Schutt, warfen Gesteinsbrocken zur Seite. Die scharfen Kanten der Steine zerrissen seine Fingerkuppen, Blut rann herab, er merkte die Schmerzen nicht. In fiebriger Hast versuchte er Anna zu befreien. Vergebens!

Erneut zerriss ein Pfeifen die Stille, die Erde erbebte, die Mauern des zerstörten Hauses erzitterten. Ein fürchterlicher Lärm durchdrang das Eckhaus. In unmittelbarer Nähe musste es zwei Volltreffer gegeben haben.

Erneut schrie das Mädchen. „Hilf mir doch, bitte, es tut so weh!“

„Soll ich Hilfe holen?“ Johannes flennte.

„Ja, aber komm zurück!“

Er kroch zu der Tür, durch die sie noch vor wenigen Minuten gekommen waren, um Schutz zu suchen und blickte nach draußen. Ein älterer Bauer rannte geduckt vorbei, einen heulenden Jungen hinter sich herziehend. Johannes schrie ihnen zu: „Hierher, helft mir, ein Mädchen ist verletzt!“ Der Bauer drehte sich kurz zu ihm um, hetzte weiter. Ein lärmender Einschlag beendete ihre Flucht. Die Luft schien zu vibrieren, die beiden Körper wurden in die Höhe geschleudert, fielen auf die Straße zurück und blieben blutüberströmt und reglos liegen. Johannes presste seinen Kopf auf den Boden. Da gellte Annas Stimme wieder zu ihm herüber. Er kroch zu ihr zurück.

„Ich kann dir nicht helfen, Anna!“ Zitternd schüttelte er den Kopf.

„Bitte, tu etwas“, flehte sie.

Noch einmal versuchte er sie zu befreien, warf Gesteinsbrocken zur Seite. Er fand ihren rechten Arm, zog daran. Ein nicht enden wollender Schrei folgte. Er ließ den Arm los, der schlaff in den grauen Staub fiel. Anna schrie, weinte, dann wimmerte sie nur noch. Johannes wusste nicht, wie lange er schon neben ihr kauerte. Er sah die Blutbläschen auf ihren zitternden Lippen. „Die Zeit verblutet“, dachte er sich. Er schloss die Augen. Rot sickerte es in sein Unterbewusstsein, setzte sich fest, vergiftete ihn.

Irgendwann lag Johannes neben ihr, sah sie nicht mehr an, hielt sich nur die Ohren zu. Ihr monotones Wimmern fraß sich in ihm fest. Eine Ewigkeit später erhob er sich, kniete neben ihr. Er sah sie mit weit aufgerissenen Augen ungläubig an. Wie lange sollte sie noch sterben? Wie lange musste er ihr Leiden noch ertragen? Langsam tasteten sich seine kleinen Hände vor. Er spürte das Blut auf ihren Lippen an seinen Handflächen. Er verschloss ihr den Mund, wollte ihr Wimmern zurückdrängen, für immer in ihrer Brust bannen. Er drückte fest mit beiden Händen zu.

Stille.

Johannes wusste später nicht mehr, wie lange er so da gekniet hatte. Eine Ewigkeit und ein Menschenleben später kroch er aus dem völlig zerstörten Schreibwarengeschäft und hastete nach Hause.

Als er im Dämmerlicht des frühen Abends durch die breite Toreinfahrt auf den Hof schlich, erblickte ihn sein Vater. Der hünenhafte Mann ergriff ihn. Zwei schallende Ohrfeigen ließen den Kopf des Kindes hin und her pendeln. Wortlos packte er ihn und sperrte ihn in den dunklen, stinkenden Saukoben. Johannes schrie, schlug mit den Fäusten gegen die Tür. Er verstand den Vater nicht. Er lebte doch. Schreien und Weinen blieben unerhört, verkamen zu einem kläglichen Wimmern.

Stille.

Anna wurde nie gefunden.

Granit

„Schosi, du weißt schon, dass Tante Martha heuer ihren 80. Geburtstag feiert?“ Der Jubeltag ihrer einzigen Tante beschäftigte Marianne Kleintaler schon seit Wochen, und an diesem Freitagabend wollte sie mit ihrem Mann endlich die Geschenkfrage klären. Deshalb stürmte sie ins Wohnzimmer und sah, wie er stocksteif, geradezu paralysiert, auf dem Sofa vor dem Fernseher saß. In ungläubigem Staunen starrte er auf den Flachbildschirm. Als Marianne näher kam, hob er abwehrend die Hand, sah sie mit weit aufgerissenen Augen an und signalisierte ihr still zu sein. Sein Gesichtsausdruck spiegelte das Entsetzliche wider, über das die „Tagesschau“ eben berichtete. Marianne verstummte augenblicklich.

„Um 6.45 Uhr deutscher Zeit wurde Japan vom schwersten Erdbeben in seiner Geschichte erschüttert. Seismologen maßen eine Stärke von 9,0 auf der nach oben offenen Richter-Skala. Das Epizentrum lag im Pazifischen Ozean rund 130 Kilometer östlich der Stadt Sendai und rund 400 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt Tokio. Eineinhalb Stunden später löschte eine 16 Meter hohe Flutwelle weite Landstriche der japanischen Hauptinsel Honshu aus. In einem Reaktor des Atomkraftwerkes Fukushima ist Feuer ausgebrochen, das Notkühlsystem funktioniert offenbar nicht. Die Bewohner in der Umgebung des Kernkraftwerkes werden zum Verlassen ihrer Häuser aufgefordert.“

Marianne und Georg Kleintaler starrten ungläubig auf den Fernsehschirm. Sie sahen eine riesige Wasserwalze auf die Küste zurasen. Schiffe kenterten, zahllose Automobile tanzten auf dem Wasser, gingen in der Flut unter. Wohnsiedlungen wurden überspült und wie Streichholzschachteln weggerissen, Fabrikanlagen überflutet und zerstört. Auf einer gigantischen, schwarzen Welle strömte das, was vor Sekunden noch heil, intakt und lebendig gewesen war, vernichtet und tot ins Meer zurück. Aus einem Reaktorturm züngelten Flammen gegen den Himmel.

Marianne Kleintaler schlug sich die Hände vor ihr Gesicht, nicht sehen wollend, was sie sehen musste. Sie fand als erste ihre Sprache wieder. „Um Gottes Willen, da sind ja Tausende von Menschen ums Leben gekommen. Das ist ja fürchterlich.“

Georg Kleintaler räusperte sich, wollte etwas sagen. Ein heiseres Krächzen folgte. Er verstummte, schüttelte den Kopf. Nach ein paar Augenblicken gelang es ihm, sein Entsetzen in Worte zu kleiden.

„Es ist fürchterlich. Schau dir nur diese Bilder an. Was haben die Menschen getan, dass sich die Natur so an ihnen rächt?“

Das Fernsehbild wiederholte die Tsunamiwelle in unterschiedlicher Geschwindigkeit, aus verschiedenen Perspektiven. Ein Handyvideo reihte sich an das andere.

„Merkwürdig, dass du das sagst. Ähnliches habe ich mir damals bei dem „Weihnachts-Tsunami“ auch gedacht. Damals war ich der Meinung, dass es schlimmer nicht mehr kommen könnte, aber wenn ich diese Bilder sehe, dann kommen mir Zweifel. Vielleicht kommt es immer noch schlimmer, als man glaubt.“

„Da gebe ich dir Recht, denn ich glaube, dass das noch nicht das Schrecklichste war, was wir erleben werden, Marianne. Wenn das Atomkraftwerk wirklich brennt, dann steht Japan vor einer nuklearen Katastrophe. Denk mal an Tschernobyl. Das war vor fünfundzwanzig Jahren.“

Marianne erinnerte sich: Damals war in der Ukraine ein Atomreaktor explodiert. Riesige Landstriche um den Reaktor sind heute noch unbewohnbar. Eine Luftströmung hatte radioaktiven Regen von Osteuropa bis Skandinavien verbreitet. Noch heute sind Bayerwald- Schwammerl hoch belastet und die finnischen Rentiere werden noch in den nächsten hundert Jahren hell in den Polarnächten strahlen. Marianne erschauderte bei diesen Erinnerungen. Beide nahmen nur noch am Rande wahr, was ein kluger Moderator und seine sogenannten Experten in der sich anschließenden Sondersendung „Brennpunkt“ von sich gaben. Kleintaler fand allerdings, dass angesichts eines brennenden Kernkraftwerkes der Name „Brennpunkt“ durchaus etwas Realistisches besaß.

Es hätte ein ruhiges und vergnügtes Wochenende werden sollen, denn Georg Kleintaler hatte dienstfrei und deshalb für diesen Samstag mit seiner Frau einen Einkaufsbummel in Passau geplant. Marianne konnte jedoch die schrecklichen Bilder vom Vortag nicht vergessen und fand es pietätlos, ihrem Vergnügen nachzugehen, während in Japan Tausende von Menschen um ihre Verstorbenen trauerten. So räumten sie gemeinsam den Keller auf und „gartelten“, das heißt, sie bereiteten ihren Garten auf das nahende Frühjahr vor. Tags darauf brachen sie nach dem Mittagessen zu einer kleinen Wanderung auf.

Sie hatten vor wenigen Minuten ihr Auto vor dem Emerenz-Meier- Haus in Schiefweg abgestellt und sich auf den Weg zum Osterbach gemacht. Ihre Wanderung führte sie nun auf einem schmalen Pfad bachaufwärts und sie betrachteten, ehrfürchtig schweigend, das kleine, ruhig dahinfließende Gewässer. Die schon warme Märzensonne hatte ein erstes zartes Grün in die noch wintergraue Bachaue gezaubert. Buschwindröschen blühten vereinzelt und bildeten einen sanften Kontrast zu den hellgrünen Spitzen der ersten Sumpfgräser. Silberne Weidenkätzchen kündigten das beginnende Frühjahr an. Dort, wo der Osterbach langsam floss, verwandelten ihn die Sonnenstrahlen in ein silberglänzendes Wasserband. Kleintaler hatte seine schwarze Daunenweste ausgezogen und über die Schultern gehängt. Die warme Frühlingssonne und der leichte Anstieg hatten ihn ins Schwitzen gebracht.

„Marianne, genieße dieses herrliche Fleckchen Natur, so lange es ihn noch gibt“, unterbrach er unvermittelt ihre schweigsame Wanderung.

„Was soll das denn jetzt heißen?“

Marianne war neugierig geworden.

„Ich will ja nicht der Mühlhiasl von Waldkirchen sein“, entgegnete Kleintaler in Anspielung auf den „Waldpropheten des 18. Jahrhunderts“, der noch heute als Wahrsager große Wertschätzung bei den Bewohnern des Bayerischen Waldes genießt, „aber ich habe in den vergangenen Tagen viel nachgedacht. Wenn es in Japan tatsächlich zu einem „Super-GAU“ kommen sollte, dann werden wir die Auswirkungen deutlich zu spüren bekommen. Nicht wie du vielleicht meinst, so wie nach Tschernobyl, mit radioaktivem Regen.“

„Wie sonst, Schosi, ich verstehe nicht ganz, was du meinst.“

„Ich glaube, dass mit Fukushima das Ende des Atomzeitalters eingeläutet wird. Wenn der Reaktor außer Kontrolle gerät, werden die Politiker aus Angst nicht wiedergewählt zu werden, so schnell wie möglich ihre Atomkraftwerke loswerden wollen. Dann geht es um Energie, um Strom, dann geht es um Milliarden und Abermilliarden. Alternative Energie wird das alles beherrschende Thema der nächsten Jahre werden. Auch wir im Bayerischen Wald werden uns dieser Problematik dann nicht entziehen können.“

Marianne überlegte, zuckte mit den Schultern.

„Möglich, dass du Recht behalten wirst. Aber was hat das hier mit dem Osterbachtal zu tun?“

„Jede Gemeinde wird in Zukunft viel und billige alternative Energie erzeugen wollen. Und hier, wo wir gerade stehen, plant die Stadt Waldkirchen den Ohmühlstausee, ein Großprojekt, benannt nach dem Weiler Ohemühle. Weißt du, schon in den fünfziger Jahren hat man hier einen riesigen Stausee geplant. Selbst die Straße nach Freyung wurde schon als zukünftige Staumauer konstruiert. Gott sei Dank fehlte der Stadt bisher das notwendige Geld, um das Projekt zu finanzieren. Aber wie es scheint, will der Stadtrat – wer weiß aus welchen Gründen – jetzt wieder Schwung in diese Angelegenheit bringen. Und glaube mir, so schlecht sind die Realisierungsmöglichkeiten jetzt nicht mehr. Denn ich bin mir sicher, dass nach Fukushima staatliche Fördergelder für alternative Energieprojekte nur so fließen werden.“

„Heißt das, dass das ganze wunderschöne Tal hier überflutet würde?“ Marianne schüttelte bei diesem Gedanken entsetzt den Kopf. „Wem nützt das denn?“

„Offenbar will der Stadtrat zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Einerseits bekommt er billigen Strom aus einem Wasserkraftwerk, und andererseits verspricht er sich einen Schub für den schon recht brach liegenden Tourismus. Und außerdem, Marianne, Hand aufs Herz, welcher Bürgermeister möchte sich nicht mit einem Großprojekt, welcher Art auch immer, in den Annalen seiner Heimatgemeinde verewigen?!“

„Ach komm, Schosi, die Stadträte haben doch nicht alle Tassen im Schrank. Man kann doch nicht diesen idyllischen Bachlauf mit all seinen Pflanzen und Tieren einfach unter Wasser setzen. Schließlich kommen doch die Touristen gerade wegen der intakten Natur zu uns und nicht, um einen künstlich angelegten See zu bewundern.“ Marianne schüttelte verständnislos den Kopf.

„Wenn du dich da mal nicht täuschst! Baue einen Jachthafen, erschließe noch einen Golfplatz, und schon ist den Touristen die Umwelt egal. Event-Tourismus ist angesagt. Und wenn du das alles schön verpackst, bekommst du Strom, Touristen und sehr viel Geld. Und Geld kann unser Waldkirchen immer brauchen.“

Schweigend und in Gedanken versunken machten sie sich auf den Heimweg. Als Kleintaler vor dem Auswanderer-Museum in Schiefweg sein Auto aufschloss, meinte Marianne selbstbewusst:

„Wenn die das mit dem Stausee ernst meinen, dann gründe ich eine Bürgerinitiative gegen das Projekt. Und weißt du, in wenigen Jahren sind Stadtratswahlen, und die Stadträte wollen alle wiedergewählt werden...“ Seine Frau dehnte die letzten Worte genüsslich. Kleintaler nickte amüsiert, denn er wusste, dass, wenn Marianne sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, sich jeder Gegner warm anziehen musste.

Als Kommissar Kleintaler am Montagmorgen um sieben Uhr die Polizeidienststelle in Waldkirchen betrat, kreisten seine Gedanken noch immer um die Natur- und Umweltkatastrophe von Fukushima. Der Tsunami hatte nach ersten Schätzungen mindestens 6000 Menschenleben gekostet, in drei Reaktoren des Atomkraftwerkes drohte die Kernschmelze. Die Radioaktivität im Katastrophengebiet war vierhundertmal so hoch wie vor dem Tsunami. In Deutschland hatten die ersten Politiker die Abschaltung aller Kernkraftwerke gefordert. Kleintaler legte ein frisches Pad in die Kaffeemaschine und ließ sich erst einmal eine Tasse „Café crème“ in seine gelbe Kaffeetasse laufen, die der sinnige Spruch „Polizeidienst macht krank“ zierte. Dann warf er einen Blick in den Korb mit dem Posteingang und hielt die Luft an. Er entnahm einen an ihn persönlich adressierten Brief. Das weiße Kuvert trug den Aufdruck „Bayerisches Staatsministerium des Innern“. Kleintaler wurde mit einem Mal nervös. Das konnte nur die Antwort auf seine Bewerbung sein.

Der Dienststellenleiter der Polizeidienststelle Waldkirchen, Johann Häusl, dem Kleintaler viel zu verdanken hatte, war im Juni des vergangenen Jahres in den Ruhestand versetzt worden, und er hatte sich auf dessen Posten beworben. Die Chancen für eine Beförderung standen gut, denn die erfolgreiche Aufklärung der Binder-Morde hatte ihm immerhin eine offizielle Belobigung eingebracht. Die dienstliche Beurteilung, die letzte, die sein Freund „Gsteckei“ Häusl für ihn verfasst hatte, war ausgezeichnet gewesen. Und außerdem hatte er neun Monate lang kommissarisch die Dienststelle geleitet, was gar nicht so einfach gewesen war. Mit einem Bleistift in den klammen Fingern riss er nun den Brief auf und starrte auf den Briefbogen. Der Kaffee wurde kalt.

Bayerisches Staatsministerium München, 09.03.2011

des Innern

Odeonsplatz 3

80 539 München

Bewerbung vom 15.12.2010

Ihr Zeichen: 0073254/GK 010566-W

Sehr geehrter Herr Kommissar Kleintaler,

Bezugnehmend auf Ihre Bewerbung gemäß der Ausschreibung PKD/ 714 335 – D zum 15. Februar 2011 müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Bewerbung nicht berücksichtigt werden konnte.

Wir wünschen Ihnen für Ihre berufliche Laufbahn weiterhin viel Erfolg.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. G. Schneller
(Staatssekretär)

„Scheiße“, dachte Kleintaler enttäuscht, „also wird es nichts mit der Dienststellenleitung. Und ich war mir so sicher, dass es klappen würde. Ich habe doch einiges vorzuweisen. Die Aufklärungsrate während meiner Leitung lag fast bei 80 Prozent. Ich habe einige neue Strukturen geschaffen, die langsam greifen, und den ganzen Laden hier modernisiert. Und das soll jetzt alles für die Katz gewesen sein? Unmöglich! Außerdem wären ein paar Euro mehr im Monat auch ganz gut gewesen. Das Leben wird sowieso immer teurer.“ Der Bleistift zerbrach zwischen seinen Fingern.

„Jetzt bin ich nur gespannt, welchen Deppen sie mir hier vor die Nase setzen werden. Marianne wird arg enttäuscht sein. Sie hätte mich sicher gerne als „Polizeichef“ hier in Waldkirchen gesehen. Aber naja, dann hat es eben nicht sein sollen.“ Er nahm einen Schluck Kaffee und spuckte blitzartig die kalte Brühe in die Tasse zurück. Während die Kaffeemaschine ihn mit einem neuen „Café crème“ versorgte, las der Kommissar die Berichte vom vergangenen Wochenende. Neben einigen Verkehrsunfällen mit Bagatellschäden, die sowieso nicht in seine Zuständigkeit fielen, fand er nur eine Wirtshausschlägerei interessant. In Altreichenau hatte man zum dritten Mal den Superstammtisch gesucht. In der Tennishalle mussten sich die besten der besten Stammtischler in den Disziplinen Maßkrugstemmen, Hau den Lukas und – neu eingeführt – im Biertragldrücken beweisen. Beim „Hau den Lukas“ schien es, vermutlich aufgrund exzessiven Alkoholkonsums, zu Unstimmigkeiten über die Bewertung gekommen zu sein, wer denn nun der Beste der Besten sei. Die Stammtischler hatten den Auftrag „Hau den Lukas“ zu ernst genommen. Zehn Kollegen hatten immerhin eine halbe Stunde gebraucht, um die raufenden Stammtischbrüder zur Ruhe zu bringen. Einige Anzeigen waren die Folge.

Kleintaler dachte erneut an die abgelehnte Bewerbung, die Absage ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. Er war enttäuscht, hatte er doch in den vergangenen neun Monaten einige Neuerungen auf den Weg gebracht. Der Komplex „Spurensicherung“ war von ihm dahingehend ausgebaut worden, dass zwei Kollegen nach intensiven Schulungen am Kriminaltechnischen Institut des Bayerischen Landeskriminalamtes in München nun eigenständig Spuren an einem Tatort sichern konnten, ohne auf die Kollegen aus Passau angewiesen zu sein. Sie waren in der Lage DNA-Proben zu nehmen, Formspuren zu sichern, PCR-Abgleiche zu erstellen. Selbst serologische Untersuchungen nahmen sie vor, um die Spuren menschlicher Herkunft am Tatort oder an Tatwerkzeugen nachzuweisen. Und sie arbeiteten eng mit der KTU in München zusammen. Seine „kleine Spusi“ nannte er die beiden Kollegen scherzhaft. Einen IT-Spezialisten hatte er vor Kurzem ebenfalls angefordert. Kleintalers Absicht war es, weitere Fachkompetenzen an seine Dienststelle in Waldkirchen zu ziehen, um vor allem der Polizeidienststelle in Freyung langfristig den Rang abzulaufen. Sollten seine Bemühungen nun ganz umsonst gewesen sein? Selbstmitleid überkam ihn, er fühlte sich ungerecht behandelt, Kleintaler litt wie ein Hund.

Da klopfte es zaghaft an seine Bürotür. Nachdem auf sein wiederholtes „Herein!“ die Türe immer noch geschlossen blieb, stand er auf und öffnete sie. Im fahlen Licht der Energiesparlampen, die den Flur schummrig beleuchteten, stand eine junge Frau in grüner Uniform, die Dienstmütze in den Händen drehend.

„Wollen Sie zu mir?“

„Sind Sie Kommissar Kleintaler?“ Die Frage klang schüchtern und unsicher.

„Ja, der bin ich. Kommen Sie doch bitte herein.“

Der Kommissar wies die Kollegin in sein Zimmer, bot ihr einen Stuhl an, deutete auf eine leere Tasse und fragte: „Kaffee?“

„Ja, gerne.“

Er stellte wortlos eine dampfende Tasse Kaffee vor sie hin.

„Milch und Zucker?“

„Danke, nur einen Schuss Milch, bitte.“

Nach dem ersten Schluck kam etwas Leben in die junge Frau. Wie von der Tarantel gestochen, sprang sie plötzlich auf, schlug die Hacken zusammen und salutierte.

„Entschuldigung, ich habe völlig vergessen mich vorzustellen, Herr Kommissar. Ich heiße Tina Hartmann, Polizeimeisterin zur Anstellung. Ich bin mit dem heutigem Datum Ihrer Dienststelle zugeteilt worden.“ Sie blieb stramm vor Kleintalers Schreibtisch stehen, fasste in die Innentasche ihrer Uniformjacke, zog ein zusammengefaltetes Schreiben hervor und reichte es Kleintaler.

Der Kommissar entfaltete es und grinste sie amüsiert an. „Aber um Gottes Willen, nehmen Sie doch bitte wieder Platz, Frau Hartmann. Es freut mich, dass Sie hier sind, obwohl ich offiziell von Ihrer Abordnung noch gar nichts weiß.“ Mit einer lässigen Handbewegung bat er sie, sich wieder hinzusetzen.

„So, Sie sind uns also zugeteilt worden, na dann, erst einmal herzlich willkommen in Waldkirchen. Haben Sie sich freiwillig hierher beworben oder eher nicht?“

„Doch, ja, ich wollte unbedingt nach Waldkirchen“, antwortete sie schnell, „wissen Sie, ich stamme aus Rosenau, vielleicht kennen Sie das Kaff, pardon, den Ort in der Nähe von Grafenau?“ Als Kleintaler bestätigend nickte, fuhr sie fort: „Ich habe in Grafenau mein Abitur gemacht und dann vier Semester Lehramt studiert. Deutsch und Geographie. Aber dann waren mir die Zukunftsaussichten zu schlecht. Ich habe mein Studium geschmissen und mich bei der Polizei beworben. Die haben mich sofort genommen. Bei der Bereitschaftspolizei in Nürnberg musste ich dann die Grundausbildung ableisten. Dann habe ich erfahren, dass hier ein IT-Spezialist gesucht wird. IT-Security war ein Schwerpunkt meiner Ausbildung. Und deshalb habe ich mich jetzt in meine Heimat versetzen lassen.“

Während Tina Hartmann ihren beruflichen Werdegang schilderte, hatte Kleintaler Zeit, sich seine neue Kollegin eingehend zu betrachten. Und was er sah, gefiel ihm ausgesprochen gut. Tina hatte rückenlange, brünette Haare, die einen warmen Glanz ausstrahlten und ihrem schlanken, ovalen Gesicht einen madonnenhaften Rahmen verliehen. Kleintaler fielen ihre großen, dunklen Augen auf, deren lange schwarze Wimpern sie noch größer und etwas verträumt wirken ließen. Sie hatte weiße ebenmäßige Zähne und zwei lustig wirkende Grübchen neben den Mundwinkeln, die ihr etwas Lausbubenhaftes verliehen. Langsam wanderte sein Blick tiefer. Tina hatte die grüne Uniformjacke wieder geschlossen, doch so wie sie über ihrer Brust spannte, ließ dies den Kommissar darunter einen üppigen, festen Busen vermuten. Die junge Kollegin war nicht sehr groß gewachsen, vermutlich hatte sie nur knapp die vorgeschriebe Einstellungsgröße erfüllt, aber sie war schlank, besaß eine schmale Taille und war wohl proportioniert. Sie hatte die Beine übereinander geschlagen, feste, aber nicht zu starke Oberschenkel zeichneten sich durch die Uniformhose ab.

Kleintaler war von seiner neuen Mitarbeiterin auf Anhieb begeistert.

„Das freut mich für Sie, Frau Hartmann, dass das mit Ihrer Versetzung auf Anhieb geklappt hat. Dann sind Sie bestimmt der IT-Spezialist, pardon, die IT-Spezialistin, die ich angefordert habe. Sehr gut. Wohnen Sie wieder in Rosenau oder haben Sie sich schon in Waldkirchen niedergelassen?“

„Nein, Gott bewahre, nach Hause bringen mich keine zehn Pferde mehr. Mein Freund hat mir hier in der Passauer Straße eine kleine Wohnung besorgt. Mal schauen, vielleicht heiraten wir sogar in absehbarer Zeit.“

„Das ist ja schön, für Sie, aber auch für uns, denn dann sind Sie ja auch dienstlich in Waldkirchen jederzeit erreichbar. So, und jetzt stelle ich Sie den Kollegen vor und zeige Ihnen unsere Polizeistation. Wie Sie sehen, ist hier noch ein Schreibtisch frei, der steht zu Ihrer Verfügung. Vermutlich werden wir in Kürze einen neuen Dienststellenleiter bekommen. Sein Büro liegt genau gegenüber.“

Nach einem kurzen Rundgang durch die Dienststelle kehrten Kleintaler und Tina Hartmann eine halbe Stunde später wieder in ihr Büro zurück. Der Kommissar griff in die „Eingang“-Ablage und entnahm von einem kleinen Stapel einen rotbraunen Schnellhefter, den er der jungen Polizeimeisterin auf den Schreibtisch legte. „Frau Hartmann, wir haben seit einigen Wochen mehrere Einbrüche in Sportvereinsheime in Waldkirchen und umliegenden Ortschaften. Vermutlich stecken Jugendliche dahinter. Schauen Sie sich bitte mal die Fälle an, werten Sie Gemeinsamkeiten aus und erstellen Sie ein Täterprofil, mit dem wir arbeiten können. Und wenn Sie Fragen haben, bitte keine Scheu, ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung.“ Tina Hartmann fuhr ihren Computer hoch, richtete ihren Schreibtisch ein und machte sich an die Arbeit.

Kurz nach der Mittagspause läutete das Telefon auf Kleintalers Schreibtisch. „Polizeidirektion Waldkirchen, Kleintaler“, meldete sich der Kommissar vorschriftsmäßig. „Polizeipräsidium Niederbayern, Schmitt, Grüß Gott, Herr Kleintaler, schön, dass ich Sie gleich erreiche.“ Kleintaler hüstelte nervös. „Herr Kriminaldirektor, guten Tag, was verschafft mir die Ehre?“

„Herr Kleintaler, Sie können sich vorstellen, warum ich persönlich bei Ihnen anrufe. Sicherlich hatten Sie heute Morgen die Ablehnung Ihrer Bewerbung in Ihrer Post.“

„Ja, hatte ich – leider.“

„Herr Kollege, ich kann Ihre Enttäuschung verstehen, aber ich versichere Ihnen, es lag nicht an mir. Ich habe alles unternommen, was mir als Polizeipräsident möglich war, um Ihre Bewerbung zu unterstützen. Sie wissen, dass ich Sie und Ihre Arbeit sehr schätze. Es war vorbildlich, wie sie die Waldkirchener Dienststelle in den vergangenen Monaten neu strukturiert haben. Und das habe ich auch so an das Staatsministerium weitergegeben. Aber leider hat es nichts genützt.“

Der Polizeipräsident senkte die Stimme.

„Unter uns gesagt, es ist hier wohl eine politische Entscheidung gefallen. Da waren andere Kräfte am Werk, und ich weiß leider nicht welche.“

„Ich werde damit leben können, oder besser gesagt, damit leben müssen.“ Kleintaler kamen seine letzten Worte sehr pathetisch vor, deshalb fragte er etwas ironischer nach: „Herr Kriminaldirektor, wer ist denn der Unglückliche, der unter mir Dienststellenleiter sein muss?“

„Hauptkommissar Dr. Hanno Bauernfeind wird am kommenden Mittwoch, also am 1. April seinen Dienst antreten. Ich persönlich werde seine Amtseinführung vornehmen. Auf Wunsch von ganz oben. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, und Kopf hoch, ich bin mir sicher, es gibt für Sie noch ganz andere Karrieremöglichkeiten.“

Nachdem der Polizeipräsident aufgelegt hatte, blickte der Kommissar seine neue Mitarbeiterin an und fragte spontan: „Frau Hartmann, kennen Sie einen Hauptkommissar Bauernfeind, Dr. Hanno Bauernfeind?“

„Aber sicher doch!“ Zur Überraschung des Kommissars kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen. „Zu Beginn meiner Ausbildung war er für ein halbes Jahr bei der „BePo“, bei der Bereitschaftspolizei in Nürnberg. Ich glaube, dass er dann kurz nach Bamberg ging, bevor er nach Erlangen versetzt wurde. Aber wie kommen Sie denn auf den?“

„Hanno Bauernfeind wird am 1. April unser neuer Dienststellenleiter!“

„Ich kenne ihn eigentlich nur vom Hörensagen.“

„Wenn er tatsächlich einmal in Bamberg war, dann wissen wir gleich, um wen es sich handelt.“

Kleintaler nahm den Telefonhörer ab, und nach ein paar Sekunden hätte Tina Hartmann ein interessantes Gespräch mitverfolgen können, sofern sie denn „hellhörig“ gewesen wäre.

„Polizeidirektion Bamberg, Zoelle, grüß Gott.“

„Grüß dich, Manni, ich bin’s der Schosi. Wie geht’s dir denn?“

„Ja, servus Schorsch, gut geht es mir. Ich habe noch drei Arbeitstage und dann geht es ab in den Urlaub. Rosi und ich, wir fliegen für drei Wochen nach Kuba. Was meinst du, wie wir uns freuen. Aber du rufst doch sicherlich nicht an, um mir einen schönen Urlaub zu wünschen. Also raus damit, was hast du auf dem Herzen?“

„ Wie du weißt, habe ich mich hier in Waldkirchen als Dienststellenleiter beworben – und bin abgelehnt worden.“

„Das tut mir aber leid, Schorsch, den Posten hätte ich dir so sehr gegönnt.“

„Naja, ist ja halb so schlimm, aber ich habe eine Frage, Manni. Wir bekommen als neuen Chef einen gewissen Dr. Hanno Bauernfeind. Und ich habe gehört, dass der mal kurz in Bamberg war. Kennst du ihn?“

Schallendes Gelächter drang so laut aus dem Hörer, dass Tina Hartmann erstaunt aufblickte.

„Herzlichen Glückwunsch, Schorsch, ihr bekommt den größten Armleuchter, der in ganz Bayern herumläuft.“

„Komm, Manni mach‘ halblang. So schlimm kann der Kerl doch wirklich nicht sein.“

„Doch, wenn ich es dir sage. Bauernfeind ist kalt wie eine Hundeschnauze und geht bei seiner Arbeit wirklich über Leichen. Seine Kollegen verheizt er gnadenlos. Wir in Bamberg waren froh, dass er nach einem halben Jahr nach Erlangen versetzt wurde. Und was das Schlimmste ist, er hat bei allem, was er tut, vermutlich politische Rückendeckung. An den ist nicht heranzukommen. Aber weißt du, was ich mich frage? Was soll der bei euch in Waldkirchen? Der läuft doch eigentlich schon auf der Ministeriumsspur. Was macht der denn im Bayerischen Wald?“

„Manni, ich habe keine Ahnung. Unter uns gesagt, der Polizeipräsident hat Ähnliches anklingen lassen. Es soll sich um eine politisch motivierte Versetzung handeln. Ich weiß nur nicht warum?“

„Schorsch, willst du wissen, wie der Bauernfeind überhaupt Polizist wurde? Es gibt da eine tolle Geschichte.“

„Okay, schieß los Manni!“

„Dr. Hanno Bauernfeind ist eigentlich gelernter Metzger!“

„Manni, nimm mich nicht auf den Arm. Das glaubt doch kein Mensch – gelernter Metzger!“ Kleintaler schaltete nun den Lautsprecher ein, damit die junge Kollegin alles mitbekommen konnte.

Tina Hartman legte ihren Bleistift weg und begann interessiert zuzuhören.

„Doch Schorsch, du hast richtig gehört, gelernter Metzger.“

„Er hat nach seinem Realschulabschluss keine Lehrstelle bekommen und musste auf Druck seiner Eltern eine Ausbildung als Metzger machen. Diesen Beruf übte er in der Nähe von Nürnberg auch bis zu seinem 25. Lebensjahr aus. Dann hatte er ein im wahrsten Sinn des Wortes umwerfendes Erlebnis. Im Großraum Nürnberg gab es Ende der neunziger Jahre den Edi-Bomber. Ein Räuber, der mit einer Gummi-Maske des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten vor dem Gesicht kleine Sparkassenfilialen überfiel und immer nach dem gleichen Schema vorging. Er stürmte in die Bank rein, warf eine selbst gebastelte, kleine Bombe und nutzte das darauffolgende Chaos, um Geld zu erpressen. Mehr als einhunderttausend Mark hat er auf diese Weise erbeutet. Und eines Tages befindet sich unser Hanno Bauernfeind in einer dieser Filialen, um vom Geldautomaten seinen Monatslohn abzuheben. Der Edi-Bomber rennt rein, wirft seine Bombe, und es zerreißt den Geldautomaten, vor dem Hanno steht. Dieser wird von einem Metallteil am Kopf getroffen, verliert das Bewusstsein und hat eine Erscheinung. Ehrenwort, er hat es mir wortwörtlich so erzählt! Eine Erscheinung! Eine gleißende Lichtgestalt erschien ihm, befahl ihm Jura zu studieren und Kriminalbeamter zu werden, um das Böse in der Welt auszurotten. Außer ein paar Schnittwunden im Gesicht fehlte ihm nichts. Aber er gehorchte seiner Lichtgestalt. Auf dem zweiten Bildungsweg hat er das Abitur nachgemacht, Jura studiert, das Studium mit einem Einser-Examen abgeschlossen, promoviert, und dann ist er tatsächlich zur Kriminalpolizei gegangen. So, und jetzt hast du ihn an der Backe. Viel Spaß, Schorsch!“

Kleintaler war sprachlos, Tina Hartmann lachte glucksend.

„Manni, das kann doch wohl nicht wahr sein. Aber danke für deine Informationen. Grüß mir Rosi herzlich, und jetzt wünsche ich euch einen schönen Urlaub.“

Nachdem der Kommissar aufgelegt hatte, sah er seine neue Kollegin etwas deprimiert an und sagte nachdenklich: „Na, Frau Hartmann, da können wir uns ja auf was gefasst machen.“

Kurz nach Dienstschluss betrat Georg Kleintaler die gemütliche Essküche in seinem Haus in der Dreisesselstraße. Seine Frau Marianne war gerade dabei, sein Lieblingsessen, Pizza „Schinken-Hawaii“, aus dem Backofen zu nehmen und in gleichgroße Stücke zu zerteilen. Ein wunderbarer Duft nach Käse und Ananas lag in der Luft und ließ Kleintaler das Wasser im Munde zusammenlaufen. Er drückte Marianne einen dicken Kuss auf die Wange und setzte sich ächzend an den liebevoll gedeckten Abendbrottisch. Ja, das war seine Marianne, vom Porzellan, über die Serviette bis zum Lieblings-Weißbierglas, es passte einfach alles zusammen.

„Gut, dass du pünktlich bist, denn erstens ist die Pizza fertig und zweitens muss ich mit dir reden. Du weißt doch, Tante Martha hat Geburtstag“, begrüßte sie ihn.

„Das trifft sich ja gut, denn ich muss auch mit dir reden, aber nicht über Tantchens Geburtstag – meine Bewerbung ist abgelehnt worden.“

Nun war es raus. Kleintaler sah seine Frau resigniert an und zuckte mit den Schultern, so als wollte er ausdrücken: Ich kann nichts dafür.

„Das tut mir wirklich leid für dich.“ Marianne umarmte ihren Schosi liebevoll und küsste ihn zärtlich. „Nimm es nicht so schwer, mein Schatz, ich liebe dich, auch wenn du nicht Dienststellenleiter wirst.“

„Und ich dachte, du wärst sehr enttäuscht, weil du es dir so stark gewünscht hattest, dass ich Chef in Waldkirchen würde.“

„Nein Schosi, wenn du nicht enttäuscht bist, dann bin ich es auch nicht, und jetzt Schwamm drüber. Die Pizza wird kalt.“

Nach dem zweiten Stück „Schinken-Hawai“ und einem großen Schluck dunklen Hefeweißbieres setzte Kleintaler die Unterhaltung fort.

„Du Marianne, es gibt noch eine Überraschung.“ Und dann erzählte er ihr ausführlich die Geschichte von Dr. Hanno Bauernfeind, dem avisierten neuen Dienststellenleiter und von dessen „Erscheinung“, so wie sie sein Bamberger Freund und Kollege ihm geschildert hatte.

„Jetzt hast du noch gut lachen“, mahnte Marianne, „aber warte erste einmal ab, ob der nicht wirklich so ist, wie Manni Zoelle ihn beschrieben hat.“

„Fast hätte ich es vergessen“, führte Kleintaler das Gespräch weiter, „wir haben eine neue Mitarbeiterin bekommen.“ Mit dürren Worten erzählte er ihr von Tina Hartmann.

„Ist sie hübsch?“, fragte Marianne neugierig.

„Naja, geht so“, wich der Kommissar aus, „aber sie ist eine große Hundefreundin.“

„Woher weißt du das denn?“ Seine Frau sah ihn fragend an.

„Sie hat zwei schöne große Möpse“, fuhr Kleintaler lachend fort.

Marianne schüttelte erbost den Kopf und warf ihm einen zornigen Blick zu. Der Kommissar konnte noch lange über seinen eigenen Witz lachen. Tante Marthas nahender Geburtstag wurde wiederum völlig vergessen.

Nach dem Abendessen hatte es sich Kleintaler im Wohnzimmer auf dem Sofa bequem gemacht und verfolgte interessiert die Nachrichten der „Tagesschau“.

„Siehst du, Marianne, ich habe doch Recht gehabt“, rief er zu ihr in die Küche hinüber. „Die Reaktorkatastrophe in Japan zeigt jetzt bei uns schon ihre ersten Folgen.“

„Warum? Zieht die Radioaktivität jetzt schon zu uns?“ Mariannes Stimme klang besorgt.

„Nein, aber die Regierung hat sieben Atomkraftwerke abschalten lassen. Damit beginnt der Einstieg in den Ausstieg aus der Kernkraft. Warte nur, bald werden sich unsere Politiker darin überschlagen, wer am schnellsten die unsinnigsten Vorschläge zur Nutzung alternativer Energien unterbreiten darf.“

„Sag mal, Schosi, ist das alles nicht irgendwie verlogen? Erst verlängert man ohne Grund die Laufzeiten der Atomkraftwerke und kaum zwei Jahre später fordern die gleichen Politiker deren Stilllegung?“

„Aber sicher ist es das. Nur wer zahlt denn immer die Zeche? Das sind doch wir einfachen Bürger. Kannst du dir vorstellen, welche Rechnung uns jetzt die vier großen Stromkonzerne aufmachen werden? Kannst du dir vorstellen, welche Energiekosten jetzt auf uns zukommen werden? Und dann hoffen alle unsere Politiker, dass wir bis zu den nächsten Wahlen ihre gesamte Unfähigkeit schon wieder vergessen haben. Aber ich glaube, dass sie sich dieses Mal täuschen werden.“

Kleintaler stand mit vor Zorn gerötetem Gesicht in der Küchentür. Er hatte sich in Rage geredet. Aber er sollte Recht behalten.

Kleintaler zog leise die Eingangstür ins Schloss und den Reißverschluss seiner Fleece-Jacke zu. Es war bitterkalt an diesem Mittwochmorgen und noch immer stockfinster. „Scheiß Sommerzeit“, fluchte er. Erst vor ein paar Tagen war wieder die Uhr umgestellt worden, eine Stunde nach vorne, deshalb war es eigentlich erst Viertel nach vier Uhr morgens, obwohl das Leuchtzifferblatt auf Kleintalers Armbanduhr 05.17 Uhr, also eine Stunde mehr anzeigte. Der Kommissar dachte an eine große Leserbriefaktion in der Lokalzeitung über Sinn und Unsinn der Zeitumstellung und versprach, sich im nächsten Jahr mit einem geharnischten Schreiben an dieser Aktion zu beteiligen. Er schloss sein Auto auf, legte die alte Aluminiummilchkanne auf den Beifahrersitz, nahm den Eiskratzer aus dem Handschuhfach und begann die Windschutzscheibe frei zu kratzen.

„Hätte ich die Karre doch bloß in die Garage gestellt“, schimpfte er sich für seine Nachlässigkeit. „Die Woche geht ja gut weiter. Wer weiß, was heute noch alles passiert.“ Nach wenigen Minuten lenkte er seinen alten Passat in Richtung Färberberg. Langsam, den zahlreichen Schlaglöchern und Frostbrüchen ausweichend, fuhr er in Richtung Geier-Mühle. Er ließ den Carossasteig ebenso rechts liegen wie die Eichendorffstraße.

„Wenn der Romantik-Dichter wüsste, welche Buckelpiste seinen Namen trägt, hätte er damals sicherlich statt „Mondnacht“ „Die Achse kracht“ gedichtet. Aber dem Adalbert Stifter geht es ja noch schlechter. Die nach ihm benannte Fahrbahn hat zwar einen neuen Teerbelag, aber die ist so schmal, dass nicht einmal zwei Fahrräder ungestreift aneinander vorbeikommen, und am schlimmsten hat es den Hans Carossa erwischt. Sein „Steig“ ist höchstens eine holprige Pissrinne.“ Kleintaler hatte sich warm geärgert, als er sein Auto weit hinter der Geier-Mühle vor dem Behr-Hof parkte.

„Warum nur kann Marianne keine normale Milch aus dem Tetrapack trinken? Nur wegen ihr stehe ich dreimal in der Woche eine Stunde früher auf, um frische Kuhmilch zu holen. Das macht doch sonst kein vernünftiger Mensch, nur ich Dödel lasse mir das schon seit über fünfzehn Jahren gefallen. Hoffentlich haben die Kühe wegen der Zeitumstellung nicht ihre „Milchlieferung“ verweigert. Das wäre dennertst das Höchste!“ Kleintaler grummelte immer noch vor sich hin, als er sich auf den Weg zu dem letzten Bauernhof am Rande der Stadt Waldkirchen machte, von dem er seit Jahren seine „frisch zeidelte Milli“ bezog.

Kleintaler wusste nicht, seit wie vielen Jahren der Landwirt Johannes Behr seinen Hof schon bewirtschaftete. Vor ein paar Jahren, so glaubte er sich zu erinnern, hatte der alte Behr, der schon weit in den Siebzigern stand, die Landwirtschaft an seinen einzigen Sohn Christoph übergeben. Er beteiligte sich aber immer noch an der Stallarbeit und hatte vor allem den Melkstand unter sich. Der Kommissar vermutete, dass er mit dem Milchgeld seine Rente aufbesserte.

Er durchschritt zügig das schwarze, in der Dunkelheit unheimlich und bedrohlich wirkende Eingangstor des stattlichen Vierseithofes, wandte sich dann nach links, dem modernen Boxenlaufstall zu, um durch eine kleine Tür an der rechten Seite ins Kühlhaus neben dem Melkstand zu gelangen. Draußen war es noch immer stockdunkel. Der beginnende Morgen war nur zu erahnen. Kleintaler sah kaum die Hand vor Augen. Langsam öffnete er die Brandschutztür und betrat den langen, finsteren Gang. Nur durch ein schmales Oberlicht in der Stallwand fiel ein fahler Lichtschein. Kleintaler nahm den säuerlichen, ekelerregenden Silage-Geruch wahr, spürte die warme Stallluft, die ihn wohlig umfing. Leise klapperte die metallene Milchkanne in seiner linken Hand. Bevor er die Tür zum Kühlhaus öffnen konnte, stolperte er plötzlich, fiel nach vorne und konnte sich nur durch ein blitzschnelles Abstützen davor bewahren, mit dem Kopf gegen die mit Aluminium ummantelte Kühlhaustür zu schlagen. Die Milchkanne fiel scheppernd zu Boden, der Kannendeckel löste sich und rollte leise klappernd davon. Ein heftiger Schmerz stach in sein linkes Handgelenk, ihm wurde schwarz vor Augen. Er fiel auf die Knie, und er fiel weich.

„Was liegt denn da? Verdammt noch mal, worüber bin ich eigentlich gestolpert?“ Kleintaler tastete mit der rechten Hand den Boden ab. Er spürte etwas Feuchtes, Klebriges an seiner Hand, zog sie ruckartig zurück und wischte sie vorsichtig an seiner Fleece-Jacke ab. Dann erhob er sich ächzend und zog mit der unverletzten Hand seinen Schlüsselbund aus der Hosentasche. Mit der kleinen, daran hängenden LED-Lampe suchte er den Gang ab. In ihrem bläulichen, leuchtenden Schein sah er einen Mann gekrümmt am Boden liegen. Die wenigen grauen Haare standen ihm wirr um den Kopf, aus einer Wunde am Schädel rann Blut. Seine blaue Arbeitskappe lag daneben, eine kleine, dunkle Blutlache breitete sich langsam aus. Kleintaler erkannte den Mann sofort.