Stefan Winges, geboren 1957 in Rheydt, Studium in Bonn, lebt und arbeitet in Köln.
Im Emons Verlag erschienen der Kriminalroman »Honolulu Baby« sowie die
Sherlock-Holmes-Krimis »Der vierte König« und »Tod auf dem Rhein«. Im
smartformat erschienen bisher »Mord im Afrika-Klub« und »Ein
Drei-Tassen-Problem«.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2012 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Weusthoff-Noël, Hamburg (www.wnkd.de)
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-167-1
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KAPITEL 1
»Der große Linné hatte vollkommen recht, Doktor!«, verkündete Marius van Larken, und es klang endgültig.
Möring blieb auf der Türschwelle stehen und seufzte. Etwas in der Art hatte er befürchtet, man ließ Larken eben nicht ungestraft eine Woche allein. Nicht, wenn man sich eine Wohnung mit ihm teilte.
»Auch Ihnen wünsche ich einen guten Abend«, erwiderte er und schloss die Tür hinter sich. Mittlerweile kannte er Larken lange genug, um sich über derart eigenwillige Begrüßungen nicht mehr zu wundern. Möring setzte die Reisetasche ab und hängte seinen Mantel an die Garderobe. Dann sah er sich ausgiebig um. Der Anblick hatte es verdient. Es war schon bemerkenswert, was Larken in nur sieben Tagen mit einem ganz normalen, behaglichen Wohnraum anstellen konnte.
Wenigstens schien er diesmal auf chemische Experimente verzichtet zu haben, denn der damit meist verbundene Gestank fehlte. Im Gegenteil, es roch ausgesprochen angenehm nach Schokolade, wie Möring nun überrascht feststellte.
Das war immerhin ein Fortschritt.
Vorsichtig ging er hinüber zum Kamin. Er musste achtgeben, wohin er trat, auf dem Boden lagen verstreute Zeitungsblätter, Bücher und lose Grammophonplatten wüst durcheinander. Sogar eine leere Pralinenschachtel bemerkte Möring. Es war ihm ein Rätsel, wie jemand sich in diesem Chaos wohlfühlen konnte. Und doch schien genau das der Fall zu sein.
Marius van Larken saß mit untergeschlagenen Beinen mitten auf dem Teppich. Seine Augen waren geschlossen. Auf dem schmalen Gesicht lag ein Ausdruck höchster, fast andächtiger Konzentration, die dem Inhalt seiner Tasse zu gelten schien. Langsam führte er sie an die Lippen und trank. Als er sie wieder absetzte, öffnete er die Augen und ließ eine Art Schnurren hören, zumindest klang es für Möring so. »Perfekt!«
Auf einem großen Messingtablett neben ihm standen weitere, teils bereits benutzte Tassen, eine Präzisionswaage und ein Stövchen mit einer silbernen Kanne, zu der noch ein Quirl gehörte. Dazwischen und auch um ihn herum verteilt lag Schokolade. Sehr viel Schokolade, in kleinen und größeren Stücken, angebrochenen oder auch in ganzen Tafeln. Das erklärte den intensiven Duft im Raum. Offenbar hatte Larken Trinkschokolade zubereitet und dabei verschiedene Mischungen ausprobiert.
Er nickte Möring zu. »Willkommen zu Hause, Doktor«, holte er nun die Begrüßung nach. »Ich hoffe, Ihr Regimentstreffen in Berlin ist erfreulich verlaufen?«
»Durchaus. Ich habe Kameraden wieder getroffen, die ich seit Afrika nicht mehr gesehen hatte. Es gab viel zu erzählen; gemeinsame Erinnerungen, Wachstubenabenteuer – das Übliche eben. Sie wissen ja, was Veteranen alles treiben, wenn sie nach Jahren wieder zusammenkommen.«
»Nein, da kann ich nur raten. Vielleicht gemeinsam noch einmal das Exerzierreglement durchgehen?«
»Was sonst?« Die kleine Spitze nahm Möring nicht übel. Er kannte niemanden, der so durch und durch Zivilist war wie sein Mitbewohner. Alles Soldatische war Larken gänzlich fremd. »Trotzdem hat sich auch noch genügend Zeit gefunden, um ein paar Flaschen exzellenten Mosel zu köpfen«, fügte er hinzu.
»Etwas anderes hätte ich auch nie angenommen.« Larken legte den Kopf schräg zur Seite und betrachtete Möring. »Wissen Sie, Doktor, für einen Veteranen sind Sie eigentlich zu jung. Viel zu jung.«
»Danke. Und Sie eigentlich zu alt für diese Verkleidung, meinen Sie nicht?«
»Welche Verkleidung?«
Möring verzichtete auf eine Antwort und begann, seinen Sessel von den achtlos darübergeworfenen Kleidungsstücken freizuräumen. Dabei sah ihm Larken ungerührt zu, ohne auch nur die geringste Spur von schlechtem Gewissen erkennen zu lassen. Doch plötzlich beugte er sich vor, zog blitzartig ein Teil aus dem Wäschestapel und ließ es ebenso schnell hinter seinem Rücken verschwinden. Die Bewegung hatte etwas Absurdes an sich. Sie erinnerte an einen schlechten Taschenspielertrick und war vor allem so schnell über die Bühne gegangen, dass Möring nicht genau hatte erkennen können, um welches Kleidungsstück es sich handelte. Aber ausgesehen hatte es wie eine Weste. Eine Weste, die ihm bekannt vorkam, sehr sogar.
Er runzelte die Stirn. »War das gerade meine –?«
»Nein«, kam es wie aus der Pistole geschossen.
»Aber –«
»Nein.« Wieder hatte Larken geantwortet, noch bevor Möring überhaupt dazu gekommen war, seine Frage zu stellen. Ein bestimmter Verdacht ließ sich damit allerdings nicht zerstreuen. Möring machte einen kleinen Schritt zur Seite und versuchte, einen Blick auf das verborgene Wäschestück zu werfen, doch irgendwie saß ihm Larken dabei stets im Weg. Schließlich gab er auf und setzte sich.
Als wäre nichts geschehen, lächelte Larken ihn harmlos an. »Für Sie auch eine Tasse, Doktor?«, fragte er und hob einladend die silberne Kanne.
»Danke, nein.« Möring bedachte Larken mit einem reservierten Blick. Über die Weste würde noch zu reden sein. »Womit hatte er denn recht, der große Linné?«, nahm er Larkens anfängliche Bemerkung wieder auf.
»Mit seiner Taufe natürlich.«
»Aha.«
»Ja. Denn es war niemand anderes als Linné, der die Schokolade auf den Namen ›Theobroma cacao‹ getauft hat, was übersetzt so viel bedeutet wie –«
»›Speise der Götter‹, wenn ich mich noch halbwegs an mein Schul-Griechisch erinnere.«
»Ausgezeichnet.«
»Theobroma cacao«, wiederholte Möring gedehnt und musterte dabei die Ansammlung von Tassen auf Larkens Tablett. »Sie werden doch nicht etwa Ihrem geliebten Mokka untreu?«
»Aber nein. Alles zu seiner Zeit. Das eine schließt das andere ja nicht aus.«
»Aber gleich ein halbes Dutzend Tassen – übertreiben Sie nicht etwas? Oder wollen Sie vielleicht unter die Chocolatiers gehen?«
Larken sah auf den Berg von Schokoladenstücken hinunter und fuhr sich mit der Hand über das Kinn. »Nun ja, gewissermaßen«, sagte er nachdenklich. Dann hob er den Zeigefinger. »Übrigens ein faszinierendes Thema, die Schokolade! Nicht nur vom kulinarischen Standpunkt aus betrachtet – wussten Sie zum Beispiel, dass bei den Azteken Kakaobohnen als Zahlungsmittel verwendet wurden? Meines Wissens die einzige Währung, die man je mit Genuss verspeist hat.«
»Das war mir bekannt, ja«, antwortete Möring, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Tatsächlich?« Larkens Brauen wanderten in die Höhe. Seine Irritation dauerte aber nur einen Moment und hinderte ihn auch nicht daran, sogleich aus dem Stegreif einen umfassenden Vortrag zu halten, der weit ausholte und ab ovo begann. Und so erfuhr Möring alles über die Geschichte der Schokolade, die mit ihrer kultischen Verwendung bei den Azteken oder noch früheren altamerikanischen Kulturen einsetzte und über einen Triumphzug als Lieblingsgetränk des europäischen Adels vor der großen Revolution bis hin zur modernen Stollwerck-Tafel reichte. Des Weiteren müsse man bei den Kakaosorten streng unterscheiden und dürfe den edlen Criollo nicht mit dem Trinitario oder gar dem Forastero verwechseln – und zwar keinesfalls. Larken schien sich gründlich mit der Materie befasst zu haben.
Möring lehnte sich zurück und hörte ihm geduldig zu, wohl wissend, dass ihm auch gar nichts anderes übrig blieb. Wenn Marius van Larken in seinem Element war, konnte ihn so leicht nichts aufhalten. Nachdenklich betrachtete er seinen Mitbewohner, der da so ungeniert vor ihm auf dem Boden saß und seine gelehrten Ausführungen mit lebhaften Gesten unterstrich.
Wie üblich steckte Larken in seinem roten Hausmantel aus gesteppter Seide. Zu Hause zog er selten etwas anderes an und ging auch nicht gerade sorgsam damit um, was man dem prachtvollen Stück inzwischen deutlich ansah. Der Mantel musste einmal ein Vermögen gekostet haben, und selbst im ramponierten Zustand umgab ihn noch immer ein Hauch von orientalischem Luxus. Vor allem heute, denn Larken trug dazu weit geschnittene Pumphosen aus grünem Samt und bunt bestickte türkische Pantoffeln.
In Mörings Augen kam das einer Verkleidung schon ziemlich nahe. Zwar fehlte ein passender Turban oder Fez, doch er hätte einiges darauf gewettet, dass Larken durchaus über solch extravagante Kopfbedeckungen verfügte und sie, schlimmer noch, gelegentlich sogar aufsetzte. Auch wenn gerade zufällig nicht Rosenmontag sein sollte.
An jedem anderen hätte der malerische Aufzug lächerlich und operettenhaft gewirkt, an Larken jedoch nicht. Larken konnte auf dem Teppich sitzen und ein Kostüm aus Tausendundeiner Nacht tragen, als sei es das Natürlichste auf der Welt. Wenigstens erschien es Möring so, und es war ihm ein Rätsel, wie Larken das anstellte. Nicht zum ersten Mal kam sich der Doktor neben ihm beinahe altväterlich vor, obwohl er mit seinen vierunddreißig Jahren kaum älter als sein Mitbewohner war, der manchmal noch jungenhaft wirkte.
Er kannte Larken nun schon seit über drei Jahren. Möring war damals gerade aus Deutsch-Ostafrika heimgekehrt. Wegen einer Kugel im Bein hatte er den Dienst als Militärarzt quittieren müssen und in Köln eine kleine Praxis übernommen. Im Stadt-Anzeiger war er auf das Inserat gestoßen, mit dem Larken einen Mitbewohner suchte. Die Räumlichkeiten und sein zukünftiger Wohnungsgenosse hatten ihm zugesagt, und mit der Wirtin war man sich schnell über die Miete einig geworden.
Seitdem teilte er sich mit Larken die Wohnung in der Brabanter Straße 21B. Die Aufteilung war unkompliziert: Jeder verfügte über sein eigenes Schlafzimmer, das Bad und den großen Wohnraum nutzten sie gemeinsam. Für die Verköstigung sorgte ihre Wirtin, Frau Becker.
Die Entscheidung hatte Möring nie bereut. Sein neues Leben als Zivilist war nämlich bei Weitem nicht so öde und langweilig verlaufen, wie er es anfangs befürchtet hatte. Und das verdankte er seinem Mitbewohner, ihm und dem ausgefallenen Beruf, dem Larken nachging.
Marius van Larken klärte Verbrechen auf.
Das Besondere dabei war, dass er dies nicht im Dienst einer Behörde tat, sondern als Privatier und gegen ein entsprechendes Honorar. Im Prinzip konnte jedermann seine Dienste als Detektiv in Anspruch nehmen – vorausgesetzt, Larken war bereit, den Fall zu übernehmen. Ein heikler Punkt, denn er akzeptierte längst nicht jeden Auftrag. Ihn reizte die intellektuelle Herausforderung, er betrachtete zwar nicht den Mord selbst, aber doch seine Aufklärung als schöne Kunst. Je rätselhafter und undurchsichtiger ein Verbrechen erschien, desto mehr konnte sich Larken dafür begeistern. Fehlte hingegen dieser Reiz, verlor er schnell jedes Interesse. Solche Fälle lehnte er meist ab und verwies auf die dafür zuständige Polizei. Die Höhe des angebotenen Honorars konnte ihn nur selten umstimmen. Aus diesem Grund musste er sich auch seine Wohnung mit Möring teilen.
Gelegentlich wurde er von Kommissar Strammel als Berater hinzugezogen, wenn die Polizei bei einem besonders schwierigen Fall mit ihren eigenen Ermittlungen nicht mehr weiterkam. Trotz gewisser Vorbehalte gegen die private Konkurrenz und deren zuweilen unorthodoxe Methoden wusste der Kommissar doch Larkens Verstand und seine verblüffende Kombinationsgabe zu schätzen. Ohne seine Hilfe hätten einige komplizierte Fälle vermutlich nie aufgeklärt werden können.
Natürlich gestalteten sein Beruf und eine gewisse ihm eigene Exzentrizität das Zusammenleben mit Larken hin und wieder etwas schwierig. Denn im Gegensatz zu Möring betrieb er seine Praxis zu Hause, genauer gesagt in ihrem gemeinsamen Wohnzimmer. Hier empfing er seine Klienten, und hier stand auch sein gern benutzter Labortisch, allen Protesten Mörings zum Trotz.
Wenn Larken gerade an einem Fall arbeitete, konnte es passieren, dass Möring mitten in der Nacht geweckt wurde, weil sein Mitbewohner unbedingt noch den Bunsenbrenner anzünden musste. Sei es, um auf der Stelle die alles entscheidende Analyse eines Beweismittels vorzunehmen, oder auch nur, um sich einen Mokka zu kochen. Larken machte da keinen großen Unterschied.
Inzwischen schien er am Ende seines Vortrags angelangt zu sein. »Und in Anbetracht dieser großartigen Tradition der Schokolade stimmt es schon sehr traurig, mit ansehen zu müssen, was einige Zeitgenossen aus dem gemacht haben, was einmal die Speise der Götter genannt wurde. Es ist eine Schande.«
»Wovon reden Sie?«, fragte Möring, der zuletzt nur noch mit halbem Ohr zugehört hatte.
»Von Milchschokolade.«
Diese Antwort half Möring erkennbar nicht weiter.
Larken seufzte. »Ich rede hiervon.« Mit spitzen Fingern hielt er eine angebrochene, auffallend helle Tafel in die Höhe und musterte sie voller Verachtung. »Eine Mischung aus wenig Kakao, sehr viel Zucker und billigem Fett. Ich frage mich, ob die Bezeichnung ›Schokolade‹ dafür überhaupt noch angemessen ist.« Dann schüttelte er resigniert den Kopf und ließ die Tafel wieder sinken. »Nein, eigentlich frage ich mich das nicht.«
Möring lächelte amüsiert. »Wenn Sie keine Verwendung dafür haben, nehme ich sie Ihnen gerne ab. Mein Geschmack ist nicht so elitär wie der Ihre. Ich könnte mich sogar mit ordinärer Milchschokolade anfreunden.« Er griff nach der Tafel, brach ein Stück ab und biss genüsslich hinein.
Larken sah ihm mit gerunzelter Stirn zu. »Sie schmeckt Ihnen tatsächlich, nicht wahr?«, fragte er, anscheinend gegen seinen Willen fasziniert. »Erstaunlich. – Aber das erklärt natürlich, warum ich sie in Ihrem Schlafzimmer gefunden habe, zusammen mit drei anderen Tafeln ähnlicher Qualität. Ein bemerkenswerter Vorrat, den Sie da im Nachttisch versteckt haben.«
»Sie waren an meinem Nachttisch?«, fragte Möring befremdet. Damit stand auch zweifelsfrei fest, aus wessen Kleiderschrank die Weste hinter Larkens Rücken stammen musste.
»Natürlich rein zu Studienzwecken«, antwortete Larken unbekümmert. »Sie haben hoffentlich nichts dagegen, dass ich mich ein wenig Ihrer Vorräte bedient habe.«
»Von wegen ›bedient‹ – ›geplündert‹ wollten Sie wohl sagen!«
»Sie übertreiben. Außerdem ist es nur zu Ihrem Besten. Sie sollten in der Auswahl Ihrer Schokolade sorgfältiger vorgehen und mehr auf Qualität achten. Nehmen Sie zum Beispiel diese Tafel hier, die ich mir von Stollwerck habe kommen lassen: exquisiter Maracaibo-Ca-cao!«
Möring probierte ein Stück der dunklen Schokolade und musste im Stillen zugeben, dass Larken recht hatte. Sie schmeckte vorzüglich. Aber das behielt er erst einmal für sich.
Sein Schmollen blieb ohne Wirkung, Larken bemerkte es nicht einmal. »Übrigens lässt Kommissar Strammel Ihnen Grüße ausrichten, Doktor. Er war enttäuscht, Sie nicht angetroffen zu haben.«
»Danke. Er war hier?«
»Anfang der Woche. Um mich wegen eines Falles zu konsultieren, den er gerade im Königsforst bearbeitet. Kuriose Geschichte.«
»Worum geht es denn?«
»Um das seltsame Verschwinden einer Reihe von Logiergästen aus der Pension ›Waldfrieden‹.«
»Was meinen Sie mit ›seltsam‹?«
»Dass nacheinander drei ältere alleinstehende Herren aus heiterem Himmel plötzlich nach Panama aufbrechen und anschließend nicht mehr gesehen werden. Das meine ich mit seltsam.«
»Nach Panama?«
»So heißt es, ja. Nur hat niemand die Herren in einen Zug steigen sehen, und Schiffspassagen auf ihren Namen sind auch nicht gebucht worden. Strammel hat das überprüft. Aber verschwunden sind sie, das steht fest.«
»Das klingt in der Tat verdächtig.«
»Verdächtig genug, dass Strammel nun den Garten der Pension umgraben lässt. Er rechnet damit, dort früher oder später auf ein paar Leichen zu stoßen.«
»Das ist ja furchtbar! – Gleich drei Morde?«
»Und das im Königsforst.«
»Gibt es schon Hinweise auf ein mögliches Motiv oder einen Verdacht, wer es getan haben könnte?«
»Gibt es. Die Pension wird seit Jahrzehnten von zwei Schwestern geführt. Zwei reizende alte Jungfern, vielleicht ein wenig schrullig, zugegeben, aber reizend, ganz reizend. Ihr Apfelkuchen ist hervorragend. Dass ausgerechnet sie Giftmischerinnen sein könnten, sollte man nicht denken, doch Strammel ist fest davon überzeugt.«
»Gift?«, fragte Möring beunruhigt.
»Das geeignete Mordwerkzeug für zwei alte Damen, nicht wahr? Jedenfalls passender als eine Axt. Strammel geht davon aus, dass das Gift im Holunderwein gewesen sein muss. Den stellen die beiden Schwestern offenbar eigenhändig nach überliefertem Rezept her, gewissermaßen als Spezialität des Hauses, und er scheint sich allgemeiner Beliebtheit zu erfreuen. Nun ja, jetzt vermutlich nicht mehr.« Larken verstummte und begann, einzelne Schokoladenstücke auf dem Tablett hin und her zu schieben. Er wirkte nachdenklich.
»Sie klingen nicht überzeugt.«
»Bin ich auch nicht. Bei meinen Nachforschungen vor Ort hat sich nämlich herausgestellt, dass einer der vermissten Herren strikter Abstinenzler war. Damit dürfte Strammels Holunderwein aus dem Rennen sein.« Larken griff nach der silbernen Kanne. »Nein, ich neige zu einer alternativen Theorie.«
Möring starrte alarmiert auf die Tasse, die Larken mit dunkler Trinkschokolade gefüllt hatte und ihm nun einladend hinhielt. Ihm dämmerte, was mit der alternativen Theorie gemeint sein musste. Auf einmal ergab alles einen Sinn. Jetzt verstand er, wozu Larken mit verschiedenen Schokoladenmischungen experimentiert hatte.
Als Möring sich nicht regte, wurde Larken ungeduldig. »Hier, Doktor, das müssen Sie unbedingt probieren und mir sagen, ob Sie vielleicht irgendetwas Ungewöhnliches dabei schmecken.«
»Ich denke gar nicht daran!«
»Das wollen Sie sich wirklich entgehen lassen?«
Möring lehnte sich zurück und verschränkte demonstrativ die Arme. »So ist es.«
»Ich habe Sie schon mutiger erlebt, Doktor«, sagte Larken bedauernd und setzte die Tasse wieder ab. »Dabei soll Panama um diese Jahreszeit ganz reizend sein.«
Es war sein übermütiges Grinsen, das ihn verriet.
»Das war nur ein Scherz«, sagte Möring langsam.
»Selbstverständlich.«
»Aber ein geschmackloser! Für einen Augenblick habe ich tatsächlich geglaubt –«
»Dass ich edle Schokolade mit Gift panschen könnte? Ich muss schon sagen, Doktor, von Ihnen für einen solchen Barbaren gehalten zu werden – das schmerzt!«
»Sie werden es verkraften.«
»Das sagen Sie so einfach.«
»Ich bin Arzt. – Was ist nun mit Strammels Fall?«
»Es gibt keinen Fall. Alles nur falscher Alarm. Strammel ist auf dem Holzweg, er wird keine Leichen finden. In der Pension ›Waldfrieden‹ wurde nämlich niemand ermordet.«
»Und die verschwundenen Gäste?«
»Für ihr Verschwinden gibt es eine völlig harmlose Erklärung. Ein fehlender Ring hat mich auf die Lösung gebracht.« Da Möring ihn nur fragend ansah, hob Larken seine rechte Hand. »Mein fehlender Ring.«
Es dauerte einen Moment, bis Möring begriff. »Sie sprechen von einem Ehering.«
»Richtig. Und von dem reichlich merkwürdigen Verhalten der Wirtinnen, als sie das Fehlen eines solchen bei mir bemerkten. Ihre bizarre Reaktion darauf lässt nur den Schluss zu, dass die beiden Damen das Ende ihres Jungfrauenstandes leidenschaftlich herbeisehnen, trotz fortgeschrittenen Alters. Ich gestehe, dass ich bei der Lösung des Falles Strammel gegenüber im Vorteil war, denn der Kommissar und sein Sergeant sind ebenso glücklich wie erkennbar verheiratet.«
»Aber die vermissten Pensionsgäste waren das nicht, ich verstehe.« Möring lachte leise. »Deshalb haben sie sich still und leise aus dem Staub gemacht.«
»Vermutlich nicht gleich nach Panama, aber doch weit genug, um sich vor dem drohenden Ehestand in Sicherheit zu fühlen.«
»Sie haben recht, es ist wirklich eine kuriose Geschichte. Was hält denn Strammel von Ihrer Theorie?«
»Strammel?« Larken wischte einen Schokoladenkrümel von seinem Ärmel. »Nun, der Kommissar hat zwei weitere Schaufeln angefordert.«
Möring lachte und wies auf das Tablett. »Ich bin ja erleichtert, dass Sie mich nicht als Probanden benutzen wollen, aber was treiben Sie da eigentlich? Eine Studie über die Unterscheidung von hundertvierzig Schokoladenarten und ihren kriminalistischen Nutzen?«
»Welchen Sinn sollte das haben? Anders als beim Tabak bleibt von Schokolade nicht zwangsläufig immer ein Rest übrig, den man am Tatort sicherstellen und später analysieren könnte. Selbst bei Ihrer geliebten Milchschokolade nicht. Nein, ich stelle mir gerade meine eigene Schokolade zusammen, indem ich Proben verschiedener Sorten verflüssige, um sie dann untereinander und auch mit weiteren Zutaten neu zu mischen. In dieser Tasse hier finden Sie meinen Favoriten. Eine perfekte Komposition aus venezolanischem Criollo mit hellerem Java, einem Hauch Vanille und etwas Mokka. Davon wird Stollwerck nach meinem Rezept Tafeln für mich anfertigen.«
»Etwa mit eingeprägtem Monogramm?«
»Wollen Sie nun probieren oder nicht?«
Diesmal griff Möring nach der Tasse, inhalierte das satte Schokoladenaroma und trank prüfend einen Schluck. Dann noch einen. »Ich nehme alles zurück, es schmeckt köstlich! Am besten bestellen Sie für mich gleich ein halbes Dutzend Tafeln mit.«
»Gerne.« Larken schenkte sich selbst noch eine Tasse ein, trank jedoch nicht daraus, sondern rührte nur mit einem zierlichen Löffel darin herum. »Um auf Ihre Frage zurückzukommen, Doktor«, sagte er nach einer kleinen Pause, »in Wahrheit vertreibe ich mir nur etwas die Zeit. In den letzten Wochen gab es für mich nicht viel zu tun. Und das ist noch stark übertrieben, fürchte ich.«
Möring nickte, schon vor seiner Abreise hatte Larken über eine geschäftliche Flaute geklagt, und offenbar hatte sich daran während seiner Abwesenheit nichts geändert. Das erklärte den Zustand der Wohnung und auch Larkens Aussehen. Er war blass, unrasiert, und sein ungekämmtes Haar, das er nach Künstlermanier lang trug, hing ihm wirr in die Stirn. Er schien seit Tagen nicht aus dem Hausmantel herausgekommen zu sein.
Natürlich kultivierte Larken seine Marotten und gefiel sich in der Rolle des verlotterten Genies, aber die Symptome blieben dem Arzt und Freund nicht verborgen. Larken war unterfordert, schlicht gesagt: Er langweilte sich fürchterlich. Das konnte auch für einen Mitbewohner fatale Folgen haben. Möring erinnerte sich nur zu gut, wie Larken einmal begonnen hatte, die Wand seines Schlafzimmers mit einer der Silhouette des Kölner Doms nachempfundenen Linie von dicht nebeneinander platzierten Einschusslöchern zu verzieren. Obwohl er den Dom recht gut getroffen hatte, war ihre Wirtin einem Schlaganfall nahe gewesen und hätte Ihnen um ein Haar die Wohnung gekündigt.
Dagegen war das Zusammenstellen einer privaten Schokoladenmischung noch harmlos und völlig akzeptabel. Möring machte sich auch keine ernsthaften Sorgen. Larken fehlte nichts, er brauchte nur einen neuen Fall.
»Vielleicht sollten Sie eine größere Annonce in die Zeitung setzen«, schlug er vor.
»Daran liegt es nicht. Sehen Sie den Briefstapel auf dem Kaminsims, Doktor? Die Post von dieser Woche. Lauter Anfragen, die ich nicht angenommen habe, eine belangloser als die andere, manche davon regelrechte Zumutungen. Es ist schon so weit gekommen, dass man mich in Scheidungsfällen konsultieren will!« Lustlos trank er von seiner Schokolade und setzte dann die Tasse ab. »Nein, Aufträge gäbe es genug, aber nirgendwo eine echte Herausforderung, nichts, was mich wirklich reizte.«
Bei der Vorstellung, dass Larken untreuen Ehegatten nachspionieren sollte, konnte Möring nur mit Mühe ein Lächeln unterdrücken.
»Das Interessanteste ist noch eine Anfrage des alten Klingenberg. Daran können Sie erkennen, wie deprimierend die Lage ist, Doktor.«
»Der Name sagt mir nichts.«
»Und doch sind Sie bestimmt schon seiner Spur begegnet. Eduard Klingenberg ist einer jener Industrie-Kapitäne, die rastlos unser neues Reich aufbauen«, intonierte Larken mit ironischem Pathos. »Er besitzt mehrere Fabriken, auch eine in Ehrenfeld. Dort werden Verkaufsautomaten für Stollwerck hergestellt.«
»Denen bin ich allerdings schon begegnet. Scheußliche Dinger.«
»Das ist die Zukunft, Doktor: alles auf Knopfdruck! Auf jeden Fall lässt sich damit viel Geld verdienen, genug, dass Konkurrenten versuchen, ebenfalls ein Stück des Kuchens zu bekommen, mit allen Mitteln. Deshalb ist Klingenberg an mich herangetreten. Anscheinend ist es zu gewissen Vorfällen in der Firma gekommen.«
»Werksspionage?«
»So hörte es sich an. Näheres über die Angelegenheit weiß ich noch nicht. Nur dass Klingenberg offenbar einen bestimmten Verdacht hat, den ich erst entweder bestätigen oder entkräften soll, bevor er damit zur Polizei geht.«
»Sie kennen diesen Klingenberg?«
»Mehr seinen Neffen, Wilhelm Koerfgen, aber so ist das eben in Köln: Über ein paar Ecken kennt hier jeder jeden. Während des Studiums haben wir zusammen in einer Laientruppe Theater gespielt. Wilhelm war damals auf den jugendlichen Liebhaber abonniert, nicht nur auf der Bühne. Fideler Bursche, sein Ingenieursexamen hat er so lange wie möglich hinausgezögert, bis dann irgendwann sein Wechsel storniert wurde. Jetzt arbeitet er brav in der Firma seines Onkels. So kann es gehen.«
»Die Wege des Herrn sind eben unergründlich«, kommentierte Möring die schlimme Wendung, die das Leben von Larkens Kommilitonen anscheinend genommen hatte.
»Sie sagen es, Doktor. Und mich erwartet Klingenberg morgen Mittag in seinem Büro.«
»Also übernehmen Sie den Auftrag?«
»Ich habe wohl keine andere Wahl, fürchte ich. Auch eine Wirtin wie Frau Becker gewährt keinen unbegrenzten Kredit.«
»Immer noch besser als ein Scheidungsfall.«
»Alles ist besser als ein Scheidungsfall.«
»Da fällt mir noch etwas ein. Unten im Briefkasten steckte ein weiterer Brief für Sie.« Möring griff in seine Jackentasche und holte einen Umschlag heraus. Als er ihn überreichen wollte, wehrte Larken ab.
»Lesen Sie ihn ruhig vor, Doktor. Er dürfte auch nicht interessanter sein als die übrigen.«
Möring öffnete den Umschlag und überflog den Brief. »Da wäre ich mir nicht so sicher.«
»Tatsächlich?«, fragte Larken skeptisch.
»Man bietet Ihnen einen Fernkursus an.«
»Ah. Lassen Sie mich raten: ›Hypnotisieren leicht gemacht!‹.«
»Falsch.«
»Dann eben ›Muskeln wie Herkules in nur drei Wochen!‹.«
»Weder noch, es geht um etwas anderes, und dafür scheinen mir die verlangten vierundzwanzig Mark an Gebühren durchaus passabel zu sein.«
»Und, was ist es?«
»›Wie werde ich Detektiv? – In fünfzehn Lektionen sicher zum Erfolg! Von führenden Kriminalisten empfohlen.‹«
»Klingt ganz nach einem passenden Geschenk für Kommissar Strammel.«
»Nein, wenn ich das richtig sehe, zählt der Kommissar selbst zu den ›führenden Kriminalisten‹.«
»Was sagen Sie da?« Larken richtete sich abrupt auf. »Strammel?«
Möring genoss einen der seltenen Momente, in denen Larken sprachlos war und ihn nur entgeistert anstarren konnte. »Von ihm stammt das Geleitwort«, antwortete er ruhig.
Larken riss ihm den Brief aus der Hand, warf einen Blick darauf und runzelte die Stirn. »Aber – das ist nur eine Rechnung!«
»Von Ihrem Schneider, ja. Für den neuen Smoking.« Möring schlug die Beine übereinander, zufrieden mit seiner kleinen Revanche. »Nur ein kleiner Scherz.«
»Kein netter Zug von Ihnen, so nachtragend zu sein, Doktor!«
»Ich bin eben auch nur ein Mensch.«
»So, so.«