Benedikt Zberg wurde 1945 in Littau bei Luzern geboren. Nach einer Ausbildung als Mechaniker und einem Studium als Ing. HTL hielt es ihn nicht allzu lange in diesem Beruf. In den Siebzigerjahren begann er sich intensiv mit Philosophie zu befassen. Diese Interessen führten ihn nach Dänemark, England und den USA, wo er hauptsächlich auf Englisch studierte. Zwischendurch arbeitete er in Nordafrika und der Schweiz als Lehrer und Instruktor, aber auch in zahlreichen anderen Betätigungsfeldern. Heute gibt er Privatpersonen Englischunterricht.
Benedikt Zberg
Eine Fiktion
Theodor Boder Verlag
eBook, Februar 2011
Copyright © 2007 by Theodor Boder Verlag,
CH-4322 Mumpf
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Boris Braun
Lektorat: Mirko Partschefeld
ISBN 978-3-905802-13-9
www.boderverlag.ch
Spät in der Nacht kam Nick nachhause von seiner Arbeit bei der Eisenbahngesellschaft. Eigentlich war es ein bloßer Job, ein Brotverdienst, der ihm den ganzen Abend und die halbe Nacht wegstahl, und Nick, mit vollem Namen Nicholas Bolder, war weit davon entfernt, dies als „seine Arbeit“ oder gar als „seinen Beruf“ zu bezeichnen. Nick hatte keine große Beziehung zu dieser Beschäftigung. Sie existierte für ihn ganz einfach in Form einer Notwendigkeit, um als Organismus überleben zu können.
Müde und ausgelaugt von der schweren und ungewohnten Arbeit, schloss er die Türe seines winzigen Apartments und zog die Gardinen in seinem Wohnzimmer zu, das ihm zugleich als Ess-, Schlaf- und Arbeitsraum diente, als Arbeitsraum dann, wenn er Piano spielte oder komponierte.
Nick war, in gewisser Weise, ein freischaffender Künstler, ein Musikus, der versuchte, seinen eigenen Weg zu gehen, und die Welt der Töne und Klänge war das Gebiet, dem er seine volle Zuneigung schenkte. Das andere betrachtete er nur als einen hoffentlich vorübergehenden Job. Aber es war klar, dass gerade dieser an seiner Substanz besonders zehrte, da er seinen Kopf meistens bei erfreulicheren Dingen hatte, während er sein Pensum an eintöniger, körperlicher Arbeit verrichtete.
An den Wochenenden hatte er manchmal kleine Engagements als Pianist in einer städtischen Bar, wo er immerhin die Gelegenheit bekam, eigene Kompositionen vorzutragen. Laut Vertrag musste er jedoch den größten Teil seiner Darbietungen für Unterhaltungsmusik reservieren, um die Gäste im Lokal zufrieden zu stellen. Das Letztere behagte ihm ganz und gar nicht, aber schließlich wurde er dafür bezahlt, wenn auch nur bescheiden.
Nebst diesem Engagement in der Widderbar schrieb Nick von Zeit zu Zeit kleine Essays für eine lokale Zeitung, die ihm ebenfalls etwas Geld einbrachten, aber das war kaum der Rede wert. So musste er sich noch zusätzlich als Hilfskraft bei der Eisenbahn verdingen.
All die Sorgen, die damit verbunden waren, stürmten jetzt besonders heftig auf ihn ein, da er müde war und sein Körper ihm zu schaffen machte. Mit einem Seufzer ließ er sich in seinen Schaukelstuhl nieder. Dabei dachte er kurz an die beiden kleinen Kinder der Familie Honegger, die gerade unter ihm wohnte.
Matthias und Doris, so hießen die beiden, waren seine Lieblinge im Hause, und Nick seinerseits war sozusagen ihr Spezialfreund. Zwischen ihnen bestand ein Verhältnis von hohem, gegenseitigem Respekt, wie es zwischen Kindern und Erwachsenen gelegentlich vorkommt.
Oft geschah es, wenn Nick am Piano saß, ganz vertieft in seine Musik, dass sie sich heimlich in seine Wohnung stahlen. Dann setzten sie sich ruhig aufs Sofa und hörten ihm zu.
Ohne dass er von den Tasten weggesehen hätte, wusste er, dass sie da waren. Er fühlte ganz einfach, dass seine Musik freudig aufgenommen und verstanden wurde. Er konnte die rege geistige Anteilnahme der beiden Kinder förmlich spüren, und meistens gelangen ihm gerade dann die schönsten Improvisationen. Das Letztere erschien ihm als ein Phänomen, das zu untersuchen sich vielleicht einmal lohnen würde.
Aber jetzt wurde ihm plötzlich bewusst, wie spät in der Nacht es war, und er hatte sich noch nicht einmal die Mühe genommen, seine Schuhe auszuziehen oder seine Jacke abzulegen. Er wollte dies jetzt nachholen und verfuhr dabei so leise wie nur möglich, um ja niemanden im Hause zu wecken. Schließlich nahm er wieder Platz in seinem Lieblingsstuhl und dachte nach über sein Schicksal, dem er zurzeit einen eher bitteren Geschmack abgewann.
Da waren auf der einen Seite seine geheimen Träume, seine Ideale, denen er sich voll hingeben konnte, und auf der anderen Seite der stumpfe Broterwerb, von dem er nichts erwarten konnte, außer der Garantie, seine Rechnungen bezahlen zu können.
Instinkt und Besonnenheit! – Diese beiden Komponenten schienen ihn zerreißen und spalten zu wollen! Seine innere Stimme trieb ihn mit unwiderstehlicher Kraft in die Welt der Kunst. Sein gesunder Menschenverstand warnte ihn: Halt! Kannst du davon leben?
Wenn er als professioneller Künstler arbeiten wollte, so war es jetzt höchste Zeit, sich voll darauf einzustellen. Solch ein Vorhaben forderte ihn als ganzes Wesen heraus. Wenn er andererseits in einem „normalen Beruf“ auf einen grünen Zweig kommen wollte, so durfte er keine Zeit mehr vertrödeln mit temporären Jobs, wollte er den Anschluss nicht vollends verpassen. Das eine schien das andere auszuschließen!
Aber er hatte nun mal an dieser Sache, genannt „Kunst“, gerochen. Und wen es mal gepackt hat, den lässt es nicht so schnell wieder los.
Wie oft hatte er schon, während er auf dem Piano improvisierte, zauberhafte, um nicht zu sagen spirituelle, Momente erlebt! Dabei kam es vor, dass er sich plötzlich losgelöst fühlte von aller Erdenschwere. In solchen Augenblicken wusste er, dass er ER SELBST war, ein geistiges Wesen, eine Seele, gebunden an einen Körper aus Fleisch und Blut.
In solchen Momenten war er glücklich. Manchmal hielt dieses Glück noch einige Zeit an, aber meistens verblasste es in dem Moment, wo er seine Aufmerksamkeit zwangsläufig wieder den Nöten und Forderungen seines Alltagslebens zuwenden musste. Diese kontroverse Situation wuchs in ihm zu einem echten Problem heran.
Warum konnte er nicht einfach das tun, was er schon immer hatte tun wollen? Derartige Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Manchmal überkam ihn sogar der Verdacht, ob er nicht doch zu jenen gehöre, die einer echten Herausforderung aus dem Wege gingen.
Solches und Ähnliches glaubte er wenigstens von Leuten gehört zu haben, die seine Laufbahn mit Stirnrunzeln verfolgten. Im Moment war er ganz einfach zu schwach, um dieses „Vielleicht“, das alles in der Schwebe hielt, auflösen zu können, und er hatte auch gar keine Lust, noch länger darüber nachzugrübeln.
Aber etwas anderes beschäftigte ihn umso mehr. Ein höchst merkwürdiges Geschehnis war ihm heute widerfahren. Ein älterer Herr mit langen weißen Haaren und glasklaren Augen war plötzlich aus der Menge aufgetaucht, direkt auf ihn zugekommen, und hatte ihn in ein scheinbar belangloses Gespräch verwickelt.
Gleich zu Beginn der Konversation war Nick ganz und gar fasziniert vor dem Fremden stehen geblieben und hatte seine weitere Umgebung völlig vergessen. Nick hatte einige Fragen über die Stadt beantwortet. Dabei war ihm aufgefallen, dass er diese Person eigentlich von irgendwoher kennen müsste. Er hatte sich aber nicht vorstellen können, wie und wo das hätte der Fall sein können. Auch jetzt, zuhause, hatte er nicht die geringste Ahnung.
Im Verlaufe des Gesprächs hatte ihn der Fremde nach seinem Beruf gefragt. Ihm aber war diese Fragerei äußerst peinlich vorgekommen, und er wäre in seinem roten Overall am liebsten in den Erdboden versunken. Dann aber hatte er doch widerwillig geantwortet, er sei sozusagen noch im Studium, dies hier sei nur ein Broterwerb, weil er eben von etwas leben müsse. Aber seine Liebe und seine Neigung gelten der Musik, mit der er sich in seiner übrigen Zeit beschäftige. Leider sei es noch sehr ungewiss, ob es ihm gelinge, sich auf diesem Gebiet zu entfalten, hatte er noch kleinlaut hinzugefügt.
Der weißhaarige Mann hatte aufmerksam zugehört und schließlich genickt. Und dann hatte er ihm, als wäre es ein Geheimnis, zugeflüstert: „Wissen Sie, manchmal kommt es vor, dass man plötzlich hindurchblickt und den Weiterweg sieht, oft sogar gerade dann, wenn man es am wenigsten erwartet. Geben Sie die Hoffnung nicht auf!“ Dann hatte er ihm nochmals bedeutsam in die Augen geschaut und war bald darauf in der Menge verschwunden.
Nick hing noch in Gedanken an diesen Worten. Hatten diese eine ganz bestimmte Bedeutung für ihn? Er konnte sich darauf keinen Reim machen.
Schließlich ließ er auch diese Sache wieder fallen, seufzte ein paar Mal, stülpte sich den Kopfhörer über die Ohren und legte eine Platte auf den Plattenspieler. Es war eine alte Gewohnheit von ihm, noch kurz vor dem Schlafengehen etwas Musik zu hören, in der Hoffnung, seine Gedanken abschalten zu können.
Er musste wohl eingeschlafen sein. Jedenfalls fand er sich plötzlich inmitten eines scheinbar unendlichen Raumes wieder, der von einem ungewöhnlichen, angenehm schimmernden Licht erfüllt war. Nick glaubte, er erwache gerade und versuchte gegen das Licht zu blinzeln. Das gelang ihm aber nicht! Er suchte seine Arme, seine Füße, konnte aber nichts finden. Es gab für ihn keinen Zweifel, ER SELBST war zwar da, wo immer das auch sein mochte, aber von seinem Körper fehlte jede Spur.
Er wollte sich genauer umschauen, und dabei entdeckte er, dass er sich gar nicht anzustrengen brauchte. Er konnte nämlich gleichzeitig ringsherum schauen. Komischerweise erschien ihm das als eine ganz natürliche Fähigkeit. Zudem fühlte er sich schwerelos. Weit in der Ferne nahm er etwas wahr, das auf den Ursprung jenes Lichtes schließen ließ, das den ganzen Raum durchdrang. Die Helligkeit schien von diesem einen Punkt auszuströmen.
Nick wurde neugierig, er fühlte sich davon angezogen. Aus einem inneren Impuls heraus fing er an, seine Aufmerksamkeit auf jenen Punkt zu richten. Das Leuchten wurde stärker. Jetzt konnte er eine Art kreisrunden Kanal ausmachen, bestehend aus einem Wirbel von Myriaden von Teilchen. Dieser Kanal war etwa vergleichbar mit einem sehr tiefen Brunnenschacht, durch den das Sonnenlicht eindrang. Es war aber nicht die Sonne, die da hereinschien, es war überhaupt kein irdisches Licht.
Während er noch staunte und sich wie ein Stück Metall von einem starken Magneten angezogen fühlte, bemerkte er, dass sich die Wände des Schachtes an ihm vorbeibewegten. Er sah deutlich, dass diese von einer Art Galerie spiralförmig durchzogen waren. Die Situation wurde ihm jetzt doch etwas zu unheimlich. Er bekam Angst und versuchte zu stoppen. Aber er hatte keine Wahl mehr, er musste hindurch.
Wie lange diese Reise gedauert hatte, konnte er später nicht mehr sagen. Zeit schien hier keine feste Größe zu sein. Als Nächstes bemerkte er, dass er nicht alleine war in diesem Tunnel. Aus den Etagen starrten ihn zahlreiche Augen an. Seltsame Wesen schienen sich dort aufzuhalten. Er sah neugierige, erzürnte, mitleidige, apathische, traurige, schmerzverzerrte und feindselige Blicke auf sich gerichtet.
Die ganze Sache entwickelte sich zu einer Art Spießrutenlaufen. Er sah sich plötzlich in der Rolle eines Eindringlings, der die Gemüter jener Wesen erregte, die offenbar ihre Ruhe haben wollten. Im Vorüberschweben konnte er flüchtig ihre Gestalten erkennen, die alle möglichen skurrilen Formen angenommen hatten.
Eine dieser possenhaften Gestalten kam jetzt direkt auf ihn zu und versperrte ihm den Weg. Einen quälenden Augenblick lang glaubte sich Nick verloren. Mit einer letzten Willensanstrengung konzentrierte er sich auf das Licht weit voraus. Gleichzeitig brachte er es irgendwie fertig, dem Schreckgespenst vor ihm ruhigen Blickes standzuhalten.
Er konnte die abstoßende Kraft seines Kontrahenten förmlich spüren. Auf diese Weise hielten sie für einen langen, quälenden Augenblick das Gleichgewicht.
Und dann geschah etwas völlig Unerwartetes: Nick musste lachen. Erst viel später wurde ihm bewusst, weshalb! Für einen kurzen Moment hatte er nämlich einen Teil der Wahrheit erkennen können, die hinter dieser Erscheinung steckte. Jetzt aber beobachtete er mit großem Erstaunen, wie das bizarre Wesen sich in einen langen Wurm verwandelte, immer dünner wurde und sich schließlich völlig auflöste.
Sobald der Spuk vorbei war, fühlte er sich wieder frei und schwerelos. Je weiter er vordrang, desto heller wurde der Tunnel und umso freundlicher erschienen ihm die Wesen, die sich an seinem Rande zeigten. Der Kanal, der am Anfang relativ eng gewesen war, öffnete sich jetzt immer mehr, und er blickte in die Fülle eines Universums aus Licht, das sich sehr unterschied von dem Licht der Welt, in der er sonst zu leben pflegte.
Schließlich hörten die Schranken um ihn herum gänzlich auf, und er tauchte unter in eine Sinfonie von sich ständig wandelnden Farben!
Eine Stimme sagte: „Willkommen!“ Sie war sehr klar, wohltuend und harmonisch. Sie erinnerte Nick entfernt an eine Orgel, die in einer menschenleeren Kathedrale gespielt wird. Genau genommen war er sich noch nicht einmal sicher, ob es tatsächlich eine Stimme war oder lediglich eine besonders prägnant hervorstechende Schwingung in diesem Ozean des Lichts, denn er konnte die Stimme ebenso gut sehen wie hören. Jedenfalls war es eine Kommunikation, die an ihn gerichtet war, darüber war er sich sicher.
„Wer spricht da zu mir, und wo bin ich eigentlich?“, dachte Nick, wobei er gleichzeitig versuchte, Kontakt aufzunehmen mit dem unbekannten Wesen. Dabei beobachtete er, wie etwas von ihm ausging, eine feine Wellenbewegung, wie man sie etwa an einem ruhigen Teich sehen kann, wenn jemand einen winzigen Stein hineinwirft.
„Mein Name ist Alexandra“, antwortete die Stimme sofort. „Du befindest dich im System Theta. Vorerst musst du dich aber etwas gedulden mit deinen Fragen.“
Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Ich werde dich jetzt mit diesem Universum bekanntmachen. Bitte befolge meine Anweisungen!“
„Da bin ich ja gespannt, was alles noch auf mich zukommen wird“, murmelte Nick vor sich hin. Ein feines Lachen ertönte um ihn herum, als ob sich jemand über einen Erfolg freute.
Nick dachte nicht einmal daran, Angst zu haben, ganz im Gegenteil, er hatte sich noch nie so gut gefühlt wie gerade jetzt. Trotzdem verstand er überhaupt nicht, was mit ihm passierte.
Wer oder was hatte diese Reise bewirkt? War er unter Drogen gesetzt worden für irgendeinen unbekannten Zweck? Der vornehme weißhaarige Herr kam ihm wieder in den Sinn, den er gestern – oder war es vor langer Zeit? – gesprochen hatte. Irgendwo schien da ein Zusammenhang zu bestehen. Allerdings traute er diesem Herrn keine bösen Absichten zu. Nur so viel war sicher: Er wurde von jemandem geführt, und er war überzeugt, dass ihm nichts Böses bevorstand.
Die Stimme klang nun etwas kräftiger und bestimmter, ohne jedoch an Freundlichkeit nachzulassen: „Betrachte deinen Körper!“
Zu seiner eigenen Verblüffung konnte Nick jetzt etwas wahrnehmen, das wie Arme und Beine aussah. Allerdings erschienen sie ihm noch sehr nebelhaft und ungreifbar. Seine neue Gestalt schien aus einer sehr feinen Energie zu bestehen. Er hatte das Gefühl, dass diese nur deshalb vorhanden war, weil ER SELBST sie dort hinstellte. Je mehr Gewissheit er darüber empfand, desto besser konnte er die einzelnen Glieder unterscheiden. Er kam sich vor wie ein Geist, der durch das Weltall schwebt.
„Ja, tatsächlich, ich habe einen Körper!“
„Gut“, meldete sich die Stimme von Alexandra wieder. „Nun schau dich mal um. Kannst du etwas sehen?“
Nick schaute in die Runde. Er hatte jetzt einen Körper, das war real genug, aber dieser Körper schien nirgendwohin zu gehören. Auch verspürte er kein Gewicht, wie er es sonst gewohnt war. Eine Umgebung konnte er nicht ausmachen, denn es gab keinen einzigen Gegenstand, an dem sein Auge sich hätte ausruhen können. Nur endlos sich wandelnde Farben ringsum, alles war in Bewegung! Es gab nichts, woran er sich hätte festhalten können. Er fühlte sich äußerst verwirrt, aber auch auf eine seltsame Art fröhlich oder anders gesagt: irgendwie betrunken.
„Wo bin ich?“
„Betrachte den Boden, auf dem deine Füße stehen!“
Nick wandte seine Aufmerksamkeit dorthin, wo er den Boden vermutete. Und wieder geschah es. Eine ebene Fläche tauchte unter seinen Füßen auf, bewachsen mit kleinen, grünen Pflanzen, die so dicht beieinanderstanden, dass er auf einem lebendigen Teppich zu stehen glaubte. Eine sanfte Erschütterung ging durch seinen Körper, so, als ob er gerade erst zum Stillstand gekommen wäre. Nun fühlte er sich sofort erleichtert und die Verkrampfung, die er vorher gar nicht bemerkt hatte, ließ nach.
„Ich stehe jetzt auf dem Boden“, meldete sich Nick.
„Gut gemacht! Von jetzt an wird alles leichter gehen.“
Die Stimme von Alexandra erklang aus nächster Nähe.
„Hier bin ich.“
Nick wandte sich in jene Richtung, aus der er die Stimme zu hören glaubte. Vor ihm entstand das Bild einer schönen Frau mit langen, hellbraunen Haaren, angetan in ein feines, azurblaues Gewand, das ihren Kopf, ihre Schultern und Arme und ihre kleinen Füße freigab. Ihr blasser, marmorfarbener Körper schimmerte an manchen Stellen durch. Ihre Haare, die bis zur Hüfte reichten, fielen in sanften Wellen links und rechts über ihre Schultern herab.
Nick war vollständig überwältigt vom Anblick dieser erhabenen Gestalt. Die klaren, dunklen Augen blickten ihn direkt an. Ein Schauder ging durch seinen Körper, als die Frau zu ihm sprach.
„Hallo, da bist du ja endlich!“ Sie lächelte ein wenig, und das brachte Nick erneut aus der Fassung.
Sie nahm ihn bei der Hand. „Ich werde dich jetzt mit der näheren Umgebung bekanntmachen.“
Die Berührung war ganz sachte. Trotzdem dirigierte sie ihn mit einer Bestimmtheit, der er sich nicht hätte entziehen können, selbst wenn er gewollt hätte. Eigentlich hatte er einwenden wollen, dass da gar nichts sei, aber ein kurzer, strenger Blick von ihr hatte bewirkt, dass er diesen Gedanken sofort wieder fallen ließ.
Ohne auf seine Grübeleien einzugehen, zeigte sie mit dem Arm in eine bestimmte Richtung.
„Betrachte jene Bergkette und den See am Fuße jener Hügel.“ Sie machte mit dem Arm einen kleinen Schwenker. „Betrachte den Wald, der den See umsäumt.“
Aber Nick brauchte diese Anweisungen nicht mehr. Er sah jetzt, Stück für Stück, vor sich eine Landschaft entstehen, die so friedlich und Glück verheißend vor ihm lag, dass er sich kaum sattsehen konnte. Er stand einfach da und genoss den Anblick.
Vor ihm breitete sich eine flache Mulde aus, bewachsen mit derselben Art Gras, auf der sie standen. Weiter hinten mündete sie in einen kleinen See, der zwischen olivgrünen, mit mächtigen Stämmen und weiten Kronen versehenen Bäumen hervorschimmerte.
Die Bäume standen weit auseinander. Trotzdem ergab sich das Bild eines ausgedehnten Waldes, der sich bis zu den Ausläufern der Bergkette erstreckte, die sich im Hintergrund in gräulich-weißen Felsen hoch auftürmte. Rechts vom See, am Fuße eines Hügels, bemerkte Nick eine Kuppel in Form einer vierseitigen, stumpfen Pyramide, deren Flächen grün-gelb funkelten. Gerade darüber, am Firmament, entdeckte er ein Zwillingsgestirn, zwei Sonnen, die ihr überirdisches Licht über den Planeten ausgossen. Alexandra hatte seine Hand losgelassen und betrachtete ihn von der Seite.
Plötzlich packte ihn ein Gedanke: „Ist das nicht bloß ein schöner Traum? Die Wirklichkeit sieht doch ganz anders aus!“