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Weihnachten

Gedichte und Geschichten

Weihnachten

Gedichte und Geschichten

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
2. Auflage, ISBN 978-3-954182-36-7

www.null-papier.de/weihnachten

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Die hei­li­gen drei Kö­ni­ge

Eine Weih­nachts­ge­schich­te

Ers­tes Ka­pi­tel – Mar­leys Geist

Zwei­tes Ka­pi­tel – Der ers­te der drei Geis­ter

Drit­tes Ka­pi­tel – Der zwei­te der drei Geis­ter

Vier­tes Ka­pi­tel – Der letz­te der drei Geis­ter

Fünf­tes Ka­pi­tel – Das Ende des Lie­des

Weih­nach­ten

Von dem Schnei­der, der bald reich wur­de

Weih­nachts­zeit

Nuß­knacker und Mau­se­kö­nig

Der Weih­nachts­abend

Die Ga­ben

Der Schütz­ling

Wun­der­din­ge

Die Schlacht

Die Krank­heit

Das Mär­chen von der har­ten Nuß

Fort­set­zung des Mär­chens von der har­ten Nuß

Be­schluß des Mär­chens von der har­ten Nuß

On­kel und Nef­fe

Der Sieg

Das Pup­pen­reich

Die Haupt­stadt

Be­schluß

Weih­nach­ten

Das Ge­schenk der Wei­sen

Das Weih­nachts­bäum­lein

Schnee­blu­me

Die hei­li­ge Nacht

Der Ka­me­rad

Vom Schen­ken

Der Schnee­mann

Weih­nachts­lied

Yin­gean­geut und der Erd­ma­cher

Der Brat­ap­fel

Von den zwölf Mo­na­ten

Knecht Ru­precht

Der Haus­halt von Fuchs und Bär

Ad­vents­ge­dicht

Die Eis­jung­frau

I. Der klei­ne Rudy

II. Die Rei­se in die neue Hei­mat

III. Der On­kel

IV. Ba­bet­te

V. Auf dem Heim­weg

VI. Der Be­such in der Müh­le

VII. Das Ad­ler­nest

VIII. Was die Stu­ben­kat­ze an Neu­em er­zäh­len konn­te

IX. Die Eis­jung­frau

X. Die Pa­tin

XI. Der Vet­ter

XII. Böse Mäch­te

XIII. Im Haus des Mül­lers

XIV. Ge­sich­te der Nacht

XV. Das Ende

Die hei­li­gen Drei Kö­ni­ge

Schnee­weiß­chen

Es ist Ad­vent

Der große Narr aus Cua­san

Die Nacht vor dem hei­li­gen Abend

Vom lan­gen Win­ter

Weih­nachts­glo­cken

Der Bär

Ni­ko­laus im Wal­de

Die Rek­kenk

Weih­nachtss­prüch­lein

Die zwölf wil­den En­ten

Vor­weih­nacht

Schnee­weiß­chen und Ro­sen­rot

Ad­vent

Vom großen Zie­gen­bock

Der Stern

Wohl ge­tan und schlecht ge­lohnt

Vom Christ­kind

Warm und kalt aus ei­nem Mund

Ein Zweig Tan­nen­grün

Der Wolf und der Fuchs

A, a, a, der Win­ter der ist da

Das sechs­fü­ßi­ge Elen­tier

Der Weih­nachts­aus­zug

Caoil­te Cosfha­da

Der klei­ne Nim­mer­satt

Die Son­ne und der Mond

Knecht Ru­precht

Das Fest der Un­ter­ir­di­schen

Weih­nachts­schnee

Der Kan­te­le­spie­ler

Der Traum

Von ei­ner Jung­frau, die den Je­sus­kna­ben sah

Ad­vents­kranz

Von der hei­li­gen Eu­fe­mia

Christ­kind im Wal­de

Das Ulta-Mäd­chen

Groß­stadt – Weih­nach­ten

Vom Salz im Meer

Weih­nach­ten wird es für die Welt

Die Bis­hors­ter

Weih­nachts­lied

De twe Brö­der

Weih­nachts­lied

De ol Fritz un de Jung

Weih­nacht

Die Weih­nachts­mes­se

Der ar­men Kin­der Weih­nachts­lied

Von dem Som­mer- und Win­ter­gar­ten

Weih­nach­ten

Die Ge­schich­te von Steinn Thru­duvan­gi

Weih­nachts­zeit

Un­ter dem Tan­nen­baum

Eine Däm­mer­stun­de

Un­ter dem Tan­ne­baum

Weih­nachts­baum

Merk­wür­di­ge Re­den, ge­hört zu Krebs­lin­gen zwi­schen zwölf und ein Uhr in der Hei­li­gen Nacht

Furcht­bar schlimm

Vom Hell­jä­ger

Chri­stoph, Rupprecht, Ni­ko­laus

Drau­ßen­sit­zen am Kreuz­we­ge

O Tan­ne­baum

Kö­ni­gin und Teu­fel

Mit Gott so wol­len wir lo­ben und ehrn

Dat Mä­ten un de Rö­wer

Zu Weih­nach­ten

Der Huld­re­kö­nig auf Selö

Durch stil­le Dämm­rung

Die denk­wür­di­ge Neu­jahr­nacht

Ge­burts­nacht

Dan­ke

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Die heiligen drei Könige

(Au­gust Wil­helm Schle­gel)


Aus fer­nen Lan­den kom­men wir ge­zo­gen;
Nach Weis­heit streb­ten wir seit lan­gen Jah­ren,
Doch wan­dern wir in un­sern Sil­ber­haa­ren.
Ein schö­ner Stern ist vor uns her­ge­flo­gen.

Nun steht er win­kend still am Him­mels­bo­gen:
Den Fürs­ten Ju­da’s muss dies Haus be­wah­ren.
Was hast du, klei­nes Beth­le­hem, er­fah­ren?
Dir ist der Herr vor al­len hoch­ge­wo­gen.

Hold­se­lig Kind, lass auf den Knie’n dich grü­ßen!
Wo­mit die Son­ne uns­re Hei­mat seg­net,
Das brin­gen wir, ob­schon ge­rin­ge Ga­ben.

Gold, Weih­rauch, Myr­rhen, lie­gen dir zu Fü­ßen;
Die Weis­heit ist uns sicht­bar­lich be­geg­net,
Willst du uns nur mit Ei­nem Bli­cke la­ben.

Eine Weihnachtsgeschichte

(Charles Di­ckens)

Erstes Kapitel – Marleys Geist

Mar­ley war tot; da­mit wol­len wir be­gin­nen. Dar­über gibt es nicht den min­des­ten Zwei­fel. Sein To­ten­schein war un­ter­schrie­ben von dem Geist­li­chen, dem No­tar, dem Lei­chen­wär­ter und dem Haupt­leid­tra­gen­den. Scr­oo­ge un­ter­zeich­ne­te ihn. Und Scr­oo­ges Name hat un­be­ding­te Gel­tung auf der Bör­se für jede An­ge­le­gen­heit, an der er be­tei­ligt war.

Der alte Mar­ley war so tot wie ein Tür­na­gel.

Paßt auf! Ich möch­te da­mit nicht be­haup­ten, daß für mein Wis­sen ein Tür­na­gel et­was be­son­de­res To­tes an sich hät­te. Was mich be­trifft, ich möch­te einen Sar­g­na­gel als das to­tes­te Stück Ei­sen im Han­del be­trach­ten. Aber die Weis­heit un­se­rer Vor­fah­ren ruht in dem Gleich­nis; und mei­ne un­be­ru­fe­nen Hän­de sol­len es nicht zer­stö­ren, sonst ist es um das Va­ter­land ge­sche­hen. Man wird mir des­halb ge­stat­ten, es nach­drück­lich zu wie­der­ho­len, daß Mar­ley so tot war wie ein Tür­na­gel.

Wuß­te Scr­oo­ge, daß er tot war? Selbst­re­dend wuß­te er es. Wie wäre es an­ders mög­lich ge­we­sen? Scr­oo­ge und er wa­ren ja – wer weiß wie lan­ge – Kom­pa­gnons ge­we­sen. Scr­oo­ge war sein ein­zi­ger Te­sta­ments­voll­stre­cker, sein ein­zi­ger Sach­wal­ter, sein ein­zi­ger Erbe und sein ein­zi­ger trau­ern­der Hin­ter­blie­be­ner. Und nicht ein­mal Scr­oo­ge war von dem be­trüb­li­chen Er­eig­nis ge­nug mit­ge­nom­men, daß er sich nicht auch an dem Be­gräb­nis­tag als ein her­vor­ra­gen­der Ge­schäfts­mann er­wie­sen und die­sen durch einen er­folg­rei­chen Han­del fest­lich be­gan­gen hät­te.

Der Hin­weis auf Mar­leys Be­gräb­nis­tag führt mich in mei­ner Er­zäh­lung wie­der zu dem Punkt zu­rück, von dem ich aus­ge­gan­gen bin. Es ist ganz si­cher, daß Mar­ley tot war. Das muß klar er­kannt sein; sonst ist an der Ge­schich­te nichts Wun­der­ba­res, die ich er­zäh­len will. Falls wir näm­lich nicht ganz und gar über­zeugt wä­ren, daß Ham­lets Va­ter tot ist, ehe das Stück an­fängt, wür­de sein nächt­li­cher Spa­zier­gang im hef­ti­gen Ost­wind auf der Ter­ras­se sei­nes Schlos­ses gar nichts Merk­wür­di­ges an sich ha­ben.1 Nichts Merk­wür­di­ge­res, als wenn ir­gend­ein an­de­rer Herr in bes­ten Jah­ren sich nach Son­nen­un­ter­gang noch rasch zu ei­nem Spa­zier­gang in ei­ner win­di­gen Ge­gend – etwa auf dem St. Pauls-Fried­hof – ent­schei­det, nur um sei­nem trä­gen Sohn aus sei­nem Stumpf­sinn auf­zu­ja­gen. Scr­oo­ge ließ Mar­leys Na­men nicht über­ma­len. Noch nach Jah­ren stand über der Tür des Wa­ren­ma­ga­zins »Scr­oo­ge und Mar­ley«. Die Fir­ma war un­ter dem Na­men Scr­oo­ge und Mar­ley be­kannt. Zu­wei­len nann­ten Leu­te, die Scr­oo­ge nicht kann­ten, ihn Scr­oo­ge und zu­wei­len Mar­ley; er hör­te auf bei­de Na­men, denn es war ihm ganz gleich.

Oh, er ver­stand sich auf Men­schen­schin­de­rei, die­ser Scr­oo­ge! Ein er­pres­se­ri­scher, aus­beu­ten­der, zu­sam­men­grap­schen­der, gei­zi­ger al­ter Sün­der; hart und scharf wie ein Kie­sel, aus dem noch kein Stahl einen wär­me­n­den Fun­ken ge­schla­gen hat; ver­schlos­sen und selbst­süch­tig und nur für sich be­dacht wie eine Aus­ter. Sei­ne in­ne­re Käl­te mach­te sei­ne al­ten Züge er­star­ren, sei­ne spit­ze Nase noch spit­zer, sein Ge­sicht vol­ler Run­zeln, sei­nen Gang steif, sei­ne Au­gen rot, sei­ne dün­nen Lip­pen blau, und sie klang aus sei­ner knar­ren­den Stim­me her­aus. Ein fros­ti­ger Reif lag über sei­nem Haupt, auf sei­nen Au­gen­brau­en, auf sei­nem stop­pe­li­gen Kinn. Er ver­brei­te­te sei­ne ei­ge­ne nied­ri­ge Tem­pe­ra­tur im­mer um sich her. In den Hunds­ta­gen kühl­te er sein Kon­tor wie mit Eis; zur Weih­nachts­zeit tau­te er es nicht um einen Grad auf.

Äu­ße­re Hit­ze und Käl­te hat­ten ge­rin­gen Ein­fluß auf Scr­oo­ge. Kei­ne Wär­me konn­te ihn er­wär­men, kei­ne Käl­te ihn frie­ren ma­chen. Kein Wind war schnei­den­der als er, kein fal­len­der Schnee er­bar­mungs­lo­ser, kein peit­schen­der Re­gen un­er­bitt­li­cher. Schlech­tes Wet­ter konn­te ihm nichts an­ha­ben. Der ärgs­te Re­gen, Schnee oder Ha­gel konn­ten sich nur in ei­ner Hin­sicht rüh­men, ihm über­le­gen zu sein: sie spen­de­ten ihre Ga­ben oft im Über­fluß, und das tat Scr­oo­ge nie.

Hielt ihn je­mals ein Be­kann­ter auf der Stra­ße an, um ihm freund­lich zu sa­gen: Mein lie­ber Scr­oo­ge, wie steht’s? Wann wer­den Sie mich ein­mal be­su­chen? Kein Bett­ler sprach ihn um eine Klei­nig­keit an, kein Kind frag­te ihn, wie­viel Uhr es sei, kein Mann und kein Weib hat ihn je nach dem Weg ge­fragt. Selbst die Hun­de der Blin­den schie­nen ihn zu ken­nen; wenn sie ihn kom­men sa­hen, zupf­ten sie ihre Her­ren, daß sie in ein Haus trä­ten, und we­del­ten dann mit dem Schwan­ze, als woll­ten sie sa­gen: Kein Auge ist im­mer noch bes­ser als ein bö­ses Auge, blin­der Herr.

Doch was ging das Scr­oo­ge an? Gera­de das ge­fiel ihm. Al­lein sei­nen Weg durch das Ge­drän­ge des Le­bens zu ge­hen, je­des mensch­li­che Ge­fühl in ge­hö­ri­ge Ent­fer­nung zu­rück­zu­wei­sen – das war es, was Scr­oo­ge be­hag­te.

Ein­mal, es war am bes­ten al­ler Tage im Jahr, es war der Chri­sta­bend, saß der alte Scr­oo­ge in sei­nem Kon­tor. Drau­ßen war es schnei­dend kalt und duns­tig, und er konn­te hö­ren, wie die Leu­te im Hof drau­ßen prus­tend auf und nie­der gin­gen, die Hän­de zu­sam­menschlu­gen und mit den Fü­ßen stampf­ten, um sich zu er­wär­men. Es hat­te eben erst drei ge­schla­gen, war aber schon ganz dun­kel. Den gan­zen Tag über war es nicht hell ge­wor­den, und in den Fens­tern der be­nach­bar­ten Kon­to­re er­blick­te man Lich­ter, wie rote Fle­cken in der di­cken, brau­nen Luft. Der Ne­bel drang durch jede Rit­ze und durch je­des Schlüs­sel­loch und war so dick, daß die ge­gen­über­ste­hen­den Häu­ser des sehr klei­nen Ho­fes ganz geis­ter­haft aus­schau­ten. Wenn man die trü­be, di­cke Wol­ke al­les ver­fins­ternd her­ab­sin­ken sah, hät­te man glau­ben kön­nen, die Na­tur woh­ne dicht ne­ben­an und habe dort eine Groß­braue­rei ein­ge­rich­tet.

Die Tür von Scr­oo­ges Kon­tor stand of­fen, da­mit er sei­nen Kom­mis be­auf­sich­ti­gen kön­ne, der in ei­nem er­bärm­li­chen, klei­nen Rau­me, ei­ner Art Ver­ließ, Brie­fe ko­pier­te. Scr­oo­ge hat­te nur ein sehr klei­nes Feu­er; aber des Clerks Feu­er war noch so viel klei­ner, daß es wie eine ein­zi­ge Koh­le aus­sah. Er konn­te aber nicht nach­le­gen; denn Scr­oo­ge hat­te den Koh­len­kas­ten in sei­nem Zim­mer; und je­des­mal, wenn der Die­ner mit der Koh­len­schau­fel in der Hand her­ein­kam, mein­te der Herr, es wür­de wohl nö­tig sein, ihr Ver­hält­nis zu lö­sen. Da­rauf band sich der Clerk sei­nen wei­ßen Schal um und ver­such­te, sich an der Ker­ze zu wär­men, was, da er ein Mann von nicht zu star­ker Phan­ta­sie war, im­mer fehl­schlug.

»Fröh­li­che Weih­nach­ten, On­kel, Gott er­hal­te Sie!« rief eine hei­te­re Stim­me. Es war die Stim­me von Scr­oo­ges Nef­fen, der ihm so schnell auf den Hals rück­te, daß er sich erst durch die­sen Gruß be­merk­bar mach­te.

»Quatsch«, sag­te Scr­oo­ge, »dum­mes Zeug!«

Der Nef­fe war vom Ren­nen so warm ge­wor­den, daß er ganz glü­hend war; sein Ge­sicht war rot und sah hübsch aus, sei­ne Au­gen glänz­ten, und sein Atem dampf­te.

»Weih­nach­ten dum­mes Zeug, On­kel?« sag­te Scr­oo­ges Nef­fe, »das kann doch nicht Ihr Ernst sein.«

»Ob er es ist!« sag­te Scr­oo­ge. »Fröh­li­che Weih­nach­ten? Was für ein Recht hast du, fröh­lich zu sein? Was für einen Grund, fröh­lich zu sein? Du bist arm ge­nug.«

»Nun«, ver­setz­te der Nef­fe auf­ge­räumt, »was für ein Recht ha­ben Sie, gries­grä­mig zu sein? Sie sind reich ge­nug.«

Scr­oo­ge, der im Au­gen­blick kei­ne bes­se­re Ant­wort be­reit hat­te, sag­te noch ein­mal »Quatsch« und brumm­te ein »Dum­mes Zeug« hin­ter­her.

»Sei­en Sie nicht är­ger­lich, On­kel«, sag­te der Nef­fe.

»Was kann ich denn an­ders sein?« ant­wor­te­te der On­kel, »wenn ich in ei­ner Nar­ren­welt wie die­ser lebe! Fröh­li­che Weih­nach­ten! Zum Kuckuck mit den fröh­li­chen Weih­nach­ten! Was ist Weih­nach­ten für dich an­ders als ein Tag, wo du Rech­nun­gen be­zah­len müß­test, ohne Geld zu ha­ben, ein Tag, wo du dich um ein Jahr äl­ter und nicht um eine Stun­de rei­cher fin­dest, ein Tag, wo du die Bilanz dei­ner Bü­cher siehst und bei je­dem Pos­ten ein De­fi­zit zwölf vol­le Mo­na­te hin­durch ent­deckst? Wenn es nach mir gin­ge«, sag­te Scr­oo­ge er­bost, »dann müß­te je­der Narr, der mit sei­nem fröh­li­chen Weih­nach­ten her­um­läuft, mit sei­nem ei­ge­nen Pud­ding ge­kocht und mit ei­nem Pfahl von Stechei­che im Her­zen be­gra­ben wer­den. Das wär’ das Rich­ti­ge!«

»On­kel!« sag­te der Nef­fe.

»Nef­fe!« ant­wor­te­te der On­kel er­regt, »feie­re du Weih­nach­ten nach dei­nem Ge­schmack und laß es mich nach mei­nem fei­ern.«

»Fei­ern!« wie­der­hol­te Scr­oo­ges Nef­fe; »aber Sie fei­ern es nicht.« »Laß mich zu­frie­den«, sag­te Scr­oo­ge. »Mag es dir recht viel ein­brin­gen! Es hat dir ja schon viel ein­ge­bracht.«

»Es gibt vie­le Din­ge, die mir Gu­tes hät­ten brin­gen kön­nen, und die ich nicht ge­nutzt habe, das weiß ich«, ant­wor­te­te der Nef­fe, »und Weih­nach­ten ist eins von die­sen. Aber das weiß ich be­stimmt, daß ich Weih­nach­ten, wenn es ge­kom­men ist, ab­ge­se­hen von der Ver­eh­rung, die wir sei­nem hei­li­gen Na­men und Ur­sprung schul­dig sind, im­mer als eine gute Zeit an­ge­schaut habe, als eine lie­be Zeit, als die Zeit der Ver­ge­bung und des Er­bar­mens, als die ein­zi­ge Zeit, die ich im lan­gen Ka­len­der­jahr ken­ne, wo die Men­schen ein­träch­tig ihre ver­schlos­se­nen Her­zen auf­tun und die an­dern Men­schen be­trach­ten, als wenn sie wirk­lich Rei­se­ge­nos­sen nach dem Gra­be wä­ren und nicht eine ganz an­de­re Art von Le­be­we­sen, die für einen ganz an­dern Weg vor­ge­se­hen sind. Und dar­um, On­kel, ob die­se Tage mir gleich nie­mals ein Stück Gold oder Sil­ber in die Ta­sche ge­bracht ha­ben, glau­be ich doch, sie ha­ben mir Gu­tes ge­tan, und sie wer­den mir Gu­tes tun, und ich sage: Gott seg­ne die­ses schö­ne Fest!«

Der Die­ner in dem Ver­lie­ße drau­ßen klatsch­te un­will­kür­lich Bei­fall. Je­doch einen Au­gen­blick spä­ter emp­fand er das Un­schick­li­che sei­nes Be­tra­gens, mach­te sich an den Koh­len zu schaf­fen und ver­lösch­te den letz­ten klei­nen Fun­ken gänz­lich.

»Wenn Sie mich noch einen ein­zi­gen Laut hö­ren las­sen«, sag­te Scr­oo­ge, »so fei­ern Sie Ihre Weih­nach­ten durch Ihre Ent­las­sung. Du bist ein ganz ge­wal­ti­ger Red­ner«, füg­te er hin­zu, sich zu sei­nem Nef­fen wen­dend. »Es wun­dert mich nur, daß du nicht ins Par­la­ment kommst.«

»Sei­en Sie nicht bös, On­kel. Es­sen Sie mor­gen bei uns.«

Scr­oo­ge sag­te, er wol­le ihn ver­dammt se­hen, ja, wirk­lich, das sag­te er. Er sag­te es ganz aus­drück­lich, und daß er dann erst ihn be­su­chen wol­le. Ja wahr­haf­tig, er sprach sich ganz deut­lich aus.

»Aber warum?« rief Scr­oo­ges Nef­fe, »warum?«

»Wa­rum hast du dich ver­hei­ra­tet?« frag­te Scr­oo­ge.

»Weil mich die Lie­be er­griff!«

»Weil ihn die Lie­be er­griff!« brumm­te Scr­oo­ge, als ob das das ein­zi­ge Ding in der Welt wäre, das ihm noch lä­cher­li­cher vor­käme als eine fröh­li­che Weih­nacht. »Gu­ten Abend!«

»Aber, On­kel, Sie ha­ben mich ja auch vor­her ein­mal be­sucht. Wa­rum ge­ben Sie es jetzt als Grund an, wes­halb Sie mich jetzt nicht be­su­chen?«

»Gu­ten Abend!« wie­der­hol­te Scr­oo­ge.

»Ich brau­che ja nichts von Ih­nen, ich be­geh­re nichts von Ih­nen, warum kön­nen wir da nicht gute Freun­de sein?«

»Gu­ten Abend!« sag­te Scr­oo­ge.

»Ich be­dau­re wirk­lich von Her­zen, Sie so ver­här­tet zu fin­den. Wir ha­ben nie einen Zank mit­ein­an­der ge­habt, an dem ich schuld ge­we­sen wäre. Ich habe es dies­mal ver­sucht, Weih­nach­ten zu Ehren, und ich will mei­ne Weih­nachts­s­tim­mung bis zu­letzt be­wah­ren. Also: Fröh­li­che Weih­nach­ten, On­kel!«

»Gu­ten Abend!« sag­te Scr­oo­ge.

»Und ein glück­li­ches Neu­jahr!«

»Gu­ten Abend!« sag­te Scr­oo­ge.

Trotz­dem ver­ließ der Nef­fe das Zim­mer ohne ein bö­ses Wort. An der Haus­tür blieb er noch ste­hen, um mit dem Glück­wunsch des Ta­ges den Clerk zu grü­ßen, der, so sehr ihn fror, doch noch wär­mer als Scr­oo­ge war, denn er gab den Gruß freund­lich zu­rück.

»Das ist auch so ein Narr«, brumm­te Scr­oo­ge, der es hör­te. »Mein Clerk mit fünf­zehn Schil­ling die Wo­che und Frau und Kin­dern und spricht von fröh­li­chen Weih­nach­ten. Ich könnt’ mich ins Nar­ren­haus zu­rück­zie­hen.«

Der Die­ner hat­te, wäh­rend er den Nef­fen hin­ausließ, zwei an­de­re Per­so­nen ein­ge­las­sen. Es wa­ren zwei be­hä­bi­ge Her­ren, statt­li­chen For­mats, die jetzt, den Hut in der Hand, in Scr­oo­ges Kon­tor stan­den. Sie hiel­ten Bü­cher und Pa­pie­re in der Hand und ver­neig­ten sich.

»Scr­oo­ge und Mar­ley, wenn ich nicht irre«, sag­te ei­ner der Her­ren und blick­te auf sei­ne Lis­te. »Hab’ ich die Ehre, mit Mr. Scr­oo­ge oder mit Mr. Mar­ley zu spre­chen?«

»Mr. Mar­ley ist seit sie­ben Jah­ren tot«, er­wi­der­te Scr­oo­ge. »Er starb heu­te vor sie­ben Jah­ren.«

»Wir zwei­feln nicht, daß die Ge­sin­nung sei­ner Frei­ge­big­keit auch bei sei­nem Kom­pa­gnon vor­han­den sein wird«, sag­te der Herr, in­dem er sei­ne Voll­macht hin­reich­te.

Er hat­te auch ganz recht, denn es wa­ren zwei ver­wand­te See­len ge­we­sen. Bei dem be­deu­tungs­vol­len Wort Frei­ge­big­keit er­schau­er­te Scr­oo­ge und gab kopf­schüt­telnd das Pa­pier zu­rück.

»In die­ser fei­er­li­chen Jah­res­zeit, Mr. Scr­oo­ge«, sag­te der Herr, eine Fe­der er­grei­fend, »ist es mehr als ge­wöhn­lich wün­schens­wert, ei­ni­ger­ma­ßen we­nigs­tens für die Ar­mut zu sor­gen, die ge­ra­de jetzt in großer Be­dräng­nis ist. Vie­le Tau­sen­de ha­ben nicht das Le­bens­not­wen­di­ge, Hun­dert­tau­sen­den feh­len die not­dürf­tigs­ten Be­quem­lich­kei­ten des Le­bens.«

»Gibt es denn kei­ne Ge­fäng­nis­se?« frag­te Scr­oo­ge.

»Über­fluß an Ge­fäng­nis­sen«, sag­te der Herr, die Fe­der wie­der hin­le­gend.

»Und die Ar­men­ar­beits­häu­ser?« frag­te Scr­oo­ge. »Be­ste­hen sie denn nicht mehr?«

»Al­ler­dings. Frei­lich«, ant­wor­te­te der Herr, »wünsch­te ich, sie be­stün­den über­haupt nicht.«

»Tret­müh­le und Ar­men­ge­setz sind also noch in vol­ler Kraft«, mein­te Scr­oo­ge.

»Bei­de ha­ben alle Hän­de voll zu tun.«

»So? Nach dem, was Sie zu­erst sag­ten, fürch­te­te ich, ihr nütz­li­ches Be­ste­hen sei ge­fähr­det«, sag­te Scr­oo­ge. »Ich freue mich, das zu hö­ren«.

»In der Mei­nung, daß sie doch wohl kaum christ­li­chen Froh­sinn und Be­ha­gen den Ar­men für Leib und See­le be­rei­ten«, ant­wor­te­te der Herr, »ha­ben sich ei­ni­ge von uns zwecks ei­ner Samm­lung zu­sam­men­ge­fun­den, um für die Ar­men Spei­se und Trank und Feue­rung an­zu­schaf­fen. Wir wäh­len die­se Zeit, weil sie vor al­len an­dern eine Zeit ist, wo der Man­gel am bit­ters­ten ge­fühlt wird und der Reich­tum in Freu­den schwimmt. Wie­viel darf ich für Sie zeich­nen?«

»Nichts«, ant­wor­te­te Scr­oo­ge.

»Sie wün­schen also un­ge­nannt zu blei­ben?«

»Ich wün­sche, daß man mich in Ruhe las­se«, sag­te Scr­oo­ge. »Da Sie mich nach mei­nem Wun­sche fra­gen, mei­ne Her­ren, so ist dies mei­ne Ant­wort. Ich gön­ne mir auch zu Weih­nach­ten kei­ne Freu­de und kann nicht dem fau­len Volk lus­ti­ge Tage ma­chen. Ich zah­le mei­nen Bei­trag zu den ge­nann­ten An­stal­ten. Sie kos­ten ge­nug, und wem es schlecht geht, der mag sich dort­hin be­ge­ben!«

»Vie­le kön­nen nicht hin­ge­hen, und vie­le wür­den eher lie­ber ster­ben.«

»Wenn sie eher lie­ber ster­ben wür­den«, sag­te Scr­oo­ge, »so wäre es gut, wenn sie das aus­führ­ten und die über­flüs­si­ge Be­völ­ke­rung ver­min­der­ten. Üb­ri­gens, Sie wer­den mich ent­schul­di­gen, ver­ste­he ich nichts da­von.«

»Aber Sie könn­ten es ver­ste­hen«, be­merk­te der Herr.

»Es geht mich nichts an«, ant­wor­te­te Scr­oo­ge. »Es ge­nügt, wenn ein Mann sein ei­ge­nes Ge­schäft be­greift und sich nicht in das an­de­rer Leu­te mischt. Das mei­ni­ge nimmt mei­ne gan­ze Zeit in An­spruch. Gu­ten Abend, mei­ne Her­ren!«

Da sie ein­sa­hen, daß wei­te­re Ver­su­che ver­geb­lich sein wür­den, zo­gen sich die Her­ren zu­rück. Scr­oo­ge mach­te sich wie­der mit noch bes­se­rer Mei­nung von sich selbst und in ei­ner an­ge­neh­me­ren Lau­ne als ge­wöhn­lich an die Ar­beit.

Wäh­rend­dem hat­ten Ne­bel und Dun­kel­heit so zu­ge­nom­men, daß Leu­te mit bren­nen­den Fa­ckeln her­um­lie­fen, um den Wa­gen vor­an­zu­leuch­ten. Der Kirch­turm, des­sen brum­men­de Glo­cke aus ei­nem al­ten go­ti­schen Fens­ter in der Mau­er gar pfif­fig auf Scr­oo­ge her­nie­der­blick­te, wur­de un­sicht­bar und schlug die Stun­den und Vier­tel in den Wol­ken mit ei­nem zit­tern­den Nach­klin­gen, als ob ihr in ih­rem er­fro­re­nen Haup­te dro­ben die Zäh­ne klap­per­ten. Die Käl­te wur­de im­mer schnei­den­der. In der Haupt­stra­ße an der Ecke des Ho­fes wur­den Gas­röh­ren aus­ge­bes­sert, und die Ar­bei­ter hat­ten in ei­ner Koh­len­pfan­ne ein großes Feu­er an­ge­zün­det, um das sich ei­ni­ge zer­lump­te Män­ner und Kna­ben dräng­ten, die sich die Hän­de wärm­ten und mit den Au­gen vor der be­hag­li­chen Flam­me blin­zel­ten. Aus den Was­ser­pum­pen, die eben ver­las­sen wa­ren, floß noch et­was Was­ser nach; aber bald war es zu men­schen­feind­li­chem Eis er­starrt. Der Schim­mer der Lä­den, in de­nen Stech­pal­men­zwei­ge und Bee­ren in der Lam­pen­wär­me der Fens­ter far­ben­freu­dig leuch­te­ten, über­zog die blei­chen Ge­sich­ter der Vor­über­ge­hen­den. Die Lä­den der Ge­flü­gel- und Ma­te­ri­al­wa­ren­händ­ler wur­den eine glän­zen­de Quel­le der Freu­de, mit der es fast un­mög­lich schi­en, den Ge­dan­ken von ei­ner so erns­ten Sa­che wie Kauf und Ver­kauf zu ver­bin­den. Der Ober­bür­ger­meis­ter gab im Fest­saal des Man­si­on-Hou­se2 sei­nen fünf­zig Kö­chen und Kel­ler­meis­tern Be­fehl, Weih­nach­ten zu fei­ern, wie es ei­nes Ober­bür­ger­meis­ters wür­dig ist, und selbst der arme Flick­schnei­der, den er am Mon­tag vor­her we­gen Trun­ken­heit und öf­fent­lich aus­ge­spro­che­ner blut­dürs­ti­ger Ge­sin­nung mit fünf Schil­ling be­straft hat­te, rühr­te den Weih­nachts­pud­ding in sei­nem Dach­käm­mer­chen an, wäh­rend sei­ne ab­ge­härm­te Frau mit dem Säug­ling auf dem Arm aus­ging, um den Rin­der­bra­ten zu kau­fen.

Im­mer neb­li­ger und käl­ter wur­de es, durch­drin­gend, bei­ßend, schnei­dend kalt. Wenn der gute, hei­li­ge Duns­tan3 des Teu­fels Nase nur mit ei­nem Hau­che von die­sem Wet­ter ge­faßt hät­te, an­statt sei­ne sonst üb­li­che Waf­fe zu brau­chen, dann wür­de er erst recht ge­brüllt ha­ben. Der In­ha­ber ei­ner klei­nen, jun­gen Stups­na­se, be­nagt und an­ge­knab­bert von der hung­ri­gen Käl­te, wie Kno­chen von Hun­den be­nagt wer­den, leg­te sich vor Scr­oo­ges Schlüs­sel­loch, um ihn mit ei­nem Weih­nachts­lied zu er­freu­en. Aber bei dem ers­ten Tone des Lie­des:

»Gott grüß euch, fro­her Gent­le­man,
Mög nichts euch är­gern heut!«

er­griff Scr­oo­ge das Li­ne­al mit sol­cher Kraft, daß der Sän­ger voll Schre­cken ent­floh und das Schlüs­sel­loch dem Ne­bel und der noch ein­dring­li­che­ren Käl­te über­ließ.

End­lich kam die Stun­de des Ge­schäfts­schlus­ses. Mür­risch stieg Scr­oo­ge von sei­nem Ses­sel und gab dem har­ren­den Clerk in dem Ver­ließ still­schwei­gend die Er­laub­nis, zu ge­hen, wor­auf die­ser so­gleich das Licht aus­lösch­te und den Hut auf­setz­te.

»Sie wol­len, wie ich ver­mu­te, den gan­zen Tag mor­gen ha­ben«, sag­te Scr­oo­ge.

»Wenn Sie nichts da­ge­gen ha­ben, Sir.«

»Es paßt mir nicht«, sag­te Scr­oo­ge, »und es ist nicht schick­lich. Wenn ich Ih­nen eine hal­be Kro­ne da­für ab­rech­ne­te, wür­den Sie den­ken, es wi­der­fah­re Ih­nen Un­recht, nicht?«

Der Die­ner lä­chel­te ver­zagt.

»Und doch«, sag­te Scr­oo­ge, »den­ken Sie nicht dar­an, daß mir Un­recht ge­schieht wenn ich einen Tag Lohn für einen Tag ohne Ar­beit be­zah­le.«

Der Die­ner be­merk­te, daß es nur ein­mal im Jahr vor­käme.

»Eine arm­se­li­ge Ent­schul­di­gung, um an je­dem fünf­und­zwan­zigs­ten De­zem­ber ei­nem den Geld­beu­tel zu be­steh­len«, sag­te Scr­oo­ge, in­dem er sei­nen Man­tel bis an das Kinn zu­knöpf­te. »Aber ich ver­mu­te, Sie müs­sen durch­aus den gan­zen Tag frei ha­ben. Sei­en Sie da­für über­mor­gen um so frü­her hier.«

Der Die­ner ver­sprach, daß er kom­men wol­le, und Scr­oo­ge ging knur­rend fort. Das Kon­tor war im Au­gen­blick ge­schlos­sen. Der Clerk, dem die lan­gen En­den sei­nes wei­ßen Schals über die Brust her­ab­hin­gen (denn er konn­te sich kei­nes Man­tels rüh­men), schlit­ter­te zu Ehren des Fes­tes als der Letz­te hin­ter ei­ner Rei­he von Kna­ben, die beim Eis­ver­gnü­gen war, Corn­hill hin­un­ter und lief dann so schnell wie mög­lich in sei­ne Woh­nung in Cam­den-Town, um dort Blin­de­kuh zu spie­len.

Scr­oo­ge nahm sein me­lan­cho­li­sches Mahl in sei­nem ge­wöhn­li­chen me­lan­cho­li­schen Gast­hau­se ein; und nach­dem er alle Zei­tun­gen ge­le­sen und sich den Rest des Abends mit sei­nem Abrech­nungs­jour­nal ver­trie­ben hat­te, ging er nach Hau­se, um zu Bett zu ge­hen. Er wohn­te in den Zim­mern, die sei­nem ver­stor­be­nen Kom­pa­gnon ge­hört hat­ten. Es war eine trü­be Rei­he von Zim­mern in ei­nem düs­tern, fins­tern Ge­bäu­de ei­nes Hin­ter­ho­fes, wo die­ses so we­nig an sei­nem Platz stand, daß man fast hät­te glau­ben kön­nen, es habe sich dort­hin ver­lau­fen und sich nicht wie­der her­aus­fin­den kön­nen, als es noch ein jun­ges Haus war und mit an­dern Häu­sern Ver­ste­cken spiel­te. Es war jetzt alt und trist ge­nug; denn nie­mand wohn­te dort, au­ßer Scr­oo­ge, da die an­dern Räu­me alle als Ge­schäfts­räu­me ver­mie­tet wa­ren. Der Hof war so dun­kel, daß selbst Scr­oo­ge, der je­den Stein dar­in kann­te, sei­nen Weg mit den Hän­den er­tas­ten muß­te. Der Ne­bel und der Frost hin­gen so dick und schwer über dem schwar­zen al­ten Tor­weg des Hau­ses, als ob der Dä­mon die­ses Wet­ters in be­küm­mer­tem Grü­beln auf der Schwel­le säße. Nun ist es eine Tat­sa­che, daß an dem Tür­klop­fer ganz und gar nichts Be­son­de­res war, ab­ge­se­hen von sei­ner Grö­ße. Auch ist es Tat­sa­che, daß Scr­oo­ge ihn abends und mor­gens, seit­dem er das Haus be­wohn­te, ge­se­hen hat­te und daß Scr­oo­ge von dem, was man mit Phan­ta­sie be­zeich­net, so we­nig be­saß wie sonst je­mand in der City von Lon­don, ein­ge­rech­net – wenn es er­laubt ist, das zu sa­gen, – den Stadt­rat, die Al­der­men und die Zünf­te. Man muß auch dar­auf hin­wei­sen, daß Scr­oo­ge, au­ßer heu­te nach­mit­tag, mit kei­nem Wört­chen an sei­nen seit sie­ben Jah­ren ver­stor­be­nen Kom­pa­gnon ge­dacht hat­te. Und nun möge mir je­mand, wenn er es kann, er­klä­ren, warum Scr­oo­ge, als er sei­nen Schlüs­sel in das Tür­schloß steck­te, in dem Klop­fer, ohne daß sich die­ser ver­än­dert hat­te, kei­nen Tür­klop­fer, son­dern Mar­leys Ge­sicht er­blick­te.

Ja, Mar­leys Ge­sicht. Es war nicht in so un­durch­dring­li­ches Dun­kel gehüllt, wie die an­dern Ge­gen­stän­de im Hofe, son­dern von ei­nem un­heim­li­chen Leuch­ten um­ge­ben, wie ein ver­faul­ter Hum­mer in ei­nem dunklen Kel­ler. Das Ge­sicht war nicht böse oder zür­nend, son­dern sah Scr­oo­ge an, wie ihn Mar­ley ge­wöhn­lich an­ge­se­hen hat­te, die ge­spens­ti­sche Bril­le auf die ge­spens­ti­sche Stirn hin­auf­ge­rückt. Das Haar starr­te selt­sam in die Höhe, wie von Wind oder hei­ßer Luft ge­ho­ben; und ob­gleich die Au­gen weit of­fen stan­den, wa­ren sie doch ohne al­les Le­ben. Dies und die lei­chen­haf­te Far­be mach­ten das Ge­sicht schreck­lich; aber sei­ne Schreck­lich­keit schi­en mehr in et­was an­de­rem zu lie­gen und au­ßer­halb sei­ner Macht als ein Teil sei­nes Aus­drucks.

Als Scr­oo­ge fest auf die Er­schei­nung blick­te, war es wie­der ein Tür­klop­fer.

Zu sa­gen, er wäre nicht er­schro­cken, oder sein Blut hät­te nicht ein Gru­seln emp­fun­den, das ihm seit sei­ner Kind­heit un­be­kannt ge­blie­ben war, wäre eine Un­wahr­heit. Aber er nahm sich mit Ge­walt zu­sam­men, leg­te die Hand wie­der an den Schlüs­sel, dreh­te ihn um, trat ein und zün­de­te sei­ne Ker­ze an.

Al­ler­dings zö­ger­te er einen Au­gen­blick, ehe er die Tür schloß, und starr­te erst vor­sich­tig da­hin­ter, als fürch­te er wirk­lich, durch den An­blick von Mar­leys Kopf er­schreckt zu wer­den. Aber hin­ter der Tür war nichts als die Schrau­ben, die den Klop­fer fest­hiel­ten; und so sag­te Scr­oo­ge: »Ach was!« und warf sie zu.

Der Knall er­scholl durch das Haus wie ein Don­ner. Je­des Zim­mer im Ober­ge­schoß, und je­des Faß in des Wein­händ­lers Kel­ler drun­ten schi­en mit sei­nem be­son­de­ren Echo zu ant­wor­ten. Scr­oo­ge war nicht der Mann, der sich durch Echos ins Bocks­horn ja­gen ließ. Er schloß die Tür zu, ging über den Haus­flur und die Trep­pe hin­auf, und zwar lang­sam und das Licht auf­put­zend, wäh­rend er hin­auf­stieg. Man kann un­ge­fähr ver­an­schla­gen, daß sich eine sechs­s­pän­ni­ge Equi­pa­ge über eine Trep­pe aus der gu­ten al­ten Zeit oder auch durch ein schlech­tes neu­es Reichs­ge­setz kut­schie­ren ließ; und ich möch­te be­haup­ten, man hät­te über die Trep­pe bei Scr­oo­ge einen To­ten­wa­gen hin­auf­trans­por­tie­ren kön­nen; und zwar selbst der Brei­te nach, mit der Deich­sel ge­gen die Wand und mit der To­ten­w­agen­tür ge­gen das Ge­län­der. Und das wäre leicht ge­tan ge­we­sen. Da­für wäre Raum über­ge­nug vor­han­den ge­we­sen, und das war viel­leicht der Grund, warum Scr­oo­ge wähn­te, er sähe vor sich ge­ra­de­zu eine To­ten­wa­gen-Lo­ko­mo­ti­ve im Dun­kel sich hin­auf­be­we­gen. Ein hal­b­es Dut­zend Gas­lam­pen von der Stra­ße aus hät­ten den Ein­gang son­der­lich hell ge­macht, und so kann man sich den­ken, daß es bei Scr­oo­ges Fun­zel ziem­lich dun­kel blieb.

Scr­oo­ge aber ging hin­auf und scher­te sich kei­nen Pfif­fer­ling dar­um. Dun­kel­heit ist bil­lig, und das hat­te Scr­oo­ge gern. Aber ehe er sei­ne schwe­re Tür zu­mach­te, ging er doch durch die Zim­mer, um zu se­hen, ob al­les in Ord­nung sei. Er er­in­ner­te sich des Ge­sich­tes noch zu nach­drück­lich, als daß er nicht die­ses Be­dürf­nis ge­habt hät­te.

Wohn­zim­mer, Schlaf­zim­mer, Rum­pel­kam­mer, al­les war, wie es sein soll­te. Nie­mand un­ter dem Tisch, nie­mand un­ter dem Sofa; ein klei­nes Feu­er auf dem Rost, Löf­fel und Tel­ler be­reit, und das klei­ne Töpf­chen Sup­pe (Scr­oo­ge war er­käl­tet) an dem Feu­er. Nie­mand un­ter dem Bett, nie­mand in dem Al­ko­ven, nie­mand in sei­nem Schlaf­rock, der in ganz ver­däch­ti­ger Art an der Wand hing. Die Rum­pel­kam­mer wie ge­wöhn­lich. Ein al­ter Ka­min­schirm, alte Schu­he, zwei Fisch­kör­be, ein drei­bei­ni­ger Wasch­tisch und ein Feu­er­ha­ken.

Voll­kom­men zu­frie­den, mach­te er die Tür zu, schloß sich ein und rie­gel­te noch zu, was sonst sei­ne Ge­wohn­heit nicht war. So ge­gen Über­ra­schung ge­si­chert, leg­te er sei­ne Hals­bin­de ab, zog sei­nen Schlaf­rock und die Pan­tof­fel an, setz­te die Nacht­müt­ze auf und setz­te sich vor das Feu­er, um sei­ne Sup­pe zu löf­feln.

Es war wirk­lich ein sehr klei­nes Feu­er, so gut wie gar keins in ei­ner so bit­ter­kal­ten Nacht. Er muß­te sich dicht dar­an set­zen und sich dar­über beu­gen, um das ge­rings­te Wär­me­ge­fühl von ei­ner sol­chen Hand­voll Koh­len zu ge­nie­ßen. Der Ka­min war vor vie­len Jah­ren von ei­nem hol­län­di­schen Kauf­mann er­rich­tet wor­den und rings­um mit selt­sa­men hol­län­di­schen Flie­sen be­legt, die be­stimmt wa­ren, die Hei­li­ge Schrift zu il­lus­trie­ren. Da sah man Kain und Abel, Pha­ra­os Töch­ter, Kö­ni­gin­nen von Saba, En­gel durch die Luft auf den Wol­ken gleich Fe­der­bet­ten her­ab­schwe­bend, Abra­ham, Bel­sa­zar, Apos­tel in See ge­hend auf Markt­schif­fen, Hun­der­te von Fi­gu­ren, sei­ne Ge­dan­ken zu be­schäf­ti­gen; und doch kam das Ge­sicht Mar­leys wie der Stab des al­ten Pro­phe­ten und ver­schlang al­les an­de­re. Wenn jede glän­zen­de Flie­se blank und ver­mö­gend ge­we­sen wäre, aus den zer­streu­ten Frag­men­ten von Scr­oo­ges Ge­dan­ken ein Bild auf sei­ne Flä­che zu zau­bern, auf je­dem wäre ein Ab­bild von des al­ten Mar­leys Ge­sicht er­schie­nen.

»Dum­mes Zeug!« sag­te Scr­oo­ge und schritt im Zim­mer auf und ab.

Nach­dem er ei­ni­ge­mal hin- und her­ge­gan­gen war, setz­te er sich wie­der nie­der. Als er den Kopf in den Stuhl zu­rück­leg­te, blieb sein Blick wie von un­ge­fähr an der Glo­cke hän­gen, an ei­ner al­ten, nicht mehr ge­brauch­ten Glo­cke, die zu ei­nem jetzt ver­ges­se­nen Zweck mit ei­nem Zim­mer in dem obers­ten Stock­werk in Ver­bin­dung stand. Es be­fiel ihn großes Er­stau­nen und ein selt­sa­mer un­er­klär­li­cher Schau­er, als die Glo­cke an­hub, sich zu be­we­gen; erst be­weg­te sie sich so sach­te, daß sie kaum einen Ton von sich gab; aber bald läu­te­te sie laut und mit ihr alle Glo­cken des Hau­ses.

Dies moch­te eine hal­be Mi­nu­te oder eine Mi­nu­te ge­dau­ert ha­ben, aber es schi­en eine Stun­de zu sein. Die Glo­cken hör­ten gleich­zei­tig auf, wie sie gleich­zei­tig an­ge­fan­gen hat­ten. Da­rauf ver­nahm man ein klir­ren­des Geräusch, tief un­ten, als ob je­mand eine schwe­re Ket­te über die Fäs­ser in des Wein­händ­lers Kel­ler zerr­te. Jetzt er­in­ner­te sich Scr­oo­ge, ge­hört zu ha­ben, daß Ge­s­pens­ter Ket­ten schlep­pen soll­ten.

Die Kel­ler­tür flog mit ei­nem dumpf­dröh­nen­den Kra­chen auf, und dann hör­te er das Klir­ren viel lau­ter auf dem Haus­flur un­ten; dann wie es die Trep­pe her­auf­kam; und dann wie es ge­ra­de auf sei­ne Tür zu­kam.

»Es ist dum­mes Zeug«, sag­te Scr­oo­ge. »Ich glau­be nicht dar­an.«

Aber er wech­sel­te die Far­be, als es, ohne zu ver­wei­len, durch die schwe­re Tür und in das Zim­mer kam. Als es her­ein­trat, flamm­te das ster­ben­de Feu­er auf, als ob es rie­fe: »Ich ken­ne ihn, Mar­leys Geist!« und fiel wie­der zu­sam­men.

Das­sel­be Ge­sicht, ganz das­sel­be. Mar­ley mit sei­ner Zopf­pe­rücke, sei­ner ge­wöhn­li­chen Wes­te, den en­gen Bein­klei­dern und ho­hen Stie­feln, de­ren Quas­ten sträub­ten sich wie sein Zopf und sei­ne Rock­schö­ße und das Haar auf sei­nem Kopf. Die Ket­te, die er hin­ter sich her­schlepp­te, war mit­ten um sei­nen Kör­per ge­schlun­gen. Sie war lang und wand sich wie ein Schweif und war (denn Scr­oo­ge be­trach­te­te sie sehr ge­nau) aus Geld­kas­set­ten, Schlüs­seln, Sch­lös­sern, Haupt­bü­chern, Ver­trä­gen und schwe­ren Bör­sen aus Stahl zu­sam­men­ge­setzt. Sein Leib war durch­sich­tig, so daß Scr­oo­ge durch die Wes­te hin­durch die zwei Knöp­fe rück­wärts auf sei­nem Rock se­hen konn­te.

Scr­oo­ge hat­te oft be­haup­ten ge­hört, Mar­ley habe kein Herz im Lei­be, aber er hat­te es bis jetzt nicht ge­glaubt.

Nein, er glaub­te es auch jetzt nicht ein­mal. Ob­wohl er das Ge­s­penst durch und durch vor sich ste­hen sah; ob­wohl er den er­frie­ren ma­chen­den Schau­er sei­ner tot­kal­ten Au­gen fühl­te und selbst den Stoff des Tu­ches er­kann­te, das um sei­nen Kopf und sein Kinn ge­bun­den war, und das er frü­her nicht be­merkt hat­te, war er doch noch un­gläu­big und ver­wahr­te sich ge­gen die Ein­drücke sei­ner Sin­ne.

»Nun«, sag­te Scr­oo­ge, barsch und kalt wie ge­wöhn­lich, »was wollt Ihr?«

»Viel!« Das war Mar­leys Stim­me; kein Zwei­fel.

»Wer seid Ihr?«

»Fragt mich, wer ich war.«

»Nun, wer wa­ret Ihr denn?« sag­te Scr­oo­ge lau­ter. »Ihr seid ein be­son­de­res Exem­plar für ein Ge­s­penst.« Er woll­te sa­gen »als Ge­s­penst«; aber er er­setz­te das »als« durch »für ein«, um auf alle Fäl­le sich zu si­chern.

»Als ich leb­te, war ich Euer Kom­pa­gnon, Ja­kob Mar­ley.«

»Könnt Ihr auch sit­zen?« frag­te Scr­oo­ge und sah ihn zwei­felnd an.

»Ich kann es.«

»Dann bit­te!«

Scr­oo­ge stell­te die Fra­gen, weil er nicht wuß­te, ob ein so durch­sich­ti­ges Ge­s­penst sich wer­de set­zen kön­nen, und fühl­te, daß er ihn recht un­an­ge­nehm hät­te zur Rede stel­len kön­nen, wenn je­ner dies nicht ge­konnt hät­te.

»Ihr glaubt nicht an mich?« frag­te der Geist.

»Nein«, sag­te Scr­oo­ge.

»Wel­chen Be­weis wollt Ihr, au­ßer dem Eu­rer Sin­ne, von mei­ner Wirk­lich­keit ha­ben?«

»Ich weiß nicht«, sag­te Scr­oo­ge.

»Wa­rum glaubt Ihr Eu­ren Sin­nen nicht?«

»Weil eine Ge­ring­fü­gig­keit sie stört«, sag­te Scr­oo­ge. »Eine klei­ne Stö­rung im Ma­gen macht sie zu Lüg­nern. Ihr könnt ein un­ver­dau­tes Stück Rind­fleisch, ein Senf­klecks, eine Kä­serin­de, ein Stück­chen schlech­ter Kar­tof­fel sein. Wer Ihr auch sein mögt, Ihr seid mehr Un­ter­leib, als Un­ter­welt.«

Es war nicht eben Scr­oo­ges Art, Wit­ze zu ma­chen, auch fühl­te er jetzt kei­ne be­son­de­re Lust dazu. Die Wahr­heit war, daß er sich be­streb­te, auf­ge­räumt zu sein, über­le­gen zu er­schei­nen, um sei­ne Auf­merk­sam­keit auf das Ge­s­penst zu ver­ja­gen und um sein Ent­set­zen nie­der­zu­hal­ten; denn die Stim­me des Geis­tes mach­te selbst das Mark in sei­nen Ge­bei­nen er­zit­tern.

Nur einen Au­gen­blick schwei­gend die­sen star­ren, er­fro­re­nen Au­gen ge­gen­über­zu­sit­zen, wür­de ihn wahn­sin­nig ma­chen, das emp­fand Scr­oo­ge wohl. Auch war die Tat­sa­che so grau­en­er­re­gend, daß das Ge­s­penst sei­ne ei­ge­ne höl­li­sche At­mo­sphä­re hat­te. Scr­oo­ge fühl­te sie zwar nicht selbst, aber doch muß­te es der Fall sein. Ob­wohl näm­lich das Ge­s­penst ganz re­gungs­los da­saß, be­weg­ten sich sei­ne Haa­re, sei­ne Rock­schö­ße und sei­ne Stie­fel­quas­ten wie von der er­hitz­ten Luft ei­nes Ofens.

»Ihr seht die­sen Zahn­sto­cher«, sag­te Scr­oo­ge und nahm aus dem eben an­ge­führ­ten Grund sei­ne At­ta­cke wie­der auf, von dem Wunsch be­seelt, wenn auch nur für einen Au­gen­blick den star­ren, ei­si­gen Blick des Ge­s­pens­tes von sich ab­zu­wen­den.

»Ja«, ant­wor­te­te der Geist.

»Ihr seht ihn ja nicht an«, sag­te Scr­oo­ge.

»Aber ich sehe ihn trotz­dem«, er­wi­der­te das Ge­s­penst.

»Gut«, mein­te Scr­oo­ge. »Ich brau­che ihn nur hin­un­ter­zu­schlu­cken, und mein gan­zes üb­ri­ges Le­ben hin­durch ver­fol­gen mich eine Le­gi­on Ko­bol­de, die ich selbst er­zeugt habe. Dum­mes Zeug, sag’ ich, dum­mes Zeug!«

Bei die­sen Wor­ten stieß das Ge­s­penst einen gräß­li­chen Schrei aus und ließ sei­ne Ket­te so grau­en­haft und fürch­ter­lich klir­ren, daß Scr­oo­ge sich an sei­nen Stuhl fest­klam­mern muß­te, um nicht in Ohn­macht zu sin­ken. Aber wie­viel grö­ßer ward sein Ent­set­zen, als das Ge­s­penst die Bin­de vom Kopf nahm, als wäre es ihm zu warm im Zim­mer, und die Un­ter­kinn­la­de auf die Brust her­ab­sank.

Scr­oo­ge fiel auf die Knie nie­der und schlug die Hän­de vors Ge­sicht.

»Gna­de!« rief er. »Schreck­li­che Er­schei­nung, warum quälst du mich?«

»Mensch mit der welt­lich ge­sinn­ten See­le«, er­wi­der­te der Geist, »glaubst du an mich oder nicht?«

»Ich glau­be«, sag­te Scr­oo­ge, »ich muß es. Aber warum wan­deln Geis­ter auf Er­den und warum kom­men sie zu mir?«

»Von je­dem Men­schen wird ge­for­dert«, ant­wor­te­te das Ge­s­penst, »daß der Geist in ihm un­ter sei­nen Mit­menschen wand­le und fer­ne, wei­te Rei­sen ma­che. Wenn nun die­ser Geist nicht bei Leb­zei­ten hin­aus­geht, so ist er ver­dammt, durch die Welt zu wan­dern – ach, weh mir! – und an­zu­se­hen, was er nicht mehr mit­ge­nie­ßen kann, was er aber auf Er­den hät­te mit­ge­nie­ßen und zum Gu­ten hät­te aus­nut­zen kön­nen.«

Wie­der stieß das Ge­s­penst einen Schrei aus, rüt­tel­te an sei­nen Ket­ten und rang die schat­ten­haf­ten Hän­de.

»Du bist ge­fes­selt«, sag­te Scr­oo­ge zit­ternd. »Sage mir, wes­halb?«

»Ich tra­ge die Ket­te, die ich im Le­ben ge­schmie­det habe«, sag­te der Geist. »Ich schmie­de­te sie Glied für Glied und Elle für Elle; mit mei­nem ei­ge­nen frei­en Wil­len gür­te­te ich sie um; und nach mei­nem ei­ge­nen frei­en Wil­len muß ich sie nun tra­gen. Ihre Glie­der kom­men dir selt­sam vor.«

Scr­oo­ge zit­ter­te im­mer hef­ti­ger.

»Oder willst du die Schwe­re und Län­ge der Ket­te wis­sen«, fuhr der Geist fort, »die du sel­ber trägst? Sie war ge­ra­de so lang und so schwer wie die­se hier vor sie­ben Weih­nach­ten. Seit­dem hast du an ihr wei­ter­ge­ar­bei­tet. Es ist eine schwe­re Ket­te.«

Scr­oo­ge schau­te auf den Bo­den her­ab in der Er­war­tung, sich von fünf­zig oder sech­zig Klaf­tern Ei­sen­ket­ten um­schlun­gen zu se­hen; aber er ge­wahr­te nichts.

»Ja­kob«, sag­te er bit­tend, »Ja­kob Mar­ley, er­zäh­le mir mehr. Sage mir einen Trost, Ja­kob.«

»Ich habe kei­nen zu ge­ben«, ant­wor­te­te der Geist. »Er kommt aus an­de­ren Sphä­ren, Ebe­ne­zer Scr­oo­ge, und wird von an­dern Bo­ten zu an­dern Men­schen ge­bracht. Auch darf ich dir nicht sa­gen, was ich dir sa­gen möch­te. Nur ein We­ni­ges mehr als das Bis­he­ri­ge ist mir zu sa­gen er­laubt. Ich kann nicht ras­ten, ich kann nicht ru­hen, ich kann nur et­was ver­si­chern. Mein Geist ging nie über un­ser Kon­tor hin­aus – merk auf – im Le­ben blieb mein Geist im­mer in den en­gen Gren­zen un­se­rer Wu­cher­höh­le; und wei­te Rei­sen lie­gen noch vor mir.«

Es war eine Ge­wohn­heit von Scr­oo­ge, wenn er nach­denk­lich wur­de, die Hand in die Ho­sen­ta­sche zu ste­cken. Nach­sin­nend über das, was der Geist sag­te, tat er es auch jetzt, aber ohne sei­ne Au­gen zu er­he­ben oder vom Stuhl auf­zu­ste­hen.

»Du mußt dir aber viel Zeit ge­nom­men ha­ben, Ja­kob«, be­merk­te er in der Art ei­nes Ge­schäfts­man­nes, wenn auch mit vie­ler De­mut und Ehr­er­bie­tung.

»Viel Zeit!« sag­te der Geist.

»Sie­ben Jah­re tot«, sann Scr­oo­ge nach. »Und die gan­ze Zeit über ge­wan­dert.«

»Die gan­ze Zeit«, sag­te der Geist. »Kein Blei­ben, kein Frie­den, nur un­auf­hör­lich die Qual der Reue.«

»Du rei­sest schnell«, sag­te Scr­oo­ge.

»Auf den Fit­ti­chen des Win­des«, sag­te der Geist.

»Da mußt du doch eine große Stre­cke in den sie­ben Jah­ren ab­sol­viert ha­ben«, sag­te Scr­oo­ge.

Als der Geist das ver­nahm, stieß er wie­der einen Schrei aus und klirr­te so grau­en­voll mit sei­ner Ket­te in dem To­des­schwei­gen der Nacht, daß ihn der Nacht­wäch­ter mit vol­lem Recht we­gen Ru­he­stö­rung hät­te an­zei­gen kön­nen.

»Oh, ge­fan­gen und ge­fes­selt, in dop­pel­tes Ei­sen ge­legt!« rief das Ge­s­penst, »nicht zu wis­sen, daß Zeit­al­ter von un­auf­hör­li­cher Mühe sterb­li­cher Ge­schöp­fe ver­ge­hen, ehe das Gute, des­sen die Erde fä­hig ist, sich ent­fal­ten kann; nicht zu wis­sen, daß ein christ­li­cher Geist, und wenn er auch in ei­nem noch so klei­nen Kreis der Lie­be wirkt, in die­sem Er­den­le­ben sich selbst be­loh­nen­de Ar­beit ge­nug fin­den kann! Aber ich ahn­te es nicht, ach, ahn­te es nicht!«

»Aber du warst doch im­mer ein gu­ter Ge­schäfts­mann, Ja­kob«, stot­ter­te Scr­oo­ge zit­ternd, der jetzt be­gann, das Schick­sal des Geis­tes auf sich selbst zu über­tra­gen.

»Ge­schäft!« rief das Ge­s­penst, sei­ne Hän­de wie­der rin­gend. »Der Mensch war mein Ge­schäft. Die all­ge­mei­ne Wohl­fahrt war mein Ge­schäft; Barm­her­zig­keit, Ver­söhn­lich­keit und Lie­be wä­ren al­les mein Ge­schäft ge­we­sen. Der Fleiß in mei­nem Ge­wer­be aber war nur ein Trop­fen Was­ser in dem wei­ten Ozean mei­nes wah­ren Ge­schäfts.«

Er hielt sei­ne Ket­te weit von sich weg, als ob dies die Ur­sa­che sei­nes hoff­nungs­lo­sen Schmer­zes ge­we­sen wäre, und warf sie wie­der dröh­nend nie­der.

»In die­ser Zeit des en­den­den Jah­res«, sag­te das Ge­s­penst, »lei­de ich am meis­ten. Wa­rum ging ich mit zur Erde ge­senk­ten Au­gen durch das Ge­drän­ge mei­ner Mit­menschen und hob mei­nen Blick nie zu dem ge­seg­ne­ten Stern em­por, der die Wei­sen zur Woh­nung der Ar­mut führ­te? Gab es nicht arme Hei­me ge­nug, wo­hin mich sein Licht hät­te füh­ren kön­nen?«

Scr­oo­ge war au­ßer sich, das Ge­s­penst so re­den zu hö­ren, und be­gann hef­tig zu zit­tern.

»Höre mich«, rief der Geist. »Mei­ne Zeit ist bei­na­he vor­über.«

»Ich will hö­ren«, sag­te Scr­oo­ge. »Aber ver­fah­re glimpf­lich mit mir! Sei nicht zu hart, Ja­kob, ich bit­te dich.«

»Wie es mög­lich ist, daß ich in ei­ner dir wahr­nehm­ba­ren Ge­stalt vor dich tre­ten kann, weiß ich nicht. So man­chen, man­chen Tag habe ich un­sicht­bar ne­ben dir ge­ses­sen.«

Das war kei­ne an­ge­neh­me Vor­stel­lung. Scr­oo­ge schau­der­te und wisch­te sich den Schweiß von der Stirn.

»Es ist kein leich­ter Teil mei­ner Buße«, fuhr der Geist fort. »Heu­te nacht kom­me ich zu dir, um dich zu war­nen, weil für dich noch eine Aus­sicht und Hoff­nung be­steht, mei­nem Schick­sal zu ent­ge­hen. Eine Aus­sicht und eine Hoff­nung, die du mir zu ver­dan­ken hast.«

»Du bist im­mer ein gu­ter Freund zu mir ge­we­sen«, sag­te Scr­oo­ge. »Ich dan­ke dir.«

»Du wirst be­sucht wer­den«, fuhr das Ge­s­penst fort, »von drei Geis­tern.« Bei die­sen Wor­ten wur­de Scr­oo­ges Blick noch län­ger als der des Ge­s­pens­tes.

»Ist das die Mög­lich­keit und die Hoff­nung, die du er­wähnt hast, Ja­kob?« frag­te er mit be­ben­der Stim­me.

»Ja.«

»Ich – ich soll­te mei­nen, das wäre aber ge­ra­de kei­ne Hoff­nung«, sag­te Scr­oo­ge.

»Ohne ihr Kom­men«, ent­geg­ne­te der Geist, »kannst du nicht hof­fen, den Pfad zu ver­mei­den, den ich durch­wan­dern muß. Er­war­te den ers­ten am Mor­gen, wenn die Glo­cke eins schlägt.«

»Könn­te ich sie nicht alle auf ein­mal über mich er­ge­hen las­sen?« frag­te Scr­oo­ge.

»Er­war­te den zwei­ten in der nächs­ten Nacht um die­sel­be Stun­de. Den drit­ten in der fol­gen­den Nacht, wenn der letz­te Schlag zwölf ver­k­lun­gen ist. Sieh mich an, denn du er­blickst mich nicht wie­der; und sieh mich an, daß du dich um dei­ner Ret­tung wil­len an das er­in­nerst, was zwi­schen uns ge­sche­hen ist.«

Als es die­se Wor­te ge­spro­chen hat­te, hob sich das Ge­s­penst das Tuch vom Tisch und band es sich wie­der um den Kopf. Scr­oo­ge be­merk­te dies durch das Knir­schen der Zäh­ne, als die Kie­fern zu­sam­men­klapp­ten. Er wag­te es, die Au­gen auf­zu­he­ben, und sah sei­nen über­na­tür­li­chen Be­such vor sich ste­hen, die Au­gen noch starr auf ihn ge­hef­tet, und die Ket­te um den Leib und den Arm ge­wun­den.

Die Er­schei­nung ent­fern­te sich rück­wärts­schrei­tend; und bei je­dem Schritt öff­ne­te sich das Fens­ter ein we­nig, so daß es weit of­fen stand, als das Ge­s­penst bei ihm an­kam. Es wink­te Scr­oo­ge, nä­her­zu­kom­men, was die­ser be­folg­te. Als sie noch zwei Schrit­te von­ein­an­der ent­fernt wa­ren, hob Mar­leys Geist die Hand em­por und be­deu­te­te ihm, daß er nicht nä­her­kom­me. Scr­oo­ge stand still.

Er tat dies min­der aus Ge­hor­sam als aus Über­ra­schung und Furcht; denn als sich die ge­spens­ti­sche Hand er­hob, hör­te er wir­re Klän­ge durch die Luft schwir­ren und zu­sam­men­hang­lo­se Töne des Kla­gens und des Schmer­zes un­sag­bar und reu­ig. Das Ge­s­penst horch­te ih­nen eine Wei­le zu und stimm­te dar­auf in das Kla­ge­lied ein. Dann schweb­te es in die dunkle Nacht hin­aus.

Scr­oo­ge trat an das Fens­ter, von Neu­gier­de bis zur Verzweif­lung ge­trie­ben. Er blick­te hin­aus.

Die Luft war mit Sche­men an­ge­füllt, die in ru­he­lo­ser Hast kla­gend hin und wi­der schweb­ten. Je­der trug eine Ket­te, wie Mar­leys Geist. Ei­ni­ge wa­ren zu­sam­men­ge­schmie­det (wahr­schein­lich schul­di­ge Mi­nis­ter), kei­nes war ganz ohne Fes­seln. Vie­le wa­ren Scr­oo­ge wäh­rend ih­res Le­bens be­kannt ge­we­sen. Ganz ge­nau hat­te er ein al­tes Ge­s­penst in ei­ner wei­ßen Wes­te ge­kannt, das einen un­ge­heu­ren ei­ser­nen Geld­kas­ten hin­ter sich her­schlepp­te und jäm­mer­lich schrie, weil er ei­nem ar­men, al­ten Wei­be mit ei­nem Kin­de nicht hel­fen konn­te, das un­ten auf ei­ner Tür­schwel­le kau­er­te. Man sah es deut­lich, ihre Pein be­stand dar­in, sich um­sonst da­nach zu seh­nen, mensch­li­che Not zu lin­dern, und die Macht dazu für im­mer ver­lo­ren zu ha­ben.

Ob die­se Ge­schöp­fe in dem Ne­bel zer­gin­gen oder ob der Ne­bel sie ver­hüll­te, konn­te Scr­oo­ge nicht sa­gen. Aber sie und ihre Geis­ter­stim­men ver­gin­gen zu glei­cher Zeit, und die Nacht wur­de wie­der so, wie sie war, als er nach Hau­se ging.

Scr­oo­ge schloß das Fens­ter und prüf­te die Tür, durch die das Ge­s­penst her­ein­ge­kom­men war. Sie war noch ver­schlos­sen und ver­rie­gelt wie vor­her. Er ver­such­te zu sa­gen: Un­sinn, stock­te aber bei der ers­ten Sil­be. Da er von der Er­re­gung oder von den An­stren­gun­gen des Ta­ges oder von sei­ner Schau in die un­sicht­ba­re Welt oder der be­drücken­den Un­ter­hal­tung mit dem Ge­s­penst oder der spä­ten Stun­de sehr er­schöpft war, ging er so­gleich zu Bett, ohne sich aus­zu­zie­hen, und sank bald in Schlaf.


  1. An­spie­lung auf Sha­ke­s­pea­res »Ham­let«, wo Ham­lets Va­ter als Geist in den ers­ten Sze­nen er­scheint und den Sohn bit­tet, sei­nen Mord zu rä­chen.  <<<

  2. Man­si­on-Hou­se, Be­zeich­nung für das Amts­ge­bäu­de des Ober­bür­ger­meis­ters.  <<<

  3. Der klei­ne Duns­tan (sprich Danns­ten), Erz­bi­schof von Can­ter­bu­ry (925 – 988), be­rühmt als Ge­lehr­ter und Klos­ter­re­for­ma­tor im Sin­ne der Be­ne­dik­ti­ner.  <<<

Zweites Kapitel – Der erste der drei Geister

Als Scr­oo­ge er­wach­te, war es so fins­ter, daß er kaum das das Au­ßen­licht hin­durch­las­sen­de Fens­ter von den Wän­den sei­nes Zim­mers un­ter­schei­den konn­te. Er be­müh­te sich, die Fins­ter­nis mit sei­nen Luchsau­gen zu durch­drin­gen, als die Glo­cke ei­nes Tur­mes in der Nach­bar­schaft zu läu­ten be­gann. Er horch­te auf die Zeit der Stun­de. Zu sei­nem großen Er­stau­nen ging der Schlag der Glo­cke von sechs zu sie­ben, und von sie­ben zu acht und so wei­ter bis zwölf; dann stopp­te sie.

Zwölf! Es war nach zwei Uhr ge­we­sen, als er sich zu Bett ge­legt hat­te. Die Uhr ging wohl falsch. Ein Eis­zap­fen muß­te in das Werk ge­ra­ten sein. Zwölf!

Er drück­te auf die Fe­der sei­ner Re­pe­tier­uhr, um die irre Glo­cke in Ord­nung zu brin­gen. Ihr klei­ner schnel­ler Puls schlug zwölf und schwieg.

»Was! es ist doch nicht mög­lich«, sag­te Scr­oo­ge, »daß ich den gan­zen Tag und bis in die an­de­re Nacht ge­schla­fen ha­ben soll­te? Es ist doch nicht mög­lich, daß der Son­ne et­was zu­ge­sto­ßen ist und daß es mit­tags zwölf Uhr ist.«

Die Vor­stel­lung alar­mier­te ihn. Er stieg aus dem Bett und tapp­te ans Fens­ter. Er muß­te das Eis erst weg­scha­ben und das Fens­ter mit dem Är­mel sei­nes Schlafrockes ab­wi­schen, ehe er et­was se­hen konn­te. Aber auch da­nach konn­te er nur we­nig se­hen. Al­les, was er wahr­neh­men konn­te, war, daß es noch sehr neb­lig und sehr kalt war, und daß man nicht das Lär­men hin und her ei­len­der Leu­te hör­te, das doch ge­wiß vor­han­den ge­we­sen wäre, wenn die Nacht den lich­ten Tag ver­trie­ben und die Welt be­schlag­nahmt hät­te. Das war ein großer Trost, weil »drei Tage nach Sicht be­glei­chen Sie die­sen Pri­ma­wech­sel an Mr. Ebe­ne­zer Scr­oo­ge oder des­sen Or­der usw.« le­dig­lich Ve­rei­nig­te Staa­ten-Si­cher­heit ge­we­sen wäre, wenn kei­ne Tage mehr zu zäh­len wa­ren.1

Scr­oo­ge leg­te sich wie­der nie­der und dach­te nach, konn­te aber zu kei­nem Re­sul­tat kom­men. Je mehr er nach­dach­te, de­sto wir­rer wur­de er; und je mehr er sich be­streb­te, nicht nach­zu­den­ken, de­sto mehr dach­te er nach. Mar­leys Geist be­un­ru­hig­te ihn viel. Je­des­mal, wenn er nach reif­li­cher Über­le­gung zu der fes­ten Über­zeu­gung ge­langt war, daß al­les nur ein Traum ge­we­sen, schnell­te sein Geist wie eine star­ke vom Druck be­frei­te Fe­der wie­der in die alte Lage zu­rück und wie­der­hol­te ihm die Fra­ge, die er schon zehn­mal durch­grü­belt hat­te: War es ein Traum oder nicht?

Scr­oo­ge lag in die­sem Zu­stan­de, bis es drei Vier­tel schlug. Da be­sann er sich plötz­lich, daß der Geist ihm eine Er­schei­nung mit Schlag eins ver­spro­chen hat­te. So nahm er sich vor, wach­zu­blei­ben, bis die Stun­de vor­über sei; und wenn man be­denkt, daß er eben­so­we­nig ein­schla­fen wie in den Him­mel ein­ge­hen konn­te, war dies wahr­schein­lich der klügs­te Ent­schluß, den er zu fas­sen ver­moch­te.

Die Vier­tel­stun­de war so lang, daß es ihm mehr als ein­mal dünk­te, er müß­te un­ver­se­hens in Schlaf ge­sun­ken sein und die Uhr über­hört ha­ben. Schließ­lich ver­nahm sein lau­schen­des Ohr die Glo­cke.

»Ding, dong!«

»Ein Vier­tel«, sag­te Scr­oo­ge zäh­lend.

»Ding, dong!«

»Halb«, sag­te Scr­oo­ge.

»Ding, dong!«

»Drei Vier­tel«, sag­te Scr­oo­ge,

»Ding, dong!«

»Voll!« rief Scr­oo­ge freu­dig, »und nichts wei­ter!«

Er sprach’s, be­vor die Stun­den­glo­cke schlug, was sie jetzt mit ei­nem tie­fen, dunklen, hoh­len, me­lan­cho­li­schen Eins tat.

Licht er­goß sich au­gen­blick­lich in den Raum, und die Vor­hän­ge sei­nes Bet­tes wur­den auf­ge­zo­gen.

Die Vor­hän­ge sei­nes Bet­tes wur­den, ich sage es euch, von ei­ner Hand fort­ge­zo­gen, nicht die Vor­hän­ge vor sei­nen Fü­ßen, nicht die Vor­hän­ge hin­ter sei­nem Rücken, son­dern die Vor­hän­ge, nach de­nen sich sein Ge­sicht wand­te, wur­den fort­ge­zo­gen; und Scr­oo­ge blick­te, sich zu ei­ner halb lie­gen­den Stel­lung auf­rich­tend, dem un­ir­di­schen Be­su­cher, der sie ge­öff­net hat­te, ins Ant­litz. So dicht stand er ihm ge­gen­über, wie ich jetzt im Geis­te ne­ben euch ste­he.

Es war eine merk­wür­di­ge Ge­stalt, gleich ei­nem Kin­de; aber doch ei­gent­lich nicht gleich ei­nem Kin­de, son­dern eher wie ein al­ter Mann, der durch ein wun­der­ba­res Me­di­um ge­se­hen ward, und so zu den Grö­ßen­ver­hält­nis­sen ei­nes Kin­des ver­min­dert war. Sein Haar, das in lan­gen Lo­cken über sei­ne Schul­tern wall­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­