Sabine Weigand
Die Tore des Himmels
Historischer Roman
Fischer e-books
Sabine Weigand stammt aus Franken. Sie ist Historikerin und arbeitet als Ausstellungsplanerin für Museen. Dokumente aus Nürnberg waren der Ausgangspunkt ihres Romans ›Das Perlenmedaillon‹, das wahre Schicksal einer Osmanin am Hof August des Starken liegt dem Roman ›Die Königsdame‹ zugrunde. In ›Die Seelen im Feuer‹ bilden die Hexenakten von Bamberg die historische Romanvorlage, bei ihrem ersten Roman ›Die Markgräfin‹ war es die reale Geschichte der Plassenburg bei Kulmbach, bei ›Die silberne Burg‹ die Bestallungsurkunde einer jüdischen Ärztin.
Weitere Titel von Sabine Weigand:
›Die Markgräfin‹
›Das Perlenmedaillon‹
›Die Königsdame‹
›Die Seelen im Feuer‹
›Die silberne Burg‹
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Covergestaltung und -motiv: AKG, Berlin / Gutenberg-Bibel
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Die Illustrationen vor den drei Büchern stammen aus "Cronica sant Elisabet zcu Deutsch", Erfurt, Matthes Maler, 1520
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402265-9
Meiner Großmutter,
die mir zum ersten Mal von der heiligen Elisabeth erzählt hat
Er schrie. Ein dünner, heller Ton, der die Dunkelheit zerschnitt und hinaufstieg bis zum bleichen Mond. Die Tauben, die im Gebälk über der Dachkammer nisteten, schraken hoch und schlugen aufgeregt mit den Flügeln. Dann war wieder Stille. Nur der Hund des Lohgerbers bellte, ein zweiter antwortete, dann ein dritter. Irgendwo ging ein Licht an.
Er schrie noch einmal, verzweifelt, panisch. Warum half ihm nur keiner? Hörte ihn denn niemand? Irgendjemand musste ihn doch retten! Er wusste, er würde nicht mehr lange weiterrennen können, vor lauter Keuchen brannte es ihm wie Feuer in der Brust, jeder Atemzug schmerzte, und in seinen Ohren rauschte das Blut. Hinter sich hörte er das Schnauben und Geifern seines Verfolgers, ihm war, als spüre er schon die sengende Hitze, die von ihm ausging. Da, endlich hatte er die Treppe erreicht! Er stolperte hinauf, musste die Hände zu Hilfe nehmen, um nicht zu fallen. Höher und immer höher taumelte er, dorthin, wo er die Tür wusste. Aber die Treppe nahm kein Ende. Sie hörte einfach nicht auf. Stufe für Stufe kämpfte er sich nach oben, aber da war keine Pforte, kein Licht, keine Rettung. Schon ritzten die Krallen des Teufels seine Haut, zu Hilfe, er packte ihn an! Gleich würde er ihn verschlingen, mit Haut und Haar, ganz und gar, ihn hineinfressen in seinen gierigen Schlund, hinabwürgen in den nimmersatten Bauch. Er kämpfte gegen das Höllentier mit allerletzter Kraft, schlug, strampelte, biss und kratzte.
Plötzlich wurde es hell. Jemand hielt seine Hände mit sanfter Gewalt fest, und dann – der Klang einer vertrauten Stimme, beruhigend und leise. Er hörte auf, sich zu wehren.
»Ruhig, sei ruhig, mein Bub. Es ist ja gut, alles ist gut.«
Die Mutter wiegte ihn in den Armen, tröstete ihn, strich ihm übers schweißnasse Haar. Er ließ sich fallen, entspannte sich und spürte unendliche, unaussprechliche Erleichterung.
»Hat dich wieder ein Alb gedrückt?« Die Mutter sah ihn mitleidig an.
»Der Teufel«, schluchzte er, »der Teufel … er ist … er wollte … es war so schlimm …«
»Mein armer kleiner Liebling«, murmelte die Mutter, »das war ein schlechter Traum. Musst keine Angst mehr haben.«
Er blinzelte mit tränennassen Augen. »Aber der Herr Pfarrer hat gesagt, der Luzifer kommt und holt die bösen Kinder, und er nimmt sie mit in die Hölle.«
»Aber wo. Der Luzifer kann uns gar nichts tun.« Die Mutter streichelte seine Wange. »Wir sind doch alle gute Christenmenschen. Da kann er nichts gegen uns ausrichten.«
»Aber der Herr Pfarrer …«
»Schschscht. Weißt du, was? Wir sagen jetzt miteinander ein Paternoster, und dann schläfst du schön weiter, ja?«
Sie schloss seine gefalteten Hände in ihre und betete mit ihm leise auf Lateinisch. Dann nahm sie ihre Halskette mit dem hübsch geschnitzten elfenbeinernen Kruzifix ab und legte sie ihm um den Hals. »Schau, jetzt kann dir der Luzifer nichts mehr anhaben. Das Kreuz beschützt dich.«
»Aber der Herr Pfarrer …«
Sie schüttelte den Kopf und sah ihrem Sohn fest in die Augen. »Denk nicht mehr an den Herrn Pfarrer. Ich verspreche dir, dass der Teufel nicht die Macht hat, dir auch nur das kleinste bisschen zu schaden. Und jetzt schon gar nicht mehr – du hast ja jetzt mein Kruzifix.«
Er richtete sich auf. »Schwörst du’s? Bei allem, was dir heilig ist?«
Sie seufzte und drückte ihn sanft in die Kissen zurück. »So wahr ich deine Mutter bin und lebe«, sagte sie mit fester Stimme. Dann deckte sie ihn zu und küsste seine Stirn. »Schlaf gut«, flüsterte sie, bevor sie wieder zur großen Bettstatt hinüberging, wo ihr Mann leise schnarchend auf dem Bauch lag.
Der Junge schloss folgsam die Augen, und noch bevor seine Mutter das Laken über sich gezogen hatte, war er auch schon eingeschlafen.
Man schrieb das Jahr 1187. Es war Winter.
Zu Marburg gab es nur wenige Steinhäuser. Das kleine Städtchen an der Lahn bestand aus Holz- oder Fachwerkgebäuden, oft noch strohgedeckt, in denen sich als einziger Luxus gerade einmal eine kniehoch gemauerte Herdstelle fand. Hier lebten die einfachen Leute. Die Steinhäuser hingegen gehörten den Burgmannen, allesamt kleinere Ministerialen der Landgrafen von Thüringen und Hessen, die mit ihren Familien das Privileg genossen, herrschaftlich zu wohnen. Als Gegenleistung waren sie zum Burgdienst verpflichtet.
In einem dieser gemauerten Häuser war der kleine, rothaarige Junge aufgewachsen, zusammen mit drei viel älteren Geschwistern. Er war schlank und zart, ein blasses, stilles Kind, aber wen wunderte es? Zu früh hatte ihn der Leib seiner Mutter ausgestoßen, ein Glück war es, dass das arme Wurm überhaupt am Leben geblieben war. Inzwischen schien er aus dem Gröbsten heraus zu sein, auch wenn er irgendwie ein bisschen zu weich und zu ängstlich für einen Buben seines Alters wirkte. Aber gerade weil er nicht so robust und kräftig war wie seine Geschwister, liebte ihn die Mutter abgöttisch und las ihm jeden Wunsch von den Augen ab. Er war das einzige der Kinder, das noch mit in der elterlichen Kammer schlafen durfte, weil er Angst vor der Dunkelheit und oft schlimme Träume hatte. Wenn die Sterne am Himmel standen und der Mond sein fahlweißes Licht über die Stadt hingoss, flackerte meist ein kleines Talglämpchen neben seiner Bettstatt, weil er sonst nicht einschlafen konnte. Albträume hatte er regelmäßig, aber nie war einer so schlimm gewesen. Und als er bald nach Tagesanbruch aufstand, fühlte er sich völlig zerschlagen, als sei er tatsächlich vor dem Teufel geflohen und habe dabei all seine Kräfte aufgebraucht. Aber er glaubte an die Macht des Kruzifixes und daran, dass ihn die Mutter immer beschützen würde.
Zwei Monate später, es ging auf Ostern zu, wachte er in aller Frühe auf und war allein. Das schien ihm merkwürdig, denn sonst war die Mutter am Morgen immer da gewesen, hatte ihm beim Anziehen geholfen und ihm das widerspenstige Haar mit dem beinernen Lausrechen gekämmt. Er schlüpfte aus der Bettstatt, fuhr ungeschickt in Bruoche und Hemdchen und tappte über die schmale Treppe nach unten, wo der Wohnraum war. Kein Feuer. Niemand im Haus. Wo waren sie nur alle? Ängstlich lief er zur Haustür, hob den Riegel an und trat mit nackten Füßen auf die Gasse hinaus. Er fühlte sich klein und verlassen. Tränen stiegen ihm in die Augen, doch bevor er anfangen konnte zu weinen, rannte schon die Nachbarin auf ihn zu, die Hände über dem Kopf zusammenschlagend. »Achgottachgott, o du lieber Heiland, dich haben sie wohl vergessen«, lamentierte sie. »Du armes Wurm, du.«
Sie legte ihm ihr wollenes Tuch um die Schultern und führte ihn zu sich ins Haus. Dort blieb er den ganzen Tag, bekam warme Milch mit Honig, Gerstenbrei, Schmalzbrot und Küchlein. Die Nachbarskinder spielten mit ihm und erzählten ihm Geschichten, ja, sie schnitzten ihm sogar ein Pferdchen aus Lindenholz. Er spürte, dass etwas nicht stimmte, aber den ganzen Tag über wagte er nicht, auch nur eine einzige Frage zu stellen. Ein böses Gefühl schnürte ihm den Hals zu. Als es Abend wurde, brachte ihn die Nachbarin heim.
Schon an der Tür hörte er merkwürdige Geräusche. Drinnen in der Stube brannten die Talglämpchen, aber das Herdfeuer war aus. Wurde denn nicht zu Abend gegessen? Er trat ein und sah etwas, das seine Angst verstärkte: Der Vater saß am Tisch, den Kopf auf die Arme gelegt, und weinte. Neben ihm die Geschwister, alle kreidebleich, mit großen Augen, stumm. Er schluckte und ging auf sie zu. »Mutter«, wagte er endlich zu fragen, »wo ist die Mutter?«
Mit einem zornigen Schrei, der eher ein Schluchzen war, fuhr der Vater hoch. Er packte den kostbaren grüngläsernen Noppenbecher, der auf dem Tisch gestanden hatte, und warf ihn mit wilder Wucht gegen die Wand, wo er zerbrach. Und er blickte ihn an, mit Augen – rollenden Augen, die einem Tier zu gehören schienen, weit aufgerissen, dass man das Weiße sah, und flackernd vor Hass und Wut. »Die hat der Teufel geholt! Der Teufel!«, brüllte der Vater mit sich überschlagender Stimme. »In der Hölle wird sie schmoren, auf immer und ewig!« Er stieß den Schemel um und packte seinen Jüngsten grob am Arm. »Die kommt nie wieder«, schluchzte er. Es schüttelte ihn, den ganzen großen Kerl. Abrupt ließ er los und stolperte wie von Furien gejagt aus dem Zimmer.
Niemand in der ganzen Stadt sprach je wieder von seiner Mutter. Niemand erzählte ihm, dass sie auf und davon gegangen war, mitten in der Nacht. Auf und davon mit einem Fahrenden, einem aus der vermaledeiten Zigeunerbrut, die den Winter über vor den Toren der Stadt Quartier genommen hatte. Stehen und liegen hatte sie alles lassen, für so einen. Den Mann. Die Kinder. Haus und Hof. Alles.
Der Vater war nie wieder wie früher, vor lauter Kummer und Schande. Er wurde wie ein Stein. Er lachte nicht mehr. Er erzählte nicht mehr. Und die älteren Geschwister taten es ihm gleich, nie wieder erwähnten sie die Mutter.
So wuchs der Bub auf in dem festen Glauben, der Luzifer habe die Mutter mit sich in sein höllisches Reich genommen. Natürlich, sie hatte ja auch nicht mehr ihr Kruzifix getragen, das hing ja um seinen Hals. Seinetwegen hatte sie sich dem Teufel schutzlos ausgeliefert. »So wahr ich lebe«, hatte sie gesagt, »so wahr ich lebe, besitzt der Teufel keine Macht.« Jetzt lebte sie nicht mehr. Luzifer hatte sie bestraft. Er hatte sie statt seiner geholt.
Die Schuld lastete unendlich schwer auf seiner Seele. Sie war zu groß, um sie tragen zu können. In seinem Körper bildete sich etwas Hartes, Festes, ein großer Knoten, der mittendrin saß und ihn mit seiner Schwere ganz ausfüllte. Er konnte nicht mehr essen, nicht schlafen, nicht fühlen. Außer dem Knoten war nichts als Leere, eine merkwürdige Dumpfheit, das Gefühl, die Zeit würde zäh fließen wie Latwerge. Und dann, irgendwann, als man fürchtete, der Bub würde noch verhungern, kam der Pfarrer ins Haus und sprach mit ihm.
Später konnte er sich nicht mehr erinnern, was der Geistliche zu ihm gesagt hatte. Er wusste auch nicht, wie lange der Schwarzgewandete an seinem Bett gesessen hatte. Aber er vergaß ihn sein Leben lang nicht, diesen Augenblick, als der Knoten in seinem Inneren barst. Er zersprang in tausend Splitter, lauter scharfe, spitze Splitter des Hasses. Ja, Hass, unbändiger, wilder, tiefer, schwarzer Hass. Hass auf den Teufel, der ihm die Mutter genommen hatte. Niemals hatte er ein Gefühl mit solcher Heftigkeit empfunden, mit solch ungeheurer Wucht, die ihm fast den Atem nahm und ihm gleichzeitig eine Kraft verlieh, die mit nichts vergleichbar war. Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen: Man musste den Luzifer vernichten. Und alle, die ihm dienten. Nie mehr sollte der Bocksfüßige jemandem Böses tun. So klein er war, er wusste genau, dass dies die Aufgabe war, für die ihn Gott ausersehen hatte. Und er schwor sich, er würde diese Aufgabe erfüllen, ihr sein Leben widmen. Allerdings musste er dafür groß werden, und stark. Und er musste lernen und sich, so gut es ging, für den großen Kampf wappnen.
Er begann wieder zu essen. Und als die Ernte eingebracht war, die Schwalben sich für den Zug nach Süden sammelten und die Herbstnebel sich über den Wassern der Lahn drehten, da schickte der Vater Konrad zu den Mönchen.
Genau zwanzig Jahre später, im Morgengrauen eines klaren Oktobertages, sahen Bauern am Himmel über der ungarischen Festung Sárospatak ein überirdisches Leuchten, hell schimmernd und hingegossen wie flüssiges Silber. Es war, als trüge die Burg einen Heiligenschein, und selbst die Tokajer Berge glänzten wie unter einem Kleid aus tausend Edelsteinen. Die Bauern fielen auf die Knie, als plötzlich vom Turm her auch noch helle Fanfaren erklangen. Bunte Fahnen wurden eilig auf den Mauern gehisst. Sie kündeten davon, dass ein königliches Kind aus dem heiligen Geschlecht der Arpaden zur Welt gekommen war: Arpádhazi Erszébet – Elisabeth.
»Gott und König Philipp!«
Die Fußsoldaten mit den langen Leitern stürmten im Laufschritt auf die kleine Festung zu, während ein sirrender Pfeilhagel auf sie niederprasselte. Auf Kommando richteten sie die Leitern auf und lehnten sie gegen die Mauer. Droben auf den Zinnen versuchten die verzweifelten Verteidiger der Burg, die Leitern mit Stangen wegzudrücken, aber es gelang ihnen nicht. Schon kletterten die ersten Ritter mit gezogenen Schwertern hoch, aber nur um mitsamt ihrer Steighilfe doch noch nach hinten zu kippen und in die Tiefe zu stürzen. Triumphgeheul erscholl in der Burg! Aus großen Kesseln goss man heißes Öl auf die Angreifer, zischend versengte es Gesichter und Gliedmaßen. Die Ritter des Königs zogen sich in sichere Entfernung hinter einen kleinen Hügel zurück, von dem aus der König zähneknirschend den fehlgeschlagenen Sturmversuch beobachtet hatte.
Eigentlich hatte Philipp von Schwaben gar nicht vorgehabt, die unbedeutende Tenneburg zu erobern, aber als er am helllichten Tag mit seinem Heer auf der Salzstraße unterhalb der Wehranlage vorbeigezogen war, hatte der Schmied auf der Mauerzinne seinen Kampfesmut nicht bezähmen können und einen vorwitzigen Schuss aus seiner Armbrust abgefeuert. Der Bolzen war eher zufällig – die Schussgenauigkeit einer Armbrust war erfahrungsgemäß nicht sonderlich gut – in den Sattelwulst des königlichen Waffenmeisters gefahren, worauf der Staufer sich geärgert und beschlossen hatte, die unverschämte Festungsbesatzung zu strafen. Jetzt gab er Befehl zur nächsten Angriffswelle. Wieder warfen sich die Kämpfer nach vorn, wieder stießen die Verteidiger die Leitern fort oder empfingen diejenigen, die an den Hakenseilen emporkletterten, mit einem tödlichen Schwerthieb.
Am Ende gab der Tribock den Ausschlag. Das neuartige Riesenkatapult, ungleich schwungkräftiger als die althergebrachten Pleiden, schleuderte einen Steinbrocken von der Größe eines ausgewachsenen Ochsen gegen die ohnehin baufällige Burgmauer. Durch die entstandene Bresche drangen die Soldaten des Stauferkönigs in die kleine Festung ein, mit Geheul stürzten sie sich auf die wenigen Verteidiger: die beiden Torwarte, den Turmwächter, ein paar Wachsoldaten, den Schmied samt Gehilfen und den Burgvogt mit seiner männlichen Verwandtschaft. Mit schwäbischer Gründlichkeit machten die Ritter des Königs alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Das Pflaster vor dem Bergfried färbte sich rot und glitschig vom Blut der Burgmannen, die ihre wichtigste Bastion bis zum letzten Atemzug verteidigten. Dann stürmten die Angreifer den Rundturm hinauf. Im dritten Geschoss brachen sie die verrammelte Tür zum Wohngemach der Vogtsfamilie auf, zerrten dann die junge Vögtin und ihre Magd in den Hof, wo man die beiden kurzerhand vergewaltigte und anschließend in der Rossschwemme ertränkte. Dann war alles vorüber.
Als die Soldaten später den Turm nach Plündergut durchstöberten, entdeckten sie in der Kemenate ein Kleinkind friedlich in seiner Wiege. Offensichtlich hatte das Mädchen den gesamten Angriff verschlafen, aber nun wachte es auf und starrte die Eindringlinge stumm an. Die Männer standen da, Waffen in der Hand, aber keiner wollte so recht sein Schwert in den Leib eines wehrlosen Kindes versenken, das zu allem Überfluss mit seinem hellblonden Haar und den großen blauen Augen aussah wie ein Engel. Die tapferen Eroberer blickten sich unschlüssig an, bis das Mädchen unglücklicherweise zu schreien anfing. Da packte einer der Kerle die Kleine, hob sie aus dem Bettchen und warf sie kurzentschlossen zum Fenster hinaus.
Danach bliesen die Businen zum Aufbruch; König Philipp hatte nicht vor, sich mit der unwichtigen kleinen Burg länger aufzuhalten als unbedingt nötig. Sein Heer zog noch am Nachmittag weiter.
Sobald der Feind fort war, kamen die Bewohner des winzigen Fleckens, der später einmal Waltershausen heißen sollte, aus ihren Verstecken und rannten den Weg zur Burg hoch. Sie bargen die Leichen, suchten nach Brauchbarem und schleppten weg, was nicht niet- und nagelfest war. Die bucklige Frau des Korbflechters stopfte gerade beim Pferdestall ein paar Rüben in ihren Mantelsack, als sich im Strohhaufen vor der Sattelkammer etwas bewegte. Und noch während sie sich wunderte, krabbelte aus dem Fressvorrat der Burgklepper ein vielleicht anderthalbjähriges Kind heraus und purzelte dann seitlich den Haufen hinunter, ihr genau vor die Füße.
»Du meine Güte«, murmelte die Alte, »hast dich wohl da drin versteckt?« Sie kam gar nicht auf den abwegigen Gedanken, dass die Kleine von hoch droben aus dem Kemenatenfenster in den genau darunterliegenden Haufen gefallen sein könnte.
Das Mädchen kratzte sich überall, weil der Strohstaub schrecklich juckte. Dann rappelte es sich auf und machte ein paar unsichere Schritte. Es hinkte, und als es den Schmerz in der Hüfte spürte, begann es zu weinen.
Die Korbflechters-Gret ließ ihre Rüben fallen und nahm die Kleine auf den Arm. Dann lief sie mit dem plärrenden Kind, so schnell sie konnte, zu den anderen.
Man beschloss, die einzige Überlebende der Erstürmung erst einmal mit ins Dorf zu nehmen und dem Landgrafen Nachricht über das ganze Unglück zukommen zu lassen. Dabei wusste man nicht einmal, wo sich Hermann I. überhaupt aufhielt. Seit König Philipp in Thüringen eingefallen war, um den abtrünnigen Landgrafen zu strafen, zog dieser von Burg zu Burg, stellte sich aber keiner Schlacht. So kamen die Bauern denn überein, einen der Ihren ins nahe Kloster Reinhardsbrunn zu schicken, um wenigstens dort Bescheid zu geben. Und um zu fragen, was man denn nun mit dem armen kleinen Ding, der Tochter des toten Burgvogts, Gott hab ihn selig, anfangen sollte.
Von Reinhardsbrunn erhielt man zum einen die Zusage, den Landgrafen von dem Debakel zu unterrichten, zum anderen schickte der Abt seinen eigenen Reisewagen, um das Kind des Vogts ins Frauenkloster Allendorf zu bringen, wo es fürs Erste gut aufgehoben sein würde. So trat das kleine Mädchen, von dem niemand im Dorf wusste, wie es hieß, seine erste große Reise an. Inzwischen vermisste es die Mutter schmerzlich, die Hüfte stach und pochte, und es fürchtete sich vor all den fremden Leuten. Die Korbflechters-Gret, die im Wagen mitfuhr, konnte die brüllende Kleine kaum beruhigen. Erst als die Ordensfrauen das Kind in Empfang nahmen, mit Apfelbrei fütterten und ihm warmen Würzwein mit Eigelb einflößten, wurde das Mädchen still und schlief erschöpft ein.
Zwei Monate später, die militärischen Auseinandersetzungen hatten sich derweil in den Süden des Landes verlagert, erhielt das Nonnenkloster hohen Besuch. Landgräfin Sophia persönlich überbrachte eine Schenkung von beträchtlichem Wert, nämlich zehn Pfund bestes gelbes Bienenwachs für Altarkerzen sowie acht Ballen fein gewebtes niederländisches Tuch für neue Paramente. Außerdem hatte sie vor, einen Jahrtag zu stiften, verbunden mit der flehentlichen Bitte an den himmlischen Herrn, er möge das Land und seine Menschen bald vom Krieg erlösen.
Als die Nonnen ihr nun das unglückliche kleine Mädchen zeigten, das vor kurzem die Eltern verloren hatte, sah sie das Kind mitleidig an.
»Wie heißt sie denn?«, fragte sie die Äbtissin.
»Wir haben herausgefunden, dass sie auf den Namen Gislind getauft wurde«, antwortete die Klosterfrau. »Sie ist so ein liebes Ding. Brav und ruhig. Wer weiß, was sie alles mitansehen musste. Und verletzt war sie auch, sie hinkt immer noch ein wenig.«
Die Landgräfin nahm das Mädchen auf den Arm. Sie war eine achtunggebietende Erscheinung, groß, blond, mit herben, fast männlichen Zügen und dem energischen Kinn der Wittelsbacher, von denen sie abstammte. Nur wenige Menschen wagten in ihrer Gegenwart ein Lächeln. Die Kleine hingegen sah sie ohne jede Angst an, grapschte ihr mit beiden Händen in die Rüschen der Kruselhaube und begann fröhlich zu glucksen, als eine Schleife aufging und darunter eine helle Haarsträhne zum Vorschein kam. Zwei spitze Zähnchen zeigten sich, die so gar nicht in das kleine Engelsgesicht passten. Sophia musste wider Willen lachen. »Hat sie denn keine Verwandten, zu denen man sie bringen könnte?«, erkundigte sie sich.
Die Äbtissin schüttelte den Kopf. »Sie wird wohl ihre Heimat bei uns im Kloster finden müssen«, meinte sie, »Gottes Wille geschehe.«
»Nun«, überlegte Sophia, »vielleicht gibt es noch eine andere Möglichkeit.« Sie dachte an ihr eigenes Töchterchen, gerade einmal ein paar Monate alt. Die kleine Agnes würde weibliche Gesellschaft brauchen; nur mit großen Brüdern aufzuwachsen war nicht gut für ein Mädchen. Und ein Kind aus ordentlichem Ministerialengeschlecht, dessen Eltern noch dazu im Kampf für den Landgrafen ihr Leben gelassen hatten, schien als Spielgefährtin und spätere Zofe mehr als geeignet. Also warum eigentlich nicht, dachte Sophia, die arme Waise in den Landgrafenhaushalt aufnehmen? Sie würde damit ein gottgefälliges Werk tun und gleichzeitig ein Zeichen setzen für den thüringischen Adel. Der Landgraf vergaß die Seinen nicht.
»Macht das Kind reisefertig«, befahl Sophia, setzte die Kleine ab und richtete ihren Kopfputz. »Sie soll am Hof aufwachsen und meiner Tochter eine Gefährtin sein.«
So begab sich das Mädchen auf die zweite lange Fahrt ihres Lebens, diesmal zur Creuzburg an der Werra, wo die landgräfliche Familie sich derzeit aufhielt. Im Frauenzimmer richtete man ihr einen Schlafplatz neben der Wiege der Fürstentochter ein, und von da an war der herrschaftliche Hof ihre Heimat.
Das Erste, woran ich mich erinnere, ist die Musik. Ich muss noch ganz klein gewesen sein, kaum drei Jahre alt, und überall waren Töne. Lautenklänge umschmeichelten mich, Harfengezirp, Flötenspiel und Gesang. Der ganze Hof war erfüllt von Melodien, wie ein sanfter Wind wehten sie leise durch Gänge und Räume. Und alles war bunt. Die Frauen trugen Kleider in schimmernden Farben, schöner als alle Frühlingsblumen. Wandteppiche erzählten ihre Geschichten in Rot, Gelb und Blau, Vorhänge glänzten grünsamten, Kissen und Polster waren golddurchwirkt oder mit Waid gefärbt, und selbst die Gewänder der Dienerschaft leuchteten noch in den thüringischen Farben Blau, Weiß und Rot. Nichts war grau und langweilig, so wie später. Ich konnte nichts als staunen über die höfische Pracht, die Augen und Ohren weit offen, es war wie im Märchen. Ganz besonders liebte ich den kostbaren Teppich, der in der Kinderstube lag. Er kam aus dem Morgenland; der Landgraf hatte ihn vor etlichen Jahren von der Kreuzfahrt mitgebracht. Leuchtende Muster waren darin eingeknüpft, die ich gern mit den Fingern nachfuhr, und in der Mitte thronte ein brüllender Löwe mit erhobenen Pranken und gestelltem Schweif. Oft legte ich meine Wange an seine, er war mein Freund und Beschützer, und in meiner Phantasie bestand ich mit ihm die herrlichsten Abenteuer.
Damals war der Landgraf noch nicht krank, er liebte das gute Leben und ließ es sich und seinen Gefolgsleuten wohl sein mit Festen und Feiern. Der Adel lebte am Hof wie die Made im Speck, doch es war ein trügerisches Gepränge: Während man auf den Burgen sang und tanzte, brannten überall im Land die Dörfer. Damals wusste ich das natürlich nicht, man hielt solche Dinge von uns Kindern fern, aber der Landgraf war tief in den Thronstreit zwischen den beiden mächtigen Geschlechtern der Staufer und Welfen verstrickt. Hielt er sich zum einen, verwüstete der andere seine Länder und Besitzungen. Schlug er sich auf die Seite des anderen, kam es ebenso. Es herrschte ständig Krieg – und dennoch glänzte der Thüringer Hof in nie gekannter Herrlichkeit, voller Pracht, voller Überfluss und voller Menschen. Kaum ein Tag verging ohne Gastereien, die die ganze Hofhaltung mit ihrem Glanz erfüllten; nächtelang gingen in der Hofstube die Lichter nicht aus. Immer waren Fremde auf der Burg, hohe Frauen und Herren vom Adel, Gesandte von anderen Höfen, Freunde und Verwandte aus weitentfernten Landen, Spielleute, Geschichtenerzähler. Eine Schar fuhr aus, die andere ein. Am liebsten waren dem Landgrafen die Sänger und Dichter. Sie lud er oft auf lange Zeit nach Thüringen ein, gab ihnen Hofkleidung und Deputat, und dafür mussten sie nichts anderes tun als Frohsinn und Kurzweil zu verbreiten.
So viele Menschen brachten uns Kinder manchmal schon durcheinander. Es war ein ständiges Kommen und Gehen. Aber die Freude in unserer Kinderstube war jedes Mal groß, wenn alte Freunde wiederkamen und dann in verzückte Rufe ausbrachen, wie sehr wir doch gewachsen waren und wie hübsch wir geworden seien.
Wenn ich Kinderstube sage, dann meine ich unsere Räume im Frauenzimmer, gemütliche Bohlenstuben, in denen wir uns meistens aufhielten. Wir, das waren Agnes, mit der ich wie eine Schwester aufwuchs, ihr jüngster Bruder Konrad, gerade den Windeln entwachsen, dann der ein Jahr ältere Heinrich Raspe, der, wie es Sitte war, bis zum Alter von sechs Jahren noch mit im Frauenzimmer lebte. Dazu noch Ludwig, der zwar schon bei den Männern wohnte, sich aber immer noch gern mit uns Kleineren abgab. Der vierte und älteste Bruder, Hermann, lebte damals schon nicht mehr am elterlichen Hof. Man hatte ihn zur Erziehung auf die fränkische Plassenburg geschickt, wo seine ältere Halbschwester Hedwig mit dem Grafen von Orlamünde verheiratet war.
Außer uns gab es natürlich noch die Kinderfrauen und Dienerinnen und über allem waltete meine Ziehmutter, die Landgräfin. Sie wachte streng, aber liebevoll über alle ihre Kinder. Noch heute bin ich ihr dankbar, dass sie mich nie spüren ließ, wie tief ich eigentlich im Rang unter den anderen stand. Sie behandelte uns alle gleich. Am wichtigsten war ihr, dass wir im rechten Glauben gut erzogen wurden. Jeden Tag kam der Hofpfaffe und erzählte uns Geschichten aus der Bibel, die liebten wir. Aber er war auch unerbittlich und verlangte uns viel ab. Was mussten wir nicht alles bei ihm auswendig lernen, sogar auf Lateinisch, obwohl wir natürlich kein Wort davon verstanden!
Die Landgräfin ließ es sich nicht nehmen, uns in Glaubensdingen täglich selber zu unterrichten. Mit ihr sangen wir viel, sagten Kindergebete auf und gingen gemeinsam in die Hofkapelle zur Messe. Einmal, ich weiß es noch genau, schwänzte Ludwig die Morgenandacht, weil er unbedingt auf dem Turnieranger beim Aufsatteln der Pferde dabei sein wollte. Die Landgräfin ließ ihn daraufhin drei lange Stunden auf einem Holzscheit knien, und er bekam den ganzen Tag kein Essen. Damals fanden wir Kinder diese Strafe zu hart, aber heute weiß ich, warum Sophia so sehr darauf achtete, dass wir gut christlich erzogen wurden. Sie hatte Angst um uns. Nicht so sehr um die Mädchen, sondern um ihre Söhne, die in Glaubensdingen unter dem Einfluss ihres Vaters standen.
Überhaupt, der Landgraf! Ich lernte ihn erst kennen, als ich fünf Jahre alt war. Wir Mädchen bekamen ihn ja nicht zu Gesicht, sahen ihn höchstens einmal von fern, vom Fenster aus oder auf dem Fürstenstuhl beim Gottesdienst. Er besuchte nie das Frauenzimmer, obwohl er Kinder eigentlich gern mochte – schließlich hatte er genug davon, insgesamt acht. Als ich ihm erstmals gegenüberstand, es muss an Ostern des Jahres 1210 gewesen sein, hatte ich ganz weiche Knie und brachte kaum einen Hofknicks zustande. Er war einfach in die Kinderstube eingetreten. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er in den Raum stapfte mit seinem Mantel aus rotem Fuchsfell und den Lederstiefeln. Noch nie war ein Mann in unserem Zimmer gewesen, und wir fürchteten uns. Der kleine Konrad begann sofort zu weinen, Agnes kaute eingeschüchtert an ihrem Zopf, und ich versteckte mich hinter dem Bettvorhang, von wo aus ich meinen Ziehvater neugierig beäugte. Neugier war schon immer eine meiner schlechtesten Eigenschaften, der Herr vergebe mir.
Ludwig, der mit uns gespielt hatte, stellte sich sofort vor seinem Vater auf und versuchte eine seiner ungelenken Verbeugungen. Sein Leben lang blieb er in seinen Bewegungen tapsig wie ein junger Bär, ich erinnere mich, dass er als Kind ständig über die eigenen Füße stolperte. Wir zogen ihn oft damit auf, was er, wie es seine Art war, stets gutmütig ertrug.
Auch Heinrich rannte herbei und machte einen Diener vor dem Landgrafen, und schließlich nahm die Kinderfrau Agnes und den greinenden Konrad bei der Hand und zog sie vor den hohen Besuch hin.
»Brav, ihr habt euch schon aufgestellt, um Euren Vater zu begrüßen.« Das war die Landgräfin, die nun ebenfalls ins Zimmer getreten war. Von meinem Versteck hinter dem Vorhang aus sah ich zu, wie der hohe Herr mit seinen Kindern sprach. Was war er nur für ein vornehmer Mann! Das erkannte man allein schon an seinen edlen Kleidern und dem Schmuck, den er trug: An seinem Tasselband hing eine goldene Agraffe, der Gürtel war aus beschlagenen Silbermünzen, und seine Brust schmückte eine dicke Gliederkette. Am meisten fesselten mich die vielen Ringe, die er an der linken Hand trug, mit funkelnden Steinen in Rot und Grün. An jedem Finger einen! Ich wollte mehr sehen und machte einen vorwitzigen Schritt nach vorne. Zu meinem Unglück trat ich dabei auf das hölzerne Schweinchen, mit dem Konrad gespielt hatte, und weil es auch noch meine schlechte linke Seite war, knickte mein Fuß um. Verzweifelt ruderte ich mit den Armen, aber es half alles nichts, ich konnte das Gleichgewicht nicht halten und fiel hin.
Alle Köpfe fuhren herum. So schnell ich konnte, rappelte ich mich auf und wünschte mir dabei nichts sehnlicher, als unsichtbar zu sein.
»Wen haben wir denn da?«, fragte der Landgraf. Ich wagte nicht, meinen Blick vom Boden zu erheben, sonst hätte ich gesehen, dass er sich ein Lachen verbiss.
»Das ist die Kleine vom Tenneberger Vogt, der damals mit der ganzen Burgbesatzung … Ihr erinnert Euch?«, erklärte die Landgräfin, während sie mich ein Stück weiter zu ihm hinschob. Zum ersten Mal stand ich ihm so gegenüber. Für mich war er damals schon ein alter Mann, mit schütterem Haar, dichten grauen Augenbrauen und fleckigen Händen. Er war viel älter als meine Ziehmutter, aber sie war ja auch seine zweite Frau. Unbeweglich wie ein Fels stand er mitten im Raum und musterte mich scharf. »Sie heißt Gislind«, sagte die Landgräfin knapp.
»Guter alter hessischer Name«, brummte der Landgraf, und ich verstand überhaupt nicht, was er meinte. Erst viel später erfuhr ich von dem Grafengeschlecht in Hessen, das sich nach seinem Leitnamen Giso nannte. Diese Gisonen hatten ihren Stammsitz auf der Burg Hollende bei Wetter gehabt, waren aber damals längst ausgestorben. Meine Familie kam ursprünglich aus dem Oberlahngau, vielleicht war sie sogar entfernt mit den Grafen verwandt, und deshalb hatten sie wohl den altehrwürdigen Namen für mich ausgewählt.
Ich trat verlegen von einem Fuß auf den anderen, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte, und außerdem war mir der Landgraf unheimlich. Wie ein Riese kam er mir damals vor, dabei stimmte das gar nicht, er war ein ganzes Stück kleiner als seine Frau. Aber er wirkte einfach groß durch seine beeindruckende Erscheinung, die Selbstverständlichkeit, mit der er befahl, das Selbstbewusstsein des Herrschenden, das er ausstrahlte. Schließlich war er nach dem König im Rang der zweithöchste Fürst im Reich.
Hermann I. hob mit ausgestrecktem Zeigefinger mein Kinn an, so dass ich ihm in die Augen sehen musste. »Hübsches Ding, das«, sagte er, zu Sophia gewandt. Er sprach über mich als sei ich ein Stück Hausrat. »Bisschen zu blass vielleicht und zu dünn. Na, wird schon noch werden.« Heute ist mir klar, woran er dachte. Er hatte bereits drei Töchter verheiratet, und wenn es um Mädchen in seinem Haushalt ging, auch wenn sie noch so klein waren wie ich, war sein einziger Gedanke, ob sie auch gut unter die Haube zu bringen waren. Auch wenn ich das damals noch gar nicht verstand, wurde ich rot. Immer noch lag des Landgrafen Finger an meiner Kinnspitze, und ich schielte nach unten, um seine geschmückte Hand zu betrachten. Die Ringe waren aber auch gar zu schön mit ihren schillernden Steinen! Nur am Zeigefinger steckte einer, der nicht recht zu den anderen passen wollte: ein einfacher, breiter Reif aus Silber, mit Buchstaben darauf, wie ich sie ähnlich im Psalter meiner Ziehmutter gesehen hatte. Ausgerechnet dieser Ring fesselte nun meine Aufmerksamkeit. Etwas Geheimnisvolles ging von ihm aus, etwas Unheimliches, aber auch Lockendes. Ja, viele Jahre später sollte ich den Grund für diese seltsame Anziehungskraft erfahren – mein Gott, dass ich es damals schon spürte!
Der Landgraf ließ mein Kinn los, und wie es, dem Herrn sei’s geklagt, schon immer meine Art war, tat ich etwas völlig Unüberlegtes: Ich streckte einfach die Hand aus und berührte den Ring. Hermann runzelte verblüfft die Stirn, und im selben Augenblick zuckte ich erschrocken zurück. Gleichzeitig zerrte mich Sophia unsanft fort und schob mich zur Tür hinaus, wo sie mir die erste Maulschelle meines Lebens gab. Ich verstand nicht, warum sie so furchtbar böse auf mich war. Offensichtlich hatte ich etwas ganz Schreckliches getan. Ich war völlig durcheinander, die Wange tat mir weh, und in meinem Hals bildete sich ein dicker Kloß.
Aber das Schlimmste, das, was mir wirklich Angst machte, war etwas ganz anderes: Der Ring hatte sich glühend heiß angefühlt! Ich brach in Tränen aus.
Heute scheint mir dies alles wie ein Vorzeichen. Es war, als hätte ich damals schon geahnt, dass dem einfachen silbernen Reif eine tiefe Bedeutung innewohnte. Und als hätte ich damals schon die Glut des Höllenfeuers gespürt, das denjenigen erwartete, der ihn trug.
»Sie kommen! Sie kommen!« Die Kinder der Hofdienerschaft verkündeten die Neuigkeit als Erste. Ich drängte mich mit Agnes, Konrad und Heinrich im Steinrahmen der schmalen Fensteröffnung zusammen, um ja nichts zu verpassen. Es muss irgendwann im Spätherbst des Jahres 1211 gewesen sein, das genaue Datum weiß ich nicht mehr, nur, dass die Bäume längst kahl waren und Martini schon vorbei.
Ich schob meine vorwitzige Nasenspitze so weit nach draußen, wie ich konnte. Seit Wochen schon platzte ich vor Neugier, seit meine Ziehmutter Sophia erzählt hatte, dass die zukünftige Landgräfin von Thüringen zu uns unterwegs war. »Freut euch«, hatte sie gelächelt, »die Tochter des ungarischen Königs wird an den Hof kommen. Sie heißt Elisabeth, und es ist ausgemacht, dass sie einmal unseren Hermann heiratet.« Die Landgräfin erklärte uns gleich, dass die kleine Braut natürlich noch viel zu jung zum Heiraten war. »Ihre Eltern schicken sie so früh an den Hof ihres zukünftigen Gatten, damit sie sich an die fremde Sprache, die anderen Sitten und überhaupt an ihr neues Land und seine Menschen gewöhnen kann. Sie soll noch vor der Heirat zu einer rechten Thüringerin werden. Das macht man immer so, es ist nur vernünftig.« Sophia sah Agnes mit ernstem Blick an. »Ich möchte, dass sie dir wie eine Schwester ist. Du bist die Ältere und hier zu Hause, also wirst du dich vor allen anderen um sie kümmern.«
Agnes nickte folgsam, aber ich sah ihren finsteren Blick, als sie sich umdrehte. Nun ja, das hatte ich erwartet. Agnes war immer ein verwöhntes Ding gewesen, eigensinnig und eitel. Wenn sie etwas haben wollte, konnte sie schmeicheln wie ein Kätzchen, aber wehe, sie bekam es nicht. Dann funkelte sie einen mit solcher Wut in den Augen an, dass einem ganz angst und bang wurde. Sie war die Einzige unter den Kindern des Landgrafen, die mich spüren ließ, dass ich eigentlich nicht dazugehörte. Wenn sie böse auf mich war – und das war sie oft –, behandelte sie mich wie eine vom Gesinde, was ich im Grunde genommen ja auch war. Als Spielgefährtin taugte ich, solange ich tat, was sie wollte. Und ich nahm ihre Launen stets hin, was hätte ich auch sonst tun sollen?
Jetzt hörten wir schon von draußen die Rufe der Eisenacher Bürger. Sie jubelten ihrer zukünftigen Landesherrin zu, während die ungarische Reisegesellschaft durch die Gassen des Städtchens fuhr. Unsere Spannung wuchs, bis endlich das Tor aufging und die Ankömmlinge einließ. Voran trabten zwei Herren auf edlen Pferden, deren Schabracken in den Thüringer Farben gehalten waren. Das waren wohl der Ritter Walter von Vargula und der Herr von Schlotheim. Ihre Reisemäntel waren voller Dreckspritzer, die Stiefel durchnässt. Dann kamen zwei schwarzgekleidete Herren, vermutlich ungarische Geistliche, zusammen mit einem Ehepaar mittleren Alters in fremdartiger Tracht. Das Kleid der Frau war vom pelzverbrämten Saum bis zu den Knien klatschnass. Ihnen folgten zwei große, von Planen überspannte Wagen, dann eine bequeme Kutsche und danach ein kleiner, feiner, geschlossener Reisewagen, den zwei hübsche Rotfüchse zogen. Den Schluss bildeten die Bewacher der kostbaren Fracht, wohl an die zwanzig bis an die Zähne bewaffnete Männer aus ungarischem und einheimischem Adel. Drei von ihnen trugen Fahnen, die im Herbstwind flatterten. »Andechs, Ungarn, Thüringen«, flüsterte mir der Hofpfaffe von hinten ins Ohr. Andechs, so dozierte er, hieß das mächtige Geschlecht, aus dem die Mutter der ungarischen Prinzessin stammte, verwandt und verschwägert mit den hervorragendsten Familien in aller Herren Länder, von Frankreich bis Schlesien. Aber ich hörte Meister Igilbert kaum zu, denn jetzt wurde das Türchen des kleinen Reisewagens geöffnet. Eine Amme von beträchtlicher Leibesfülle quälte sich heraus und winkte einen Diener herbei, der sich in die Kutsche beugte und ein vermummtes Etwas herausholte. Das Etwas regte sich nicht. Es war in eine Decke gewickelt, die auch den Kopf verhüllte, der nun an der Schulter des Lakaien lehnte. Ganz offensichtlich schlief die Braut! Wie langweilig! Da kam sie am glorreichen Hof der Landgrafen von Thüringen an, wo ihr Prinz auf sie wartete, und war nicht einmal wach! Der Mann trug seine reglose Last ohne Anstrengung über den Hof. Dabei baumelten zwei Füßchen unter der Decke hervor, die in leuchtendgrünen Schuhen steckten. Dann war die sehnlichst erwartete ungarische Braut auch schon im Eingang zum Herrschaftstrakt verschwunden.
Später, nachdem es früher als sonst die Abendmahlzeit gegeben hatte, rief man uns Kinder hinüber in die Herrenkemenate. Im Gänsemarsch liefen wir über den gepflasterten Hof zum Hauptflügel, Agnes und die Buben voraus, ich wie immer hinterher. Wenn es schnell gehen musste, hinkte ich ja ein bisschen und kam den anderen nicht nach. Da sah ich etwas Buntes in einer Pfütze schimmern. Ich bückte mich – es war eines der winzigen Schühchen, die das ungarische Mädchen getragen hatte. Schnell hob ich es auf und nahm es mit.
In der Hofstube war schon alles versammelt. Vorne saßen und standen die Vornehmen, und hinten drückten und drängelten sich die vom Gesinde. Es roch nach dem nassen Stroh, das den Boden bedeckte, nach Essen und nach den Ausdünstungen der vielen Leute. Man machte uns Platz, als wir, angeführt von der Kinderfrau, durch den Saal gingen. Und vorne, vor dem Kamin, da sahen wir sie endlich! Sie saß aufrecht und steif auf einem Scherenstuhl, ganz still und stumm. Man hatte sie in ein Kleid gesteckt, das zumindest uns Mädchen den Atem raubte: Der Surkot ganz aus golddurchwirktem Stoff, mit glänzenden Edelsteinen bestickt und am Hals mit Perlen umsäumt. Das Unterkleid klatschmohnrot, genau wie die Ärmel. Ein Gürtel raffte alles zusammen, aber was für einer! Lauter viereckige gehämmerte Goldplättchen, jedes mit einem roten Stein in der Mitte, verbunden durch dünne Kettchen! Ich sehe Elisabeth heute noch vor mir, wie sie, geschmückt wie eine große Braut, nur eben ganz winzig, auf dem viel zu hohen Stuhl thronte, die Füße ein ganzes Stück über dem Boden, verlegen an ihren Fingernägeln kauend. Zwei riesige Kerzenleuchter warfen ihr Licht auf die märchenhafte Braut und ließen die Steine an ihren Kleidern glitzern und glänzen. Ich war völlig gefesselt von dieser beinahe unwirklichen Erscheinung, bis mich Agnes unsanft mit dem Ellbogen in die Seite stieß. Und da sah ich der Neuen endlich ins Gesicht. Mir blieb der Mund offen stehen. Lieber Himmel, so hatte ich mir die zukünftige Beherrscherin Thüringens nicht vorgestellt! Ihre Haut war trotz des Kerzenlichts ganz dunkel getönt, die Augen wie Kohle und das Haar schwarz wie die Nacht!
Endlich nahm uns meine Ziehmutter bei den Händen und trat mit uns vor die ungarische Braut. »Das hier«, sagte sie und schob Agnes ein Stück vor, »ist deine Schwägerin Agnes. Und dies«, damit deutete sie auf mich, »ist Gisa, deine Freundin und Dienerin. Agnes, gib Elisabeth einen Kuss.« Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, denn ein Kuss war bestimmt das Letzte, was Agnes jetzt Vergnügen bereiten würde. Aber sie wagte keinen Widerspruch, trat zu dem fremden Mädchen, kniff die Augen zu und berührte mit spitzen Lippen ihre Wange.
»Brav, meine Kleine«, lobte Sophia. Was die Landgräfin nicht gesehen hatte, war, dass ihre Tochter die zukünftige Schwägerin kräftig in den Arm gezwickt hatte. Agnes war Meisterin im Zwicken; ich konnte ein Liedchen davon singen. Jetzt warf sie mir einen triumphierenden Blick zu. Der Schmerz hatte Elisabeth die Tränen in die Augen getrieben, aber sie beklagte sich nicht. Sie tat mir leid, schließlich war sie ganz fremd und neu, und sie konnte ja nichts dafür, dass sie so schwarz und hässlich war. Ich wollte irgendetwas Freundliches zu ihr sagen, aber mir fiel nichts ein. Schließlich hielt ich ihr wortlos den tropfnassen Schuh hin, den ich im Hof aufgelesen hatte. Verwundert blickte sie mich an mit ihren Kohleaugen, dann nahm sie das grasgrüne Ding und lächelte schüchtern. Wir wussten es damals nicht, aber dies war der Beginn einer Freundschaft, die ein Leben lang halten sollte.
Und schon zog mich die Kinderfrau fort, denn nun kam die wichtigste Sache des Abends. Erst hielt der Landgraf eine Rede, von der ich mir nur merkte, dass er ständig vom »teuren Schatz aus Ungarland« sprach. Dann führte man die kleine Braut feierlich ins Nebenzimmer, wohin auch die Edelleute folgten. Wir Kinder durften ebenfalls hinein, waren wir doch die jüngsten Zeugen. Ich sah ein kostbares, geschnitztes Himmelbett mit zurückgeschlagenen Laken. Davor wartete ein halbwüchsiger, schlaksiger Junge, von dem ich annahm, dass es Hermann war. Der gerade erst aus dem Orlamünderland angekommene Bräutigam! Sein pickeliges Gesicht hatte einen halb mitleidigen, halb verächtlichen Ausdruck – er war schließlich in einem Alter, in dem alle Jungen Mädchen albern fanden. Was sollte er nur mit so einem kleinen Ding anfangen? Aber er kannte seine Rolle. Mit einem gottergebenen Schnaufer legte er sich nun mitsamt seinen Stiefeln ins Bett und verschränkte die Arme über der Brust. Die Landgräfin stupste Elisabeth aufmunternd an und deutete auf den Platz neben Hermann. Aber die Braut stand stocksteif und rührte sich nicht. Noch einmal stupste Sophia – ihre zukünftige Schwiegertochter bewegte sich nicht. Da hob der Landgraf die verdutzte Kleine kurzerhand hoch und packte sie ins Bett. Jubel brandete auf. Die Verlobung war vollzogen und rechtskräftig.
Danach sahen wir dann den echten »Schatz« aus Ungarland. Man hatte die Mitgift Elisabeths in der Ecke des Schlafzimmers aufgebaut, und nun wurde das Tuch fortgezogen, das die Kostbarkeiten bisher verhüllt hatte. Wir alle hielten den Atem an. Wohl niemand von der ganzen Hofgesellschaft hatte jemals dergleichen gesehen: goldene und silberne Trinkgefäße, Schalen und Teller. Kronen, Ringe, Spangen und Gürtel. Herrliche Gewänder aus Seide und Brokat, golddurchwirkte Stoffe, Baldachine, Tischteppiche. Kassetten mit Schmuckknöpfen und Perlen. Ein Bettchen und ein Badekübel aus purem Silber. Pelze und Bänder. Bettzeug, Hausrat, Edelsteine. Eine Truhe voller Münzen, man raunte, es seien wohl zweitausend Mark feinsten Silbers. Und das sei nur die erste Rate des Brautschatzes. Es war unfassbar. Zum ersten Mal in meinem Leben bekam ich eine Vorstellung davon, was wirklicher Reichtum bedeutete. Und dem Mädchen, dem dies alles gehörte, hatte ich soeben einen nassen Schuh überreicht!
Kaum hatten wir uns sattgesehen an all der Pracht, brachte man uns zu Bett. In der Kinderstube wartete die nächste Überraschung auf uns: Guda. Denn der »ungarische Schatz« war nicht allein gekommen; man hatte ihr eine Freundin mitgegeben, damit sie in ihrer neuen Umgebung nicht so ganz einsam sei. Guda war vielleicht so alt wie Agnes, ein farbloses, unscheinbares Ding und so schüchtern wie ängstlich. Sie stammte, wie sich später herausstellte, aus deutschem Adel in Ungarn; ihre Eltern zählten zu den engsten Vertrauten der Königin Gertrud. Wir bestürmten sie sofort mit Fragen, aber sie sagte kaum etwas, obwohl Deutsch ihre Muttersprache war und sie uns ganz gut verstand.
Am nächsten Morgen wurden wir unsanft aus dem Schlaf gerissen. Alles war in größter Unruhe, offensichtlich wurde gepackt. Natürlich sagte uns niemand etwas, aber ich erfuhr von einem der Stalljungen, dass König Otto der Welfe mit seinen Truppen ins Land eingefallen war und nun auf Eisenach zumarschierte. Der Landgraf zählte inzwischen zu den Anhängern des Stauferkönigs Friedrich, der, wie wir gehört hatten, zwar weit weg auf Sizilien wohnte, aber auch hierzulande Anspruch auf die Herrschaft erhob. König Otto wollte aber nicht klein beigeben, er kämpfte um die Macht und suchte bei Friedrichs Anhängern Rache, zuallererst bei Landgraf Hermann. Die Hofhaltung musste deshalb so schnell wie möglich auf die Wartburg fliehen, den wohl sichersten Ort in ganz Thüringen. In strömendem Regen zogen wir hinauf zur Burg. Elisabeth saß auf ihrem Platz, mit großen, angstvollen Augen und stumm wie ein Fisch. Seit sie angekommen war, hatte sie noch kein Wort gesprochen.
Zusammen mit der Braut hatte der Krieg Einzug im Land gehalten.
Das Dorf brannte. Es war leichte Beute gewesen, die Bauern hatten den armseligen Palisadenzaun keine Stunde verteidigen können. Wie auch, mit nichts als Saufedern, Handsicheln und Dreschflegeln? Nun loderten in Scheunen und Hütten die Feuer, wer Glück hatte, war rechtzeitig in die Wälder geflohen. Viel war nicht zu holen in einem Flecken wie diesem; das Wenige, was die Menschen besaßen, war keinen Pfifferling wert. Die Soldaten waren unzufrieden, denn das Plündergut diente ihnen als Bezahlung. Wer nichts von Wert fand, hatte umsonst gekämpft. Wenigstens war der einzige Bierkeller gut gefüllt, und so wurde immerhin gesoffen, was die Fässer hergaben. Die paar mageren Kühe wurden geschlachtet und gebraten. Und wie es im Krieg immer schon war, hielten sich die Sieger an den Frauen schadlos.
Mechtel drückte sich am Flechtwerkzaun des Schweinekobels entlang. Einen Tag und eine Nacht lang hatte sie sich in der Mehlkammer der Getreidemühle versteckt, starr vor Angst. Sie hatte durch ein Loch in der Wand mitangesehen, wie die fremden Soldaten erst die Familie des Müllers und dann die Knechte und Mägde umbrachten. Als die Männer am nächsten Morgen endlich gegangen waren, rappelte sich das Mädchen auf und verließ die sichere Kammer. Sie wusste selber nicht, warum oder wohin, das war mit ihr schon immer so gewesen. »Mechtel«, pflegte die alte Müllerin, die nun tot in der Stube lag, zu ihr zu sagen, »du hast zwar nichts als Stroh im Kopf, aber du bist ein braves Ding, und hinlangen kannst du auch.« An ihre Eltern hatte Mechtel kaum eine Erinnerung; der Müller, eine barmherzige Seele, hatte sie als Schweinemagd aufgenommen, noch bevor sie sieben Jahre alt war.
Verstört irrte Mechtel zwischen den brennenden Häusern umher. Als sie einen Brotlaib auf dem Boden entdeckte, hob sie ihn auf und presste ihn an sich. Aus der Richtung, in der die Burg lag, erklangen leise Trommeln. In der Ferne wuchs eine Rauchsäule in den Himmel. Dorthin konnte sie nicht gehen, da waren die Feinde. Also schlug sie blindlings einen anderen Weg ein.