MICHAIL CHODORKOWSKI
MIT NATALIJA GEWORKJAN
Mein Weg
Ein politisches Bekenntnis
Aus dem Russischen von
Steffen Beilich
Deutsche Verlags-Anstalt
MICHAIL CHODORKOWSKI
MIT NATALIJA GEWORKJAN
Mein Weg
Ein politisches Bekenntnis
Aus dem Russischen von
Steffen Beilich
Deutsche Verlags-Anstalt
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© 2012 by MBK IP Limited
© 2012 by Natalija Geworkjan
Copyright © 2012 der deutschsprachigen Ausgabe
Deutsche Verlags-Anstalt, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Olga Radetzkaja, Berlin
Typografie und Satz: Brigitte Müller/DVA
Gesetzt aus der Giovanni
ISBN 978-3-641-06098-5
V002
www.dva.de
Inhalt
Vorwort Michail Chodorkowski
Anstelle eines Vorworts Natalija Geworkjan
EINFÜHRUNG Natalija Geworkjan
Ein russischer Kafka
KAPITEL 1 Michail Chodorkowski
»Borissytsch« – ein Fremder, der doch Respekt verdient
KAPITEL 2 Natalija Geworkjan
Der Angriff
KAPITEL 3 Michail Chodorkowski
Ich wollte der Beste sein
KAPITEL 4 Natalija Geworkjan
»Furchtbar jung!«
KAPITEL 5 Michail Chodorkowski
Politik
KAPITEL 6 Natalija Geworkjan
Die goldene Zeit der Laienbankiers
KAPITEL 7 Michail Chodorkowski
Rosprom und Yukos
KAPITEL 8 Natalija Geworkjan
Vor dem Öl
KAPITEL 9 Michail Chodorkowski
Verantwortung
KAPITEL 10 Natalija Geworkjan
Yukos
KAPITEL 11 Michail Chodorkowski
1998
KAPITEL 12 Natalija Geworkjan
Nach Jelzin
KAPITEL 13 Michail Chodorkowski
Unter Putin
KAPITEL 14 Natalija Geworkjan
Richtungswechsel
KAPITEL 15 Michail Chodorkowski
Über Russlands Zukunft
Anstelle eines Nachworts Michail Chodorkowski
Namenregister
MICHAIL CHODORKOWSKI
Vorwort
Als mir 2004, nach knapp einem Jahr in der Gefängniszelle, zum ersten Mal angetragen wurde, meine Memoiren oder wenigstens eine ausführliche Selbstauskunft zu verfassen, lehnte ich nach kurzer Überlegung ab. In meinen Augen sind Memoiren vor allem eine Art Bilanz des eigenen Lebensweges, und das bedeutet unweigerlich, dass man sein Innerstes, das, was man sein Leben lang in sich trägt, offenlegt – vorausgesetzt, man ist ehrlich mit sich selbst. Damals schien mir der Zeitpunkt dafür noch nicht gekommen.
Die Welle von Verhaftungen von Yukos-Mitarbeitern, die erzwungene Ausreise meiner Geschäftspartner und vieler mir nahestehender Freunde aus Russland, die enormen Steuerforderungen, die letztlich die erzwungene Pleite und Zerschlagung des Unternehmens zur Folge hatten – all das war noch zu »heiß«, und ich hatte das Gefühl, meine Offenheit könnte diejenigen gefährden, die noch in Freiheit waren. Und was ich am wenigsten mag, ist, meine Pflichten zu verletzen – auch wenn es in diesem Fall keine konkreten Verpflichtungen gab, den Inhalt von Gesprächen, Unterredungen etc. geheim zu halten.
Nachdem ich in die praktische Politik eingetaucht war, stellte ich mit einem vielleicht etwas naiven Erstaunen fest, dass Moral hier wirklich keinen Platz hat, dass selbst elementarer Anstand nichts gilt, und dass Verrat und Lüge ganz einfach die gängigen Verhaltensweisen sind. In der Politik wird ununterbrochen gelogen, mit und ohne Grund, es wird gelogen, weil es »so sein muss«, und je weiter oben in der Machtpyramide jemand steht, desto tiefer reißt ihn dieser Strudel der Lüge hinab.
Auch jetzt, im neunten Jahr meiner Haft, fällt mir hier im Straflager in Karelien, während ich im Fernsehen den Ablauf der sogenannten »Wahlen« verfolge, unweigerlich auf, wie da eine Art Teufelskreis der Lüge entsteht, der »Lüge im Quadrat« oder sogar »im Kubik«, deren simple Winkelzüge auch ein Häftling ohne Zugang zum Internet erkennt. Die Abgeordneten der Staatsduma lauschen mit verständigem Blick den Ausführungen der Staatsführung zur Korruption. Dabei wissen sie nur zu gut, dass die Korruption längst sämtliche Bereiche unseres Lebens durchdringt und dass sich durch bloße Worte, und sei es der höchsten »Entscheidungsträger«, nichts ändern wird, solange es nicht zu einem Regimewechsel kommt und sich kein anderes Regierungssystem in Russland etabliert. Auch der Redner auf der großen Tribüne der Staatsduma weiß bestens über die Korruption Bescheid; ihm ist außerdem klar, dass die Abgeordneten ihm nicht glauben, sondern nur einen »verständigen Gesichtsausdruck« aufsetzen. Der Fernsehzuschauer, der diese neuerliche Lügenspirale verfolgt, erträgt das alles nicht mehr und schaltet, wann immer es geht, auf TV-Serien um. Aber das Schlimmste ist, dass sowohl dem »Korruptionsbekämpfer« am Rednerpult als auch den Duma-Abgeordneten ebenso wie der gesamten Regierung nur allzu klar ist, dass der Fernsehzuschauer ihnen nicht glaubt und die Bevölkerung das alles nicht mehr sehen will. An die Effizienz einer solchen »Korruptionsbekämpfung« glaubt niemand mehr, aber alle reden sich ein, die Lüge sei ein integraler Bestandteil der Politik, und anders gehe es nun einmal nicht.
Für mich war es in meinem früheren Leben als Unternehmer unmöglich zu lügen: Entgegen den vielen Gerüchten über meine angebliche »Unfähigkeit zu verhandeln« (und das ist einer der Lieblingsmythen des Kreml) wussten alle, mit denen ich in den Jahren meines Unternehmerdaseins direkt zu tun hatte, dass ich kein einfacher Verhandlungspartner war und sehr zäh sein konnte. Aber niemals – niemals! – habe ich Verpflichtungen, die ich übernommen hatte, nicht erfüllt. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie man unternehmerisch tätig sein kann, wenn man Vereinbarungen nicht einhält – schließlich kommt man dann entweder aus den Prozessen nicht mehr heraus, oder man stirbt keines natürlichen Todes … Das »Eintauchen« in die Politik hat mich jedenfalls erschüttert: Worte und Verpflichtungen kamen den Politikern leicht über die Lippen, ebenso leicht wurden sie auch wieder gebrochen.
Und obwohl ich, wie schon erwähnt, niemandem gegenüber konkret verpflichtet war, Vereinbarungen und anderes geheim zu halten, bin ich heute nach wie vor überzeugt, dass ich, ehe ich von jemand anderem berichte als mir selbst (und ohne das geht es in Memoiren nun einmal nicht), ihn zuvor fragen muss, ob es ihm recht ist, dass sein Handeln öffentlich wird, oder ob es dafür noch zu früh ist.
Der zweite Grund, warum ich 2004 noch nicht bereit war, meine Memoiren zu verfassen, hatte damit zu tun, dass ich, kurz nachdem ich ins Gefängnis gekommen war, zu schreiben begonnen hatte. Am Anfang war das sehr schwer. Artikel sind keine Interviews – hier will jeder Satz gut bedacht sein. Angesichts meiner besonderen Lage war mir klar, dass meine Texte nicht nur von meinen Freunden gelesen würden – und alle anderen würden nach Schwachstellen suchen, um später umso schmerzhafter »zuzuschlagen«. Nach den ersten Artikeln gab es viele Zweifel: Ob ich selber schreibe, wozu ich das mache und überhaupt … Es gab viele Fragen. Umso wertvoller war da für mich die Unterstützung der Verlage (Wedomosti und Nowaja gaseta), die als erste an mich glaubten und meine Arbeiten veröffentlichten. Gleichzeitig gab es auch unter meinen Angehörigen und Freunden viele Zweifler, denn der Autor Chodorkowski in meinen Artikeln entsprach oft nicht dem öffentlich verbreiteten Chodorkowski-Bild, das vor meiner Verhaftung geprägt worden war. Es war nicht einfach für mich, das alles über mich zu lesen und zu hören …
Damals, im Jahr 2004, beschloss ich für mich, dass die Zeit für Memoiren noch nicht gekommen war. Ich muss den Leser aber gleich enttäuschen oder auch erfreuen: Auch jetzt ist die Zeit nicht reif dafür. Es ist immer noch zu früh. Wann ich zu einer Autobiografie im eigentlichen Sinn bereit sein werde, kann ich nicht sagen. Das hängt sowohl mit meiner derzeitigen Situation zusammen als auch damit, dass ich noch nicht Bilanz ziehen will – ich hoffe noch auf eine Zukunft!
Zu diesem Buch habe ich mich auch deshalb entschlossen, weil ich Natascha Geworkjan schon seit über 15 Jahren als wunderbare, aufrichtige Journalistin und einfach als guten Menschen kenne. Natascha, die zu den Journalisten zählt, deren Meinung mir äußerst wichtig ist, zweifelte zunächst selbst daran, ob die Beiträge, die in der Nowaja gaseta unter meinem Namen veröffentlicht wurden, tatsächlich von mir waren. Ausgerechnet ihre 2004 formulierte kritische Haltung zu meinen literarischen »Talenten« und meiner Autorschaft haben sich die Kreml-Propagandisten zunutze gemacht und tun dies bis heute. Als sie mir vorschlug, gemeinsam ein Buch zu schreiben, war mir deshalb auch gleich klar, dass dies keine leichte Aufgabe werden würde.
Das Buch hat zwei Autoren, die in der Bewertung, Auslegung und Beschreibung mancher Ereignisse oft unterschiedlicher Meinung sind. Das ist ganz normal. Auch in der Frage, inwieweit sie den Aussagen einzelner im Buch vorkommender Personen Glauben schenken, sind sich die Autoren nicht immer einig. Jeder von uns zeichnet für seinen Teil verantwortlich, für das, was er in der Ich-Form sagt. Während der Arbeit an diesem Buch (in Form eines Briefwechsels) haben Natascha und ich viel gestritten, und das, was der Leser zu sehen bekommt, ist im Großen und Ganzen das Ergebnis eines Kompromisses. Das Wichtigste, was die Autoren dieses Buches eint, ist ihre Loyalität gegenüber den gemeinsamen Werten der europäischen Zivilisation, deren integraler Bestandteil auch mein Land ist – ungeachtet der vergeblichen Bemühungen kleiner und großer Politiker und Politintriganten, Russland in den verschiedenen Phasen seiner Entwicklung vom einmal gewählten Weg abzubringen.
Jetzt, da Sie dieses Buch lesen, haben Platon Lebedew und ich nach Verbüßung der ersten Achtjahresfrist in Haft bereits eine zweite Haftstrafe erhalten und warten auf das Jahr 2016; reich sind wir längst nicht mehr. Wladimir Putin hat sich selbst erneut für das Amt des Präsidenten nominiert. Der Chefjurist unseres Unternehmens, Rechtsanwalt Wassja Alexanjan, ist gestorben, bevor er die Aussagen machen konnte, die die Ermittlungsbeamten von ihm wollten. Die Staatsanwälte, Richter und Ermittlungsbeamten, die an unserem Verfahren beteiligt waren, haben inzwischen weitere Beförderungen, Sternchen und Prämien erhalten. Die russische Forbes-Liste hat sich nicht wesentlich verändert; die Reichen sind im Landesdurchschnitt insgesamt noch reicher und die Armen noch ärmer geworden.
Aber man kann auch noch etwas anderes beobachten, und das ist selbst aus dem Fenster einer Gefängniszelle in Sibirien oder Karelien zu sehen: Es gibt mit jedem Jahr, jedem Monat und Tag mehr aufrichtige Menschen, Menschen, die ein Gewissen haben, Menschen, die Veränderungen wollen. Bei aller Befangenheit wage ich zu behaupten: Dass diese Veränderungen kommen, ist nur eine Frage der Zeit.
Ich selbst habe jedenfalls vor, zum Wohl der Generationen zu wirken, die dieses Land schon sehr bald übernehmen werden. Der Generationen, die wirklich Veränderungen wollen. Der Generationen, mit denen neue Werte und neue Hoffnungen auf den Plan treten.
NATALIJA GEWORKJAN
Anstelle eines Vorworts
Es ging auf Weihnachten zu, und ich war auf der Suche nach einer passenden Karte. Der einzigen, die ich verschicken wollte. Der Besitzer des Geschäfts in der Rue du Geoffroy kannte mich. Ich bin ganz vernarrt in dieses Pariser Geschäft, das wie aus einer anderen Welt ist: mit Federhaltern, handgeschöpftem Papier und naiv gestalteten Karten. Er wies auf die Ecke, wo die Weihnachtskarten zu finden waren; ich setzte mich einfach auf den Fußboden und begann die Karten zu durchstöbern. Plötzlich fragte jemand neben mir: »Aber sagen Sie mal, wozu denn noch Karten schicken, wenn alle schon E-Mails schreiben?« »Da, wo ich sie hinschicke, kommen keine Mails an«, sagte ich, ohne aufzublicken. Die junge Frau ließ nicht locker: »Wo soll das denn sein, wo keine Mails ankommen?« »In Sibirien, im Gefängnis«, antwortete ich, ohne meine Suche zu unterbrechen. Eine Pause, unerwartete Stille. Endlich blickte ich auf und sah, wie die wenigen Kunden im Geschäft und auch der Besitzer mich irgendwie betreten ansahen. Die Frau war eine Reporterin von France 2, neben ihr stand ein junger Mann mit einer Kamera und noch einer mit einem Mikrofon. »Sibirien? GULAG?«, fragte die Frau weiter nach. »Ganz genau«, nickte ich. Sie bat mich, das noch einmal in die Kamera zu sagen. Ich habe ein Prinzip: Journalistenkollegen schlage ich solche Bitten nicht aus. Also stand ich auf und wiederholte: »Ich möchte meinem Bekannten eine Karte nach Sibirien schicken. Er ist Geschäftsmann. Er sitzt dort im Gefängnis. Und ich hoffe sehr, dass er sie bekommt.« Die Kamera wurde ausgeschaltet. Die Leute im Geschäft traten nun näher und sagten, dass alles gut würde, dass die Karte auf jeden Fall ankäme und man ihn gewiss freilassen würde. Erstaunlicherweise fragte niemand, wofür mein Bekannter eigentlich einsitzt. Für diese Leute ist Sibirien, ist der Gulag ein Symbol der Ungerechtigkeit. Punkt. Der Besitzer des Geschäfts winkte ab, als ich zahlen wollte, und legte noch einen passenden Umschlag zur Karte und einige Blatt Papier mit handgearbeiteten Monogrammen dazu – für einen Brief. Die Journalistin holte mich draußen ein. »Darf ich fragen, wie er heißt, Ihr Bekannter?« »Chodorkowski«, antwortete ich. Die junge Frau gab sich alle Mühe, den schwierigen Namen aufzuschreiben. Er sagte ihr nichts. Sie sah mich an: »Und wer ist das?« Ich überlegte. »Die einen sagen: ein Genie, die anderen: ein Krimineller.«