© 2012 Verlag Linea, Bad Wildbad

Umschlaggestaltung: Peter Voth

eBook Herstellung: eWort, Stefan Böhringer (www.ewort.de)

 

ISBN 978-3-939075-52-3

ISBN 978-3-939075-53-0 eBook (epub)

Vorwort

Fritz Binde (1867–1921) – ein bewegtes Leben in einer von vielen Umbrüchen in Deutschland und ganz Europa geprägten Zeit.

Doch wer hätte seinen Lebensweg vorhersagen können? Die Jugendjahre, Lehr- und Wanderzeit entführen den Leser in eine dörfliche Idylle, Natur­romantik und ein beschauliches Handwerker-Dasein des 19. Jahrhunderts. Man spürt etwas von heiler Welt und von einem Leben fern von Zeitdruck, Fabrikarbeit und Untergehen des Einzelnen im anonymen (Groß-)Stadtleben.

Doch der Uhrmacherlehrling wird von innerer Unruhe und Unzufriedenheit umgetrieben. Er gerät in verschiedene politische, freidenkerische und künstlerische Kreise, die ihn prägen und in denen er seine Ideale vom Guten und Schönen verwirklichen will. Mehr und mehr wird er zum Philosophen, Zweifler und Spötter, der dem kritischen Denken unserer Zeit sehr nahesteht.

Als politischer Schriftsteller und Redner in den Anfangsjahren der noch jungen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung feiert er Erfolge und bleibt doch unbefriedigt und ruhelos. Er erlebt viele Enttäuschungen – an den Menschen, die er an seinen hohen Erwartungen misst, und an sich selbst –, bis er nach einer langen inneren Reise wie Augustinus sagen kann: „Meine Seele ist unruhig in mir, bis sie Ruhe findet in Dir!“

Dann nimmt sein Leben eine große Wendung: Fritz Binde findet nach vielen Irr- und Umwegen den „unbekannten Gott“ – und seine Berufung. Von nun an reist er bis an sein Lebensende durch Deutschland und die Schweiz, um einer hoffnungslosen Welt seine neu gefundenen und wirklich lebensverändernden Ideale zu bringen.

Durch zahlreiche Originaldokumente konnte Ernst Schultze-Binde ein authentisches Lebensbild zeichnen. Dem Schweizer Pfarrer standen als Schwiegersohn Bindes dessen schriftliche Jugend­erin­nerungen zur Verfügung. Fritz Binde selbst hatte sich mit dem Gedanken getragen, in seinem Alter die Geschichte seines bewegten Lebens zu verfassen, und viele seiner Erlebnisse notiert. Neben Erinnerungen, die Schultze-Binde selbst an seinen Schwiegervater hat, lagen ihm Zuschriften von Gästen des „Asyls Rämismühle“ und Briefe der reichen seelsorgerlichen Korrespondenz Fritz Bindes als Grundlage des Lebensbildes vor.

So entstand die Geschichte eines Lebens, wie man sie sich kaum ereignisreicher ausmalen könnte und die von großen Gegensätzen bestimmt war. Der Leser wird hineingenommen in ein Leben, das sich in manchem Äußerlichen stark vom 21. Jahrhundert unterscheidet, und doch von den gleichen grundlegenden Fragen, Zweifeln, Sehnsüchten und Lebenszielen geprägt ist.

Dabei geht es in der Biographie nicht zuerst und allein um die äußerlichen Ereignisse und was Fritz Binde „geleistet“ hat, sondern vor allem um seine innere Entwicklung; das Unverstandensein eines Menschen, der das Gute sucht; das Erleben von zerbrochenen Idealen und enttäuschten Illusionen und den Kampf eines Menschen mit seiner eigenen Unvollkommenheit und Unzulänglichkeit. Vor allem jedoch zeigt sein Leben, was aus einem Menschen unter der Leitung des göttlichen Geistes werden kann, und wie Gott ein Leben gegen allen Anschein neu machen und verändern und sich der Friede aus der himmlischen Welt in einem Menschenleben auswirken kann.

Im Frühjahr 2012, Verlag Linea

Eine Uhrmacherfamilie

Der Name Binde leitet sich her von dem in der Nähe von Gardelegen in der Mark Brandenburg gelegenen Ort Bünde. Vater, Großvater und Urgroß­vater Fritz Bindes waren Uhrmacher gewesen. Be­son­ders gern dachte Fritz Binde an seine Groß­mutter, eine adlige Dänin, die er zwar nicht mehr persönlich kannte, von der ihm jedoch gesagt wurde, dass sie eine sonderbare Empörerin gegen alles Gewöhn­liche gewesen sei. Ein alter Onkel beschrieb sie ihm mit den Worten: „Sie war eine fromme Schön­geistin, die Jung-Stilling, Lavater und empfindungsreiche Gebetbücher zum Entsetzen ihres Mannes las, der ein hitziger Knicker war.“ Das idealistische Erbe der Mutter hatte ihr Sohn Robert, der spätere Oberlehrer und schriftstellerische Philosoph, übernommen, während der Jüngere, Otto, Fritz Bindes Vater, an den Widersprüchen seiner Natur zeitlebens schwer getragen hat. In Otto Binde verband sich die hohe Sehnsucht der Mutter mit der Leidenschaftlichkeit seines Vaters. Das Zu­sammen­treffen dieser Gegensätze machte die Tragik seines Lebens aus. Schon als Junge hatte er abschiedslos sein Elternhaus verlassen. Er sah seine Eltern erst wieder, als die Mutter mit weiß gewordenem Haar auf der Bahre lag. Sein unruhiges Wesen war auch schuld daran, dass er in seinem Beruf als Uhrmacher kein Vorankommen sah. An Klugheit und Tüchtigkeit hat ihn dagegen nicht gleich einer übertroffen. Als er noch ein Kind war, soll ein Metzgermeister zu ihm gesagt haben: „Junge, du bist so klug, dass du vor lauter Klugheit nicht wachsen kannst“, worauf er schlagfertig antwortete: „Na, dann weiß ich auch, Meister G., warum Sie so groß geworden sind.“ Als er für diese Antwort eine Ohrfeige einstecken sollte, machte er dem dicken Fleischermeister eine lange Nase und verschwand um die nächste Ecke.

In seinen Jugenderinnerungen spricht Fritz Bin­de von dem „edel geformten Gesicht“ und den „hinsinnend leuchtenden Augen“ seines Vaters. Gelegentlich rühmt er auch die schöne Hand­schrift des Vaters. Hervorragendes leistete Otto Binde als Er­zähler. Wenn er einen Kreis von Menschen durch seine Gewandtheit im Erzählen beherrschen konnte, dann war ihm das Seligkeit. Besonders auf seinen Berufs­gängen liebte es der ehrgeizige Mann, mit seinem Erzählertalent zu glänzen. Im Nu war seine An­kunft im Dorf bekannt; und wenn die Bauern von Stall und Sense laufen mussten, so kamen sie doch, denn kein Pfaff, kein Schulmeister, kein Oberförster konnte so erzählen wie der Uhrmacher Binde. Oft sagten sie: „Otto, erzähl noch einmal von der Achtundvierziger Revolution, wie du gesehen hast, wie der König von Preußen vor den Demokraten den Hut abnehmen musste.“ „Und, Otto, noch einmal, wie dich der Fürst von Rudolstadt gegrüßt hat, als du als junger Handwerksbursch an seinem Schloss vorbeigekommen bist.“ „Und, Otto, wie war es doch, wie ihr mit der Kuh vor der Kutsche über den Effel­derer­berg gefahren und umgestürzt seid?“

Mit Worten, Würsten, Schinken und Käsen suchten sie die Ehre zu gewinnen, ihn „Otto“ und „Du“ nennen zu dürfen.

Dann qualmten die Lampen über den Wirts­tischen, beißender Tabakrauch umzog in langen, unruhigen Wolken die breit dahockenden Gestalten, unter denen Bindes Vater wie ein König saß. Immer verschwenderischer gab er ihnen Geschichte um Geschichte … Wie ein Feldherr führte er diese Bauernseelen über die Hochgebirge erhabener Be­geis­terung. Oder er erschütterte sie wie ein Volks­redner durch den dröhnenden Ernst gerechter Ent­rüstung. Wie ein Schauspieler ließ er sie erbeben, indem er sie mit hinabzog in die Tiefen des Wehs, das Menschen erleben müssen, oder er ließ sie sich schütteln vor Lachen.

Wenn sie aber ermüdet, überreizt oder gar angetrunken in ihre Bauernart zurückfielen, wenn sie anfingen ihm dazwischenzureden, oder unter Lachen und Spucken das Erzählte bezweifelten, ja, dann schwieg Vater Binde urplötzlich, stand auf und bezahlte sein Bier.

Als ein Mann von so hoher Begabung konnte Otto Binde in seinem Uhrmacherhandwerk keine volle Befriedigung finden. Oft machte er sich bittere Vor­würfe, dass er in jugendlichem Unverstand seinen Beruf verfehlt und sich dadurch ein verpfuschtes Da­sein bereitet habe. Wenn er studiert hätte, meinte er, wäre aus ihm etwas geworden. Doch vielleicht lag der Grund, warum seinem Lebensgang jeder Erfolg und Aufstieg versagt blieb, mehr in seiner persönlichen Eigenart als in der verfehlten Bildung.

Otto Binde war eine Natur, die die klaffendsten Gegensätze unausgeglichen in sich trug. Mit einem zarten Gemütsleben verband er den Sinn für das Geheimnisvolle und Ehrfurchtgebietende. Er sammelte Erinnerungsschätze seiner Familie: von seinem Vater eine Strähne weißgelblicher Haare, eine Hornkrücke mit silbernem Ring, zwei Orden aus den Befreiungskriegen und eine große Pistole. Sodann in einer Messingkapsel eine weiße Locke von seiner Mutter und eine Brotkrume, die er in der Hand seines entschlafenen Söhnleins Otto gefunden hatte.

Auch konnte er sich freuen wie ein Kind, wenn beim Frühlingserwachen die Schwalben kamen oder wenn auf den Wiesen die ersten Gänseblümchen erblühten. Da jubelte er: „Mutter, der Frühling kommt. Nun blüht die Hoffnung wieder.“ Dann träumte er jedes Mal von Lebensmöglichkeiten, die sein verfehltes Dasein doch irgendwie noch zum Grünen bringen könnten. Bis zum Winter aber waren alle seine Hoffnungen zusammengeschrumpft.

Unvergesslich blieben Fritz Binde jene Augen­blicke, wo sie von guten Geschäften heimkehrten. Da ließ sich sein Vater auf stillen Bergeshöhen hinnehmen von Sonnenuntergängen, bunten Wolken­spielen, schwarzen Tannenwäldern und von flimmernden Sternennächten. Dann lehnte er sich zärtlich an die Schulter seines Sohnes und fing an mit tränenden Augen zu deklamieren:

„Der Mond ist aufgegangen,

Die goldnen Sternlein prangen

Am Himmel hell und klar.

Der Wald steht schwarz und schweiget,

Und aus den Wiesen steiget

Der weiße Nebel wunderbar.“

„Fritz, Junge“, sagte er dann, „wenn ich einmal nicht mehr bin, denke daran, was du mit deinem Vater hier oben erlebt hast, und habe deine Mutter lieb – deine Mutter ist gut.“

Dieser stimmungsvollen Weichheit der guten Stunden stand aber ein jäh aufbrausendes, zu Will­kür und Gewalttat neigendes Gemüt gegenüber. Wegen lächerlicher Kleinigkeiten konnte der Va­ter das seelische Gleichgewicht und klare Urteil verlieren. Es kam vor, dass er seinen Jungen zum Brot­holen schickte, ohne ihm Geld mitzugeben. Wenn Fritz dann zögerte, verprügelte er ihn mit einem Rohrstock. Einmal hatten die Buben mit Bohnen­stangen Krieg gespielt. Danach lagen die zersplitterten Stangenenden auf der Straße. Ein solches Holzstück warf einer von ihnen aus Ärger, weil Fritz ihn besiegt hatte, in eine vor dem stehende Kalk­masse. Über und über weiß bespritzt lief Fritz dann heulend heim. Bei diesem Anblick schob sein Vater die Brille auf die Stirn, griff nach dem bekannten Stock, und schlug einfach auf seinen Jungen los, ganz gleich, ob er Kleider, Hände, Kopf oder das Gesicht traf. Zuletzt warf er ihn in den finsteren Vorratsraum hinter der Küche, wo er ihn einschloss.

Am grausigsten in der Erinnerung des Sohnes waren die Gänge, wenn der Vater von schlechten Geschäften mit Fluchen und Toben heimkehrte. Einmal blieb er an einem Kreuzweg mit grässlichem Lachen stehen und höhnte in die nächtliche Finsternis hinein: „Wenn es etwas gibt über den Tod hinaus, das des Lebens und Sterbens wert ist, so mag es sich jetzt melden in drei Teufels Namen.“ Schauerlich dröhnte das Echo. Hohnlachend wankte der Vater weiter und sein Junge folgte ihm mit Grauen.

Otto Binde hatte übrigens seine eigene Religion. „Wenn es irgendetwas Wunderbares in der Welt gibt, so ist es die Zeit. Man steht in ihr, sie liegt hinter uns und zugleich auch vor uns. Sie kommt und zugleich trägt sie uns sich entgegen. Sie flutet über uns hinweg und reißt einen doch nicht rückwärts, sondern vorwärts. Man schreitet mit ihr fort und doch macht sie einen alt. Sonderbar, sonderbar! Ich habe die größte Achtung vor der Zeit. Sie enthält alles. Sie bringt alles. Sie verschlingt alles. Weiß der Teufel, wo sie es hernimmt und hinbringt. Darum ist das Geheimnisvollste und Grauenhafteste im Leben die Sekunde. Das sage ich als Uhrmacher. Und wenn es einen Gott gibt, so kann er nirgends stecken als in diesen unheimlich heranschleichenden Sekunden, die uns mit heuchlerischem Wahn nahen, um uns nachher mit allem Furchtbaren zu überfallen, das sie heranschleppen und auf uns wälzen, bis wir erdrückt von ihrer Last ins Grab sinken. Nichts Furchtbareres gibt es als das Kommende. Das ist Gott. Nichts Erdrückenderes gibt es als das, was hinter uns liegt, denn es ist der Inhalt unseres Lebens. Entsetzlich, diese Umformung der heranstürmenden, flüchtigen, geisterhaften Sekunden in den unveränderlichen, bleiernen Inhalten unseres Lebens. Das Entsetzlichste ist, das Gewordene, das Vergangene kommt wieder und steht gegen uns auf. Das Vergangene als das letzte Zukünftige – es ist zum Wahnsinnigwerden – das ist Gottes Gericht.“

Das war Otto Bindes Neujahrspredigt. Darum ging er nur ein Mal im Jahr zur Kirche, nämlich am Silvesterabend. Die Predigt des Pfarrers verachtete er, aber er brauchte die feierliche Stätte, die festlichen Menschen, die Orgelklänge und die flackernd herabbrennenden Kerzen, um sich durch seine eigene Predigt aufs Wirksamste zu berauschen.

Im Übrigen war ihm die Kirche gerade gut genug, um als Zielscheibe seines Spottes zu dienen. Es bereitete ihm das größte Vergnügen, wenn sein kleiner Fritz zu Hause mit schauspielerischer Gewandtheit den Herrn „Suppedenten“ auf der Kanzel nachahmte. Für dieses Schauspiel bezahlte er gern zwei Pfennige und sagte dabei wohlgefällig zur Mutter: „Das hat er nun doch von mir, den Pfaffenschwindel gebührend zu durchschauen, das ist allezeit mein Geschäft gewesen.“

Einmal, es war bei einer häuslichen Tauffeier, hörte Fritz seinen Vater zum ersten Mal über Jesus Christus reden. „An einen Gott glaube ich auch“, sagte er zum Pfarrer. „Doch wie schon Goethe sagt, ist Name Schall und Rauch und umnebelt die Him­mels­glut. Aber Jesus Christus quasi als Vizegott, als himmlischen Feldwebel, durch dessen Blut wir allein Vergebung der Sünden und Zugang zu Gott haben sollen, lehne ich ab.“

Später, als Fritz den Konfirmandenunterricht besuchte, und sich bemühte, die langen Sätze des Pau­lus im Römerbrief auswendig zu lernen, indem er immer lauter vor sich hin sprach, hörte er auf einmal seinen Vater von der Schlafkammer herüberrufen: „Un­sinn, Unsinn, Unsinn. Maul halten. Will nichts mehr hören von dem sinnlosen Pfaffenzeug.“ Diese Auslegung seines Vaters des Römerbriefes 2, 14–16 gehörte zu den wenigen Erinnerungen, die Fritz Binde aus der Konfirmationszeit ins Leben mitnahm.

Dieser Mann nun, der sich in Gesellschaft als Frei­geist gebärdete und die Wahrheit der Bibel ver­ä­chtlich abtat, war im Grunde ein Sklave des lächerlichsten Aberglaubens. Einmal musste die Fa­milie eine andere Wohnung beziehen. Schon wollte man die ersten Körbe voll Hausrat die Treppe hinuntertragen, da rief der Vater: „Halt, hierbleiben. Alles wieder auspacken. Zuerst die Bibel in einen Korb!“

Eilig holte Fritz aus Mutters Nachtschrank die elterliche Traubibel herbei.

Diese legte dann der Vater eigenhändig auf den Boden des Korbes.

„So, nun das Brot“, befahl er weiter und legte dann den Rest seines Brotes auf die schwarze Bibel.

„Jetzt noch das Salz.“ Nun stand auch das weiße Porzellansalzfass auf der schwarzen Bibel.

„So, dieser Korb kommt als Erstes in die neue Wohnung, damit es Glück gibt. Verstanden?“

„Warum tut das der Vater?“, fragte Fritz die Mut­ter auf der Treppe.

„Das ist sein Aberglaube“, war die Antwort.

Beim darüber Nachdenken erriet Fritz einen Zu­sammenhang.

„Warum macht er denn immer drei Kreuze mit dem Messer auf den Rücken eines neuen Brotlaibes, bevor er ihn anschneidet?“, forschte Fritz weiter, „und warum spuckt er immer drei Mal auf das erste Geld, das er am Sonntagmorgen einnimmt? Und warum kehrt er immer um, wenn ihm beim Weggehen zuerst eine alte Frau begegnet?“

„Das ist alles sein Aberglaube“, wiederholte die Mutter.

„Aber Mutterle, warum liest er denn nicht in der Bibel, wenn doch die Bibel Glück bringt?“

Die Kinderweisheit hatte wieder einmal den Nagel auf den Kopf getroffen. Die Mutter war um eine Antwort verlegen. Das war eben der Widerspruch an dem Otto Binde zeitlebens krankte, dass er zwar die fromme Scheu vor den Hintergründen des Daseins nicht loswerden konnte, aber doch jede wirkliche Begegnung mit dem lebendigen Gott, der sich in der Bibel kundtut, fürchtete.

Fritz Bindes Mutter, eine geborene Langbein, stammte aus einer ehrenwerten, thüringischen Hand­werkerfamilie. Durch ihre Heirat mit dem ungewöhnlichen und widerspruchsvollen Uhrmacher war ihr eine nicht leichte Aufgabe zugefallen. Doch ihr stilles, sanftes, friedliebendes Wesen war dazu geeignet, den unruhigen Mann immer wieder zu besänftigen und ihm sein Heim lieb zu machen. Ihrer praktischen Hausfrauenklugheit war es wohl zu verdanken, dass die Familie in Ehren durchkommen konnte.

Doch auch ihre Kraft reichte nicht aus, um ihren Mann auf eine andere Bahn zu bringen. Ihre Stärke lag im Nachgeben, im Bewahren, nicht aber in einem zielbewussten Umgestalten. Ihre Frömmigkeit bewegte sich in herkömmlichen Gleisen. Sie glaubte an das Dasein eines lieben Gottes, der den Menschen alles zum Besten wendet. Sie las nach altem Brauch im Gebetbuch und lehrte auch die Kinder beten. Ihr Glaube war jedoch nicht ein persönlich erlebtes Christentum, das im Vertrauen auf die sieghafte Kraft des Evangeliums an der Umformung der Familie arbeitet. Sie hatte auch nicht den Trieb, das Wort Gottes regelmäßig zu hören und Gemeinschaft mit anderen Christen zu suchen. Deshalb konnte sie wohl das Schlimmste verhüten, war aber ganz unfähig, das Familienleben in christlichem Sinn zu gestalten. Kein Wunder, dass ihr Sohn sie als arm und schwach in Erinnerung hatte.

Mit ihrem Mann teilte sie übrigens auch den Hang zum Aberglauben. Als ihr ein Söhnlein gestorben war, holte sie sich bei der Wahrsagerin den Bescheid, dass sie noch mehr Kinder bekommen werde, aber nur zwei behalten. Wie ein dunkles Verhängnis lastete dieser Spruch über ihrem Haus. Und es kam leider so, dass von den sieben Kindern, die sie zur Welt brachte, nur zwei am Leben blieben. – Beim letzten Wohnungswechsel, den sie mit ihrem Mann erlebte, war es ihr eine böse Vorahnung, als ein schwarzer Vogel in der Ecke des Schlafzimmers, wohin das Bett des Vaters zu stehen kam, hin und her flatterte. Einige Jahre später ist dieser auch tatsächlich in jener Ecke nach einem Hirnschlag gestorben.

Eine besondere Gabe dieser Mutter war das Zeich­nen und Malen, worauf sie sich meisterhaft verstand. Im Übrigen hatte sie alle Eigenschaften einer tüchtigen Hausfrau. Sie war fleißig, sparsam, reinlich und liebte die Ordnung. Mit ihrer unbegrenzten Fähigkeit zum Schweigen und Dulden war sie die rechte Frau für ihren ungestümen, von seiner inneren Unruhe gepeitschten Mann.

In Coburg, einer der Hauptstädte Thüringens, hatte Otto Binde in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sein erstes Geschäft eingerichtet. Dort gründete er auch seine Familie, in welcher ihm als viertes Kind am 30. Mai 1867 das Söhnchen Fritz geschenkt wurde.