Frank Bresching
Der Ruf der Eule
Thriller
BOOKSPOT VERLAG
Für meine Frau Sandra, die mir ihr Vertrauen schenkte und mich bei den ersten Schritten dieser Geschichte begleitete
Ein weiteres Dankeschön geht an Anja für ihre Ratschläge und ihr ehrliches Interesse
Er war ein besonderer Mensch. Durch seine stoische Ruhe, seine ausgeprägte Gelassenheit widersprach er der alltäglichen Hektik meiner Eltern, die im stetigen Kampf ihrer Selbstständigkeit unsere Existenz sichern mussten. Ich sehe meinen Opa Georg noch heute vor mir, und das nach all dem, was geschehen ist. Ich nehme ihn nicht nur schemenhaft wahr, ich erkenne mehr als nur seine Umrisse und seine Gesten, ich sehe ihn klar. Das ist der richtige Begriff, ›klar‹.
Opa wohnte in der kleinen Souterrain-Wohnung in unserem Haus. Wenn ich mich heute erinnere, spiegelt sich das Bild vor mir wider, wie er in seinem kleinen Vorgarten auf der modrigen Holzbank sitzt; seine knochige Hand umfasst den selbst geschnitzten Gehstock, der für seinen Gebrauch eigentlich viel zu dünn geraten war. Aber er ließ Opa nie im Stich. Während er mich aus glasblauen Augen ansieht, streicht er eine graue Strähne aus seinem von tiefen Falten zerfurchten Gesicht, das von einem harten und langen Leben zeugt, aber auch wenn es ein hartes Leben war, mir erzählte er nur von den schönen Seiten. Von Oma, die er sehr geliebt und die der Herr viel zu früh geholt hatte, und von der kleinen Schreinerei, die Opa aus der Not der Nachkriegszeit heraus gegründet hatte und die im Laufe der Zeit immer ertragreicher wurde und ihm, Oma und meinem Vater das gute Brot auf dem Tisch garantierte, wie er es gerne ausdrückte. Opa hatte bis zuletzt den Geruch gehobelten Holzes in der Nase, ein feiner Geruch, ehrlich und unverbraucht. Oft erzählte er mir auch von den vielen Ländern, die er während des Krieges kennen gelernt hatte. Er nahm mich auf seinen Schoß und erklärte mir die grundsätzlichen Eigenschaften der Menschen, die in diesen Ländern lebten. Von den schrecklichen Erinnerungen an den Krieg erzählte er nie, diese hatte er in den Kammern seines Gedächtnisses verschlossen, den Schlüssel dazu hatte er offensichtlich weggeworfen. Wenn ich ihn nach eben diesen Schattenseiten fragte, zogen sich seine Mundwinkel nach unten, er presste die feinen Lippen aufeinander, bis sie fast weiß wurden, und verharrte etliche Sekunden reglos. Bis er seine Stimme wieder fand dauerte es einige Momente, aber er ignorierte einfach meine Frage und erzählte aus seiner Erlebniswelt, und in der fanden die Schattenseiten kaum Platz.
Das Foto zeigte meinen Vater. Opa hielt es zwischen seinem Zeigefinger und dem Daumen und lächelte. Vater als kleiner Junge vor der Werkstatt, das nächste Bild zeigte Vater mit einem zerfledderten Lederball, dann Vater als Baby in einer Wiege mit einem gewölbten Himmelszelt, davor Oma, kniend und mit einem Gesicht, das eine tiefe Zuneigung ausdrückte. Jetzt war ich es, der lächelte, weil ich meinen Vater so sah; ich kannte ihn eben anders, hoch gewachsen und vom regelmäßigen Fußballtraining durchtrainiert.
»Na, Alexander, woran denkst du?« Opa blickte mich wissend an, seine Augenbrauen zogen sich zu einem feinen Strich zusammen, während er sich sanft zurücklehnte.
Es war ein kalter Novembertag, vor den Sprossenfenstern tanzten Schneeflocken zu Boden und breiteten einen wunderbaren weißen Teppich aus, unsere Wiese war fast völlig verschwunden, nur ein paar Grashalme lugten noch hervor. Während ich hinausblickte, dachte ich über die Antwort nach.
»An Papa«, sagte ich schließlich.
»Es ist seltsam, seinen Papa als Kind zu sehen, ich verstehe«, sagte Opa schmunzelnd. Manchmal war es richtig unheimlich, wie nahe Opa meinen Gedanken kam, als würde er mitten in meinem Kopf sitzen und sie darin ablesen.
»Du bist ihm sehr ähnlich, Alexander«, fügte er hinzu. »Sehr ähnlich sogar.«
»Sagt Mama auch immer«, sagte ich mit unverhohlenem Stolz in der Stimme. »Ich werde bestimmt auch einmal ein Schreiner, wie er und wie du, Opa.« Ich wandte mich wieder der hölzernen Eisenbahn zu, die vor mir aufgebaut auf dem Parkettboden stand, und schob die Güterwagen in den kleinen Bahnhof. Vater hatte mir die Bahn zu einem meiner Geburtstage geschenkt. Selbst gemachte hölzerne Geschenke gehörten zu meinen Geburtstagen wie Kuchen, Kerzen und die Feier mit meinen Freunden aus dem Kindergarten. Erst das Rufen der Eule lenkte meine Aufmerksamkeit ab, es war die Eule aus Opas hellbrauner Uhr, die auf dem breiten Kaminsims stand.
»Muss ich schon hoch?« fragte ich enttäuscht.
»Noch eine halbe Stunde«, antwortete Opa.
Ich beobachtete die Eule, wie sie nach dem sechsten Rufen ihren Schnabel hielt und hinter einer runden Tür verschwand.
»Komm, Alexander, setz dich zu mir«. Opa machte eine einladende Geste, und mit einem Satz sprang ich auf seinen Schoß, dabei legte ich meinen Kopf an seine Brust, aber vorsichtig, ganz vorsichtig. Ich wusste um die vernarbte Wunde unterhalb seiner rechten Schulter. Ein wahrhaft schlechtes Andenken, sagte er immer. Aber mit schlechten Andenken ist es wie mit schlechten Erinnerungen, nur durch sie begreifen wir, dass wir die guten Momente im Leben auskosten müssen. Das sagte jedenfalls Opa immer. Er räusperte sich leise, und seine Stimme bekam einen verschwörerischen Klang. »Sie fliegen zu ganz unterschiedlichen Zeiten. Manche werden erst mit dem Einbruch der Dämmerung aktiv, andere sind schon früher unterwegs. Sie sind die Jäger der Nacht, majestätisch in ihrem lautlosen Flug, zielstrebig bei der Suche nach Nahrung, und sie leben ungestört, ohne natürliche Feinde. Weißt du noch, wie viele Zehen sie an jedem Fuß haben, Alexander?«
Opa redete von Eulen, von seinen Eulen.
»Ja, das weiß ich noch.«
»Wie viele sind es?«
»Vier, vier Zehen an jedem Fuß. Eine Zehe weniger als bei mir.« Ich klang triumphierend.
»Genau, Alexander, ganz genau. Die vierte Zehe ist eine Wendezehe. Die Eule kann sie nach vorn und nach hinten drehen, das hilft ihr sehr bei der Jagd.«
»Wenn Mama jetzt hier wäre, würde sie wieder sagen, dass du einen gewaltigen Tick hast«, sagte ich verräterisch, fast ein wenig arglistig.
Opa schmunzelte. »Da hat sie wohl auch Recht, sieh dich doch um.« Er breitete seine Arme aus und zeigte damit auf all seine Eulen. Eulen als Untersetzer, Eulen-Figuren auf den Fensterbänken, Tischdecken mit Eulen verziert, überall waren sie, überall, sogar an Opas Schlüsselanhänger baumelte eine Eule.
»Sie bedeuten dir sehr viel, nicht wahr?«
»Oh ja, Alexander, sehr viel, du hast Recht.«
»Aber wieso?«
Opa legte die Stirn in Falten und zögerte. Unsere Blicke trafen sich, und ich fühlte seine Wärme, seine Liebe zu mir, er blinzelte mir zu. »Eine Geschichte aus dem Krieg, als ich in Russland war. Vielleicht werde ich sie dir eines Tages erzählen, aber nur vielleicht. Heute jedenfalls nicht.«
Mit neun Jahren erlebte ich diesen einen Augenblick. Er brannte sich tief in meine Seele ein und wurde für mich zu einem Symbol eines schier unerträglichen Verlustes. Ich war einfach nicht darauf vorbereitet, ich konnte das ›Warum‹ nicht begreifen. Dinge geschehen, Dinge ändern sich. Menschen treten in unser Leben ein, Menschen treten aus unserem Leben wieder heraus. Der Alltag hüllt uns ein, erleichtert unsere Entwicklung in verschiedenen Richtungen, erleichtert uns die Akzeptanz des Wandels, dem wir stets unterworfen sind, und dennoch versuchen wir sie in jenen Zeiten des Glücks zu finden, die uns Ruhe bringende Konstanz. Und dann gibt es Zeiten, in denen möchten wir Veränderungen herbeiführen, wir möchten sie ganz allein beeinflussen, aber beides gelingt uns kaum. Wir müssen uns den Abhängigkeiten und Regeln des Lebens unterwerfen, und dazu zählt auch die drastischste Veränderung des Lebens: der Tod.
Geboren aus der Gewohnheit öffnete ich an diesem Sonntagmorgen die Wohnungstür, um nach unten zu Opa zu gehen. Meine Eltern waren bereits auf und saßen noch am Frühstückstisch, während ich mit einer Tasche voller Legosteine bepackt die Treppenstufen hinunter sprang. Ich freute mich bereits auf den Duft von Kaffee und aufgebackenen Brötchen. In Opas Wohnungstür steckte wie immer der Schlüssel von außen, und behutsam drehte ich ihn um. Aber als ich eintrat, empfing mich nicht die übliche wohlige Wärme, nein, es stürzte sich sogleich dieses unheilvolle Gefühl auf mich, wie ein Raubtier, das in der dunkelsten Ecke auf mich gewartet hatte. Ich blieb stehen und sah mich um. Vor dem halboffenen Küchenfenster schaukelten die gelben Gardinen; ein kalter Luftzug streifte mich, ich fror. Kein Duft nach Kaffee, kein Opa am Küchentisch sitzend, der mir zulächelte und auf den Stuhl neben sich wies. Ich blickte zum Ende des Flurs, wo sich sein Schlafzimmer befand, und wie von Fäden gezogen bewegte ich mich darauf zu. Am liebsten wäre ich weggelaufen, aber ein innerer Zwang stieß mich weiter, meine Hand drückte die Türklinke hinunter.
»Opa«, flüsterte ich leise. »Opa, ich bin es, Alexander. Opa…«
Ich erhielt keine Antwort und öffnete die Tür. Hier drinnen war es noch kälter, aber es schien, als würde diese Kälte von mir selbst ausströmen, und zwar von innen nach außen. Meine Glieder verkrampften sich, und die Tasche voller Legosteine wurde unendlich schwer.
Opa lag auf dem Bett, die Decke war bis zu seiner Brust hochgezogen, die Arme hingen schlaff nach unten. Er lag ganz ruhig da, reglos. Sein Gesicht war grau, es war ein unnatürliches Grau, es jagte mir einen Schauer über den Rücken. Seine Augen waren nur halb geschlossen, aber er blickte ins Leere, als träumte er. Was mich jedoch vollkommen irritierte war seine Nase, sie schien über Nacht viel schmaler, spitzer geworden zu sein.
»Opa Georg, bitte wach auf. Ich bin es doch. Opa Georg, wir müssen doch frühstücken.«
Tief in mir drin wusste ich es, ich wusste, er würde nie wieder aufstehen, wir würden nie wieder gemeinsam frühstücken, tief in mir drin wucherte dieses verdammte Wissen, dass ich Opa verloren hatte. Ich lief auf ihn zu und nahm seine Wangen zwischen meine Hände. Er war kühl, so furchtbar kühl, sein Mund war leicht geöffnet, als wollte er etwas sagen, ein paar letzte Worte, ein leiser Abschied, ein Gruß, aber er blieb stumm.
Jetzt schrie ich. »Wach auf, wach auf, wach auf. Opa, wach endlich auf. Oh nein, bitte, bitte…« Ich schüttelte ihn, ja, ich schlug ihn sogar auf die Brust. »Opa, Opa. Bitte sprich mit mir. Opa!«
Er war allein gestorben, niemand war bei ihm gewesen, als es geschah, niemand, der seine Hand hielt, dem er noch etwas mitteilen konnte. Es war ein leiser Tod, wie Mutter sagte. Ein Tod, der sich angeschlichen und ihn mir einfach weggenommen hatte. Der Arzt, der den Totenschein ausstellte, drückte es nüchterner aus: sein Herz habe einfach aufgehört zu schlagen, er habe schon immer ein schwaches Herz gehabt.
Papa weinte, er wollte es vor mir unterdrücken, aber damit scheiterte er, und ich war dankbar, dass er scheiterte; ich wollte mit ihm weinen, mit ihm trauern. Papa nahm mich in den Arm und presste mich fest an sich, sein Brustkorb dehnte sich aus, er schluckte schwer, und die Tränen zeichneten sich feucht auf seinen Wangen ab.
»Kommt er nie wieder?« fragte ich, obwohl ich die Antwort kannte.
Papa konnte nichts erwidern, er schüttelte lediglich den Kopf.
Die Beerdigung war nur vier Tage später, eine kurze Zeitspanne, um sich zu verabschieden. Das Loch, in das sie den Sarg abließen, war tief und dunkel, kalt und feucht. Nichts schien mehr von Opas Wärme übrig geblieben zu sein. Ich stand neben meinem Vater am Grab und drückte seine Hand ganz fest. Ich wollte tapfer sein. Es kamen viele Leute aus Wieblingen, unserem Stadtteil in Heidelberg. Bekannte Gesichter, unbekannte Gesichter, alle hatten eines gemeinsam: diese verkrampften Züge, die aussahen, als hätten sie noch nie ein Lächeln oder Lachen zustande gebracht.
Die Trauerfeier fand in einem nahe gelegenen Restaurant statt. Viele Gesichter wirkten hier schon gelöster, die Anspannung war uns zwar vom Friedhof hierher gefolgt, aber sie hatte nun doch schon einiges von ihrer Kraft eingebüßt. Nur ich war allein. Meine Eltern hatten kaum Zeit für mich. Hände wurden geschüttelt, tröstende Worte getauscht, Schulterklopfen und Blicke von Mutter in meine Richtung, blinzelnd, aufbauend, mitleidig. Ich fühlte mich verloren, in der hintersten Ecke des Restaurants abgestellt, meiner Trauer ausgesetzt.
»Du musst Alexander sein«, sagte plötzlich eine Stimme hinter mir. Es war eine angenehme Stimme. Ich drehte mich um. Der Mann saß kerzengerade auf einem Stuhl. Er hatte etwas an sich, das mir Vertrauen einflößte: graue Haare, an einigen Stellen schon sehr licht, ein dunkler Anzug, Fliege und bedächtige Gesten. Er war etwas jünger als Opa. Ich nickte einfach nur.
»Dein Opa war ein feiner Kerl, Alexander, ein ganz feiner Kerl.« Er legte die Hände ineinander und beugte sich vor. »Er hat mir oft von dir erzählt, Alexander. Er liebte dich sehr.« Ich nickte abermals. Der Mann redete weiter. »Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt: mein Name ist Leon Hintze, ich war mit deinem Opa befreundet, sehr eng befreundet sogar.«
»Opa hat mir nie von Ihnen erzählt«, sagte ich verlegen.
»Wie ich ihn einschätze, hat er auch nie vom Krieg erzählt, richtig?«
»Hat er nicht.«
»Georg Freisig, dein Opa, war ein Held, er hat vielen Menschen das Leben gerettet, damals im Krieg. Ohne ihn wäre ich heute nicht hier, ohne ihn hätte ich keine Familie gegründet, mein Stammbaum wäre ausgelöscht.« Leon Hintze beugte sich weiter nach vorne. »Auch davon weißt du nichts, nicht wahr?«
Ich schüttelte den Kopf. Der alte Mann machte mich neugierig, vielleicht würde er mir die Geschichten erzählen, die Opa mir immer vorenthalten hatte, aber ich wurde enttäuscht.
»Ich will dich nicht lange mit meinem Gesülze aufhalten, deine Mutter schaut schon eine ganze Weile herüber.« Hintze ballte die rechte Hand zur Faust, mit der Linken ergriff er meine Hand und steckte mir einen Zettel zu, den er in seiner Faust versteckt hatte. »Solltest du einmal in Not geraten, solltest du einmal Hilfe brauchen, dann denke an den alten Hintze und rufe ihn an, das bin ich deinem Opa schuldig.« Ich schaute ihn an und versuchte zu ergründen, ob seine Worte so ernst gemeint waren, wie sie klangen; und ich verlor meine Zweifel. Er stand abrupt auf und ging zum Ausgang, aber dann schien er es sich doch noch einmal zu überlegen, er zögerte, drehte sich um und hob schließlich die Hand an die Stirn. Es wirkte, als würde er sich mit einem militärischen Gruß von mir verabschieden.
»Wer war das?«, hörte ich Mutter neben mir. Auf ihrer Stirn erschienen Falten, ein Ausdruck von Sorge.
»Ein alter Freund von Opa.« Ich steckte den Zettel mit Leon Hintzes Telefonnummer in meine Hosentasche.
Einige Tage nach der Trauerfeier wurde Opas Wohnung geräumt. Mutter war dabei die treibende Kraft, denn sie war der Ansicht, dass es für uns alle schwieriger wäre loszulassen, wenn wir uns nicht von Opas Sachen trennten. Vater murrte zunächst, schließlich stimmte er jedoch zu, allerdings half er nicht beim Aussortieren, er konnte und wollte es nicht; es waren Freunde und Bekannte, die mit anpackten. Einige Möbelstücke wurden verkauft, andere an einen Wohlfahrtsverband verschenkt. Vater überließ es auch Mutter, die Kartons mit den Erinnerungsstücken zusammenzustellen; Bilderalben, Schmuckstücke, Dokumente und andere ausgesuchte Gegenstände. Die Kartons wurden in unseren Kellerraum gebracht, dort blieben sie stehen, ich selbst legte noch einen Zettel in den größten Karton; einen Zettel mit einer Telefonnummer darauf.
An diesem Tag verschwanden auch Opas Eulen aus meinem Leben, ich dachte, es sei für immer, aber ich täuschte mich.
Mit dem Tod unmittelbar konfrontiert wie an dem Tag, an dem ich Opa leblos im Bett liegend fand, sollte ich erst wieder viele Jahre später werden, an einem anderen Ort, in einem anderen Land, und zwar in England. Es begann mit einem Aushang am schwarzen Brett in unserer Schule, der einen Schüleraustausch mit unserer Partnerstadt Cambridge ankündigte.
»Sollen wir?« Die Stimme hinter mir gehörte Dominik Morilian. Dominik war die Art Junge, die mit einer Leichtigkeit durchs Leben gehen, die gleichermaßen Bewunderung sowie Neid mit sich bringt. Seine Bestnoten in den meisten Fächern, seine Stürmerqualitäten in unserer Fußballmannschaft und, was das Wichtigste war, seine Erfolge bei den Mädchen unserer Schule waren fast schon legendär. Ich zählte weder zu seinen Bewunderern noch zu seinen Neidern, ich kannte ihn dafür viel zu gut, ich kannte seine Schwächen und seine Stärken, denn Dominik war mein bester Freund.
»Das muss ich mit meinen Eltern absprechen«, sagte ich. »Aber reizen würde es mich schon.« Das tat es wirklich. Bislang war ich erst einmal eine Woche von meinen Eltern getrennt gewesen, der Grund war eine sechstägige Klassenfahrt nach München. Ich war mittlerweile sechzehn, kurz vor meinem siebzehnten Geburtstag und fühlte mich von meinen Eltern, insbesondere von meiner Mutter, viel zu behütet. Dominik sah es ähnlich und mit dieser Meinung hielt er auch nicht zurück, im Gegenteil, er ließ es mich bei passenden Gelegenheiten spüren, stach damit kleine Wunden in meine Seite, er schaffte es allerdings auf eine Art, die nicht zu demütigend war, aber mich dennoch ein wenig verletzte.
»Es geht zuerst nach Cambridge, zwei Wochen lang in einer zugewiesenen Familie, und dann bekommst du Besuch von einem Insulaner.« Dominik lächelte verschmitzt. »Die Engländerinnen sollen ja alles andere als prüde sein…«
»Wie gesagt, ich muss es mit meinen Eltern absprechen«, wiederholte ich mit dem Wissen, dass Dominik keine großen Absprachen benötigte. Er wohnte im Norden Wieblingens in einem vornehmen Viertel am Stadtrand, sein Vater war ein über die Grenzen Heidelbergs hinaus bekannter Architekt, der nur selten zu Hause war. Seine Mutter war vor vielen Jahren aus dem idyllischen Heim ausgebrochen und mit irgendeinem Musiker davongezogen. Dominik hatte früh gelernt, eigene Wege zu gehen, unterstützt von einer älteren Haushälterin, die ihm zumindest einige erzieherische Grundregeln beibrachte.
»Okay, Alex, bevor ich mich anmelde, warte ich noch auf deine Antwort. Aber sieh zu, dass du es nicht auf die lange Bank schiebst.« Dominik klopfte mir auf die Schultern, ich schaute ihn an und erkannte, dass es für ihn schon eine beschlossene Sache war. »Und sieh zu, dass du es auf die Reihe kriegst.«
Im Schulbus nach Hause suchte ich nach den richtigen Worten. Meine Eltern gewährten mir zwar auch meine Freiheiten, vor allem deshalb, weil ich es mit guten Noten bis in die zehnte Klasse des Gymnasiums geschafft hatte, aber ich kannte ihre Bedenken. Zwei Wochen lang mussten wir einen fremden Jungen aufnehmen, ohne dass sie selbst viel Zeit für seine Betreuung aufbringen konnten. Das Geschäft nahm sie einfach zu sehr in Anspruch, Mutter hatte aufgrund der Auftragslage die kompletten Bürotätigkeiten übernehmen müssen. Ich legte mir bereits meine Argumente zurecht, spielte sie durch, versuchte mögliche Gegenargumente abzuschwächen. Ich wollte es einfach, wollte es mir selbst beweisen.
»Es würde meinen Kenntnissen in Englisch zugute kommen«, sagte ich und blickte in die zweifelnden Gesichter meiner Eltern. Zweifelnd deshalb, weil ich in Englisch ein richtiges Ass war, dennoch zog ich dieses Argument wie einen Trumpf aus dem Ärmel; dabei hatte ich mich für ein Gespräch während des Abendessens entschieden.
Vater nahm einen Schluck aus seinem Bierglas und sah Mutter an, als wollte er ihre Meinung aus ihrem Blick ablesen, dann zuckte er mit einer gespielten Großzügigkeit die Achseln. »Okay, Junge, aber wenn der Besuch kommt, musst du dich um ihn kümmern, ist das klar? Wir haben dieses Jahr wirklich alle Hände voll zu tun, und das ist auch gut so, das verstehst du doch, oder?«
»Klar, ich werde gleich Dominik anrufen und ihm Bescheid sagen«, sagte ich freudig und sprang vom Stuhl hoch.
Als ich zum Telefon in die Diele lief, hörte ich Mutter und Vater noch leise über den Schüleraustausch diskutieren, aber die Entscheidung war bereits gefallen. In sechs Wochen würde ich nach England reisen, für mich, der noch nie länger als eine Woche ohne seine Eltern unterwegs gewesen war, hörte es sich wahnsinnig aufregend an.
Vier Wochen nach Abgabe der Anmeldung im Sekretariat teilte unser Englischlehrer Herr Volkerts die zugewiesenen Familiennamen und die Adressen aus. Familie Taylor, Marc, Kathryn und Patricia Taylor. Marc war mein englischer Austauschschüler, aber ein Name fehlte. Der Name des Familienvaters.
Die Tür öffnete sich, ohne dass jemand hereinkam. Ich sah es. Nur ich. Es war verrückt. Zunächst dachte ich, ich bildete es mir nur ein. Ich saß neben Marc und seiner Mutter Kathryn im Esszimmer und nahm mir gerade ein zweites Sandwich, als ich es bemerkte. Die Tür zur Diele war fest verschlossen gewesen, davon war ich überzeugt, und nun öffnete sie sich, und für einen winzigen Moment glaubte ich sogar zu sehen, wie sich die Klinke nach unten bewegte. Ich rieb mir die Augen, mir wurde fast schwindlig, ich hörte mein Blut in den Adern rauschen.
»Alles in Ordnung, Alex?«, fragte Kathryn und zog die Augenbrauen nach oben. Sie und Marc hatten die Tür im Rücken, sie konnten es also nicht gesehen haben, aber ich, ich hatte es gesehen. Oh Mann, vielleicht war es nur ein Windzug gewesen. Ich hatte einen anstrengenden Tag hinter mir, vielleicht spielten mir meine Sinne einen irren Streich.
Die Tür kam zum Stillstand.
Ich klappte den Mund auf, aber ich war zunächst nicht in der Lage, etwas zu antworten.
»Alex, was ist los? Ist etwas mit dem Sandwich nicht in Ordnung?« Jetzt war es Marc, der sich nach vorne beugte.
Gott, ich musste mich zusammenreißen, ich verbrachte den ersten Abend bei meiner Gastgeberfamilie und benahm mich mehr als nur merkwürdig.
Instinktiv beschloss ich, die Tür nicht zu erwähnen, denn sie war nicht erwähnenswert. Türen öffnen sich schon einmal von selbst, dafür gab es sicherlich eine so simple Erklärung wie einen Durchzug.
»Die Sandwichs sind wunderbar, aber wenn ich ehrlich bin, dann bin ich sehr erschöpft«, sagte ich.
Kathryn nickte wissend. »Das glaube ich dir, lange Reisen ermüden einen schnell.« Sie stand auf.
»Komm, ich zeige dir dein Zimmer.« Sie ging zur Treppe, die sich in den ersten Stock erstreckte.
»Gute Nacht, Marc«, sagte ich.
»Schlaf gut, Alex.«
Ich folgte Kathryn die Steintreppe nach oben, dort breitete sich ein langer Korridor vor uns aus, dem apricotfarben gestrichene Wände einen freundlichen Eindruck verliehen. Mein Zimmer lag am Ende des Flurs; Kathryn führte mich hinein.
»Ich hoffe, es gefällt dir«, sagte sie mit einladender Geste.
Ich war überrascht, es war ein großzügiger, heller Raum mit breiten Fenstern, durch die das Licht der Straßenlaterne direkt auf ein Bild von Monet fiel. Ein dreitüriger Kleiderschrank aus lackiertem Holz war neben einem Waschbecken aufgebaut, darüber hing ein eiförmiger Spiegel, alles war peinlich sauber und aufgeräumt.
»Es ist toll.« Ich drehte mich Kathryn zu. »Danke.«
Sie blinzelte mir zu, überrascht von dieser vertraulichen Geste spürte ich, dass ich leicht errötete, dennoch war es mir nicht unangenehm, denn sie deutete mir gegenüber eine fast schon verschwörerische Zuneigung an. Es war einfach ein schönes Gefühl zu wissen, dass ich mich hier wohl fühlen würde; kein Gedanke mehr an die Tür im Esszimmer.
»Komm, ich zeig dir noch das Bad. Du willst dich sicherlich noch etwas frisch machen.«
Ich duschte ausgiebig und dachte kurz an Dominik. Wie es ihm wohl erging? Als wir am Nachmittag aus dem Bus stiegen, waren wir von einer Horde englischer Schüler und deren Lehrern empfangen worden. Um eine zügige Zuordnung zu gewährleisten, hielten die Schüler kleine Schilder aus Plastik in den Händen, auf denen der jeweilige Name des Gastes stand. Ein kräftiger Junge mit roten, gekräuselten Haaren trug das Schild mit meinem Namen, ich bahnte mir zielstrebig einen Weg durch die Menge.
»Hallo, Marc, ich bin Alexander, meine Freunde nennen mich nur Alex«, sagte ich in einem guten Englisch und reichte ihm die Hand. Marc wirkte etwas verunsichert, beinahe nervös, er wippte von einem Bein auf das andere.
»Hi, Alex. Schön, dass du da bist.«
»Ich freue mich auch.«
»Wie war eure Reise?«
»Ganz okay, etwas heftiger Seegang vielleicht, aber sonst wäre es wohl auch langweilig gewesen.«
»Soll ich dir eine Tasche abnehmen?« Er deutete auf meine zwei voll gepackten Sporttaschen und meinen Rucksack.
»Gute Idee.«
Marc stieß einen leisen Pfiff durch die Zähne aus. »Wow, ganz schön schwer.«
Ich nickte. »Sind vor allem meine Sportsachen drin, ich spiele Fußball.«
»Klar, du bist ja Deutscher, da spielt man Fußball.«
»Das Gleiche sagen wir über euch Engländer, schließlich habt ihr es erfunden…«
»…spielen es aber nicht so erfolgreich wie ihr, ich weiß«, sagte Marc, und es klang ein wenig verlegen.
Kurze Zeit später verabschiedete ich mich noch von den anderen, insbesondere von Dominik, den ich am nächsten Tag bei der geplanten Stadtbesichtigung sehen würde.
Marc lotste mich auf einen nahe gelegenen Parkplatz, auf dem Weg dorthin redeten wir nicht miteinander, was mehr an mir lag. Ich bevorzugte es, die ersten Eindrücke dieser fremden Stadt auf mich wirken zu lassen. Kleine Bistros und schmale Boutiquen säumten den einen Straßenrand, auf der anderen Seite befanden sich einige höhere Gebäude, Banken und Versicherungen, wie es schien. Es waren vor allem junge Leute und Geschäftsmänner in eng anliegenden Anzügen, die das Straßenbild prägten. Trotz des für die Insel typisch bewölkten Himmels wirkte die Stadt nicht annähernd so grau wie ich es erwartet hatte.
»Dafür können wir nichts, wir würden es gerne ändern«, sagte Marc und deutete nach oben »Aber es regnet nicht immer, wirklich nicht, Alex.«
»Wirklich nicht? Dann hätte ich den ja gar nicht mitnehmen müssen. Sind nur Regensachen drin«, frotzelte ich amüsiert und hielt meinen Rucksack hoch. Marc lachte.
Zwei Querstraßen weiter empfing uns Marcs Mutter. Kathryn Taylor lehnte lässig an einem roten 5er BMW und winkte uns mit beiden Händen überschwänglich zu. Irgendetwas an ihr irritierte mich, aber ich bemerkte erst, was es war, als wir näher kamen; es waren ihre schmalen Augen, die eng beieinander lagen und ihrem ebenmäßigen Gesicht etwas Katzenartiges verliehen. Blonde Locken fielen auf einen breiten Nacken, sie trug flache Schuhe und einen knielangen Rock, rot wie der BMW. Ich schätzte sie um die vierzig; sie war durchaus attraktiv.
»Willkommen, Alexander, herzlich willkommen«, sagte sie und ihr ganzes Gesicht strahlte dabei.
»Den haben wir extra für dich gekauft, damit du dich wie Zuhause im Land der Autobauer fühlst«, ergänzte Marc grinsend und deutete auf den Wagen. Seine Mutter winkte kopfschüttelnd, aber immer noch lächelnd ab.
Ich durfte neben Kathryn auf dem Beifahrersitz Platz nehmen, Marc legte sich lang auf die Rückbank. Die Fahrt führte uns quer durch die Innenstadt in ein reines Wohngebiet der Oberklasse. Aufwändig gebaute Einfamilienhäuser hinter gepflegten Vorgärten, alleenartige Straßen mit großen Kastanienbäumen, eingezeichnete Parkplätze und saubere Gehsteige spiegelten das Niveau der hier lebenden Menschen wider.
Kathryn stellte mir einige Fragen; aus welchem Stadtteil ich käme, was meine Hobbys wären, wie ich mit meinen Eltern lebte; auch wenn sie sehr konkret war, spürte ich, dass sie mich nicht ausfragen wollte, ihr Interesse an mir und meinem Leben war anderer Natur, es war irgendwie… ehrlich. Ihre Gestik und ihre Stimme versprühten eine mitreißende Dynamik, die mich sehr beeindruckte.
Als Kathryn an einer roten Ampel stoppen musste, holte sie urplötzlich tief Luft, sie wurde auf einmal ernst, auf ihrer Stirn bildeten sich tiefe Falten. Es war nicht schwer zu erkennen, dass unser Gespräch eine andere Wendung nehmen würde.
»Alex… du kommst in ein vaterloses Haus, ich hoffe, dass dich das nicht stört«, sagte sie und warf mir einen prüfenden Blick von der Seite zu. Sie wollte wohl meine Reaktion abwarten. Ich schüttelte knapp den Kopf. Ich spürte, dass dieses Thema für alle Beteiligten irgendwie unangenehm war, ein leichtes Unbehagen kroch in mir hoch.
»Sag Alex, warum er nicht mehr da ist«, forderte Marc. Entweder bildete ich es mir ein oder seine Stimme vibrierte ein wenig, als würden die Worte von zitternden Lippen ausgesprochen.
»Er ist tot, Alex.«
Sie schwieg kurz und ließ das Gesagte wirken, bevor sie fortfuhr. Währenddessen streifte mich der Anflug eines Gedankens an Opa.
»Es gibt Momente, die verändern dein ganzes Leben, sie ziehen dir einfach den Teppich, auf dem du stehst, fort. Deine eigene Welt bekommt nicht nur Risse, nein, diese Welt bricht auseinander, deine Hände greifen nach allen Stücken, doch sie lassen sich nicht festhalten, gleiten durch deine Finger. So fühlten wir vor zwei Jahren, als William Taylor uns verließ, aber wir haben gelernt, damit umzugehen, Alex. Wir mussten es.«
Ich war mehr als nur erstaunt. Erstaunt über die Art ihrer Schilderung, erstaunt über den Zeitpunkt dieser Schilderung. Einen Moment lang fixierte ich sie, und an ihrer starren Miene glaubte ich jetzt zu erkennen, dass sie dieses Thema einfach nur schnell abhaken wollte. So, Alex, jetzt weißt du Bescheid, jetzt brauchst du dir keine Gedanken mehr über ein fehlendes Familienmitglied der Taylors zu machen, dieses eine Familienmitglied ist gestorben, wir leben weiter, und jetzt, da du es weißt, hat sich dieses Thema auch schon erschöpft. Bohr nicht mehr in unseren Wunden, denn sie könnten wieder anfangen zu bluten.
»Es… tut mir Leid.«
»Danke, Alex. Ich wollte dir nur sagen, wie es ist. Du hättest dich schließlich schon bald gefragt, wo der Familienvater der Taylors steckt.« Ein knappes Nicken, eine klare Ansage. Und jetzt stell dazu keine Fragen mehr. Denk daran, das Thema ist abgehakt. Mit Fragen werden nur unsere Narben aufgerissen. Ehrliche Worte, klare Worte mit einem unmissverständlichen Unterton. Aber dennoch dachte ich einen Moment lang über sie nach, bevor ich sie in einer Schublade verschloss, sie rutschten weit nach hinten.
Währenddessen knüpfte Kathryn nahtlos an ihre Fragen über mein Leben an. Sie besaß die Fähigkeit, die aufgekeimte Anspannung fast vollständig aufzulösen, sie wischte den schwierigen Dialog über den Tod ihres Mannes mit einer erstaunlichen Leichtigkeit beiseite. »Marc hat noch eine Zwillingsschwester«, sagte sie, nachdem sie erst einmal genug von meinem Leben gehört hatte.
»Wir sind zweieiige Zwillinge«, ereiferte sich Marc.
»Sie sind nicht nur äußerlich grundverschieden, auch ihr Wesen, ihr Charakter differieren stark«, ergänzte Kathryn lachend. »Aber das wirst du bestimmt noch selbst feststellen, Alex."
»Wir sind da«, rief Marc schließlich und beugte sich nach vorne.
Das Haus der Taylors befand sich inmitten einer prächtigen Allee; eine breite Rasenfläche und eine hüfthohe Hecke trennten es von dem Gehweg. Mit den beiden Erkern an den äußeren Seiten wirkte es fast wie ein kleines, renoviertes Schloss, dieser Eindruck wurde von dem dunkelbraunen Anstrich noch verstärkt.
Kathryn parkte den Wagen auf einem überdachten Stellplatz neben dem Haus.
»Raus, Jungs«, sagte sie burschikos, während sie aus dem Wagen schnellte und auf ihr Heim zeigte. Ihre Lippen formten dabei wieder dieses sympathische Lächeln. »Fühl dich bei uns wie zu Hause, Alex.«
Der letzte Rest von Unbehaglichkeit fiel von mir ab, und ich schwang mich ebenfalls aus dem BMW, nahm mein Gepäck auf und folgte den beiden ins Haus.
Als die Haustür hinter mir ins Schloss fiel, jagte es unmissverständlich durch meinen Kopf:
Ich bin angekommen.
Ich erwachte in einem trüben Halbdunkel; durch die zugezogenen Vorhänge drang lediglich das fahle Licht der Straßenlaterne.
Es war ein langsames Erwachen, meine Augenlider waren noch schwer, ich bewegte mich vorsichtig und war zunächst verwirrt. Ich fühlte mich fremd, nur langsam realisierte ich, wo ich war.
Irgendwo in der Nähe heulte ein Hund auf und zerschnitt die Stille der Nacht, dazu gesellte sich ein kraftvolles Motorengeräusch, das einige Häuserblöcke entfernt wieder verstummte. Kurz darauf wurde eine Autotür hart zugeschlagen, dann kehrte die Stille zurück, auch der Hund beruhigte sich wieder.
Ich leckte mir über die Lippen und spürte, wie trocken mein Mund war, meine Zunge klebte förmlich an meinem Gaumen. Ich richtete mich mühevoll auf, die Müdigkeit steckte noch schwer in meinen Knochen. Wie viel Uhr war es? Die Anzeige der Funkuhr auf der Ablage neben dem Bett leuchtete in roten Zahlen auf, es war fast drei, also mitten in der Nacht. Es war wohl der Durst, der mich geweckt hatte; das war nichts Ungewöhnliches, es kam häufig vor, dass ich nachts erwachte, weil ich durstig war. Eine seltsame Angewohnheit, sagte Mutter immer, wenn sie am nächsten Tag in der Küche das leere Glas und die nur noch halbvolle Flasche Wasser daneben stehen sah. »Du musst tagsüber mehr trinken, Junge, dann schläfst du nachts auch durch«, ergänzte mein Vater sie stets brüsk. »Dein flacher Schlaf ist ungesund.«
Ich schob die Bettdecke beiseite und schlich zum Waschbecken rüber, als könnte ich sonst die anderen wecken. Den Hahn drehte ich nur ein wenig auf und beugte mich unter den dünnen Wasserstrahl. Das Wasser schmeckte stark eisenhaltig, ich trank hastig und drehte es wieder ab, ging zum Fenster und schob die Vorhänge beiseite.
Während ich die menschenleere Straße betrachtete, dachte ich an Zuhause; bevor ich eingeschlafen war, hatte ich noch einmal mein Handy benutzt und angerufen. Mutter nahm ab, und obwohl sie es sich nicht anmerken lassen wollte, bemerkte ich ihre Erleichterung über meinen Anruf.
»Es ist sehr schön hier, Mutter, ich habe es wirklich gut getroffen.«