Ursula
Sternberg wurde 1958 in Duisburg geboren und wuchs in Frankfurt auf. 1978
kehrte sie ins Ruhrgebiet zurück. Dem Studium Lehramt für Kunst und Geschichte
in Duisburg folgte eine Umschulung in die IT-Branche.
Seitdem arbeitet sie als Anwendungsentwicklerin. Eine kurze Zeit der
Arbeitslosigkeit nutzte sie, um ihre ersten beiden Krimis zu schreiben. Neben
dem Hauptberuf und dem Schreiben malt sie (überwiegend in Öl) und hat bereits
an mehreren Gruppenausstellungen teilgenommen. Sie lebt mit ihrem Mann und
ihren beiden Katzen in Essen. Bisherige Veröffentlichungen: »Ruhrschnellweg«
(2007), »Variationen der Wahrheit oder Von Liebe, Käse und anderen Dingen«
(2007) und »Insolvenzgeld« (2009). Im Emons Verlag erschien der Kriminalroman
»Nachtexpress«.
www.krimis-und-kunst.de
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2012 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagfoto: photocase.de/joexx
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch, Berlin
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-165-7
Ruhr-Krimi
Originalausgabe
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Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de
Für meine 10 c.
Das letzte Treffen mit euch hat
großen Spaß gemacht und eine Flut von Erinnerungen in mir freigesetzt, die mich
zu dieser Geschichte angeregt haben.
Kurt Türauf hantiert mit fremdem Geld und stirbt einen unschönen Tod.
Bettina Türauf will wissen, warum ihr Vater sterben musste.
Gerda, Ines und Matthes sind alte Freunde und erinnern Toni an früher.
Barbara Wheelers ist immer noch schön und reichlich chaotisch.
Volker Schlosser ist Tonis Jugendliebe und sorgt mächtig für Unruhe.
Mike aus Kupferdreh kennt sich auch gut mit Autos aus.
Dr. Behrends leitet die Ruhrcity-Bank und schöpft aus dem Vollen.
Lydia Herzkamp bricht Herzen und steigt die Karriereleiter schnell hinauf.
Giorgio schnappt viel auf und heißt eigentlich gar nicht Giorgio.
Schiller kann nichts wegwerfen und vergisst keinen einzigen Vers.
Irina Kruzsca fürchtet sich und bleibt lieber im Verborgenen.
Onkel Gerhard heißt wie der Exkanzler und kann sich nicht mehr erinnern.
Holger Schönlein ist ein hohes Tier bei der Stadt und hat noch höhere Ambitionen.
Miroslaw Zirkow ist Architekt und will was vom großen Kuchen abhaben.
Pietr Matzek hat eine dunkle Vergangenheit und schlagkräftige Argumente.
Heiko König ist Tonis neuer Kollege und sehr hilfsbereit.
Bea Hellebrosch ist klüger, als Toni glaubt, und trinkt einen über den Durst.
Reinhold Schütte kann in diesem Fall nichts tun.
Max Schulze arbeitet zu viel und hat Glück im Unglück.
Toni Blauvogel hat Urlaub und taucht tief in die Vergangenheit ein.
EINS
Wieder mal Stau auf der A 40. Aber jetzt war ja erst mal Schluss mit der Fahrerei, wenn ich denn endlich mal zu Hause angekommen war. Ich hatte Urlaub. Hätte eigentlich ein tolles Gefühl sein müssen. Leider war ich nicht gerade mit Vorfreude erfüllt. Lange Zeit hatte es geheißen, der Resturlaub würde auch über den März hinaus nicht verfallen. So sei es immer gewesen. Dazu konnte ich nichts sagen, schließlich war ich neu. Also hatte ich mich darauf verlassen. Bis Mitte der vergangenen Woche eine eindeutige Dienstanweisung von ganz oben gekommen war, wonach jeder, der für den laufenden Betrieb nicht absolut unverzichtbar war, den Resturlaub bis Ende März abbauen musste.
»Sorry, noch nie dagewesen«, hatte mein sichtlich betretener Chef gemurmelt, »typischer Fall von Is’ so.« Da könne er speziell für mich als Neuling leider wenig tun. Klar, dass er erst mal versuchte, bei den alteingesessenen Kollegen die Urlaubsplanung zu retten. Konnte ich ja sogar verstehen. Dennoch war das Ganze verdammt ärgerlich. Denn Max hatte sich auf gemeinsame Ferien im April eingestellt und deshalb in den März besonders viele Termine gelegt. Wichtige Termine. Und Aufträge, noch wichtiger. Wie so oft in letzter Zeit. Max war viel unterwegs, und wenn er zu Hause war, saß er meistens bis tief in den Abend hinein am Schreibtisch, häufig auch an den Wochenenden. Die Kehrseite seiner Selbstständigkeit. Mein kleiner Hacker war solide geworden. Sturzsolide. Und ich ebenfalls, denn auch mich hatte mein neuer Job fest im Griff, mit allen damit verbundenen Vor- und Nachteilen. So wie früher.
Das erste halbe Jahr war verdammt anstrengend gewesen. Neue Kollegen, neue Themen, unbekannte Softwareprodukte. Vermittelt durch Schütte von der Bochumer Kripo war ich vor einem Dreivierteljahr zu einer der Schaltstellen der nordrhein-westfälischen Polizei gekommen, zur LZPD, der Landeszentrale für Polizeidienste, wo ich mich als Projektmanagerin, wie es heute so schön neudeutsch hieß, primär damit befassen sollte, wie man erstens EDV-technische Insellösungen aus mehr oder weniger verstaubten Polizeidienststellen durch Anbindung an zentrale Netze ablösen oder zumindest für andere verfügbar machen könnte. Zweitens ging es um die Optimierung des sehr fehleranfälligen Auskunftssystems, das in weiten Teilen NRWs bereits im Einsatz war, und um die Frage, ob man das nicht doch besser durch eine andere Softwarelösung ersetzen sollte. Die Lage war ernst, aber nicht hoffnungslos, und die Arbeit machte mir Spaß. Zwar wäre mir eine Fünfunddreißig- oder besser noch eine Dreißig-Stunden-Woche lieber gewesen. Leider war das in meiner Branche jedoch absolut nicht üblich. In der Welt der IT war nach wie vor Vollzeit mit Haut und Haar angesagt.
Heute war es aber wirklich arg mit dem Stau. Dabei ließ sich die A 40 zwischen Essen und Duisburg eigentlich ganz gut fahren, besser als erwartet auf jeden Fall. Morgens nach Essen rein und abends wieder raus, das war richtig schlimm. Ich fuhr aber glücklicherweise antizyklisch, was im Regelfall ganz gut funktionierte. Jetzt jedoch steckte der Wurm drin.
Der Verkehrsfunk auf WDR2 brachte Aufklärung. Auf der A 42, der parallel zur A 40 verlaufenden Autobahn, war in den frühen Morgenstunden ein Tanklastzug in Brand geraten. Die Polizei war immer noch mit Räumungsarbeiten beschäftigt, der Verkehr wurde umgeleitet. Kein Wunder, dass sich dann alles über die A 40 quälte. Leise schimpfte ich vor mich hin, während ich mich Meter für Meter bis zur Abfahrt Frohnhausen schob.
Ich überlegte, was ich mit meinem zweiwöchigen Urlaub anfangen sollte. Zwei Wochen und ein Tag, genau genommen. Wegfahren? Mich spontan einer Reisegruppe anschließen? Allein ein paar Tage irgendwohin fliegen, wo es warm und sonnig war? Vielleicht sollte ich im Internet mal nach Last-Minute-Angeboten dieser Art suchen. Vielleicht sollte ich aber doch lieber hierbleiben und mir endlich mal ein paar der Museen vorknöpfen, die ich schon lange besichtigen wollte? Eine ausgiebige Wanderung durchs Felderbachtal machen, ein paar Freunde bekochen, vielleicht ein Konzert besuchen und auf jeden Fall mal wieder einen Zug durch die Essener Szenekneipen machen? Mir meinen verwilderten Hinterhof-Garten vornehmen und planen, was ich dort alles pflanzen wollte? Mich endlich mal wieder an ein dickes Buch wagen und den Tag gemütlich mit Lesen verbringen, ohne gleich dabei einzuschlafen?
Ich konnte mich nicht entscheiden. Antriebslos war ich, und unzufrieden mit der Situation. Nicht fähig, mich auch nur annähernd positiv zu irgendeiner der vielen Ideen zu stellen. Verdammter Mist!
* * *
Eigentlich hatte ich ausschlafen wollen. Konnte ich aber nicht. Die innere Uhr meldete Aufstehen, dem Urlaub zum Trotz.
Eine Weile wälzte ich mich hin und her und versuchte, wieder einzuschlafen. Ich hörte die Müllabfuhr rumpeln. Die Alarmanlage eines Autos ging bereits zum dritten Mal los. Und Bonnie stand erneut auf meinem Kopfkissen und leckte mir die Stirn. Auch ihre innere Uhr stand auf Aufstehen. Unmissverständlich. Beziehungsweise auf Fressen. Und da Max unregelmäßig und nicht kalkulierbar zu Hause war, war ich seit geraumer Zeit dafür zuständig. Ihre Schnurrhaare kitzelten mich und ich musste lachen.
»Rrrurrr«, gurrte sie begeistert, putzte erneut mit ihrer rauen Zunge über meine Stirn, warf ihren kleinen Brummmotor an und begann, das Kopfkissen neben mir mit spitzen Milchtritten zu bearbeiten. Also kraulen, aufstehen, füttern. Um sieben Uhr früh im Urlaub. Ganz schön bescheuert.
Eine halbe Stunde später saß ich bei Milchkaffee und frischen Croissants auf dem Barhocker an meinem Stehtisch und blätterte durch die Tageszeitung. Ich las jeden Artikel, der mich auch nur halbwegs interessierte. Zuletzt landete ich bei den Kurznachrichten im Regionalteil. »Brennende Autobahn«, las ich. »Vollsperrung auf der A 42. Die Kripo ermittelt.« Aha. Etwa die Ursache für das Desaster am Vortag?
Gestern ereignete sich in den frühen Morgenstunden ein schwerer Autounfall auf der A 42, der zu einer fast den ganzen Tag andauernden Vollsperrung zwischen Bottrop und dem Kreuz Essen-Nord führte. Ein aus Richtung Duisburg kommender Pkw geriet aus noch unbekannten Gründen ins Schleudern, kollidierte mit einem Tanklastzug und prallte frontal gegen einen Brückenpfeiler. Als der Pkw explodierte, verwandelte die ausgetretene Ladung des Lkw die Unfallstelle in ein brennendes Inferno. Während der Lkw-Fahrer sich selbst schwer verletzt aus dem Führerhaus retten konnte, kam für den 48-jährigen Fahrer des Pkw, Kurt Olaf T. aus Duisburg, jede Hilfe zu spät. Polizei und Feuerwehr waren etliche Stunden im Einsatz. Da Verdacht auf ein Tötungsdelikt besteht, wurde inzwischen die Kriminalpolizei Essen eingeschaltet.
Uah! Ich schüttelte mich, die gruselige Szene nur zu deutlich vor Augen. Vor Feuer hatte ich einen Höllenrespekt. Und dann dieser Name: Kurt Olaf T. Der kam mir irgendwie seltsam vertraut vor. Eine Weile grub ich in den Untiefen meines Gedächtnisses, aber es war sinnlos. Der Name ließ sich einfach nicht zuordnen. Schließlich gab ich auf und beschloss, dem unwirtlichen, regnerischen Märzwetter zum Trotz erst einmal eine Runde an die frische Luft zu gehen. Ich zog mir wetterfeste Schuhe und Regenjacke an und verließ die Wohnung.
Ich ging zügig. Sehr zügig. So schnell, dass ich fast rannte. Während ich durch das Mühlbachtal lief, entschied ich mich, den Urlaub zu Hause zu verbringen und mir ein buntes Programm für die kommenden zwei Wochen zusammenzustellen.
Da ich durch den strammen Spaziergang gerade so schön im Schwung war, begann ich nach meiner Rückkehr sofort, die Beete rund um meine Terrasse von den verdorrten Pflanzen zu befreien. Der Winter war lang und hart gewesen, und kalt war es immer noch. Eine ganze Menge war während dieser langen Frostperiode kaputtgegangen. Leider auch mein Oleander, den ich nicht rechtzeitig hereingeholt hatte. Über zwei Stunden lang schnitt ich Sträucher zurück, grub Wurzelballen aus, leerte Töpfe, zupfte undefinierbar wirkende, verdorrte Pflanzen aus den Beeten und entsorgte drei große Müllsäcke, gefüllt mit den Abfällen dieser Tätigkeit.
Der Gedanke schlich sich mit der Kälte in mein Hirn. Schule, signalisierte irgendeine der Synapsen weit hinter dem Stammhirn oder wo sich mein Memory-Chip sonst so befinden mochte. Schule. Kurt Olaf Türauf.
Ja klar doch. Mit schmerzendem Rücken richtete ich mich auf. Kurt Olaf. Über seinen Doppelnamen hatten wir uns immer ein wenig lustig gemacht, er selbst vorneweg. Unser Kurti. Dass mir das nicht sofort eingefallen war!
Ich machte mir eine Kanne Tee und ein paar belegte Brote und zog mich auf mein Sofa zurück. Legte eine CD von Amy Macdonald auf und dachte an früher. Holte den alten, geschnitzten Holzkasten aus dem Regal und wühlte in dem unsortierten Haufen nach einem bestimmten Foto. Da es großformatig war, fand ich es relativ schnell. Zögernd durchforstete ich die frischen, unverbrauchten Gesichter. Schließlich fand ich ihn in der dritten Reihe an zweiter Stelle von links. Schlaksig, sommersprossig und mit immens abstehenden Ohren. Kurti grinste unsicher in die Kamera. War er es gewesen, der bei diesem schweren Verkehrsunfall ums Leben gekommen war? Kein schöner Tod, dachte ich traurig.
Die Sache ging mir auch den Rest des Tages nicht mehr richtig aus dem Kopf. Selbst der dicke Schmöker, ein Psychothriller, auf den ich mich gefreut hatte, konnte mich nicht ablenken. Als ich zum dritten Mal den Faden verlor und zurückblättern musste, klappte ich das Buch zu und legte Iron Butterfly auf, »In a Gadda da Vida«. Mit geschlossenen Augen lauschte ich der Musik.
Szenen aus der Schulzeit drängten hoch. Die regelmäßigen Fahrten mit dem Fahrrad quer durch den Duisburger Stadtwald hin zum Entenfang, wo wir unerlaubt badeten. Oder zur Sechsseenplatte, die damals noch nicht zum Naherholungsgebiet umgestaltet, sondern vom Kiesabbau geprägt war, der der späteren Landschaft ihr Gesicht gab. »Betreten verboten. Eltern haften für ihre Kinder«, prangte an den meisten Ufern. Uns war das egal. Wir schnitten wie viele andere Jugendliche Löcher in die Zäune und gingen in die trübe Brühe rein, Matthes und Kurti mit lautstarkem Platschen, wie es Jungs nun mal so draufhaben, wir Mädels zögerlich. Mit kleinen Schritten blieben wir immer wieder fröstelnd stehen, bis die Jungs anfingen, uns mit Wasser zu bespritzen und wir uns schließlich mit lautem Quietschen fallen ließen. Ein Jahr später dann war auch Volker mit dabei gewesen.
Komm, wir fahren mit der Straßenbahn bis nach Ruhrort … Ich hab aber kein Geld … Ist doch egal, fahren wir halt schwarz … Oh Lord won’t you buy me a Mercedes Benz …
Ich suchte nach der LP von Janis Joplin. »Pearl«. Die Schallplatte hatte ich wie all meine anderen alten Schätze auf den PC gerippt. Lange hatte ich diese Stücke nicht mehr gehört, »A Woman Left Lonely«, »Cry Baby« und Janis Joplins atemberaubende Interpretation von »Summertime«, die ich allerdings erst lange Zeit später entdeckt hatte, weil sie sich auf einem ganz anderen Album befand. Und mit der großartigen Musik schwappten immer mehr Erinnerungen hoch, trieben an die Oberfläche und setzten tief vergrabene Bilder in mir frei.
Die langen Nachmittage mit Barbara. Wir übersetzten die Texte von »Jesus Christ Superstar«. Immer wieder sangen wir mit, bis wir die Texte schließlich auswendig konnten. What’s the buzz, tell me what’s happening … wieder und wieder, wie eine Repeat-Schleife. Das war der Anfang gewesen. Der Anfang der Cliquenzeit.
Kirmes. Autoskooter. Schlapphüte. Eislaufen, immer im Kreis zur Beschallung von Boney M. Mit langen, selbst gestrickten Schals und offenen Dufflecoats. Schwarz mussten die sein, die Dufflecoats, mit großer Kapuze. Schlaghosen. Und Boots, hellbraun.
There is a house in New Orleans … Frijid Pink war angesagt, bloß keine andere Interpretation. Wegen der psychedelischen E-Gitarren. Kritische Blicke in den Spiegel. Bin ich schön? Nein. Nicht richtig. Das Gesicht zu rund. Die Augen zu schmal. Die Haare zu fludderig. Zu dick … zu dünn … zu breit die Nase … die Füße zu klein … und Barbara viel, viel schöner … Lächerlich, womit ich mich damals so befasst hatte. An mir war alles in Ordnung gewesen. Die alten Fotos zeigten es deutlich.
Gemeinsame Kinobesuche, endlose Telefonate. Und da hat er gesagt … und dann habe ich gesagt … und da hat er mir den Arm um die Schulter gelegt … Heute hasse ich telefonieren. Beschränke die Anrufe auf das Notwendigste. SMS sind mir lieber. Oder E-Mails.
»Lady in Black« von Uriah Heep, »Black Magic Woman« und »Samba pa Ti« von Santana. »Nights in White Satin« von The Moody Blues und »When a Man Loves a Woman« in der Interpretation von Eric Burdon. Der erste Blues, den wir tanzten. Mensch Kurti, nicht so grapschen, das will ich nicht. Ich spürte die Erektion der Jungs. Sie klammerten. Unangenehm die meisten. Zu viel Körper, zu eng. Bei einem einzigen schlug mein Herz schnell und holperig. Da war nichts zu viel. Da hing ein Hauch von Novemberkühle in der Luft, gepaart mit einem ganz spezifischen Geruch.
Bei »Strange Days« von The Doors nickte ich ein.
Kurti wackelte mit dem Zeigefinger vor meiner Nase herum. »Willst du denn gar nicht wissen, was mit mir passiert ist?« Er beugte sich dicht zu mir herunter, bis er mit seinen Lippen fast mein Ohr berührte.
Ich schüttelte mich unwillig.
»Mord«, flüsterte er. »Ich bin ermordet worden.«
»Das ist absurd, Kurti«, antwortete ich. »Kinder werden nicht ermordet. Und schon gar nicht eines wie du.«
»Ihr habt mich doch nie richtig für voll genommen.« Seine Stimme war traurig. Doch plötzlich war er kein dünner Junge mehr mit zu vielen Sommersprossen auf der Nase, sondern ein grauhaariger Mann in meinem Alter. »Aber jetzt«, sagte er aggressiv, »jetzt werdet ihr es müssen!« Er schlug mir seine Faust in den Magen und ich schrak hoch.
Clyde, der mir auf den Bauch gesprungen war, maunzte beleidigt.
* * *
Direkt am nächsten Morgen ging ich hinüber zum Polizeipräsidium. Von meinem mittlerweile nicht mehr ganz so neuen Wohnsitz in der Ladenspelder Straße in Holsterhausen aus waren es nur fünf Minuten zu Fuß durch die Pettenkofer Straße mit ihren schönen, alten Wohnhäusern bis zum Haumannplatz.
Der von großen, alten Platanen beschirmte Parkplatz am Landgericht gegenüber dem Polizeipräsidium war vor ein paar Jahren einem klotzigen Parkhaus gewichen. Die Ecke war nicht gerade schöner geworden durch diese Maßnahme. Aber das fiel gar nicht weiter auf, wenn man nicht wusste, wie es vorher ausgesehen hatte. Wie viele andere Ruhrgebietsstädte war Essen im Zweiten Weltkrieg schwer bombardiert worden, und was in der Innenstadt an alter Bausubstanz noch erhalten geblieben war, war größtenteils dem sachlichen Realismus der sechziger und siebziger Jahre zum Opfer gefallen. Mit anderen Worten: Die Essener Innenstadt und die anliegenden Stadtteile bestachen nicht gerade durch ihre Schönheit.
Ich überquerte die große Kreuzung und betrat das Polizeipräsidium, das sich in einem mächtigen spätpreußischen Bau befand, der wie die gegenüberliegenden Wohnhäuser dem Stadtsanierungsprogramm getrotzt hatte.
Zögernd durchquerte ich die Eingangshalle. Ich wusste nicht so recht, wie ich mein Interesse an dem Fall überhaupt begründen sollte. Ich wusste ja noch nicht mal, warum mich die Sache so aufwühlte. Warum die Vergangenheit mich plötzlich so seltsam fest im Griff hatte. Aber ich wollte es nun mal wissen. Ich wollte wissen, ob es sich bei dem Toten wirklich um meinen ehemaligen Klassenkameraden handelte. Forscher, als mir zumute war, fragte ich beim Pförtner nach den im Todesfall auf der A 42 ermittelnden Beamten. So richtig überrascht war ich nicht, als ich deswegen an die Kriminalhauptkommissarin Beate Hellebrosch verwiesen wurde.
Mit Bea verband mich eine im Laufe der Jahre kontinuierlich gewachsene Freundschaft. Zwar stand sie meinem Hang zu privaten Ermittlungen, die ich ein paarmal im Rahmen des von mir während meiner Arbeitslosigkeit gegründeten Vereins für Nachbarschaftshilfe Essen Süd betrieben hatte, nach wie vor skeptisch gegenüber. Dennoch musste selbst Bea zugeben, dass ich mit diesen Ermittlungen recht erfolgreich gewesen war.
»Kurti war irgendwie die Lachnummer der Klasse«, erzählte ich ihr kurze Zeit später. »So einer, der sich immer freiwillig zum Affen macht. Eine Art permanenter Klassenclown. Hat manchmal ganz schön genervt, diese Masche. Trotzdem mochten wir ihn.«
»Und was ist aus ihm geworden?«, fragte Bea.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich leise. »Wir haben uns aus den Augen verloren nach dem Abi. Das heißt, ich habe die ganze alte Clique aus den Augen verloren. Obwohl wir doch richtig dick miteinander befreundet waren. Irgendwie komisch, nicht?« Ich dachte daran, wie oft ich mich einfach nicht gerührt hatte, wenn Gerda oder Ines oder Kurti mir auf Band gesprochen hatten, dass sie sich mal wieder treffen würden. Ganz selten nur war ich hingegangen. Als ich im Rahmen einer Trennung eine neue Telefonnummer bekommen hatte, war der Kontakt schließlich ganz abgebrochen.
Bea beobachtete mich forschend. »Du willst jetzt also wissen, ob er das ist«, stellte sie fest.
Ich zuckte mit den Schultern. »Ja«, gab ich zu. »Der Name Kurt Olaf T. ist schließlich nicht ganz gewöhnlich, oder? Und in der Zeitung stand, dass das Unfallopfer aus Duisburg stammt. Das Alter kommt auch hin.«
Bea seufzte. »Die Zeitung ist wie üblich gut informiert. Und der Mann hieß tatsächlich Türauf. So stand es zumindest im Ausweis. Auf welche Schule er gegangen ist, kann ich dir im Moment nicht sagen. Das schien nicht relevant. Ist es relevant?«
»Glaube ich nicht. Für euch zumindest nicht.«
Bea seufzte wieder. »Seiner Kindheit haben wir bislang noch nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt«, sagte sie. »Erst mal hatten wir mit der Identifizierung zu tun.«
»Wieso?«
»Na, Brandopfer halt, und Explosion. Da bleibt nicht sonderlich viel übrig.« Beas Tonfall war schnodderig.
»Ach du Scheiße.« In mir zog sich alles zusammen. »Aber ihr seid sicher, dass er es ist«, bohrte ich dann nach.
Sie warf mir einen prüfenden Blick zu. »Ja, sind wir«, sagte sie dröge und schob demonstrativ die Papiere auf ihrem Schreibtisch zu einem Stapel zusammen, so, als würde sie ein Buch schließen.
»Wie kommt es denn, dass der Ausweis noch lesbar war?« So schnell wollte ich nicht aufgeben.
Bea seufzte erneut. »Der Personalausweis war in einem Alukoffer. Und der wurde bei der Explosion aus dem Fahrzeug geschleudert.«
Wer trägt denn seinen Ausweis in einem Alukoffer mit sich herum?, fragte ich mich verwundert. Männer tragen ihre Papiere doch immer am Körper, entweder in der Gesäßtasche oder in einer inneren Jackentasche.
Wieder dieser prüfende Blick, dieses Mal gepaart mit Strenge. Der berühmt-berüchtigte Bea-Blick, der bedeutete, dass sie hierzu nichts weiter sagen würde. Ich war klug genug, das zu akzeptieren.
»Ich würde einfach nur gerne wissen, ob es wirklich Kurti ist«, brachte ich sie auf das Ausgangsthema zurück.
»Wenn ich die Akte richtig im Kopf habe, ist er in Neudorf aufgewachsen. Die letzten fünfzehn Jahre wohnte er im Dellviertel in einer etwas schrömmeligen Altbauwohnung. Ich war gestern dort.«
»In Neudorf aufgewachsen?« Ich rückte vor meinem inneren Auge den Duisburger Stadtplan zurecht und richtete den Fokus auf ein paar Straßenzüge östlich des Hauptbahnhofes. »Könnte passen. Ich weiß zwar nicht mehr, welche Straße das war, aber ich war öfter mal bei ihm zu Hause. Wir sind auf das Landfermann-Gymnasium in der Stadtmitte gegangen.«
»Na, dann scheint er ja nicht gerade viel herumgekommen zu sein. Wenn es denn wirklich dein Kurti ist.« Bea trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischkante. Der Blick, den sie mir zuwarf, implizierte, dass ich jetzt aufstehen und gehen sollte. Den Gefallen tat ich ihr nicht.
»Hier ist ein Foto von unserer Klasse.« Ich zog das große Schwarz-Weiß-Bild aus der Innentasche meiner Jacke und reichte es ihr. »Vor der Differenzierung in der Oberstufe war das. Da ist er drauf.«
Bea nahm mir das Foto ab. Sah es an. Seufzte erneut und schob es mir wieder über den Tisch zurück. »Okay, er ist es«, bestätigte sie. »Zumindest ist diese Aufnahme hier auch in einem seiner Fotoalben. Dich hätte ich allerdings nicht erkannt, ebenso wenig wie ihn. Zufrieden? Was willst du mit dieser Information überhaupt anfangen?« Schon wieder dieser strenge Bea-Blick, der mich an den durchdringenden Blick eines Raubvogels erinnerte. An eine Harpyie, genau genommen.
»Nichts. Ich möchte es nur wissen.«
»Willst du etwa schon wieder auf die Pirsch?«, fragte Bea grantig. »Du hast doch jetzt einen ordentlichen Job!«
»Ich will nur auf seine Beerdigung gehen. Weißt du, wann die ist?«, lenkte ich ein. Dass ich gerade Urlaub hatte, musste ich ihr ja nicht auf die Nase binden.
»Ich glaube, diese Woche noch«, sagte Bea, nun etwas milder im Ton. »Warte, irgendwo habe ich es aufgeschrieben.« Sie kramte in dem Berg Papiere auf ihrem Schreibtisch herum. »Freitag, fünfzehn Uhr, Friedhof am Sternbuschweg in Duisburg«, las sie schließlich vor.
»Morgen schon. Das ging aber fix.« Ich war überrascht.
»Erdbestattung vermutlich. Bei meiner Tante neulich hat es auch keine drei Tage gedauert. Das Krematorium ist der Engpass.«
»Ja, das weiß ich. Mit fix meinte ich die Freigabe zur Bestattung. Wo doch die Identifizierung so schwer war …«
Bea kicherte. »Du siehst zu viel fern. Nur in Filmen werden Leichen tagelang in Kühlfächern gelagert und immer wieder begutachtet, weil sich irgendjemand mit irgendwas nicht sicher ist.«
»Wie jetzt?«
»Die Rechtsmedizin muss ebenso kostendeckend arbeiten wie andere Unternehmen auch. Das heißt, es wird getan, was getan werden muss, und damit ist die Sache dann erledigt«, erklärte Bea. »Eine Obduktion dauert im Regelfall ein paar Stunden. Lass es einen halben Tag sein, das ist aber schon hoch gerechnet. In unserem Fall wurde der Anfangsverdacht überprüft. Und der weist nun mal auf Kurt Türauf hin. Wie üblich hat man noch ein paar Gewebeproben entnommen und konserviert, und das war’s. Die Leiche wurde schon gestern zur Bestattung freigegeben.«
»Warum denkt ihr, dass es Mord war?«
Augenblicklich bildete sich eine steile Falte zwischen Beas Augenbrauen. »Das geht dich nichts an, Toni.« Ihre Finger trommelten erneut ein ungeduldiges Stakkato auf die Schreibtischkante.
»Aber ermordet wurde er doch? Sonst wärest du nicht mit im Boot«, stellte ich fest.
»Raus jetzt und lass mich wieder arbeiten.« Ihr Blick schickte die Warnung voraus, die sie dann auch prompt aussprach. »Lass die Finger davon, Blauvogel!«
Ist ja gut, ist ja gut, murrte ich still vor mich hin, als ich das Präsidium wieder verließ. Ducken und stillhalten. Falsch. Duck and cover. Ducken und bedecken. Und dann stillhalten, bis die Gefahr vorbei war. Wie die Schulkinder in dem Propaganda-Film, die sich vor der imaginären Gefahr russischer Atombomben unter Schreibtischen verstecken sollten, den Kopf unter den Händen verborgen – ähnlich einer Schildkröte, was auch gleich in Form eines kleinen Zeichentrickfilms illustriert wurde. Aber der Vergleich hinkte. Also verbannte ich die Bilder dieser entsetzlichen amerikanischen Zivilverteidigungs-Filmkampagne der frühen fünfziger Jahre aus meinem Kopf und beschloss, auf dem Holsterhauser Wochenmarkt noch etwas einzukaufen.
Auf dem Weg dorthin rekapitulierte ich Stück für Stück das Gespräch mit Bea. Also tatsächlich Kurti, dachte ich traurig. Aber viel mehr hatte ich nicht in Erfahrung bringen können. Wieso glaubte die Kripo, dass es Mord war? Welche Anhaltspunkte hatten sie? Und wer hatte Interesse daran, einen Menschen wie Kurti Türauf um die Ecke zu bringen? Das interessierte mich wirklich brennend.
Ich ging zur Gemarkenstraße, die auf dem Teilstück vor der Kirche für den Wochenmarkt gesperrt war. Zwanzig Minuten lang konzentrierte ich mich auf den Einkauf. Ich begann mit dem Gemüse, begutachtete das Angebot an den diversen Ständen und wählte dann einen knackigen Spitzkohl, der Jahreszeit angemessen. Dann stellte ich mich am Fischstand an. Welcher Fisch zu Spitzkohl? Überhaupt Fisch? Oder vielleicht deftige Mettenden? Ich entschied mich für Zanderfilets, die ich mit einer feinen Kartoffel-Käsekruste überbacken wollte, und kaufte noch etwas geräucherten Speck, um dem Spitzkohlgemüse den richtigen Pfiff zu geben.
Die Idee kam mir, während ich am Nachbarstand ein paar Äpfel aussuchte. Ich würde Bea und Schütte zum Essen einladen. Hatte ich lange schon tun wollen und immer wieder verschoben. Schaden konnte es nicht. Also rief ich Bea noch mal an, als ich wieder zu Hause war und die Einkäufe verstaut hatte.
»Komm doch mit Schütte mal zum Essen zu mir«, sagte ich schnell, bevor sie mir als Erstes wieder erzählen würde, dass ich mich aus der Sache raushalten sollte. »Das hatte ich vorhin ganz vergessen.«
»Du willst mich nur anzapfen!« Beas Stimme klang unnachgiebig, Tadel und Vorwurf in einem.
»So ein Quatsch. Wir haben uns nur schon lange nicht mehr gesehen, und in meiner neuen Wohnung wart ihr auch noch nie, das ist alles. Gefüllte Kalbsbrust, feines Rübchengemüse aus Steckrüben, Möhren und Petersilienwurzel und zum Abschluss eine Mousse au Chocolat?«, lockte ich.
»Du gibst auch nie auf!« Ich hörte sie lachen. »Dieses Wochenende kann ich nicht. Bereitschaft. Aber die Woche drauf habe ich frei. Ich werde Schütte fragen«, willigte sie ein. »Wenn er nichts anderes vorhat, kann ich da nicht widerstehen.«
ZWEI
Warum ich dort war, konnte ich gar nicht mal genau sagen. Aber irgendwie war mir vollkommen klar gewesen, dass ich herkommen musste, obwohl ich ihn doch vor mehr als achtundzwanzig Jahren aus den Augen verloren hatte.
Als ich die Kirche betrat, sprang mir sofort Ines ins Auge, klein und mollig, wie sie auch früher schon gewesen war. Und Gerda, unverkennbar Gerda mit ihrer Adlernase und den üppigen Lippen. Schräg hinter ihr Matthes mit immer noch dichtem, vollem Haar, das ehemals flammend rot, nun allerdings vollständig ergraut war. Dann einige mir unbekannte Menschen.
Aber dort vorne in der zweiten Reihe am Rand, da stand Barbara, die dunklen Haare rattenkurz geschnitten und damit erstaunlicherweise irgendwie noch schöner, als ich sie in Erinnerung hatte. Und der Kerl neben ihr, der sich gerade zu ihr hinüberbeugte?
Augenblicklich erinnerte ich mich an einen ganz spezifischen Geruch und hielt unwillkürlich die Luft an. Nicht, dass ich ihn direkt in der Nase gehabt hätte, diesen Geruch. Aber die Erinnerung war wieder da: Die Cordjacke, die er immer getragen hatte. Ich hinter ihm, hinten auf seiner Vespa, die Hände an seinen Hüften, so, wie er es mir gezeigt hatte. Dicht vor mir diese Cordjacke, die mittelbraune, direkt vor meiner Nase. Der leichte Muff darin hatte etwas Körperliches, Animalisches. Nicht unangenehm. Überhaupt nicht unangenehm, sondern eigentümlich spezifisch. Ganz wunderbar spezifisch. Wie gern hätte ich damals mein Gesicht an den Rücken vor mir geschmiegt, an diese Cordjacke, mich versenkt in diesen eigentümlich spezifisch angenehmen Muff. Aber ich hatte mich nicht getraut.
Klar, dass er sich auch jetzt wieder an Barbara anwanzte. War schon immer so gewesen. Barbara. Schöne, flippige Barbara. Die Luft, die ich die ganze Zeit angehalten hatte, entwich jetzt unangenehm laut mit einer Art Zischen wie bei einem Ballon. Abrupt wandte ich mich ab.
Scheiße, Blauvogel. Stehst hier herum und wühlst in Erinnerungen. Kein Wunder. Ist ja auch Kurtis Beerdigung. Und Kurti, der gehört nun mal zu früher. Da erinnert man sich eben.
Vorne begann ein Geistlicher in einem bodenlangen Talar zu sprechen. Priester oder Pfaffe? In was für einer Kirche war ich hier eigentlich? Pfaffe vermutlich, denn das Gewand war schwarz. Die Katholen, die waren doch farbenfroher, oder? Oder nicht bei Beerdigungen? Weiß der Teufel. Ich kannte mich da nicht aus.
… von uns gegangen … gutherzig … Mann voller Tatkraft … seinen Prinzipien treu geblieben …
Kurti? Prinzipien? Der hatte doch früher immer nur gejammert, dass keiner ihn so richtig mochte. So richtig richtig. Dabei hatten wir ihn alle gern gehabt, ihn, unseren Klassenclown.
Die Orgel setzte ein. Ein Choral, tragisch und majestätisch zugleich. Noch ein Gebet, dann die Segnung, ein Kreuz über dem Sarg geschlagen. Und wieder die Orgel. Finale? Ja. Denn um mich herum geriet die Trauergemeinde langsam in Bewegung. Aufbruch zum letzten Geleit. Auch ich erhob mich.
Eine schmalbrüstige Frau in dunklem Kostüm folgte als Erste dem Sarg durch die Mittelreihe. Sehr blond. Sehr zart. Ziemlich jung. Sie blickte sich hilfesuchend um, taumelte leicht, als würde sie gleich zusammenbrechen. Und neben ihr plötzlich schon wieder er. Verwirrt sah ich weg, den imaginären Duft von Cordjackenmuff in der Nase.
Ich mochte Beerdigungen nicht. Sie führten mir meine eigene Vergänglichkeit vor Augen. Und trotzdem war ich da. Sah in filmischen Schnitten, wie in Schwarz-Weiß. Ein langer Weg zwischen Bäumen, Gräber zur Rechten wie zur Linken. Vor mir eine Reihe dunkel gekleideter Menschen. Männer. Frauen. Ganz vorne der Sarg, getragen von Männern in schwarzem Frack. Leichenbestatter. Seltsamer Beruf.
Sie trugen mit Würde. Ließen den Sarg herab mit weiß behandschuhten Händen. Jemand schluchzte laut auf und unterdrückte es augenblicklich wieder. Ich versuchte, die Schluchzende ausfindig zu machen, und entdeckte sie schließlich etwas abseits, die Augen versteckt hinter einer großen Sonnenbrille, das Gesicht halb verborgen im Schatten eines dunklen Herrenhutes aus Filz, unter dem rötliches Haar hervorquoll. Ihre Tränen gruben Furchen in die etwas zu dick aufgetragene Schicht Puder. Also doch jemand, der ihn geliebt hatte, so richtig richtig. Mensch Kurti, na also!
Die Grube wurde nun gefüllt mit Erde. Dunkler, feuchter Erde. Mich schauderte, als ich das dumpfe Plopp hörte, mit dem der schwere Mutterboden nass auf dem Sarg aufschlug.
Nicht mal Blumen hatte ich. Was für Blumen hätten das auch sein können für Kurti, den Klassenclown? Eine bunte, lustige, die hätte wohl gepasst. Ein Papageienschnabel vielleicht. Daran jedoch hatte ich nicht gedacht. Also stand ich nur kurz an der Grube. Mochte dem dumpfen Plopp nicht noch ein weiteres hinzufügen. Ihn mit klumpiger, lehmiger Erde bewerfen. Nein. Erde auf Kurti werfen mochte ich nicht, Beerdigung hin, Beerdigung her.
Nun bring halt mit Anstand zu Ende, was du begonnen hast, Blauvogel! Ich seufzte und gab mir einen Ruck. Reihte mich ein in die Schlange der Kondolierenden, die an der kleinen Gruppe ernster, schwarz gewandeter Gestalten vorbeischritt. Die Schluchzende befand sich nicht darunter. Ich schüttelte Hände. Auch die der Blonden, Zarten, Jungen. Murmelte »Bin mit ihm zur Schule gegangen, war ein echt netter Kerl, der Kurti, hatte immer einen Scherz auf den Lippen«, und kam mir bescheuert vor, während ich das aussprach.
Ich hob den Kopf und begegnete seinem blaugrauen Blick, düster verhangen wie ein Novemberhimmel. Er hielt sich im Hintergrund schräg hinter der Blonden, als wollte er sie beschützen. Wie sollte denn das bloß gehen ohne seine Cordjacke?
»Hallo, Volker«, sagte ich verlegen. »Lange nicht gesehen.«
»Toni.« Mehr nicht. Nur dieses »Toni«.
Ich zuckte mit den Schultern. Hielt für einen kurzen Augenblick dem Blaugrau seines Novemberhimmelblickes stand und ging dann zügig weiter.
Am schmiedeeisernen Tor holte mich Ines ein. »Kommst du nicht mit zum Essen?«, fragte sie.
Leichenschmaus? Igitt! Ablehnend schüttelte ich den Kopf.
»Schade«, sagte Ines. »Hier, meine Karte.« Sie drückte mir eine Visitenkarte in die Hand. Ines Trautwein, Accountmanagerin, stand darauf zu lesen.
Sie schien auf etwas zu warten. Auf einen Kommentar? Accountmanagerin bist du also? Respekt! Hast es ja ganz schön weit gebracht. Oder darauf, dass ich im Gegenzug meine Karte zücken würde? Accountmanagerin? Ha! Hier. Nimm dies: Dr. Dr. Dipl.-Ing. von und zu … Touché! Karte gegen Karte, so läuft das doch heutzutage. Ohne Karte bist du nichts. Auf dieses blöde Spiel mochte ich mich aber nicht einlassen.
»Hab keine«, sagte ich also und grinste spöttisch. »Bin einfach nicht so wichtig.«
Ines lief rot an. »Du hast dich überhaupt nicht verändert«, sagte sie leise. Leise auch der Vorwurf in der Stimme. Und die Unsicherheit.
War das wirklich so? Hatte ich mich nicht verändert? Ich will es nicht hoffen. Jung und dumm, das war ich damals.
»Keine Ahnung«, sagte ich nur.
Schweigen breitete sich zwischen uns aus. Eines der bedrückenden Art.
»Melde dich doch mal.« Ines lächelte schüchtern. »Warum sind bloß so viele von uns hier?«
»Keine Ahnung«, sagte ich nun schon zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit. »Ich weiß es nicht«, versuchte ich zu variieren und dachte: Und warum bist du hier? Doch ich fragte nicht. Schwieg stattdessen erneut.
»Es ist ein so seltsam merkwürdiges Ende für Kurti …« Ines zupfte die Jacke über ihrer drallen Figur in Form. Sie schien zu frieren.
»Ja«, antwortete ich schroff. »Das stimmt.« Und dachte, dass sie verdammt recht hatte. Damit ließ ich sie stehen.
Wenn ich Raucher gewesen wäre, hätte ich mir jetzt eine Zigarette angezündet. Aber ich rauchte schon lange nicht mehr. Also setzte ich mich ins Auto, lehnte den Kopf an die Kopfstütze und versuchte, durchzuatmen.
Die Szenen der Beerdigung saßen mir schwer in den Knochen. Ich dachte daran, dass da keine richtige Leiche in diesem Sarg gelegen hatte, jedenfalls keine mit erkennbaren Kurti-Zügen. Nur ein völlig verkohltes Etwas, kaum identifizierbar. Ich dachte an den Tod und malte mir aus, was Kurt gefühlt haben mochte in seinen letzten Minuten. Das konnte ich mir vorstellen und auch wieder nicht. Das nackte Grauen. Mir wurde übel. Ich öffnete das Fenster und saugte in gierigen Zügen die feuchte, kalte Luft ein. Dankbar spürte ich, wie die Übelkeit nachließ.
Dann überlagerten novembergraue Augen die morbiden Gedanken. Eine Hand, die sich unter den Ellenbogen der kleinen Blonden schob, der zarten, zerbrechlichen.
»Toni«, hörte ich ihn wieder sagen. Mehr nicht. Einfach nur dieses »Toni«.
Arschloch, dachte ich wütend und drehte den Zündschlüssel.
Anstatt auf die A 40 zu fahren und den direkten Weg nach Hause einzuschlagen, steuerte ich die A 3 an, wechselte am Breitscheider Kreuz auf die A 52 und fuhr zu den Feldern südlich des Mülheimer Flughafens. Zwei Stunden lang lief ich durch die Gegend und versuchte, die Bilder von schwarz verkohlten Leichenteilen, von Trauer und Tod loszuwerden. Und von novembergrauen Augen. Ich spürte Zorn in mir brodeln und wusste gar nicht mal genau, warum ich so zornig war und auf wen. Nur, dass die Wut auch mir selbst galt, das wusste ich sehr genau.
Schließlich hatte ich mich abreagiert. Da ich schon mal in der Ecke war, beschloss ich, noch einen Blick in Schley’s Gartencenter zu werfen und mich mit der Gestaltung der Beete um meine Terrasse herum zu beschäftigen.
Eine Zeit lang schlenderte ich durch die langen Reihen der Büsche, Bäumchen und Sträucher. Viel Grünes gab es nicht um diese Jahreszeit. Noch keine Sommerstauden. Noch nichts, was blüht. Aber die Auswahl reichte immerhin, mich auf angenehmere Gedanken zu bringen.
Ich wählte einen Ranunkelstrauch, einen winterharten Riesenbambus, eine Kletterrose und eine Hanfpalme, ebenfalls winterhart, hievte schwere Säcke mit Gartenerde auf den Einkaufswagen und liebäugelte mit dem Gedanken, einen Teich in dem kleinen Hinterhof-Garten anzulegen, passend zur Weide, die dort stand. Dann ging ich noch mal zurück und packte Schmetterlingsflieder, Rosmarin und Lavendel zu den übrigen Pflanzen.
Bei den Gartenmöbeln blieb ich erneut stehen. Ich dachte an den hässlichen weißen Plastiktisch, den ich von meiner Vormieterin übernommen hatte. Vier einfache Klappstühle aus Holz hatte ich mir bereits vor einem Jahr gekauft. Aber sie waren unbequem, wenn man länger darauf saß, und taugten zwar zum Essen am Tisch, nicht aber zum gemütlichen Herumlungern im Garten. Also wanderte ich zwischen Bänken, Stühlen, Liegen und Tischen aus Massivholz herum, befühlte passende, farbenfrohe Auflagen und verglich die Bequemlichkeit. Als ich mich auf einer Liege ausstreckte und Beine und Einkaufswagen an mir vorbeiziehen sah, hatte ich plötzlich Loriot und seinen Bettenkauf-Sketch im Kopf. Grinsend schloss ich die Augen, wippte probeweise auf der Liege herum und ließ die Szene genüsslich Revue passieren.
Ich entschied mich für eine wellenförmig geschwungene Teakholzliege, wie man sie auch in einer guten Sauna finden kann. Eine leicht bogenförmige Gartenbank hatte es mir ebenfalls angetan. Sie war lang genug, um sich darauf auszustrecken, und die abgerundeten Ecken passten sich ganz wunderbar dem Rücken an. Auch ein Tisch, den man mit mehreren Anbauelementen von klein auf groß umbauen konnte, lachte mich an. Der hässliche, große Plastikfuß für den Sonnenschirm tauchte vor meinem inneren Auge auf, ebenfalls ein Relikt meiner Vormieterin. Man musste ihn mit Wasser befüllen, und wenn man das nicht regelmäßig tat, flog einem der Schirm um die Ohren und trieb das Trumm lautstark über die Terrasse. Viel schöner waren doch diese riesigen Stoffschirme mit dem geschwungenen, stabilen Holzarm und einem massiven Granitfuß. Gelb? Oder orangerot? Ich entschied mich für den leuchtend roten. Auf den Preis achtete ich schon gar nicht mehr.
Den Markt verließ ich schließlich voll bepackt und mit einer stattlichen Rechnung von weit mehr als einem Monatseinkommen in der Hand, bei der ich vor einem Jahr noch dankend abgewinkt hätte. Jetzt war es mir egal. Ich hatte die Probezeit überstanden und wieder ein regelmäßiges Einkommen, zwar nicht mehr ganz so üppig wie früher, dafür jedoch war meine jetzige Wohnung Tür an Tür mit Max preiswerter als mein ehemaliges Domizil am Isenbergplatz. Auch Max’ Selbstständigkeit trug mittlerweile erstaunlich gute Früchte und stabilisierte in den letzten Monaten unsere bis dahin eher bescheidene finanzielle Situation. Geldsorgen hatte ich also keine. Aber ich hatte Frust.
Ich machte einen Liefertermin für die kommende Woche aus und freute mich darauf, mit einem bepelzten Hausfreund zur Linken und einem zur Rechten auf meiner neuen Bank zu sitzen, während Max es sich auf der wellenförmigen Saunaliege gemütlich machte. Falls er denn Zeit dazu finden würde.
Es dämmerte bereits, als ich endlich nach Hause kam. Die Pflanzaktion verschob ich auf den kommenden Tag, wärmte mir die Reste des Spitzkohls auf und machte es mir mit einem Glas Rioja, ein paar mundgerechten Stückchen alten Goudas und dem Psychothriller auf meinem roten Sofa bequem.
Aber Kurti geisterte nach wie vor durch meine Gedanken und gab einfach keine Ruhe. Als sich dann auch noch ein novemberregenverhangener Blick in die spannende Geschichte einmischte, gab ich es auf.
* * *
Schließlich rief ich doch an. »Hallo, Ines, ich habe gerade in Duisburg zu tun und …«
»Sollen wir uns treffen?«, fragte sie schnell. Begierig fast.
Ich war froh, dass sie es war, die fragte. Denn ich hätte nicht so recht gewusst, wie ich es ihr hätte vorschlagen sollen. Diese merkwürdige Beklemmung, die mich mit der Erinnerung an die letzten Jahre meiner Schulzeit befallen hatte, war schon seltsam. »Gern, wenn du Zeit hast«, antwortete ich langsam.
Wir trafen uns am späten Nachmittag am Duisburger Innenhafen in einem der neuen, schicken In-Läden. Ines hatte einen Platz direkt hinter der gläsernen Fensterfront ergattert.
»Hat sich ganz schön verändert hier«, stellte ich fest. Nicht, weil mir die Entwicklung neu war – schließlich arbeitete ich seit einem Dreivierteljahr nur einen knappen Kilometer von der Gastronomie-Meile am Innenhafen entfernt in dem neuen Gebäude der LZPD – sondern eher, um überhaupt etwas zu sagen.
»Ja, nicht war?«, sagte Ines stolz. Sie hatte meine Bemerkung als Anerkennung interpretiert.
War es das gewesen? Anerkennung? Ich wusste es nicht so recht.
»Früher gab es hier Kais und Schiffe und Hebekräne und altes Gerümpel«, sagte ich langsam. »Als ich klein war, bin ich öfter zum Spielen hergekommen.«
»Echt?«, hauchte Ines. »Das hätte ich nie gedurft.«
»Durfte ich auch nicht.« Ich lachte. »Bin aber trotzdem gerne hergekommen.«
Eine Möwe ließ sich auf einem der alten Kräne nieder, die man dankenswerterweise stehen gelassen hatte.
»Ich weiß nicht, ob ich diese Veränderung wirklich gut finde.« Ich sah aus dem Fenster. Ein Kind warf ein Stück Brot in hohem Bogen in Richtung des Kranes. Die Möwe stieß sich von ihrem luftigen Platz ab und schwebte zu Boden. Ich beobachtete, wie sie das Brotstück aufpickte und gleichzeitig ungeniert einen grünlichweißen Haufen auf die Steine der Uferpromenade fallen ließ. Unwillkürlich musste ich grinsen. »Es wirkt einfach so wie ›Möchte gern Hamburg sein, aber kann nicht so recht‹«, sagte ich, ein Zwinkern in der Stimme.
»Was?«, protestierte Ines, die das Zwinkern offensichtlich nicht bemerkt hatte. »Also das Schmuddelloch früher war ja wohl kaum besser!«
Auweia. Da war ich wohl auf eine lokalpatriotische Landmiene getreten.
»Auf jeden Fall gab es damals keinen so leckeren Pinot Gris hier.« Versöhnlich lächelte ich sie an und prostete ihr zu. »Auf die alten Zeiten!«
»Auf die alten Zeiten.« Sie prostete zurück.
Ich sah zu, wie sich der Himmel am gegenüberliegenden Ufer rosig verfärbte, direkt über den alten Speichern, in denen sich mittlerweile Museen und teure Lofts befanden.
»Warum bist du eigentlich nicht mehr zu unseren Treffen gekommen?«, fragte Ines schließlich leise. »So weit weg wohnst du doch gar nicht.«
»Stimmt. Essen ist nicht gerade das andere Ende der Welt«, gab ich zu. Dann zuckte ich mit den Schultern. »Tja, warum? Ich weiß es nicht genau, wenn ich ehrlich bin. Wahrscheinlich waren andere Sachen im konkreten Moment immer irgendwie wichtiger als ein Treffen mit alten Schulfreunden …« Nachdenklich betrachtete ich sie.
Sie errötete unter meinem Blick und biss sich auf die Lippen.
»Bitte nimm’s nicht persönlich«, schob ich hinterher. »Es war keine Entscheidung gegen euch, sondern für etwas anderes.« Stimmte das wirklich? Ich würde mich damit auseinandersetzen müssen, irgendwann, denn es war meinen ehemaligen Freunden gegenüber unerklärlich schroff und ungerecht, so viel wurde mir langsam klar.
»Ist schon gut.« Ines blinzelte mich an. »Du konntest ja nicht wissen, dass Volker auch nur ganz selten gekommen ist.«
Touché. »Wie kommst du denn auf die Idee, es hätte was mit Volker zu tun gehabt?« Ich warf ihr einen bösen Blick zu.
»Ist ja egal«, sagte Ines schnell. »Auf jeden Fall habe ich mich gefreut, dich wiederzusehen.«
»Das mit Kurti ist mir ganz schön nahegegangen«, bekannte ich. »Habt ihr in den letzten Jahren eigentlich auch noch Kontakt gehabt?«
Ines strich sich ihre blonden Locken aus dem runden Gesicht. »Nicht richtig oft, aber doch regelmäßig. Gerda, Matthes, Kurti und ich. Und später dann auch Barbara, als sie nach ihrer Scheidung aus den USA zurückgekommen ist, da hatte sie doch hingeheiratet. Also, wir haben uns so alle paar Monate mal getroffen. Sind essen gegangen oder einen trinken, haben ein bisschen geklönt. Öfter habe ich die anderen aber auch nicht gesehen.«
Immerhin erheblich öfter als ich, dachte ich. Aber ich sprach es nicht aus. »War der Kurti nicht bei der Post?«, fragte ich stattdessen. Ich erinnerte mich dunkel, dass er diese Laufbahn nach dem Abitur hatte einschlagen wollen.
»War der nicht bei der Post?« Ines lachte. »Wie das klingt!« Sie glättete eine Falte auf dem Tischtuch. »Nein, er war nicht bei der Post. Er ist zur Bank gegangen.«
Ein Banker? Unser Kurti? Das passt doch gar nicht! Auch diesen Gedanken behielt ich für mich.
»Außerdem war er schon lange nicht mehr Kurti«, fuhr Ines fort.
»Nein?« Ich war überrascht. »Warum denn nicht? Ich bin doch auch immer noch Toni.«
»Ja, du.« Der Blick, mit dem Ines mich bedachte, war nicht gerade freundlich. »Kurti wollte irgendwann einfach nicht mehr Kurti genannt werden. Wenn du so willst, ist er doch noch erwachsen geworden.«
Irritiert versuchte ich, die unterschwelligen Töne zu sondieren. Ja, du. Und? Erwachsen geworden … Was sollte das denn jetzt, nach fast dreißig Jahren? Erwachsen wurden wir doch schließlich alle!
»Du warst immer schon so verdammt selbstsicher«, platzte es aus Ines heraus. »Erwachsenwerden war für dich gar nicht schwer.«
»Mensch Ines, das ist absoluter Blödsinn«, ereiferte ich mich. »Ich hatte genauso damit zu kämpfen wie jeder von uns. Mit dem Erwachsenwerden, meine ich.«
»Mir kam es nicht so vor«, sagte Ines kläglich. »Auf jeden Fall wollte er einfach nur noch Kurt genannt werden, das ist alles.«
»Wer war denn die junge Blonde auf der Beerdigung?« Die, die von Volker so intensiv betüddelt wurde … Das konnte ich mir gerade noch verkneifen. Gott sei Dank!
»Das war Kurts Tochter.«
Aha. Eine Tochter also.
»Und woher kennt Volker sie, wenn er doch auch nichts mehr mit Kurti zu tun hatte?«
»Das habe ich nicht gesagt.« Ines lächelte mich an. »Ich habe nur gesagt, dass Volker auch nicht zu unseren Treffen kam. Mit Kurt hatte er noch guten Kontakt, zumindest, als er noch in Duisburg wohnte. Soweit ich weiß, ist Volker erst vor acht Jahren oder so nach Hamburg gezogen. Ich glaube, er lebt dort mit seiner Freundin zusammen.«
»Wo es eine Tochter gibt, muss es auch eine Frau geben«, kam ich auf Kurts familiäre Verhältnisse zurück. Gleichzeitig war mir klar, dass das nicht unbedingt stimmen musste, sondern ein Trugschluss sein konnte und vermutlich auch war. Schließlich wurde jede zweite Ehe in Deutschland geschieden. Oder war es jede vierte? Auf jeden Fall beklagte die Kirche einen mangelnden Zusammenhalt dieser heiligen Institution. Dem Staat war es egal, solange der eine für den anderen aufkam, auch nach der Ehe.
»Die lebt schon lange in England«, stellte Ines nun auch prompt richtig. »Ist vier Jahre nach der Geburt der Tochter einfach abgehauen.«