Sabine Schulze Gronover, Jahrgang 1969, arbeitet als Diplompädagogin und Kunsttherapeutin in Kliniken in Münster und Hamm. Sie lebt in Drensteinfurt, ist verheiratet und hat eine dreizehnjährige Tochter. »Todgeweiht im Münsterland« ist ihr erster Kriminalroman.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.
© 2012 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagfoto: photocase.de/bwahlers
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-072-8
Westfalen Krimi
Originalausgabe
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Prolog
Ich, Karl Schulze Nüßing, geboren am 12.02.1870, Sohn des Alfons Schulze Nüßing und seiner Ehefrau Klara, werde hier die Schuld der Familie Schulze Nüßing niederschreiben, auf dass die Nachkommen der Familie sich ihrer bewusst sind und auf ewig für die Vergebung der Sünden beten, bis zum jüngsten Tage, da ein anderer Gericht halten wird. Bis dahin soll mein Schriftstück jeweils an den Sohn weitergegeben werden, der bereit ist, eine schreckliche Last zu tragen, zu beten und darüber zu schweigen.
Wir schreiben das Jahr 1883, Erntezeit.
Annemarie Hovermann, zarte Tochter der uns eng verbundenen Kaufmannsfamilie Horst Hovermann, überrascht ihren Bruder Clemens Hovermann mit Anton Schulze Nüßing, meinem Bruder, in einer Weise, die der gottesfürchtigen Maid die Schamesröte ins Gesicht steigen lässt. Zwei Männer, die sich einander in derart unzüchtiger und tierisch-triebhafter Weise nähern, das ist gotteslästerlich und wider die naturgedachte Ordnung. Voll Angst um das Seelenheil ihres Bruders schreit Annemarie auf und bittet die beiden Männer, diese gottlose Beziehung zu beenden und vom nächsten Tage an Buße zu tun. Sie läuft aus der Scheune, wo sie die beiden in solch erschreckender Umarmung vorgefunden hat. Der junge Anton rennt ihr nach, voll Angst, dass Annemarie das Gesehene laut in der Gegend verkündet. Er will mit ihr reden, sie aufhalten. Und Anton erreicht sie, doch plötzlich liegt das unschuldige Mädchen blutend, leblos am Boden. Gestürzt, geschubst oder eine unglückliche Verkettung von beidem?
Ihr Bruder Clemens eilt hinzu. Seine Schwester liegt mit geschlossenen Augen da, neben ihr ein handtellergroßer Stein, auf den das Mädchen gefallen sein mag.
Soll Clemens den Beteuerungen des Geliebten glauben, es sei ein Unfall gewesen? Er tut es. Doch Annemarie erwacht nicht mehr, und auf erklärende Worte warten die Eltern und der Bruder vergeblich. Zwei Tage später ist das junge Mädchen tot.
Clemens ist ein zarter Junge, Aggressivität ist ihm fremd, und dennoch läuft er nun, von seelischem Schmerze blind, hinüber zum Hofe der Schulze Nüßing. Derweil ist Anton unterwegs mit unserer Schwester Berta, einem sehr verlässlichen Mädchen von knapp zwanzig Jahren. Sie sind auf dem Weg zu einem Krankenbesuch bei Annemarie, nicht ahnend, welch schreckliche Folgen der Sturz hatte.
Beim Anblick des jungen Mannes, der seine Schwester gesund neben sich weiß, wird Clemens rasend, und statt eines Grußes stürzt er mit seinem Messer auf Anton zu, um den vermeintlichen Mörder der eigenen Schwester zu richten. Berta schreit auf, tritt vor, um den sonst so friedlichen Clemens zu beruhigen, und rennt unglücklich in das Messer. Ihr Mieder färbt sich so schnell rot, wie sie zu Boden fällt. Das Sterben dauert nur zwei Minuten. Und wieder ist ein unschuldiges Mädchen tot. Clemens rennt fort, und Anton bricht neben seiner Schwester zusammen.
Am Abend sucht der eine Vater den anderen auf. So viele Jahre haben sie gemeinsam Geschäfte gemacht, ihre Kinder großgezogen und die Jahreszeiten gelebt, wie sie kamen. Nun hatte Zwietracht und Totschlag Einzug in ihrer beider Leben gehalten. Noch lässt sich das Geschehene vor den anderen Familienmitgliedern geheim halten. Die Alten entscheiden, dass es nur eine Möglichkeit gibt, den Frieden zu sichern. Beide Söhne müssen in die Ferne und dürfen sich nicht mehr begegnen. Und schon am nächsten Tag ziehen Clemens Hovermann und Anton Schulze Nüßing auf Geheiß des jeweiligen Familienoberhauptes fort. Der eine Sohn geht nach Süden, der andere nach Norden.
Doch ein Vater spielt falsch. Mein Vater!
Alfons Schulze Nüßing erschlägt den Clemens Hovermann noch am Tage seines Aufbruchs und vergräbt die Leiche, auf dass sie nie wieder auftauchen sollte. Am Fuße der großen Eiche endet das Exil für Clemens, für Anton aber dauert es knapp vier Jahre. Dann bekommt er Nachricht vom Tode des alten Hovermann und kehrt auf den elterlichen Hof zurück. Außer seinem Vater kennt niemand die wahren Umstände.
Ich werde nicht anklagen noch richten. Nur beten. Ich, der Sohn eines Mörders.
Möge dieses Schreiben niemals in die falschen Hände geraten und erneut Zwietracht säen zwischen den Familien und ihren Kindern.
Karl Schulze Nüßing, Dezember 1895 in Münster
EINS
Münster in Westfalen, Gegenwart
Was macht man, wenn man noch vier Tage zu leben hat?
Die verbleibenden Nächte durch die Straßen ziehen, sich betrinken und sein Geld verprassen? Bedeutungsschwangere Abschiedsessen veranstalten und sich von der Verwandtschaft trösten und beweihräuchern lassen? Oder gar ein schwindelerregend hohes Gebäude besteigen, um dem Himmel schon jetzt ein Stück näher zu kommen und die Zeitspanne von vier Tagen auf eine Stunde zu verringern?
Ich hatte die Qual der Wahl. Und wissen Sie, welcher Gedanke mir als Erstes zu schaffen machte? Was, wenn ich krank würde? Wenn ich einen von diesen ekligen Magen- und Darminfekten bekäme und zwei von den vier Tagen über der Kloschüssel verbringen müsste? Jemand anders konnte sagen, okay, dafür wird das Wochenende halt schön, doch ich hatte nur noch vier Tage. Eine Krankheit mit einer Inkubationszeit von mindestens vier Tagen konnte mir natürlich nichts anhaben. Bei Licht betrachtet, gab es sogar Vorteile: Die Ärzte könnten bei mir heute den größten Tumor feststellen und bösartige Krebszellen ausmachen, es wäre völlig egal. Ich konnte über den Zusammenbruch unseres Rentensystems herzlich lachen und meinen Zahnarzttermin in zehn Tagen absagen.
Sie fragen sich jetzt bestimmt, warum ich in vier Tagen sterben werde, oder konkreter, woran ich sterben werde. Ich klinge ganz munter und gewiss nicht sterbenskrank. Das bin ich auch nicht. Ich bin einundvierzig Jahre alt, ein Meter siebenundachtzig groß und schlank, auch wenn ich seit drei Jahren gegen eine Neigung zum Bauchansatz ankämpfe. Leider ist mein Programm etwas einseitig, das heißt, ich betätige mich sportlich, esse aber nicht weniger. Ich habe volles Haar; bekäme ich heute Morgen Haarausfall, dann könnte man mich dennoch in vier Tagen mit einem üppigen Schopf schwarz-grauer Haare beerdigen. Mir schwante mitunter, dass mich einige Frauen trotz zahlreicher Unstimmigkeiten erst nach zwei Jahren verlassen haben, damit sie noch länger mit ihren zarten Händen durch meine Nackenlocken fahren konnten. Zumindest taten sie das alle bis zum letzten Tag der Beziehung.
Warum ich so offensichtlich bindungsunfähig bin, habe ich eigentlich nie verstanden, bis meine Mutter es mir vor zwei Jahren erklärt hat. Als ich ungefähr drei Jahre alt war, hatte sie mich versehentlich fallen lassen, und ich musste mit einer Gehirnerschütterung drei Tage lang im Bett bleiben. Seitdem würde ich wohl keiner Frau mehr vertrauen. Da aber Vertrauen ein Meilenstein in einer festen Beziehung sei, käme ich niemals über die Phase der ersten Verliebtheit hinaus. Bei jeder nahenden Beziehung würde ich, so meine Mutter, plötzlich den Rückzug antreten, eine Frau müsste schon bahnbrechende Beweise ihrer Liebe liefern, damit ich ihr Vertrauen und Nähe entgegenbringen könnte.
Ich war ganz schön erleichtert über diese Erklärung, hatte ich doch schon leise erwogen, dass ich mich ändern müsste. Nun war ich ja gar nicht schuld an dem Schlamassel. Noch heute könnte ich eine richtig feste Beziehung beginnen, mit allen Schikanen, vier Tage lang, das würde selbst ich schaffen.
Erwähnen möchte ich zur Vervollständigung meines Steckbriefs vielleicht noch meine Nase und meinen Mund. Die Nase hat so eine aristokratische Neigung nach unten und ist dabei schmal und gerade, und meine Lippen haben ebenfalls einen gefälligen Schwung. Ich habe mal irgendwo gelesen, dass Richard Gere einen sinnlichen Mund hat, und meiner sieht so ähnlich aus. Also sinnlich.
Beruflich werde ich enden als Cheflektor eines mittelgroßen Verlages, der immerhin so bekannt ist, dass viele Leute bei der Erwähnung des Namens entzückt ausrufen: »Echt? Darf ich Ihnen mal mein Erstlingswerk zum Lesen mitgeben?« An dieser Stelle lösen sich dann viele Bekanntschaften auf. Ich lese immer die ersten sechs Seiten und gebe ein Feedback. Viele können mit Kritik nicht gut umgehen. Doch angesichts langatmiger, egomanischer Autobiografien kann ich mein berufliches Ego schlecht hinter einem freundlichen Nachbarschaftslächeln verbergen.
Sollte man noch arbeiten gehen, wenn man nur noch vier Tage zu leben hat? Nein. Sicher nicht. Ich überlegte weiter. So kurz vor der Frankfurter Buchmesse hatten wir eine Urlaubssperre, also musste ich mich krankmelden. Ich fand, die Umstände erlaubten diese kleine Notlüge, die, psychologisch betrachtet, eigentlich gar keine Lüge war. Meine Befindlichkeit kam einem seelischen Ausnahmezustand sehr nahe, und dieser machte ein konzentriertes Arbeiten unmöglich.
Woran ich sterben werde, weiß ich im Übrigen nicht. Aber das wissen schließlich die wenigsten Menschen. Woran stirbt man unverhofft mit einundvierzig Jahren? Ein Herzinfarkt wäre möglich, ist zur Zeit aktuell bei den Fünfunddreißig- bis Fünfundvierzigjährigen. Zumindest, wenn man den Zeitschriften der Krankenkassen, die als freundlicher kostenloser Service ins Haus flattern, Glauben schenken kann. Darin finden sich Informationen über allerlei Krankheiten, von denen ich niemals geahnt hätte, dass sie mir wie auf den Leib geschneidert sind.
Zum Beispiel dachte ich bislang, mein linker Arm täte mir vom Tennisspielen weh, aber nach der spannenden Lektüre meiner Servicezeitschrift weiß ich, dass es auch ein Anzeichen für einen drohenden Herzinfarkt sein könnte. Kopfschmerzen bekommt man schon mal häufiger, weil die Büroarbeit nicht gut für die Nackenmuskulatur ist oder den Augen zu viel zugemutet wird. Aber als informierter Kunde meiner Krankenkasse nehme ich nicht mehr unbeschwert eine Paracetamol, sondern mache mir Sorgen über ein Aneurisma im Gehirn, das zu platzen droht und mich entweder schwachsinnig oder tot der Fürsorge meiner Verwandtschaft überlässt. Und wie schön man in diesen Illustrierten auf das nahende Alter vorbereitet wird. Bilder von lächelnden, sporttreibenden alten Menschen präsentieren sich neben Artikeln über Blasenschwäche, Darmkrebs und Altersdemenz. Nun denn, ich kann nun die schlimmsten Artikel unbeschwert lesen. Vier Tage, so schnell kann keine Demenz fortschreiten, um mich noch zu beeinträchtigen.
Vielleicht werde ich umgebracht. Ein interessanter Gedanke. Da fühlt man sich gleich richtig wichtig. Sie müssen sich mal vorstellen, welche Anstrengungen ein Mörder unternimmt, um jemanden vom Leben in den Tod zu befördern. Mir wäre es jedenfalls lieber, jemand arbeitet richtig daran, um mich loszuwerden, als wenn ich beispielsweise aufgrund unvorsichtigen oder dummen Verhaltens im Kanal ertrinken würde. Im Münsteraner Kanal ertrinken regelmäßig Menschen, meistens, weil sie ihre Hunde retten wollen, die sie vorher mit einem Stöckchenwurf selbst hineingelockt haben. Wenn man in Münster nicht gerade studiert, hat man zwei Kinder und einen Hund. Mitunter gibt es auch Studenten, die zwei Kinder und einen Hund haben, da wird das Klischee dann doppelt bedient. Allerdings gibt es auch noch eine Gruppe distinguierter, kultivierter Senioren, welche die Wirtschaft aufrechterhalten und die zahlreichen Kirchen aufsuchen. Und alle werden älter als ich, dachte ich, und sah einen Unfall voraus, im Auto oder auf dem Fahrrad. Eines war jedenfalls sicher, ich sollte in vier Tagen sterben.
Dessen gewiss bin ich mir seit einem bestimmten Ereignis, ja, eigentlich gab es sogar mehrere Hinweise.
Als alleinstehendem Mann stehen mir die Wochenende in unausgefüllter Herrlichkeit zur Verfügung. Keine Verpflichtungen, außer ein paar Einladungen oder hier und da mal eine Lesung, bei der ich erscheinen muss, ansonsten Ruhe, freie Zeiteinteilung und endlos duschen, ohne dass jemand an die Badezimmertür hämmert.
Eine Universitätsstadt wie Münster ist kulturell auf einem beachtlichen Stand und trotz katholischer Prägung und traditioneller Familienstrukturen von interessanten Singles bewohnt. Wenn ich also in den Fängen einer beginnenden Beziehung stecke, kann ich wunderbare Arrangements zu zweit kreieren, mit allem Drum und Dran, und doch wieder unbelastet in meine Wohnung zurückkehren. Aber den Punkt mit der Bindungsunfähigkeit hatten wir bereits.
Vor Kurzem lag ein freies Wochenende vor mir, und ich entschloss mich zu einem Kurztrip ans Meer. Von Münster aus ist man in gut drei Stunden am Strand. Ich wollte mir eine Übernachtung gönnen und fuhr also am Samstagmorgen los, ohne Frühstück. Auf diese Mahlzeit wollte ich mich während der Autofahrt freuen und sie auf einer Terrasse am Strand genießen. Im Gegensatz zu einem Freitagnachmittag kam man samstags in der Früh recht gut in den Norden; kein Stau hielt mich auf, und ich war nach zwei Stunden und fünfundvierzig Minuten in Norddeich.
Nach einem ausgiebigen Frühstück mit frischem Lachs, geräucherter Forelle und einem Obstmüsli begab ich mich in mein Hotel, um mich in die typische Bekleidung zu werfen, die einen Strandurlauber von einem Kurgast unterschied. Knielange Shorts, ein grell orangefarbenes Shirt und Badelatschen oder Flip-Flops. Zur Information für den unkundigen Leser: Der Kurgast trägt eine Art Trainingsanzug, bei großer Wärme auch schon mal sportlich in der Kniekehle gerafft, dazu feste Schuhe oder Sportschuhe, und er führt ein kleines Heftchen mit sich, in dem die zahlreichen Anwendungen verzeichnet sind. Daher darf auch die Armbanduhr nicht fehlen, denn der Kurgast ist schließlich nicht zur Erholung dort, sondern folgt einem strengen Zeitplan und hetzt zwischen den Anwendungen hin und her, als handele es sich um lebensrettende Maßnahmen.
Nachdem ich einige Stunden in der milden Septembersonne gelegen hatte, nahm ich schließlich mein Handtuch und mein Buch, um zum Hotel zurückzugehen. Es waren etwa eineinhalb Kilometer, die ich mich vom Hotelstrand entfernt hatte, und so marschierte ich mit flotten Schritten am Wasser entlang und bewunderte meine Fußspuren, die als kräftige Abdrücke in dem feuchten Untergrund zu sehen waren. Ich näherte mich einer Frau, die schon allein durch ihre Haltung meine Aufmerksamkeit erregte. Sie ging sehr aufrecht, beinahe stolz. Ihre Füße waren nackt, die leichte blaue Leinenhose trug sie bis zu den Waden hochgeschlagen. Ein weißes Hemd, an eine Tunika erinnernd, schmeichelte ihrer leicht gebräunten Haut. Die schwarzen, mit grauen Strähnen durchzogenen Haare waren locker aufgesteckt und kräuselten sich anmutig im Nacken. Sie war schon etwas älter, aber mit ihren hohen Wangenknochen und den dunklen Augen wirkte sie sehr apart. Früher einmal musste sie eine Schönheit gewesen sein.
Schließlich hatte ich sie erreicht und lächelte sie verlegen an. Sie blieb stehen, und auch ich hielt inne, ohne zu wissen, warum. Sie lächelte nicht und sie wirkte auch nicht betroffen, als sie die alles verändernden Worte sprach: »Du stirbst in fünf Tagen, weißt du das?«
Dann drehte sie sich um und ging weiter, nun mit sehr zügigen Schritten, aber noch immer in derselben aufrechten Haltung.
Eine Irre, dachte ich, so schön und total verwirrt. Dennoch folgte ich der Frau. Ich ging direkt hinter ihr her und starrte auf ihre und auf meine Füße. Etwas stimmte nicht. Etwas stimmte ganz und gar nicht. Die Frau wandte sich vom Wasser ab und eilte auf die Dünen zu, die Hände nun abwehrend zur Seite gestreckt. Ganz offensichtlich wollte sie nicht, dass ich ihr folgte. Dann verschwand sie in den Dünen, und ich wusste plötzlich, was hier nicht stimmte. Diese Frau war nicht irre, und ich würde tatsächlich in fünf Tagen sterben.
Barfuß war sie durch den Sand gelaufen, aber sie hatte nicht eine einzige Fußspur hinterlassen! Ich war hinter ihr hergegangen, hatte gesehen, wie ihre Füße den Sand berührten, aber nicht das kleinste Sandkorn hatte darauf reagiert. Sie musste über den Boden geschwebt sein. Das können nur sehr wenig Menschen. Eigentlich fällt mir nur einer ein, der so etwas gekonnt hatte, und der war sozusagen mit göttlichem Antrieb und einem konkreten Ziel vor Augen zum Menschen geworden. Hastig erforschte ich den Pfad, den die Frau in die Dünen genommen hatte. Oben angekommen, schaute ich nach links und rechts den Weg entlang, doch ich konnte sie nicht mehr sehen.
Etwas entfernt auf einer Bank saß ein älteres Ehepaar, beide starrten auf den Horizont. Neben ihnen standen zwei Fahrräder. Hatte ich Wahnvorstellungen gehabt? Das wäre wenig tröstlich, war aber schnell zu überprüfen. Zunächst machte ich mir die aktuellen Daten bewusst. Samstag, der 21. September, mein Name ist Michael Schubert, geboren am 24. Januar 1971. Danach befragte ich das Ehepaar. »Haben Sie eben diese dunkelhaarige Frau mit der weißen Bluse gesehen? Wo ist sie hingelaufen?«
Beide schauten mich an. Sie auf eine neugierige, erwartungsvolle Art, als hoffte sie auf eine gute Geschichte, er mit humorvollem Blick und einem anerkennenden Nicken, als bewundere er meine Zielstrebigkeit. Dabei hatte ich ganz andere Sorgen. Ich wollte nur wissen, ob die beiden die Frau gesehen hatten oder nicht.
»Sie ist da lang.« Der Mann zeigte mit der rechten Hand die Dünen entlang. Erst jetzt fiel mir die alte Pfeife auf, die er in der Hand hielt. Sein Arm wirkte sehnig und dünn, die Hand knöchern und gebräunt. Wenn er recht hatte, dann war diese seltsame Frau den Weg zurückgelaufen, den sie im Sand hierher spaziert war. »Sie hat mir zugezwinkert.« Er griente breit und entblößte dabei eine Reihe regelmäßiger Zähne. Zu regelmäßig, um die echten Zähne eines etwa siebzigjährigen Mannes zu sein.
Seine Frau schüttelte den Kopf und betrachtete sein Haupt, als wären seine krausen, noch immer recht fülligen Haare an derartigen Gedanken schuld. »Sie hatte es sehr eilig.« Nun schaute die ältere Dame mich beinahe vorwurfsvoll an. »Und sie hatte einen merkwürdigen Gang.«
»Sie hatte einen wunderbaren Gang«, neckte ihr Mann sie, doch seine Frau zog ihre Stirn faltig und schaute, als wäre ich ihr eine Erklärung schuldig. »Sie ging irgendwie merkwürdig.«
Sie starrte mich nachdenklich an, ich starrte zurück und hoffte auf eine Erläuterung. Plötzlich stieß sie ihren Mann an und sagte: »Erinnerst du dich an diesen alten Monumentalfilm, den wir immer zu Ostern schauen? Den Film über Jesus? Wie der übers Wasser läuft, das hat genauso ausgesehen wie bei der Frau. Möchte wissen, wie die das macht.«
Mir wurde schlecht, ich murmelte eine Entschuldigung und stürzte davon.
Einige Zeit später saß ich an der Hotelbar und starrte in das zweite Glas eines mir unbekannten Cocktails. Es kann sehr beruhigend sein, mit einem Strohhalm zwischen exotischem Obst zu stochern und hin und wieder einen schlürfenden Schluck durch das enge Rohr zu ziehen. Das alkoholhaltige Getränk kommt so langsam und kontrolliert im Mund an.
Ich dachte über das Erlebte nach. »Du stirbst in fünf Tagen, weißt du das?« Dieser Satz drängte sich immer wieder nach vorne. Ich rief mir die Frau in Erinnerung, ihre Worte und ihre Art, sich zu bewegen, und auch die Aussage des älteren Ehepaars. Die beiden hatten an meiner mysteriösen Frau nur einen auffälligen Gang bemerkt. Der Mann hatte sich sogar über ein Augenzwinkern gefreut. Nach alldem, was ich über diese Person zu wissen glaubte, wäre ich über ein Augenzwinkern stark beunruhigt gewesen.
Ich hatte deutlich gesehen, dass sie keine Fußspuren hinterlassen hatte, obwohl sie zweifelsfrei durch den Sand gelaufen war. Und andere Menschen hatten sie auch gesehen. Vielleicht gab es für alles eine Erklärung? Noch hatte ich sie, diese ganz kleine Hoffnung, die mich aufrechthielt. Doch dann geschah etwas und ließ mich endgültig an die Unabwendbarkeit meines vorhergesagten Schicksals glauben.
Noch während ich den letzten klebrigen Rest aus meinem Cocktailglas saugte, hörte ich an der Rezeption des Hotels lebhafte, aufgeregte Stimmen. Das war an sich nichts Ungewöhnliches um diese Zeit, denn die Gäste strebten allmählich zur Abendmahlzeit. Befremdlich war nur das schrille und verzweifelte Weinen einer älteren Dame. Was konnte die Frau so in Aufruhr gebracht haben? Mir kam der überhebliche Gedanke, dass ich über die Probleme dieser Dame wahrscheinlich lächeln würde. Vielleicht hatte man ihr die Handtasche gestohlen, oder sie hatte einen Anruf bekommen, dass ihr Dackel verstorben war. Ich aber sollte in fünf Tagen niemals mehr in der Lage sein, zu weinen oder zu schreien. Entnervt verließ ich die Bar, um mich für ein Abendessen herzurichten, bei dem mir wahrscheinlich jeder Bissen wie ein Stein durch die Kehle wandern würde.
Ich kam nicht sehr weit. Fünf Meter von der Rezeption entfernt blieb ich stocksteif stehen. Draußen näherte sich das grelle Tuten eines Martinshorns, ein Rettungswagen hielt vor dem Eingang des Hotels, und zwei Männer eilten an mir vorbei. Ein Hotelangestellter im dunklen Anzug lief ihnen entgegen und wies ihnen den Weg zum Aufzug, während er mit einer unauffälligen, aber deutlichen Handbewegung einer Frau an der Rezeption zu verstehen gab, sie solle sich um die alte Dame kümmern.
Diese weinende Dame war keine Unbekannte für mich. Keine zwei Stunden war es her, dass sie mit ihrem Mann auf einer Bank gesessen und mir freundlich Auskunft erteilt hatte.
»Sie hat mir zugezwinkert.« Die Worte ihres Gatten klangen mir in den Ohren wie eine düstere Ahnung.
Als wenig später der Mann im dunklen Anzug mit dezentem Kopfschütteln zur Rezeption ging, um eine Telefonnummer herauszusuchen, und einige Minuten danach auch die Rettungssanitäter mit nun deutlich weniger Eile zu ihrem Wagen zurückkehrten, da wusste ich es ganz sicher: Ich würde sterben. Zwar hatte ich ein paar Tage länger bekommen als der alte Mann, doch dieser kurze Zeitraum stand in keinem Verhältnis zu unserem Altersunterschied. Er hatte sein Leben gelebt. Keiner in diesem Hotel würde sich wundern, wenn ein älterer Herr plötzlich durch einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall verstarb. Ich hingegen – ich hatte es bereits erwähnt –, ich war erst einundvierzig Jahre jung!
Warum nur hatte die Frau es mir überhaupt gesagt? Damit ich in die verbleibenden vier Tage – den heutigen konnte man ja kaum noch dazuzählen – noch alles an Genuss und Vergnügen packen konnte, das andere auf dreißig Jahre verteilen mussten? Danke.
Genuss? Vergnügen? Mein Magen krampfte sich zusammen, mir wurde übel. Meine Lungen fühlten sich an, als hätten sie plötzlich Löcher und ließen sich kaum noch mit Luft füllen. In meinem Kopf pochte es wie ein Zeitzünder. In so einem Zustand würde ich die kommenden Tage wohl kaum genießen können.
Irgendjemand kümmerte sich um die Ehefrau, und die übrigen Hotelgäste hatten ein Thema für ihr Tischgespräch und strebten zum Speisesaal. Ein Gast, mit dem man heute Morgen vielleicht noch das eine oder andere Wort gewechselt hatte, war einfach umgefallen und tot liegen geblieben. Wie aufregend. Manch einem fiel vielleicht ein, dass der alte Herr am Frühstücksbuffet doch etwas zittrig gewirkt hatte oder dass er in seinem Alter auch keine Radtouren mehr hätte unternehmen dürfen. Ich wusste es besser. Der Mann hatte gesund und munter gewirkt. Das Radfahren hatte ihm nicht geschadet, und Herumsitzen im Lehnstuhl hätte ihn nicht gerettet. Dieser Samstag war sein vorgesehener Todestag, und damit basta. In vier Tagen und einer Nacht war meiner. Vielleicht Mittwochnachmittag, spätestens Mittwochabend würde ich Geschichte sein.
Angesichts der wenigen Zeit, die mir noch blieb, wollte ich natürlich so schnell wie möglich nach Hause. Noch knapp fünf Nächte in meinem eigenen Bett verbringen. Ich würde mir noch einige Male die Zähne putzen, mir aber nie wieder im Leben die Fußnägel schneiden. Das hatte ich erst vor zwei Tagen gemacht. Ein skurriler Gedanke. Mein Vorrat an Kaffee würde wahrscheinlich gerade so reichen, und Öl für den Winter brauchte ich auch nicht zu bestellen.
Und so setzte ich mich dann trotz einer ansehnlichen Menge an Alkohol im Blut hinter das Steuer meines Audis und fuhr nach Hause. Ich fahre sonst nie Auto, wenn ich Alkohol getrunken habe, und ich bin nicht stolz darauf, es dieses Mal getan zu haben. Die Begründung für das Vergehen hätte mir die Polizei zwar nicht geglaubt, aber meine Entscheidung war wohl nur allzu verständlich.
ZWEI
Das war gestern gewesen. Nach einer Nacht, in der Schlaf nur in Form düsterer Träume gekommen war, saß ich in meiner Küche, einen starken Kaffee in der rechten Hand, vor mir einen Teller mit French Toast. Das aß ich sonst nie. Ich liebte dieses süße Gericht, aber mein gut entwickeltes männliches Ego befand, dass es kein geeignetes Frühstück für einen dynamischen Mann war. Alles auf dem Teller schien aus der Form geraten. Der Toast in seinem Eimantel schwamm als schlabbriger Klumpen in einer braunen, klebrigen Soße, dem Ahornsirup. Da wirkten ein Mettbrötchen mit Zwiebeln oder ein kantiges Käsebrot doch kerniger. Egal. Ich aß jetzt, worauf ich Appetit hatte, und befand mich in der unbestritten glücklichen Lage, mehrmals die berühmte Henkersmahlzeit genießen zu können.
Hier saß ich also und überlegte, wie ich die nächsten vier Tage so richtig sinnvoll nutzen könnte. Die erste Stunde war schon um. Es gab doch so viele Dinge, die man sich immer versagte, warum fielen sie mir nicht ein? Ich musste es anders angehen. Der moderne berufstätige Mensch ist gar nicht mehr in der Lage, ins Blaue hineinzuleben und sich nur seinen Bedürfnissen und Wünschen zu widmen. Ich würde mir eine Liste der Dinge machen, die ich unbedingt noch erledigen wollte, und später einfach alles Unangenehme streichen.
Es gab einige Menschen, von denen ich mich gern verabschieden wollte, insgeheim natürlich, ohne dass diese Personen erfuhren, worum es bei dem Treffen ging. Meine Mutter wollte ich sehen, sie umarmen, ihr einige besonders nette Dinge sagen. Ich schrieb diesen Besuch ganz oben auf die Liste. Ein feuchter Fleck neben der Stelle, an die ich das Ausrufezeichen gemalt hatte, machte mich wütend. Sentimentalität würde mir diese letzten Tage nur verderben. Entschlossen wischte ich die nächste Träne weg und schrieb unter den Punkt »Mutter besuchen« »Sex haben«. Hatte ich vor wenigen Tagen noch dem heiligen Valentin dafür gedankt, dass ich momentan ohne Partnerin war, stellte mich dieser Zustand angesichts meiner knappen verbleibenden Zeit nun vor eine heikle Frage. Wer sollte die Auserwählte sein? Ich war bestimmt kein Moralapostel, aber eine gewisse emotionale Nähe sollte schon vorhanden sein. Ich könnte eine Exfreundin anrufen. »Hallo, Martina. Du, ich habe nur noch vier Tage zu leben und würde vorher gern noch mal … na, du weißt schon. Und mit dir hatte ich immer besonders guten Sex.«
Würde eine alte Freundin sich über einen derartigen Anruf freuen? Tief in meinem Inneren ahnte ich, dass Frauen anders tickten und das Kompliment in dieser Anfrage nicht erkennen würden.
Nachdem ich noch einen Saunabesuch auf die Liste gesetzt hatte sowie die Vernichtung einiger sehr persönlicher Briefe und Dokumente – es gab Dinge, die waren auch über den Tod hinaus peinlich –, wählte ich tatsächlich Martinas Nummer. Mit ihr verband mich ein beinahe freundschaftliches Verhältnis, wenn ich mal von einer leidenschaftlichen Affäre absah, die uns eineinhalb Jahre wie zwischen Scylla und Charybdis gefangen gehalten hatte. Wir konnten einfach nicht nett zueinander sein und verfingen uns immer wieder in den gleichen Fallen von Vorwürfen und Verletzungen. Ich denke, Martina ging unsere Konflikte zu pädagogisch an, sie wollte mich ständig verändern und zum perfekten Partner modellieren. Aber wer will schon einen Hanswurst? Frauen stellen sich andauernd selbst Fallen, in die sie dann mit so viel Elan reinrasen, dass jeder normal veranlagte Mann nur noch zu seinen Fußballkameraden will. Unsere Körper aber harmonierten perfekt.
Schließlich hatte Martina sich getrennt, weil sie meinte, sie sei zu alt für meine Spielchen. Ha! Ich spielte nicht, ich lebte! Doch da sie etwa acht Jahre jünger war als ich, traf mich diese Äußerung besonders hart. Es gibt Konstellationen, die passen einfach nicht. Es hätte niemals geklappt, selbst wenn ich mich wie ein harmoniebedürftiger, bindungsfähiger Westfale verhalten hätte.
Doch Martina war spontan genug, um sich einfach mal mit mir zu treffen. Sie war alleinerziehende Mutter eines fünfjährigen Jungen, berufstätig und würde sich über eine Einladung zum Essen sicherlich freuen.
Es klingelte dreimal, dann meldete sich eine tiefe Stimme: »Bröker.«
Kurz brachte mich die männliche Tonlage aus dem Konzept, doch ich sprach forsch drauflos: »Hallo, hier ist Michael. Kann ich bei Ihnen eine Martina sprechen oder bin ich falsch verbunden?«
»Moment«, und dann, etwas entfernter: »Schatz, kommst du mal, für dich.«
Die Sache konnte ich eigentlich vergessen. Ich wusste nicht, was mich noch am anderen Ende des Hörers hielt. »Hallo?«
»Hallo, Martina, ich bin es, Michael. Du, ich bin heute in Münster und dachte, ich lade dich mal zum Essen ein. Wir könnten über alte Zeiten plaudern und …«
»Du wohnst in Münster. Was soll das heißen, du bist heute mal in der Stadt?«
»Stimmt. Deswegen kam mir meine Wohnung so bekannt vor. Ich war halt viel unterwegs in letzter Zeit.«
»Was ist los mit dir? Trinkst du?«
»Nein.«
»Nimmst du Drogen?«
»Weil ich mit dir essen gehen will?«
Ich hörte ihr gereiztes Stöhnen. »Michael, heute ist Sonntag, und bald ist die Frankfurter Buchmesse, da hast du doch nie Zeit. Es ist über zwei Jahre her, dass wir zusammen waren, und du willst einfach so mit mir essen gehen? Ich weiß nicht, in welcher Krise du steckst, aber meine Antwort lautet Nein. Wenn du mich sehen willst, dann komm in zwei Wochen zu meiner Hochzeit.«
»Du heiratest? Das ist toll. Herzlichen Glückwunsch, Martina.« Meine Stirn zog sich in tiefe Falten.
Am anderen Ende hörte ich ein herzliches Lachen. »Das wirft deine Pläne ganz schön über den Haufen, oder? Seit wann bist du auf ehemalige Freundinnen angewiesen, Michael?«
Seit ich unter Zeitdruck stehe. Das dachte ich natürlich nur. Laut wiederholte ich mein harmloses Angebot. »Ich wollt wirklich nur mit dir essen gehen. Doch ich nehme an, dein Ehemann in spe wird das kaum gutheißen.« Souverän bereitete ich das Ende des Telefonats vor, als ihre Stimmung plötzlich umsprang.
»Ach, warum eigentlich nicht? Thomas ist heute Abend mit seinem Bruder verabredet. Holst du mich so gegen halb sieben ab?«
Ich legte auf, hatte die gewünschte Verabredung und fühlte mich miserabel.
Natürlich würde ich keine Frau verführen, die in zwei Wochen in den heiligen Bund der Ehe trat, egal, wie gut und wie lange ich ihren Körper schon kannte. Also hatte ich an einem der letzten Abende meines Lebens ein Date, das eine völlig sinnlose Zeitverschwendung war. Gedankenverloren nahm ich meinen leeren Teller und leckte die Reste des Ahornsirups von der runden Fläche. Bei diesem Akt unbeschwerter Zügellosigkeit dachte ich wieder an meine Mutter und griff erneut zum Hörer, um meinen Besuch in den nächsten Tagen anzukündigen.
Die nächsten wertvollen dreißig Minuten meines Lebens verbrachte ich damit, durch ständiges Betätigen der Wiederholungstaste meine Mutter trotz eines Dauertelefonats zu erreichen.
»Harald? Hast du etwas vergessen?« Die Stimme meiner Mutter klang amüsiert. Und ein wenig neckend. Einen Harald kannte ich überhaupt nicht.
»Ich bin es, Michael.« Ein wenig knurrig fügte ich hinzu: »Dein einziger Sohn.«
»Ich weiß, wie viele Söhne ich habe. Ist etwas nicht in Ordnung, Michael?«
»Es ist Sonntagvormittag, ein durchaus gängiger Termin, um mit seiner Mutter zu telefonieren. Wieso fragst du das?«
»Weil du etwa vierundzwanzig Mal in der Leitung angeklopft hast. Ich kann das während des Telefonierens hören.«
Das klang jetzt vielleicht nicht nett, aber meine Mutter war neunundsechzig Jahre alt und sollte sich verdammt noch mal fernhalten von Technik, die nicht für ihr Alter entwickelt worden war. Meine Ohren glühten, so peinlich war es mir, ertappt worden zu sein.
»Ich muss gleich weg«, log ich, »und wollte dich vorher erreichen. Was hältst du davon, wenn ich dich morgen mal zum Essen ausführe, Mutti?«
»Das ist eine fabelhafte Idee, aber können wir das verschieben?«
Meine Antwort kam beinahe hektisch. »Nein, das geht auf gar keinen Fall. Ich bin dann beruflich unterwegs.« Verdammt. Hatte sich diese Frau am Strand eigentlich Gedanken darüber gemacht, welche Folgen ihre Prophezeiung haben würde? Ausgerechnet die letzten Tage meines Lebens musste ich fehlbar und sündhaft verbringen, eine Lüge zog die nächste nach sich. Bei so viel menschlichem Fehlverhalten fiel mir gleich ein neuer Punkt für meine Liste ein.
Aber zunächst widmete ich mich wieder meiner Mutter. »Bei mir ginge es auch noch am Dienstag.«
»Michael, das geht nicht. Ich verreise für einige Tage. Melde dich doch einfach, wenn du wieder zurück bist. Ich bin nämlich schon am Kofferpacken.«
Plötzlich wurde mir sehr heiß. Die Hitze fing im Nacken an und stieg rapide hoch bis zu den Ohren und dann bis unter die Kopfhaut. Ich machte mir klar, dass ich meine Mutter nie wiedersehen würde und vielleicht gerade zum letzten Male ihre Stimme hörte. In Panik hörte ich mich »Nein!« schreien. Ich musste es tatsächlich laut herausgeschrien haben, denn meine Mutter war nun schon die zweite Frau innerhalb kurzer Zeit, die meinen Gesundheitszustand in Frage stellte. »Geht es dir nicht gut?«
»Ich komme kurz vorbei.« Dann legte ich auf, in Panik, sie könnte mir eine Absage erteilen. Der Schweiß floss mir in Strömen übers Gesicht, zumindest kam es mir so vor. Vielleicht waren es auch nur ein paar Tropfen, aber dem Gefühl nach hatte ich einen körperlichen Kraftakt vollbracht und nicht nur meine Mutter angelogen. Bevor ich mir ein frisches Hemd anzog und kaltes Wasser ins Gesicht spritzte, schrieb ich den vielleicht wichtigsten Punkt auf: »Pastor aufsuchen.« Ich brauchte dringend einen Halt, irgendeinen Halt.
Meine Mutter wohnte in Ahlen. Das bedeutete, ich musste etwa vierzig Minuten Autofahrt einkalkulieren. Ich entschied mich für die Landstraße, die über Hiltrup und Rinkerode nach Ahlen führte. Als das Telefon plötzlich schellte, verließ ich fluchtartig meine hübsche Drei-Zimmer-Wohnung im Kreuzviertel von Münster, voller Angst, meine Mutter riefe zurück, um mich an diesem spontanen Besuch zu hindern.