Umschlag

Sabine Schulze Gronover, Jahrgang 1969, arbeitet als Diplom-Pädagogin und Kunsttherapeutin in Kliniken in Münster und Hamm. Sie lebt in Drensteinfurt, ist verheiratet und hat eine vierzehnjährige Tochter. 2011 erschien im Emons Verlag ihr erster Kriminalroman »Todgeweiht im Münsterland«.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2012 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagfoto: photocase.de / carlitos
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-117-6
Westfalen Krimi
Originalausgabe

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EINS

Meine Beerdigung war eine enttäuschende Aneinanderreihung von Geschmacklosigkeiten. Aber die Organisation dieser so persönlichen Veranstaltung war mir leider nicht vergönnt.

Der Pfarrer hielt eine Ansprache über meinen Einsatz in der Jugendarbeit, über die vielen jungen Seelen, denen ich angeblich eine neue geistige Heimat bereitet hätte. Machen wir doch kein Theater darum. Ich bin von Beruf Sozialpädagoge und habe nur meinen Job gemacht.

Des Weiteren lobte der Pfarrer meinen stets mutigen Einsatz, ohne zu erwähnen, wie gern er mich dabei behindert hatte. Beispielsweise, wenn es um Spenden für die Jugendarbeit ging oder darum, gemeinsame Aktionen mit Jugendlichen aus dem sozialen Brennpunkt und seinen Messdienern zu organisieren. Er sprach von meiner Nächstenliebe und verschwieg seine Vorurteile gegen junge Menschen aus muslimischen Familien. Er tat so, als wäre ich einer seiner fleißigen Kirchgänger gewesen, obgleich die Anzahl der Hostien, die ich aus seiner Hand empfangen hatte, erschreckend gering war.

Und dann kam das Ave-Maria, gesungen von Herbert Knoll aus dem Kirchenchor. Das Ave-Maria ist ein wunderschönes Lied, aber so abgenutzt wie Jingle Bells am zweiten Weihnachtsfeiertag. Wie konnte man mir nur so etwas antun? Über meine jahrelange Feindschaft mit Herbert Knoll will ich an dieser Stelle gar nicht reden. Das gehört schließlich nicht auf eine Trauerfeier. Aber ich hätte mir ein passenderes Abschiedslied gewünscht. Ein weniger sanftes, weniger getragenes Lied. Bei mir war schließlich nicht alles piano und andante, es gab auch oft crescendo und fortissimo.

Ja, und dann erst die sogenannten Trauergäste. Ein gutes Drittel von denen hätte von mir niemals eine Einladung erhalten.

Einigen nahm man die Trauer ohnehin nicht ab. Da standen tatsächlich Leute an meinem Grab, die sich letzte Woche noch geweigert hatten, mit mir am Telefon zu sprechen! Wollten sie herausfinden, unter wie vielen Zentimetern Erde man mich in den Boden verbannte?

Der Blumenschmuck gefiel mir, blaue Blüten, weiße Blüten und viel Grünzeug.

Ein paar meiner Jugendlichen waren erschienen, sie gaben mir das letzte Geleit, so wie ich diese Kinder oft zur Schule begleitet hatte oder zu ihren Eltern. Letzteres war meistens auch eine traurige Angelegenheit gewesen. Aber über diese Besucher freute ich mich wirklich.

Die Sonne schien und zauberte Lichtblitze in Lisas Haare.

Und endlich fragte ich mich, was ich hier eigentlich tat und wie ich es tat. Schnell fand ich heraus, dass ich überhaupt nichts tat. Vielmehr geschah etwas mit mir. Die Menschen an meinem Grab wurden kleiner, die irdischen Geräusche wie Vogelzwitschern, menschliche Gesprächslaute und natürlich der Verkehrslärm entzogen sich plötzlich meiner Wahrnehmung. Mein Kopf beziehungsweise das, was ich bislang noch davon benutzt hatte, schien sich mit Watte zu füllen, und mein quasi letzter Gedanke war: Jetzt stirbt auch noch meine Seele. Erst muss der Körper dran glauben, dann lassen sie dich noch eine Weile zuschauen, damit das Sterben nicht gar so schlimm erscheint, und schließlich bist du einfach weg.

Das dachte ich zumindest. Aber irgendwann hatte ich doch wieder so eine Art Körpergefühl und bewegte als Erstes meine Augen. Ich schaute, wohin es mich verschlagen hatte. Hell war es, so, als säße man bei sonnigem Wetter in einem Wintergarten. Es herrschte eine angenehme Temperatur, und es roch nach Blüten. Eine gewisse Erleichterung machte sich in mir breit. Schwefelgeruch und große Hitze hätten mich nun doch beunruhigt.

»Herzlich willkommen!« Die Stimme gehörte zu einem jungen Mann, der in einem merkwürdig altmodischen Gewand vor mir stand und mich aus blauen Augen anschaute. Seine Haare waren länger, als meine Lisa es mir jemals erlaubt hätte. Ein junger Philosoph aus vergangenen Zeiten. Berückend schön.

Ich verkniff mir die peinliche Frage, ob ich im Himmel sei. Der Satz jedoch, den ich stattdessen laut aussprach, war nicht minder unangebracht. »Schön warm haben Sie es hier. Mein Name ist Rudolf Kemper.«

Der Adonis grinste leicht. »Ich weiß. Und das bereits in dritter Generation. Uns passieren diesbezüglich selten Fehler.«

Er hatte wohl mein irritiertes Gesicht bemerkt, denn er fügte hinzu: »Nun, hier kommen meistens schon die Leute an, die wir erwarten, Rudi. Dein plötzliches Ableben tut mir leid, aber wir brauchten hier oben dringend einen guten Sozialpädagogen.«

Während ich zu begreifen versuchte, was ich gerade vernommen hatte, sah ich mich nach einer Sitzgelegenheit um. War ich etwa gar nicht tot? Hatte man irgendeine merkwürdige Inszenierung mit mir unternommen, quasi die Hardcore-Version von »Versteckte Kamera«? Ich konnte das alles nicht fassen.

»Da, wo ich herkomme, locken Headhunter mit mehr Lohn, wenn sie einen Mitarbeiter abwerben wollen.«

»Wir erledigen das hier anders. Verzeihung.«

Schließlich streckte er mir eine feingliedrige Hand entgegen und setzte hinzu: »Ich bin Jonas. Komm mit, ich zeige dir dein neues Zuhause.«

Ich lief hinter ihm her. Was sollte ich auch sonst tun? Unsicher fragte ich: »Sag mal, macht ihr das öfter? Wenn ihr Hunger auf Berliner bekommt, lasst ihr einen guten Bäcker sterben oder so ähnlich?«

»Natürlich nicht! Es war kompliziert genug, dich für unsere Sache zu bekommen. Wir mussten verschiedene Anträge stellen und Berichte verfassen.«

Allmählich glaubte ich mich wirklich in einer bizarren, surrealen Komödie und reagierte entsprechend: »Ach was! Bei mir ist nur der Totenschein angekommen.«

Jonas schritt mit der Eleganz eines Tänzers vor mir her. Jetzt drehte er sich um und fragte erstaunt: »Sag mal, bist du etwa wütend?«

Der Kerl hatte vielleicht einen naiven Charme. »Ich weiß ja nicht, zu welcher Spezies du gehörst, aber wir Menschen werden nicht so gern abrupt aus dem Leben gerissen. Meistens betreiben wir sogar einen ziemlichen Aufwand, um das Sterben möglichst weit hinauszuschieben. Und wir bewerben uns in der Regel nicht um eine Stelle im Jenseits.«

Jonas schaute mich einige Sekunden schweigend an, dann sagte er im Weitergehen: »Du wärst in fünf Jahren an Krebs gestorben.«

Ich rechnete aus, wie viele Steaks ich in fünf Jahren noch hätte essen können, und fühlte mich trotzdem betrogen. Also beendete ich diese unfruchtbare Diskussion und widmete mich der neuen Umgebung.

Die war behaglich. Zwar erinnerten die Räume und Flure an ein Raumschiff, aber es fehlte die technisierte Kühle. Es gab nur wenig Möbel, die meisten waren Sitzgelegenheiten, und da waren nirgendwo Türen. Eine warme Helligkeit empfing mich überall, ohne dass ich eine bestimmte Lichtquelle hätte benennen können.

In einem Saal, der an einen Seminarraum erinnerte, bat Jonas mich schließlich Platz zu nehmen und zu warten. Er selbst verschwand.

Ich befand mich in einer merkwürdigen Stimmung zwischen Behaglichkeit und Besorgnis. Wovor konnte man noch Angst haben, wenn man bereits tot war? Eine Unmenge von Fragen ging mir durch den Kopf. Was war das hier eigentlich für ein Ort? Brauchte man im Himmel Sozialpädagogen? Sicherlich nicht.

Unerwartetes Gekicher riss mich aus meinen Gedanken. Keine zwei Meter von mir entfernt standen drei Jugendliche, zwei Jungen und ein Mädchen. Ich schätzte sie auf etwa sechzehn bis achtzehn Jahre. An einem Ort wie diesem spielte das aber wohl kaum eine Rolle. Dachte ich.

»Hallo! Bist du nicht ein bisschen jung zum Sterben?« Der Junge, der mich das fragte, hatte fransig geschnittene Haare und erinnerte mich an ein Bandmitglied von Tokio Hotel. Vermutlich war dieser Eindruck erwünscht. Er nahm das Gekicher der anderen wie eine gewohnte Beifallsbekundung entgegen.

»Ihr seid wohl nur zu Besuch hier, was?«

Nacheinander schoben die drei sich in den Raum herein. Das Mädchen sagte: »Wir sind alle nur zu Besuch hier.« Der Junge mit den langen Haaren stellte sich jetzt vor: »Ich bin Dominik.« Dann lauschte er, denn es waren eilige Schritte zu hören. Erstaunt bemerkte ich, dass die drei sich davonmachen wollten, so, als dürften sie bei mir nicht gesehen werden.

Dominik drehte sich noch mal um und sagte: »Ich weiß ja nicht, was du so vorhast, aber uns kriegen die hier nicht mehr weg.« Damit verschwanden sie.

Interessanter Aspekt. »Hier« zu sein war also erstrebenswert.

Jonas betrat nun wieder den Raum in Begleitung eines Mannes, der mich an einen jüdischen Rabbi erinnerte. Für diesen Eindruck war ein langer, sorgfältig zurechtgemachter Bart verantwortlich. Seine Kleidung hingegen ähnelte der von Jonas. Ich überlegte, ob mir solche Gewänder wohl stehen würden, und wunderte mich einmal mehr über die Körperlichkeit, die mir trotz allem erhalten geblieben war. Immerhin hatte ich gesehen, wie mein Körper in einen Sarg gelegt worden und dann in einer Erdgrube verschwunden war. Unvermittelt fasste ich mit einer Hand meinen Arm, um zu überprüfen, ob ich tatsächlich noch hatte, was ich für vorhanden hielt.

Mit bemerkenswerter Aufmerksamkeit sagte Jonas zu mir: »Die Menschen sind so sehr an ihre Körperlichkeit gebunden, dass wir sie an diesem Ort aufrechterhalten.«

»Und wie heißt dieser Ort?«, wollte ich wissen.

Der andere Mann antwortete, und ich war sofort eingenommen von der Ruhe in seiner Stimme: »Dieser Ort ist namenlos. Namen sind Wegweiser, nicht wahr? Hierhin kommt man ohnehin, wenn es so weit ist.«

»Ausgenommen Sozialpädagogen mit einer besonderen beruflichen Qualifikation. Bei denen helft ihr schon mal nach.« Mein Vorwurf prallte gegen Watte. Jonas lächelte mir charmant zu.

Jonas’ Begleiter erwiderte: »Ich sehe, wir können gleich zur Sache kommen. Ich bin Raoul. Die drei jungen Leute, für die wir deine Hilfe benötigen, hast du gerade kennengelernt.«

»Sie waren so sehr darum bemüht, dass unsere Bekanntschaft nicht bemerkt wird.«

Jonas lächelte sanft. »Sie haben noch nicht begriffen, dass wir sie nicht wirklich sehen müssen, um ihre Anwesenheit zu bemerken.«

»Und die Anwesenheit dieser Jugendlichen ist hier wohl nicht erwünscht?«

»Setzen wir uns.« Raoul machte eine einladende Handbewegung, und die beiden ließen sich mir gegenüber nieder. Ich hatte noch niemals so bequem gesessen, das schwöre ich. Dabei handelte es sich um einfache, hell gebeizte Holzbänke.

Raoul legte seine Hände bedeutungsvoll auf die Tischplatte und setzte zu einer Erklärung an: »Wenn ein menschliches Wesen seiner Bestimmung entsprechend stirbt, dann trennt es sich damit von seiner körperlichen Hülle. Diese wird beerdigt oder verbrannt, manchmal auch mumifiziert. Was eben in der jeweiligen Zeit und Kultur angemessen erscheint. Wie genau das geschieht, ist schlechthin ohne Bedeutung, selbst wenn die Leiche bei einem Schiffsunglück auf den Grund des Meeres sinkt. Du hast es gerade erlebt. Deine Aufmerksamkeit blieb noch einige Zeit bei deinem Körper, deinen Angehörigen und deinem alten Leben, dann bist du zu uns gelangt.«

Etwas theatralisch breitete Raoul die Arme aus, und ich dachte schon, von mir würde nun eine Umarmung erwartet. Doch er sprach weiter: »Diese paar Tage halten wir für wichtig, um sich zu verabschieden und sich an den anderen Bewusstseinszustand zu gewöhnen. Wenn man hier ankommt und einige Zeit verweilt, genießt man üblicherweise die Behaglichkeit. Man trauert dem alten Leben nicht mehr hinterher, sondern ist bereit für etwas Neues.«

Ich überlegte kurz und musste zugeben, dass Raoul im Großen und Ganzen recht hatte. Ich fühlte mich behaglich und verspürte merkwürdigerweise kaum Abschiedsschmerz, sehnte mich weder nach meinem Zuhause, meinen Angehörigen oder sonst etwas. Allerdings war ich noch immer erregt darüber, dass dieser Jonas die Arroganz besessen hatte, meinen Lebenszeitplan zu durchkreuzen.

Raoul hatte meine Aufmerksamkeit wieder, als er fortfuhr:

»Wir sind hier nur eine Zwischenstation. Das heißt, hier werden die Menschen auf eine erneute Rückkehr zur Erde vorbereitet. Sie verabschieden sich von ihrem alten Leben und von ihren Erinnerungen und entwickeln Aufgaben, die es im nächsten Leben zu bewerkstelligen gilt.«

Ich schaute ihn verdutzt an und fühlte mich auf den Arm genommen. »Reden wir hier von Reinkarnation? Bin ich etwa im buddhistischen Himmel gelandet? Ich bin Katholik, müsst ihr wissen.«

Jonas antwortete mit einer gewissen Überheblichkeit: »Ihr Menschen und eure Religionen! Werft sie doch alle in einen Topf, rührt um und esst gemeinsam daraus. Ich will dir sagen, was die richtige Religion ist: Wer an das Gute glaubt, der ist auf dem rechten Wege. Wie er den Schöpfer beim Beten letztendlich benennt und ob er dabei kniet, liegt oder in der Schaukel sitzt, ist ohne jede Bedeutung.«

Raoul sprach weiter, als hätte es diese Exkursion in die Komplexität der menschlichen Religionen gar nicht gegeben. »Hier tauscht ihr ein altes Leben gegen ein neues.«

»Warum?«

Jonas schaltete sich wieder ein. »Du hast Klavier gespielt, Rudi, richtig?« Ich nickte. »Und wenn du ein Stück gespielt hast, warst du bemüht, es jedes Mal besser zu spielen. Wenn du Sport gemacht hast, war es dein Bestreben, dich mit jeder Trainingsstunde zu verbessern. Der Mensch forscht und übt sein Leben lang, um Dinge besser zu machen. Das ist ein göttliches Prinzip. Der Mensch als Individuum soll auch immer besser werden. Aber …«, Jonas erhob den Zeigefinger, »bei alldem soll der Mensch frei bleiben, sich für das Gute zu entscheiden oder dagegen. Das kann zu einem ewigen Dilemma führen.«

Raoul ergänzte etwas süffisant: »Glaub mir, Rudi, euer oft auf Bildern dargestelltes Fegefeuer, da steckt ihr doch längst drin. So ist das Leben auf der Erde, wie ihr es euch gestaltet.«

Ich hatte so ein Gefühl in der Brust, das man schwer beschreiben konnte.

»Und die Hölle?«, wagte ich einen Einwand. »Kommt die Hölle dann, wenn Gott die Geduld mit jemandem verliert, oder wie darf ich mir das vorstellen?«

Raoul und Jonas schauten sich betroffen an und sagten beinahe gleichzeitig: »Wir wissen es nicht.«

Und Raoul fügte hinzu: »Das ist Chefsache.«

Dann strich er sich mehrmals über den Bart und machte sich daran, mir die unglaubliche Geschichte der drei jungen Leute zu erzählen. Offensichtlich konnte auch im Jenseits einiges schieflaufen.

»Sie sind plötzlich hier aufgetaucht, ohne dass wir sie erwartet hätten. Es gab keine Zuständigkeit, keine Todesursache, nichts. Ihr Menschen seid daran gewöhnt, nicht alles zu wissen, für uns ist das ein unverzeihlicher Fauxpas.« Raouls Gesicht verzog sich schmerzhaft.

Jonas ergriff wieder das Wort: »Wir haben natürlich schnell nachgeforscht und erfahren, dass die drei aus einem polnischen Waisenhaus entlaufen waren und auf ihrer Flucht nach Deutschland verunglückt sein mussten. In ihrer Heimat gelten sie als verschollen. Dort geht man davon aus, dass sie es bis nach Deutschland geschafft haben. Aber es sind Waisenkinder, keiner kümmert sich wirklich darum, was aus ihnen geworden ist.«

»Und was ist nun tatsächlich passiert? Ich meine, woran sind diese drei denn nun gestorben?«

Meine Frage wurde mit betretenem Schweigen entgegengenommen. Jonas sagte: »Wir wissen es nicht.«

»Selbstmord vielleicht?«, mutmaßte ich. Ich wusste, dass Selbstmord bei jungen Leuten eine der häufigsten Todesursachen war.

Jonas beugte sich ein wenig vor. »Hör zu, Rudi, wenn jemand in unserem Bezirk stirbt, egal wie, dann wissen wir das.«

Meine Güte, dieser schöne Mensch konnte daherreden wie ein Cop in L.A.!

»Und wenn sie nun außerhalb dieses Bezirks gestorben sind?«

»Sind sie nicht! Mit dem Wort Bezirk umschreiben wir kein fest umrissenes Gebiet.« Er seufzte, schaute hilfesuchend zu Raoul und ergänzte: »Ich will es mal so offen wie möglich sagen: Nach all dem, was wir über diese drei Jugendlichen wissen, wären sie niemals in diesen Bezirk aufgenommen worden. Egal, wann, wo oder woran sie gestorben wären!«

So allmählich bekam ich eine Ahnung davon, dass Jonas und Raoul ein echtes Problem hatten. Allerdings war mir noch immer nicht klar, wieso sie sich ausgerechnet von mir Hilfe erhofften.

»Warum fragt ihr sie nicht einfach, was passiert ist?«

Ich hatte keine Ahnung, wie man hier im Jenseits miteinander umging, aber mir schien das naheliegend. Jonas und Raoul jedoch wirkten bei all ihrer Souveränität jetzt etwas ratlos. Raoul strich sich erneut über den Bart und erzählte, dass man die drei Jugendlichen natürlich mehrfach befragt habe. Allerdings habe man bislang keine plausible Erklärung erhalten. Es war weder Raoul noch Jonas gestattet, in irgendeiner Form Druck auszuüben oder gar erzieherisch tätig zu werden. Ihr Einfluss auf die menschlichen Seelen war begrenzt, ihre Aufgabe war lediglich die Begleitung und Vorbereitung Verstorbener auf ein neues Leben. Es war noch niemals vorgekommen, dass Neuankömmlinge sich weigerten, diesen Ort wieder zu verlassen.

Immerhin gab es also einen göttlichen Plan. Bei mir dachte ich, dass meine beiden heiligen Begleiter doch vielleicht mal einen Schnupperkurs auf der Erde machen sollten. Dort lief so gut wie nie etwas nach Plan, und die Fähigkeit zur Improvisation war eine der wichtigsten Überlebensstrategien.

Laut fasste ich zusammen: »Die drei jungen Leute sind also spurlos aus Polen verschwunden, offensichtlich gestorben und nun an diesem Ort. Sie weigern sich, etwas Neues zu beginnen, und wollen hier nicht mehr weg. Was geschieht denn, wenn sie bleiben?«

Jonas schüttelte den Kopf. »Das geht auf keinen Fall. Sie müssen sich bewähren, und das können sie nur auf der Erde. Wenn wir es nicht schaffen, sie auf den rechten Weg zu bringen, werden sich andere des Problems annehmen. Abgesehen davon, dass wir für unser Versagen dann Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen müssten, würde das für unsere drei fatale Folgen haben. Menschen gehören auf die Erde, so lange, bis der Boss etwas anderes entscheidet.«

Eine Frage interessierte mich brennend, aber ich wollte nicht respektlos erscheinen. Also bemühte ich mich sehr um eine vorsichtige Formulierung: »Gibt es denn keine Anweisungen oder einen Ratschlag von oben, wie ihr mit dem Problem umzugehen habt?«

»Die Anweisungen waren schon immer eindeutig: Wenn es Probleme gibt, sollen wir sie lösen.«

Jonas strahlte mich an, als er sagte: »Und darum haben wir uns jetzt den zweitbesten Sozialpädagogen unseres Bezirks geholt. Ich bin zuversichtlich, dass wir mit deiner Hilfe unsere rebellischen Neuzugänge wieder gemäß des göttlichen Plans auf den rechten Weg führen werden.«

Meine nächste Frage lag auf der Hand. »Wieso habt ihr denn nicht den besten Mann geholt? Ich habe mich nicht um diesen Job gerissen.«

»Oh, dieser andere Pädagoge ist gerade Vater geworden. Er wird auf der Erde gebraucht.«

Ich bin mir sicher, mein Mund stand mindestens eine Minute lang offen, bevor ich etwas erwiderte. »Ich hatte einen Hund, der mich liebte.«

Dabei dachte ich aber an Lisa.

Körperlich fühlte ich mich wunderbar behaglich, aber meine Laune hatte sich plötzlich verschlechtert. Die Begründung für meinen Tod klang nicht mehr nach einem Kompliment. Tatsächlich war ich einsam genug zum Sterben gewesen, und das rieben sie mir jetzt rein. Diese beiden Handlanger oder Engel besaßen so viel Empathie wie eine hungrige Ratte. Kein Wunder, dass Dominik und seine Freunde nicht bereit waren, mit ihnen zu reden.

Raoul berichtete mir zunächst von dem Mädchen. Die sechzehnjährige Maria hatte seit ihrem fünften Lebensjahr in dem Waisenhaus gelebt. Alle Vermittlungsversuche an potenzielle Pflegefamilien waren fehlgeschlagen, da Maria sich auf überhaupt keine Beziehung zu einem anderen Menschen einließ. Den einzig tragfähigen Kontakt hatte sie offensichtlich zu Dominik aufgebaut, der vor etwa drei Jahren in das Heim gekommen war. Dominik musste schon früh lernen, für sich und andere zu sorgen. Seine Mutter war Alkoholikerin, kümmerte sich nur sporadisch um den Sohn, und als sein Vater bei einem Autounfall starb, wurde ihr das Sorgerecht entzogen. Jetzt war er achtzehn.

Der dritte Junge hieß Viktor. Er war still und blass, ein rätselhaftes Buch, in dem weder Freund noch Feind zu lesen verstanden. Er war unter merkwürdigen Umständen in das Waisenhaus zu Dominik und Maria gekommen, nachdem seine Eltern plötzlich als verschollen galten. Nach einer Odyssee durch die verschiedensten Institutionen war er schließlich im Heim gelandet. Viktor war siebzehn.

Abgesehen davon, dass ich mir zahlreiche gute Gründe vorstellen konnte, warum die drei jungen Leute aus dem Waisenhaus geflohen waren, verstand ich doch nicht, warum sie über den Umstand ihres Todes so vehement schwiegen. Meine Phantasien diesbezüglich waren wild und ausufernd.

Wie immer, wenn jemand etwas so betont zu verschweigen versuchte wie diese jungen Leute, begannen die Mutmaßungen zu wuchern. Ich sah drei junge Ausreißer vor mir, die unterwegs in die Hände brutaler Kinderschänder geraten waren. Vielleicht waren sie auch auf einer einsamen Landstraße überfahren worden oder wilden Tieren zum Opfer gefallen. Allerdings gab es im Münsterland davon nicht allzu viele. Wenn man hier durch ein Tier zu Tode kam, dann meist, weil ein zartes Reh dem zu schnell fahrenden Auto die Vorfahrt nahm, das eigene Pferd sich unter dem Sattel den Hals brach oder die erwilderte und mit Genuss verzehrte Wildsau von Trichinen befallen war.

Ich konnte mir eigentlich nicht vorstellen, dass meine neuen Schützlinge die Umstände ihrer Anwesenheit hier verschwiegen, weil das Ende so schrecklich gewesen war. Dieser Ort war derart, dass einem solche Erinnerungen eigentlich nicht mehr viel ausmachten. Schließlich wusste ich durchaus Bescheid, wie es war, auf grässliche Weise ums Leben zu kommen.

Offenbar wollten Dominik, Maria und Viktor ihre beiden Todesbegleiter Jonas und Raoul ganz bewusst im Ungewissen lassen.

Da man Jugendliche, die aufgrund eines Traumas nicht bereit sind zu sprechen, anders behandelt als junge Leute, die sich aus Trotz dazu veranlasst fühlen, waren solche Überlegungen für mein weiteres Vorgehen wichtig. Dass meine nächste Frage unsere beiden Gastgeber verwirrte, zeigte mir, wie wenig Raoul und Jonas von Teenagern verstanden. »Wenn man in ein neues Leben startet, baut man doch völlig neue Kontakte auf, oder? Es bleibt einem keinerlei Erinnerung an sein altes Leben und die Menschen, die man einmal geliebt hat?«

Jonas und Raoul schüttelten beinahe gleichzeitig den Kopf. »Es ist so unwahrscheinlich wie ein Lottogewinn, dass man im neuen Leben auf dieselben Seelen trifft, geschweige denn, dass man sich dessen bewusst ist. Für den Menschen wichtig ist lediglich die Fähigkeit zu lieben und einander zu vertrauen, und die entwickelt sich immer wieder neu.«

Ich überlegte, dass sich diese Fähigkeit anscheinend langsam abnutzte, wenn man die Scheidungsrate betrachtete und die Tatsache, dass Singles mittlerweile eine eigene Subkultur bildeten.

Ich schaute erst Jonas und dann Raoul an. »Entschuldigt bitte, aber dann wundert ihr euch, dass diese drei nicht bereit sind, in ein neues Leben aufzubrechen?«

»Nein, ich habe eigentlich aufgehört, mich über die Menschen zu wundern, schon vor zweitausend Jahren.« Raoul grinste mich an.

Ich seufzte nur. Diese drei Ausreißer hatten in ihren jungen Leben schon sehr viele Verluste erlitten. Es hatte niemanden gegeben, der sie bei sich aufnehmen wollte. Bei keinem der drei bestand eine tragfähige Beziehung zu auch nur einem Elternteil. Nun hatten sie sich zu einer Gruppe zusammengefunden und empfanden wahrscheinlich zum ersten Mal nach langer Zeit ein Gefühl von Zuhause, von Familie. Im realen Leben hätte ich sie darin unterstützt, zusammenzubleiben. Und ich würde ihnen auch jetzt gern beistehen. Das Problem war nur, dass die drei mausetot waren!

Ihr Starrsinn würde sie in die Verdammnis bringen, wobei ich mich weigerte, das Wort »Hölle« auch nur zu denken. Wenn man sich bereits im Jenseits befand, erschien einem so ein Thema verdammt nah und sehr bedrohlich.

Laut sagte ich: »Es liegt doch auf der Hand, dass eure jungen Besucher sich nicht mehr trennen wollen. Bietet ihnen einen Handel an! Dann gehen sie bestimmt.«

Raoul unterbrach mich: »Wir sind hier nicht auf dem Basar, Rudi. Mach ihnen bitte klar, dass sie gehen müssen.« Ein letztes Mal liebkoste er seinen Bart, dann schritt er hinaus.

Warum nur erfasste mich plötzlich der Eindruck, dass Raoul Angst hatte? Und wenn Raoul als gottgesandte Instanz im Jenseits Angst bekam, wie viel mehr Sorgen musste ich mir als Mensch dann wohl machen? Ich drehte mich zu Jonas um, doch der legte nur den Zeigefinger an die Lippen und schickte mich ebenfalls hinaus. »Sie sind im Garten. Geh immer dem Geruch nach, dann wirst du den Ort finden.«

ZWEI

Zum ersten Mal, seitdem ich von meinem skurrilen Arbeitsauftrag erfahren hatte, begann ich mir Gedanken darüber zu machen, ob es irgendwelche Konsequenzen für mich haben könnte, wenn ich versagte.

Der »Garten« war eine Art Steppenlandschaft mit wenigen Bäumen, einigen Sträuchern und viel Gras, das von Sand- und Kiesflächen unterbrochen wurde. Die Temperatur war auch hier angenehm, und der Duft, von dem Jonas gesprochen hatte, erinnerte entfernt an weihnachtliches Räucherwerk. Eher würzig als süß.

Dominik, Maria und Viktor saßen an einen der vereinzelt stehenden Bäume gelehnt und schienen auf mich zu warten. Viktor stapelte kleine Steinchen zu einem Turm, den er dann mit einem Finger wieder umstieß. Maria versuchte, einem Grashalm einen Ton zu entlocken. Ihre Wangen waren bereits gerötet von der Anstrengung, und sie sah so jung und verspielt aus, dass ich das ganze Sterben verfluchte.

Dominik lächelte mir zu und sagte: »He, jetzt kommt die himmlische Geheimwaffe gegen rebellische Sterbliche. Setz dich hin, toter Mann.«

»Würdest du aufstehen und mit mir ein Stück gehen?«

Leichtfüßig sprang er auf. »Geschickt! Alter Polizeitrick, habe ich recht? Die Gruppe trennen und jedes Mitglied einzeln weichklopfen.«

»Und, bist du weichzuklopfen, Dominik?« Er ging tatsächlich bereitwillig voran, spreizte seine zehn Finger und fuhr sich mit einer entspannten Geste durch die langen Haare.

»Oh, ich unterhalte mich gern mit den Neuankömmlingen. Vor Kurzem kam ein sehr alter Mann hier an, der hatte vielleicht Geschichten auf Lager! Wenn nur die Hälfte davon der Wahrheit entsprach, dann hatte der aus einem Leben gleich drei gemacht.«

»Und was ist mit dir, Dominik? Was hast du für Geschichten zu erzählen?«

»Ich kenne ein paar recht traurige Geschichten über Kinder, die zur falschen Zeit am falschen Ort zur Welt gekommen sind. Ich kenne einige lustige Geschichten über Kinder, die trotz widriger Umstände etwas Spaß im Leben haben wollten, und ich kenne kriminelle Geschichten über Kinder, die auf die schiefe Bahn geraten sind, weil da keiner war, der ihnen einen anderen Weg schmackhaft gemacht hätte. Und glaub mir, Rudi, meine Geschichten gehen allesamt schlecht aus.«

Ich schaute Dominik an und war erstaunt, wie erwachsen er wirkte.

»Erzähl mir einfach deine Lieblingsgeschichte.«

Dominik breitete die Arme aus und drehte sich einmal um die eigene Achse. »Das hier ist meine beste Story. Die ist mir richtig gut gelungen.« Er lachte mich herausfordernd an. Wenn er lachte, bekam er kleine Grübchen in den Wangen. Ein geborener Anführer mit Charme, Witz und Intellekt. Aber das Leben hatte ihm schlechte Bedingungen beschert.

»Wie bist du gestorben?« Jetzt lachte er mich nicht an, sondern aus. »Das behalten wir noch etwas für uns.«

Wir gingen eine Zeit lang schweigend durch den Garten. Die Landschaft veränderte sich nur unwesentlich, immer wieder der gleiche Wechsel von Gras und Gebüsch, mal stand ein Baum dazwischen.

Dominik brach das Schweigen als Erster. »Wie war es bei dir, Rudi? Woran bist du gestorben?«

Nun war es an mir zu lächeln. »Kommunikation bedeutet Austausch. Ihr drei treibt ein gefährliches Spiel, Dominik. Ihr brecht Regeln, die so alt sind wie die Menschheit selbst. Das wird man sich nicht bieten lassen.«

»Was sollen Jonas und Raoul schon machen? Fakt ist, sie können uns von hier gar nicht vertreiben. Du musst es selbst wollen, sonst funktioniert es nämlich nicht.«

Mein Gespräch mit Maria verlief ganz anders, aber nicht minder frustrierend.

Sie war ein zartes Geschöpf mit braunen Rehaugen und langen, rot gefärbten Haaren. Wer sich wunderte, dass Maria nicht irgendwann in eine Pflegefamilie aufgenommen worden war, der musste nur mit ihr reden. Ihr Phlegma würde auch eine pädagogisch geschulte Familie nur zwei Tage lang ertragen.

»Maria, erzähl mal, wie ihr das damals gemacht habt, als ihr aus dem Heim weggelaufen seid.«

»Das war nicht weiter schwierig. Das machen viele.«

»Aber bei den meisten endet es hoffentlich nicht so dramatisch wie bei euch. Was geschieht mit jungen Ausreißern in Polen?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Manche landen auf dem Strich; die meisten kommen wieder, wenn ihnen kalt ist oder sie Hunger haben.«

»Ihr habt es ziemlich weit geschafft. – Rein örtlich betrachtet«, setzte ich schnell hinzu. Wieder ein Achselzucken, dieses Mal ohne eine Antwort.

»Wie weit seid ihr gekommen, Maria?«

»Na, bis hierher halt. Und von hier wollen wir auch nicht mehr weg.«

Diese Antwort klang beinahe so, als hätten die drei alles unternommen, um genau an diesem Ort zu landen. Das war natürlich nicht möglich, weil kein lebender Mensch wissen konnte, dass es diesen Ort im Jenseits überhaupt gab.

»Hattet ihr einen Unfall, Maria, oder habt ihr euch absichtlich das Leben genommen?«

»Wie dumm Sie sind, Rudi. Bleiben Sie doch auch einfach hier bei uns. Würde mich freuen.«

Ihr Augenaufschlag gehörte in die Welt des Theaters. Ich schaute mich im Garten um, drehte mich demonstrativ hin und her und sagte dann zu ihr: »Weißt du, Maria, mir wäre es hier auf Dauer zu langweilig.«

Sie zwirbelte eine Haarsträhne und zog sie durch den Mund. Dann erwiderte sie, wobei sie ihrer Stimme einen betont lässigen Klang gab: »Ich langweile mich eigentlich überall.«

Ihr Blick war in die Ferne gerichtet, aber im Grunde genommen war er leer. »Und außerdem, hier bleibt es ja vielleicht nicht so, wie es jetzt ist.« Ein letztes Achselzucken, und sie wandte sich von mir ab, um zu Dominik zurückzukehren. Nachdenklich blickte ich ihr hinterher. Ich nahm mir vor, mit Viktor ein anderes Mal zu sprechen. Wenn man mit drei Leuten über eine gewisse Sache reden möchte und dann nur zwei befragt, führt dies unweigerlich zu einer gewissen Dynamik in der Gruppe. Der Dritte beginnt sich zu fragen, warum man nichts von ihm wissen wollte. Vielleicht erzählte mir Viktor mehr, wenn ich ihn lange genug warten ließ.

Wie vertrieb man sich im Jenseits die Zeit? Ich hatte keine Ahnung. Also schlenderte ich weiter durch den Garten. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass ich mich in diesem Garten, egal, wie lange ich darin herumspazierte, nie sonderlich weit von meinem Ausgangspunkt entfernte. Und nun sah ich, dass auch noch andere Leute hier herumspazierten, offenbar hatte ich sie zuvor nur nicht bemerkt. Darunter war kaum einer, der älter als vierzig Jahre alt war, was mich doch verwunderte. Immerhin starben die meisten Menschen, wenn sie über siebzig waren. Die Leute saßen auf Bänken, wanderten gemächlich umher oder unterhielten sich. Eine Atmosphäre wie in einem Kurhotel, dachte ich plötzlich. Warum fühlten sich drei junge Leute zwischen sechzehn und achtzehn Jahren hier überhaupt so wohl? Konnten sie alle drei der Herausforderung eines Neubeginns wirklich so einfach widerstehen? Dann kam mir die letzte Bemerkung von Maria in den Sinn. Und der abwartende Eindruck, den alle auf mich gemacht hatten. Hier stimmte doch etwas nicht!

Wie zur Bestätigung stieß ich plötzlich auf einen Widerstand, und etwas knallte mir gegen die Brust. Ich erschrak, spürte jedoch keinerlei Schmerz. Vor mir stand eine lachende Frau um die dreißig mit einem völlig aus der Mode gekommenen Haarschnitt, der ihr allerdings ausgezeichnet stand.

»Meine Güte, wie kann man denn selbst im Jenseits noch so beschäftigt sein?«

»Entschuldigen Sie. Haben Sie sich wehgetan?«

Jetzt lachte sie noch lauter und meinte: »Nein, nein, das haben wir ja wohl alle hinter uns. Fürs Erste. Sie sind neu hier, nicht wahr?«

Ich fühlte mich wie ein Tölpel und stellte mich schnell vor: »Mein Name ist Rudolf Kemper.«

»Hanna Nielsen.«

Ich entschuldigte mich noch einmal für meine Unachtsamkeit. So etwas war mir nicht zum ersten Mal passiert. Wenn ich tief in Gedanken versunken war, gab es für mich praktisch keine Materie mehr. Ich lief gegen Schilder, Litfaßsäulen oder eben Personen. In meiner eigenen Wohnung konnte ich gegen ein Regal laufen, das ich selbst vor zehn Jahren dort aufgehängt hatte. Aber die Sache mit meinem Unfalltod hatte nicht ich verbockt, die war von Raoul geplant gewesen. Der Witz war nur: Kein Mensch, der mich kannte, konnte sich über dieses tödliche Missgeschick gewundert haben.

Ich entschied, dass es jetzt an der Zeit war, mich mal wie die anderen Toten zu verhalten und meine eigenen Fragen zu klären.

»Was macht man hier eigentlich so den ganzen Tag? Wandert man nur im Garten herum?«

»Nein, nein, aber es ist das, was ich am liebsten mache. Hier gibt es verschiedene Orte, an denen man Ruhe und Entspannung finden kann. Es werden Kurse und Gesprächsrunden angeboten, und natürlich gibt es geweihte Orte, an denen man beten kann.«

Ich fragte mich, warum ich so etwas von anderen Menschen erfahren musste und nicht von Jonas oder Raoul.

Hanna ging langsam weiter, und ich begleitete sie. »Wie lange bleiben die Leute in der Regel an diesem Ort?«

Sie hob die Arme und sagte: »Ich habe keine Ahnung. Es gibt hier keine Zeitrechnung, wie wir sie kennen. Es gibt auch keine Aufteilung in Tag und Nacht.«

Das wunderte mich, denn ich hatte das Gefühl, dass die angenehme Helligkeit eine Nuance dunkler geworden war.

»Irgendeine vergleichbare Zeiteinteilung muss es aber geben, man erfährt doch, wie viel Zeit auf der Erde verstrichen ist, nicht wahr? Darf ich fragen, wann Sie gestorben sind, Hanna?«

»Natürlich.« Sie blieb stehen und überlegte kurz. »Am 21.05.2011. Ich bin siebenundsiebzig Jahre alt geworden.« Sie reckte stolz ihr Kinn in die Höhe und wandte mir ihr Gesicht zu, das nicht älter als sechsunddreißig Jahre alt sein konnte. Ich war in doppelter Hinsicht schockiert.

»Sie sind schon bald ein Jahr lang hier, wissen Sie das?«

Hanna schien keineswegs erschrocken, eher belustigt. »Meine Güte, was läuft die Zeit an diesem Ort schnell. Wenn ich schätzen sollte, würde ich meinen Aufenthalt auf maximal vier Wochen hochrechnen. Aber es gab auch Leute, die nach mir gekommen sind und bereits wieder weg sind.«

»Waren diese drei jungen Leute, Dominik, Maria und Viktor, schon hier, als Sie kamen?«

»Oh ja, ich habe gehört, dass sie im Dezember 2010 oder Anfang 2011 gestorben sind. Sie müssen am Heiligabend 2010 weggelaufen sein, und kurze Zeit später ist ihnen etwas zugestoßen.«

Ich griff mir in den kurzen Haarschopf, weil sich darunter plötzlich eine merkwürdige Erinnerung breitmachte. Die kalte Silvesternacht vor über einem Jahr fiel mir ein. Ich war allein zu Hause, Lisa lag im Krankenhaus, es war nichts Ernstes. Ich mochte Silvester nicht besonders. Meine Güte, der Jahreswechsel gründete sich doch nur auf der menschlichen Zeiteinteilung, er war kein wirklicher Neuanfang. Für niemanden. Die Laster, die man im alten Jahr hatte, nahm man mit ins nächste Jahr. Eheprobleme oder berufliche Sorgen lösten sich auch nicht, nur weil man miteinander ein paar Raketen in die Luft jagte, und eine Krankheit scherte sich schon mal gar nicht ums Datum oder eine andere Jahreszahl. Nach zwölf Uhr Mitternacht herrschte genau das gleiche Wetter wie vor zwölf. Wozu dann das ganze Theater?

Also saß ich mit einem guten Buch am Kamin und genoss einen Cappuccino mit Milchschaum und Sahne. Ich hätte Lust gehabt auf einen geschmackvollen Whisky, aber alle tranken in dieser Nacht Alkohol, also ließ ich es und kam mir wie ein Rebell vor. Viertel nach zwölf wurde ich von der Polizei angerufen, weil drei ausländische Jugendliche in mein Jugendzentrum eingebrochen waren. Die Polizei hatte die drei in Gewahrsam genommen, doch mit irgendeinem Trick waren sie wieder entkommen. Ein Mädchen, zwei Jungen! Dominik, Viktor und Maria?

Wenn sich schon vor einem Jahr ihre Wege mit meinem gekreuzt hatten, und das auch noch kurz vor ihrem mysteriösen Tod – war es dann wirklich ein Zufall, dass man mich geholt hatte?

Etwas hatte mich damals stutzig gemacht, ein Umstand, der diesen Einbruch in einem bizarren Licht erscheinen ließ. Die jungen Leute hatten eine Cola getrunken und Geld neben die Flaschen gelegt. Sie hatten nichts kaputt gemacht oder gar gestohlen, sie hatten nur gespielt! Es gab weiß Gott bessere Gründe, in das Jugendzentrum einzubrechen. Für eine Cola und ein Billardspiel hätten sie auch einfach so vorbeischauen können.

Ich war sehr stolz auf diese Einrichtung, unterschied sie sich doch deutlich von den heruntergewirtschafteten, schlecht ausgerüsteten Zentren, die man sonst in den Städten sah. Wie konnte man glauben, dass junge Menschen ihre Freizeit lieber in schlecht beheizten, kargen Räumen zubrachten und an einer ausrangierten Tischtennisplatte spielten, statt durch die Straßen, Bahnhöfe und Kinos zu ziehen? Warum sollten sie sich von irgendwelchen Erziehern sagen lassen, wie ungesund Cola sei und dass ein Bier für sie genüge, wenn es am Bahnhof niemanden interessierte? Jugendzentren mussten Anreize schaffen, und das konnten sie nur, wenn sie keine Ghettos waren. In unserem Zentrum gab es drei Computer mit Internetzugang, zwei Gameboys und ein paar Kraftsportgeräte. Eine beachtliche Sammlung an DVDs und gemütliche Sitzecken mit großen Fernsehern luden zu Kinoabenden in Gemeinschaft ein. Dass dabei die eine oder andere Raubkopie in den DVD-Player geschoben wurde, musste man genauso ignorieren wie die Tatsache, dass einige der verantwortlichen jungen Leute, die einen Schlüssel hatten, in den behaglichen Räumen auch schon mal ein Schäferstündchen genossen. Wir besaßen zwei elektronische Dartscheiben, und ich war gerade auf der Suche nach einer günstigen Wii, für die sich die Jugendlichen Geld durch eine Autowaschaktion verdient hatten.

Es gab also jede Menge Technik, die sich zu stehlen lohnte, und so war ich in der Silvesternacht auch sehr besorgt ins Zentrum geeilt. Leider waren die drei Polen bei meiner Ankunft bereits wieder flüchtig.

»Sie sehen so erschrocken aus, Rudi. Ist alles in Ordnung?« Ich spazierte noch immer neben der heiteren Hanna durch den Garten und fühlte mich bei einer Unhöflichkeit ertappt.

»Ich habe gerade über Maria, Dominik und Viktor nachgedacht. Sie hatten es im Leben wohl wirklich nicht einfach, und dann mussten sie so jung sterben.«

Hanna blieb stehen und schaute sich um. »Mir sind diese Kinder unheimlich. Sie müssen wissen, ich war Lehrerin, und diese drei wirken so, als warteten sie auf etwas oder auf jemanden. Das mag eine spezifische Eigenart von Heimkindern sein, die immer hoffen, dass jemand sie holt, aber hier an diesem Ort kommt es mir so verkehrt, so unlogisch vor. Wissen Sie, was ich meine?«

Ich wusste es und war erstaunt, wie genau Hanna meinen eigenen Eindruck formulierte. Je länger ich mich mit ihr unterhielt, desto mehr brannte mir eine Frage auf der Seele: »Wie kommt es, Hanna, dass Sie mit siebenundsiebzig Jahren gestorben sind und doch aussehen wie eine Frau um die dreißig?«

Sie lachte und betrachtete ihre Hände. »Rudi, Ihnen hat man offenbar wirklich nicht erzählt, wie das hier im Jenseits so läuft. Wie alt sind Sie denn geworden?«

»Beinahe achtundvierzig. Ich hatte bereits Einladungen zu meinem Geburtstag verschickt.«

»Nun, Sie sehen aus wie Mitte dreißig, höchstens. Sie wirken gesund und sportlich, Rudi.«

»Hoffentlich entwickle ich im nächsten Leben keine Todessehnsüchte, weil ich mich noch rudimentär an meine Fitness und mein gutes Aussehen im Jenseits erinnern kann«, scherzte ich.

»Man bekommt den Körper zugewiesen, in dem man sich im Laufe seines Lebens am wohlsten gefühlt hat. Bis zu einer gewissen Grenze. Natürlich laufen hier keine Säuglinge herum.«

Ich überlegte laut: »Warum machen sie das?«

Hanna schwieg eine Weile, dann sagte sie: »Ich habe keine Ahnung, aber dies ist ein Ort der Erholung und der Loslösung vom alten Leben. Ich glaube, mir fiele es deutlich schwerer, in meinem verkrüppelten und von Arthrose geplagten Körper die Seele baumeln zu lassen, wie man so schön sagt. Sie müssen wissen, die letzten fünfunddreißig Jahre meines Lebens saß ich im Rollstuhl. Ach Rudi, ich könnte tagelang hier im Garten herumspazieren. Wenn keiner schaut, hüpfe ich sogar über ein Hindernis, das es gar nicht gibt.«

Jetzt lachte ich endlich einmal. Unbekümmert ermunterte ich sie: »Es wird allmählich dunkler, lassen Sie uns reingehen.«

Mittlerweile hatte ich mehrere Leute in eine bestimmte Richtung streben sehen. Nur Dominik, Maria und Viktor lehnten noch lässig an ihrem Baum und schauten den anderen zu. In diesem Moment waren sie mir auch unheimlich.

Ich spürte einen Druck am Arm, Hanna hielt mich fest. »Rudi«, sagte sie leise, »Rudi, hier ist es noch niemals dunkler geworden. Das Licht ist immer gleich. Immer!«

»Wann sind Dominik und seine Freunde gestorben? War das kurz nach der Jahreswende 2010/2011?«

Ich stand vor dem strahlend schönen Jonas, der etwas bekümmert dreinsah.

»Rudi, natürlich wussten wir, dass sie damals in dein Jugendzentrum eingebrochen sind. Am nächsten Tag, also an Neujahr 2011, sind sie gestorben. Aber keiner weiß, wie das geschah.« Er lächelte entschuldigend.

Ich berichtete Jonas von meinem Gespräch mit Maria und ihrer merkwürdigen Andeutung, dass es hier Veränderungen geben könnte. Und ich erzählte ihm von meinem und Hannas Eindruck, wonach die jungen Leute auf etwas Bestimmtes zu warten schienen. »Kann es sein, dass sie mit einer nicht menschlichen Macht kooperieren?«

Jonas sah mich irritiert an: »Mit einer höheren Macht? Sie sind Menschen. Menschen können keine Geister rufen oder Engel herbeibeschwören. Das gibt es nur in eurer Phantasie, Rudi.«

Ich hatte mir zeitlebens etwas von meinem Kinderglauben bewahrt. Ein bisschen naiv, aber tröstlich. Die Kirche betrachtete ich dabei als eine vollständig von Menschen entwickelte und gestaltete Institution, deren Regeln für mich weniger bindend waren als die in meinen Augen von Gott gewünschte Ordnung. Meine öffentlichen Auseinandersetzungen mit Kirchenvertretern waren oft genug Stadtgespräch gewesen, und wenn ich an die Artikel im Lokalteil denke, tritt ein Lächeln auf mein Gesicht, das manche boshaft nennen würden. Ich nenne es zufrieden.

Nun hatte ich auf einmal sehr merkwürdige Probleme und erfuhr, dass ich mein ganzes Leben lang falschgelegen hatte.

»Und können Engel oder vergleichbare Wesen den Kontakt zu Menschen herstellen?«, fragte ich weiter.

Er zuckte lässig die Achseln. »Natürlich.«

Waren alle Engel von Natur aus so naiv wie Jonas, oder war das eine ganz persönliche Note von ihm?

Ich beugte mich vor und fragte ihn eindringlich: »Was wäre, wenn es Dominik, Viktor und Maria gelungen ist, ins Jenseits zu kommen, ohne zu sterben?«

Jonas verschränkte die Arme. »Das ist unmöglich.«

»Immerhin war es möglich, dass sie ohne euer Wissen hierherkamen. Und ihr habt noch immer keine Ahnung, wie sie gestorben sind. So etwas ist angeblich auch nicht möglich, oder? Vielleicht liegt das ganz einfach daran, dass sie verdammt noch mal gar nicht tot sind.«

Den Fluch nahm Jonas mir übel, das sah ich ihm an, und ich lächelte entschuldigend. Aber über meine Vermutung dachte er lange nach. Schließlich meinte er: »Ich habe keine Idee, wie sie das gemacht haben sollen. Es ist schon lange her, seit die Menschen zuletzt versucht haben, in den Himmel zu gelangen.«

»Und? Haben sie es geschafft?«

Jonas ging einige Schritte umher und dachte nach, bevor er antwortete: »Du kennst die Geschichte, Rudi. Die Menschen bauten einen hohen Turm. Er sollte bis in den Himmel reichen.«

»Du meinst den Turmbau zu Babylon?«

»Meine Güte, was haben wir damals gelacht über diese Narren. Entschuldige bitte. Aber unser Herr fand das nicht lustig, sondern höchst anmaßend. Er war zornig und verwirrte ihre Sprachen.«

Ich starrte ihn an, da ich mir sicher war, dass er sich über mich lustig machte. Wissenschaftler wussten schließlich, wie sich Sprachen entwickelt hatten.

Jonas fuhr fort: »Wenn du recht hast mit deiner Vermutung, dann müssten unsere drei einen sehr perfiden Plan verwirklicht haben, denn dieses Mal scheint es niemandem aufgefallen zu sein.«

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass halbe Kinder in der Lage waren, so viel Unruhe zwischen Himmel und Erde zu stiften. So etwas war für Jugendliche überhaupt nicht typisch, sie kümmerten sich in erster Linie um ihr eigenes Leben. Hier steckte meiner Meinung nach eine andere Macht dahinter, und das sagte ich Jonas noch einmal deutlich. War die Bibel nicht voll von abtrünnigen Seelen, war nicht immer wieder die Rede von Versuchungen des Satans und seinen Anhängern, den gestürzten Engeln?

Mir fiel noch etwas ein. »Was ist mit eurem Licht geschehen? Warum erscheint es dunkler?«

Jonas seufzte nur allzu menschlich und erwiderte knapp: »Ein Zeichen des Zorns. Wir müssen uns beeilen.« Mit diesen Worten verschwand er.

Ich blieb allein zurück und nahm jetzt erst meine Umgebung war. Ich befand mich jetzt in einem Ruheraum mit einfachen Liegen aus Holz. Auf dem Boden war feiner Sand, und zwei Tische mit jeweils drei Stühlen forderten auf, sich zu einem Gespräch niederzulassen. Mich wunderte, dass die Kontaktaufnahme zwischen den Menschen, die gerade im Jenseits verweilten, so offensichtlich gefördert wurde. Es war, als sollte man sich austauschen und dabei voneinander lernen.

Aber die Erinnerung an all das wurde doch gelöscht, wenn wir zur Erde zurückkehrten? »Die Seele nimmt das auf, was sie braucht«, hatte mir Raoul erklärt. »Mit jedem Leben entwickelt sie sich weiter, auch wenn die Menschen immer wieder als Neugeborene beginnen.«

Auf meine naheliegende Frage, wie alt die Seelen von Maria, Dominik und Viktor seien, hatte ich nur ein ernstes Kopfschütteln geerntet. Die Frage nach meiner eigenen Reinkarnationsrate hatte ich mir daraufhin erspart.

Während die anderen »Verstorbenen« lustwandelten und irgendwelche Kurse zur Bereicherung ihrer unsterblichen Seelen besuchten, bereitete ich mich auf das Gespräch mit Viktor vor. Ich ahnte nicht, worauf ich mich da einließ.

Wenn einer an diesem Ort aussah wie ein Toter, dann war es Viktor. Seine Haut erinnerte an weißes Porzellan, aus dem die dunklen Augen leuchteten wie die einer Krähe. Sein Blick war ebenso spöttisch wie bei einem Rabenvogel. Die Haare waren von einem unnatürlichen Schwarz, vermutlich gefärbt. Sein Gesicht wirkte weniger kantig als das von Dominik, wies aber hohe Wangenknochen auf und einen energischen Mund.

Verächtlich begrüßte er mich: »Wissen Sie, wie viele Pädagogen und Psychologen ich in meinem Leben schon kennengelernt habe?« Eine Augenbraue war hochgezogen, der Mund zuckte spöttisch.

Ich ließ mich davon nicht aus der Ruhe bringen. »Nun, immerhin bin ich der erste tote Pädagoge, der mit dir reden will. Weißt du, wer ich bin?«

»Du bist der Typ mit dem coolen Jugendzentrum. Ich habe dich damals gesehen.«

Ich nickte. »Was habt ihr dort gemacht?«

»Gespielt.«

»Und sonst?«

»Nichts und sonst. Drei Cola getrunken. Du hast doch gesehen, dass nichts gefehlt hat oder kaputt war.«

»Hat es Spaß gemacht?«

Er schaute mich abwartend an, wollte wohl herausfinden, ob ich ihn auf den Arm nahm. Dann löste er sich von der Wand, an der er gelehnt hatte, und legte sich auf eine der Liegen.

Dann sagte er: »In unserem Heim, da war das so: Du brauchtest Punkte, um spielen zu können. Die Punkte musstest du dir durch Arbeiten verdienen. Bis du aber genug Punkte zusammenhattest, war der Tag rum. Wenn Leute kamen, um sich Kinder anzuschauen, dann mussten wir allerdings spielen, wir Großen mit den Kleinen. Das machte einen netten, fürsorglichen Eindruck. Einmal kam ein junges Paar vorbei, und die Frau schämte sich nicht, mit mir zu flirten. Angestarrt hat sie mich wie eine hungrige Wölfin. Und wissen Sie, was ich gemacht habe?«

»Sag du es mir.«

»Ich habe einen kleinen Jungen von der Schaukel gestoßen. Die sind nie wiedergekommen, um sich mögliche Pflegekinder anzuschauen.« Er verzog das Gesicht bei der Erinnerung, und ich nahm an, dass die Tat nicht ohne Konsequenzen geblieben war.