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Inhaltsverzeichnis

VORWORT - Das Auge hört mit
KAPITEL 1 - Kleines Mädchen
KAPITEL 2 - Paradies
KAPITEL 3 - Immer auf dem Sprung
KAPITEL 4 - Träume werden wahr
KAPITEL 5 - Wilde Welt
KAPITEL 6 - Teufel
KAPITEL 7 - Leb wohl
KAPITEL 8 - Nur nach vorn
KAPITEL 9 - Sprich mit mir
KAPITEL 10 - Du bist nicht allein
KAPITEL 11 - Nie mehr miese Zeiten
KAPITEL 12 - Froh, dass es Dich gibt
KAPITEL 13 - Ab jetzt oder nie
Nachwort von Peter Maffay
Dankeschön
Discografie / Auszeichnungen / Fanclub
Zur Entstehung dieses Buches
Dank Arno Köster
Copyright

Dankeschön

Mein großer Dank gilt:

Thomas Schmitz und dem gesamten Team des Gütersloher Verlagshauses für seine Unterstützung. Meinem Freund und Co-Autor Arno Köster für seine großartige Arbeit. Tine Acke für die wunderschönen Fotos und Frank Joel Platzer für Make-Up und Haare. Meinem Freund und Manager Wolfgang Orthmayr für seine fantastische Arbeit sowie seiner Partnerin Margit Themar für ihre Unterstützung, meiner Mutter Angelina Neigel-Volz und ihrem Partner Rudi Röhrenbeck für ihre Liebe und Unterstützung. Und ich danke Joerg Dudys für seine wunderbare Liebe und dass er ebenso an meiner Seite ist.

 

Mein weiterer Dank gilt:

Udo Lindenberg und Peter Maffay für ihre Loyalität und Freundschaft. Meinen Assistentinnen Karolina Jarecki und Melanie Greulich für all die Unterstützung sowie Holger Orf, Uwe Darkow, Ursula Brausch, Richard Müller, Klaus Perreth, Marco Wehner und allen Musikern und Freunden in meiner wunderbaren Band für ihre Hilfe: Janine Dean, Joerg Dudys, Mario Garruccio, Chris Gross, Ralf Gustke, Andrea Josten, Moritz Müller, Simon Nicholls, Willy Wagner, Sonja Wiegand, Markus Zimmermann, sowie Wolfgang »K-ilie« Rathke, Jens »Bubbes« Stephan, Jens Weihmann und meinem Fanclub.

 

Meinen entzückenden Freunden Petra Majunke, Angelika Paqué, Felix Kurz und Friedemann Schlecht für ihre Unterstützung. Ebenso gilt mein Dank Afyer Alpayici, Nedim Altay, Fa. Audiotechnika, Familie Josef Awwad, Anja Beher, Frank Dostal, Gabriele und Peter Dudys, Reinhard Grahl und seinem Team, Barbara Güder, Maik Hahn, Fa. Hairdreams, Prof. Dr. Paul Hertin, Rainer Herzmann, Klaus Hoffmann, Stefan Huber, Ina Leinhos, Michael Karbaum, Petia Kerinska, Götz Kiso und seinem Team, Wolfgang Kloss, Volker »Wolfman« Kuschner, Prof. Dr. Norbert Linke, Lisa, Robin und Volker Majunke, Jörg Mertens, Alexander Möhnle, Natalia Milat, Nadine Neigel, Svetoslav Petrov, Matthias und Eva Pfeiffer, Frank und Ina Schäfer, Uwe Schmeh, Harald Schneck, Herbert Schreier, Ole Seelenmeyer, Siggi Spaleck, Niki Stauffer, Dr. Christoph Ulmschneider, Verdi, Michael Werner, Ron Williams, Edo Zanki und Christian Ziegler.

 

Außerdem gilt mein Dank all den hier nicht benannten, aber ebenso wunderbaren und guten Menschen, die dafür gesorgt haben, dass es mich noch gibt. Ich liebe und danke euch allen ...

 

 

Julia Neigel

Nachwort von Peter Maffay

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Discografie / Auszeichnungen / Fanclub

LP / CD
1988 Schatten an der Wand (Jule Neigel Band)
1990 Wilde Welt (Jule Neigel Band)
1992 Nur nach vorn (Jule Neigel Band)
1993 Die besten Songs (Jule Neigel Band)
1994 Herzlich Willkommen (Jule Neigel Band)
1996 Sphinx (Jule Neigel Band)
1997 Schatten an der Wand/Wiederveröffentlichung (Jule Neigel Band)
1997 Das Beste (Jule Neigel Band)
1998 Alles (Jule Neigel Band)
2006 Stimme mit Flügel(n) (Julia Neigel)
2011 Neigelneu (Julia Neigel)
2012 Live – unplugged (Julia Neigel)
2012 Live – rock (Julia Neigel)
DVD
2006 Stimme mit Flügel(n) (Julia Neigel)

Auszeichnungen

1978–1981 Preisträgerin beim klassischen
Musikwettbewerb Rheinland-Pfalz
1986 Nachwuchsförderpreis der Stadt
Ludwigshafen
1987 Nachwuchspreis des Radiosenders »Pro Radio 4«
1988 Fred-Jay-Preis der GEMA-Stiftung für Textdichter
1989 TIGRA-Award
1990 Goldene Note
1994 Radio RSH Gold
1997 Platin für Songtexte auf dem Album »Maffay 96«
1998 Audio Live Musik-Award
2000 Ehrenpreis des Landes Rheinland-Pfalz für besondere musikalische Verdienste
2005 Platin für Songtexte auf dem Album »Maffay Laut & Leise«

Offizieller Julia Neigel Fanclub / Autogrammwünsche

Petra Majunke
Friedemann Schlecht
Postfach 200218
73713 Esslingen

 

info@jnfc.de
www.jnfc.de

Zur Entstehung dieses Buches

Eigentlich lag es schon immer auf der Hand. Ein Buch über Julia Neigels bewegtes Leben. Ich habe sie schon früh für mich entdeckt. Als Teenie in Mannheim/Ludwigshafen machte ich noch selber Musik. Immer wieder hörte man damals von der »Hopp’n Ex Group«, jener Band, in der Julia ihre ersten Erfolge als Deutschrockerin feierte. So wollten wir auch klingen. Ich war fasziniert von dieser damals noch recht unscheinbaren Frau, die allerdings mit ihrer Stimme alles wegblies, was sich ihr in den Weg stellte. Ein wenig war ich sogar verliebt, damals mit 16. Ich bin ihr hinterhergereist, habe mich bei Open Air-Festivals am Altrhein von Mücken zerstechen lassen oder nächtelang im Ludwigshafener Club »Kulisse« verbracht, wo Julia in den frühen 80ern als Bedienung gearbeitet hat. Ich war fasziniert von diesem Powerpaket, das immer schon so aussah, als wüsste sie genau, was sie will.

 

Irgendwann habe ich sie aus den Augen verloren, und als Jürgen von der Lippe 1988 in seiner Sendung den ersten TV-Auftritt von Jule Neigel ansagte, wusste ich genau, wen er meinte. Es war klar, dass sie irgendwann einmal auf den großen Bühnen stehen würde. Obwohl »Schatten an der Wand« überhaupt nicht meine Musikrichtung war, hat Julia mich umgehauen. Das, was ich hörte und sah, gab es bis dahin nicht in der deutschen Musikszene. Aus dem barfüßigen Hippie-Mädchen war eine gestandene Rockerin geworden, die mit ihrer Vier-Oktaven-Stimme ganz neue Maßstäbe setzte. Seit diesem Kick-Off folgten 12 Jahre Erfolg, Top-Ten-Alben und jede Menge Tourneen. Mitte der 90er-Jahre haben wir uns schließlich kennengelernt. Damals arbeitete ich beim Radio und sollte sie interviewen, zwei Stunden live, die ich nie vergessen werde. Nur selten zuvor und danach hatte ich so einen Draht zu einem Gast. Es war, als würden wir uns schon ewig kennen - und zumindest von meiner Seite aus war es ja auch so. Seitdem haben wir viele Interviews geführt. Was sie sagte, hat mich immer beeindruckt, denn es war nie so unfundiert wie bei den meisten Kolleginnen ihrer Zeit. Immer ging es auch um soziale und zwischenmenschliche Themen, die ihr am Herzen lagen. Fragen musste man sie danach nicht, sie hat es immer selber angesprochen und das Medium genutzt.

 

Aus der anfänglichen »Geschäftsbeziehung« entwickelte sich schnell eine Freundschaft. So habe ich hautnah mitbekommen, was Julia widerfahren und wie sie mit all dem umgegangen ist. Ich war Zeuge mancher hier beschriebenen Anekdote, und so hatten wir schon Mitte der 2000er-Jahre die Idee, ein Buch zu schreiben. In unseren Köpfen war schon klar, wie es aussehen könnte, doch aufgrund anderer wichtiger Dinge blieb das Exposé lange in der Schublade. Bis zu einem Auftritt in Bettina Böttingers Talkshow »Kölner Treff« im Jahre 2011, bei dem Julia frei und ohne Verbitterung von ihrem Schicksal erzählte. Am Fernseher saß damals auch Thomas Schmitz vom Gütersloher Verlagshaus, der auch angetan von dieser Frau und ihrer Geschichte war. Schneller als erwartet hatten wir unseren Verlag und eine große Aufgabe vor uns. Von Anfang an war klar, dies Buch sollte nicht ausschließlich von Musik handeln. Es sollte auch die Geschichte einer Frau sein, die sich nach jahrelanger Erniedrigung, psychischen Krisen und menschlichen Enttäuschungen dem Aufbruch nach vorn und dem Kampf um Gerechtigkeit stellt. Das Leben ist bekanntlich der beste Poet, und so mussten wir diese Vielzahl von Ereignissen ordnen.

 

Nächtelang saßen wir in Julias Küche zwischen ihren kulinarischen Köstlichkeiten, Aktenbergen und Fotos. Dabei haben wir zunächst einmal sortiert und strukturiert. Im September 2011 begannen wir dann mit den Interviews, oft stundenlang. Wir nutzten jede freie Minute und trafen uns an den unterschiedlichsten Orten. Neben der heimischen Küche, im Band-Bus, in einer Nachtbar in Baden-Baden mit lauter Barry-White-Musik im Hintergrund, in einer Szenekneipe in Dresden-Neustadt oder in Julias goldenem Himmelbett. Es war nicht immer leicht, alle diese Geschichten aufzuschreiben und zu bewerten. Julia hat mir bereitwillig ihr Leben ausgebreitet und viele Gesichter gezeigt. Es waren lustige, nachdenkliche, politische und manchmal auch alltägliche Gespräche, die zusammengefasst dieses Werk ergaben und sie so zeigen, wie viele sie noch nicht kennen. Ich denke, es ist uns gelungen, den richtigen Ton zu treffen. Julia Neigel ist eine Person, die nie vergessen hat, wo sie herkommt, die immer hellwach, neugierig, engagiert und der Gerechtigkeit verpflichtet ist. Das Buch zeigt sie, wie ich sie auch als Freundin erlebe.

 

In den letzten Monaten sind wir noch enger zusammengewachsen. In viele ihrer Geschichten konnte ich mich gut hineinversetzen, es war, als sei ich dabei, so hautnah und authentisch hat sie erzählt. Während der Arbeit haben wir gemeinsam immer wieder neue Themen entdeckt, Visionen entwickelt, die Welt gerettet, zusammen gelitten, philosophiert und gelacht. Ein bisschen ist dieses Buch für Julia auch ein weiteres Stück Befreiung. Nachdem sie mir die Geschichten erzählt hatte, waren sie raus, aufgeschrieben und damit endgültig im Speicher der Erinnerungen abgelegt. Unvergessen sind winterliche Spaziergänge im apokalyptischen Sonnenlicht durch Ludwigshafener Industriedenkmäler oder eine legendäre Fotosession in Leipzig. Da wurde das Hotelzimmer mal eben zum Fotostudio umfunktioniert, der Manager als Assistent eingespannt und der Autor zum Kofferträger. Die Sonne hat es gut gemeint mit uns an diesem Tag und ihr bestes Licht gezaubert, was unter dem Lachen aller Beteiligten die schönsten Portraits entstehen ließ. Außerdem wuchsen neue Freundschaften, weil Julias Frauen-Clan jeden sofort herzlich aufnimmt.

 

Schwer fiel Julia das Gegenlesen. Oft wollte sie ihr Leben nicht auch noch schwarz auf weiß sehen. Trotzdem hat sie sich mutig mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt und so manche ehrliche und offene Ergänzung gemacht. So haben wir ein Werk geschaffen, das hoffentlich vielen Menschen Mut macht und zeigt, dass man sein Leben auch im reiferen Alter noch ändern kann, wenn man nur will und die richtigen Freunde hat.

 

Beim Schreiben habe ich oft innehalten müssen, so unglaublich sind manche Erzählungen. Ich habe geweint, gelacht, mich aufgeregt, aber auch jede Menge neue Ansätze für mein eigenes Leben gefunden. Möge es den Leserinnen und Lesern genauso gehen.

 

Danke, Julia, für deine Offenheit und für diese spannende und erkenntnisreiche Zeit.

 

 

Arno Köster

Dank Arno Köster

Ich danke meinem Sohn Janosch-Khalil, der nächtelang meine Schreibwut ertragen hat. Melanie Greulich für liebevolle Aufmunterungen, einfühlsame Interviews, Geduld, Liebe und immer die passenden Anmerkungen zur richtigen Zeit. Danke an Wolfgang Orthmayr für viele geöffnete Türen. Meinem Freund Udo Lindenberg danke ich für angemessene Sätze im Vorwort und für seine konstruktive Beratung bei der Entstehung dieses Buches. Danke auch an Peter Maffay für ein »rundes« Nachwort und sein Engagement für Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Toleranz. »Fotofix« Tine Acke danke ich für einen lustigen Tag in Leipzig und ihre wunderbaren Fotos. Petra Majunke und Geli Paqué für Geschichten aus Julias Leben, gefüllte Paprikaschoten und Bauchkrämpfe vor Lachen. Danke an Gitarrengott Joerg Dudys für feine Rotweine und eine neu gefundene Freundschaft. Danke an Rita Flügge-Timm für produktives Brainstorming und an Gaffa für entspannte Momente.

 

Mein Dank gilt auch Thomas Schmitz und Klaus Altepost vom Gütersloher Verlagshaus. Außerdem danke ich allen, die an Julia glauben, besonders Ben Streubel, Hanno Maack, Matthias »Mawi« Winkler und Achim Zetzmann. Danke auch an meine stillen Beraterinnen Ulla Kock am Brink, Kathrin Wildenberger und Sandra Schumm.

 

Ein ganz spezieller Herzensdank geht an meine wundervolle Tochter Nina-Amira und meine Eltern.

 

Grüße gehen raus an: Simone Dake, Jule Walther, Nicole Schwarz, Reinhold Beckmann, Benjamin von Stuckrad Barre, Jan Hahn, Alex Huth, Ingolf Kloss, Conny Eisert, Sebastian Krumbiegel, Sonja »Schwessi« Schwabe, Peter Matzke, Martin Tingvall, Pascal Kravetz, Ina Boo, Uli Hauser, Carsten Müller, Sigmar Gabriel und Matthias Matussek.

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Meine Mutter brachte fünf Kinder zur Welt. Ich war das jüngste und ihr viertes Mädchen. Mein Vater hätte eigentlich viel lieber Söhne gehabt. Für meine Mutter war jede Schwangerschaft nach der zweiten Geburt gefährlich. Sie litt unter Herzrhythmusstörungen, die über die Jahre immer schlimmer wurden. Nach dem vierten Kind rieten ihr die Ärzte, auf keinen Fall mehr ein weiteres zu bekommen. Auch weil sie schon 36 war, in den 1960er-Jahren ein hohes Alter, um Mutter zu werden. Ihre Herzanfälle hätten für uns beide tödlich ausgehen können, zumal die medizinische Versorgung zu dieser Zeit in Russland alles andere als herausragend war; von ärztlicher Betreuung während einer Risikoschwangerschaft war in Sibirien schon gar nicht auszugehen. Also legte man meiner Mutter eine Abtreibung nahe. Es schien, als hätte mein Vater nichts dagegen. Sie aber entschied sich für mich. Es folgten harte Monate voller Angst. Jeden Tag Spritzen mit Medikamenten, Vitaminen und anderen Nährstoffen. Damals waren die meisten Menschen in Sibirien mangelernährt, und jeden Tag bestand die Gefahr, dass entweder meine Mutter, ich oder wir beide nicht überlebten. Doch es ist alles gut gegangen, und auch mein Vater war dann, als er mich zum ersten Mal sah, glücklich. Ich muss ein süßes Baby gewesen sein, mit schwarzen Schillerlöckchen und großen, hellen Augen. Wir wohnten damals in Barnaul, einer Stadt in Westsibirien. Schon seit Jahrhunderten lebten die Menschen in dieser Region vom Bergbau. Die Stadt hatte zur Zeit meiner Geburt rund eine halbe Million Einwohner.

 

Unser Haus lag etwas außerhalb an einem kleinen Wald. Es war eine sogenannte »Datscha« im typischen sibirischen Baustil. Ein kleines kompaktes Haus aus Holz, gelb gestrichen. Meine Eltern hatten es mit ihren eigenen Händen gebaut. Damals war Grund und Boden in Russland Volksbesitz. Das Haus gehörte immer den Erbauern, das Grundstück nicht. Wenn man aus-oder umgesiedelt wurde, musste man woanders neu anfangen. Das mühsam errichtete Heim war weg, andere Menschen zogen dort ein. So war das harte Schicksal der Russlanddeutschen in der Nachkriegs-Sowjetunion. Sie lebten in ständiger Sorge davor, verjagt zu werden.

Mit der Geschichte meiner Familie habe ich mich erst sehr spät beschäftigt. Vorher hatte ich vieles verdrängt. Meine Herkunft war dann in Deutschland schon im Kindesalter Anlass, verletzt, schikaniert und gequält zu werden. Jahre später erst erkannte ich, dass Russlanddeutsche immer in ihrer eigenen Welt lebten. Sie waren konservativ und stolz auf ihre Herkunft, ständig aber auch Verfolgte. Mein Großvater z. B. wurde von den Bolschewisten enteignet. Er war Großgrundbesitzer und sieben Jahre lang im Gulag. Als er rauskam, stand er vor dem Nichts und musste erstmal seine vertriebene Familie finden. Mit der sogenannten »Russifizierung« wurde ihm dann auch noch seine eigene Sprache verboten, obwohl Zarin Katharina den Russlanddeutschen Religions- und Sprachfreiheit auf ewig garantiert hatte.

 

Als schließlich Hitler über die Sowjetunion herfiel, gab Stalin die Erlaubnis zur Vernichtung aller Menschen mit deutscher Herkunft. Russlanddeutsche waren plötzlich Freiwild geworden und viele Menschen überlebten das nicht. Und wenn, dann weil sie vertrieben, nach Sibirien verschleppt oder geflohen waren. Auch die beiden Familien meiner Eltern konnten entkommen, indem sie zurückgingen in das damals schon sehr vom Krieg gezeichnete Deutschland. Hier in Berlin ließen sie sich einbürgern, doch eine Heimat fanden sie auch hier nicht. Im Grunde war meine Familie Mitte des 20. Jahrhunderts immer hin- und hergerissen und ohne richtige Wurzeln. In den letzten Tagen des Krieges deportierten die bereits einmarschierten Russen die Frauen und Mädchen meiner Familie wieder zurück. Die Eingebürgerten bekamen die Rache der Sieger zu spüren. So kam meine Mutter nach Sibirien, laut Stalins Beschluss als »Verräterin« geächtet. Viele Menschen verhungerten, erfroren oder wurden ermordet. Meine Großmutter starb in den Armen meiner Mutter. Im Gulag zwischen Baracken und Eis. Schon zuvor hatte sie zwei Schwestern verloren. Da war sie gerade mal 14 Jahre alt.

 

Unser Haus in Barnaul war das erste, das meine Eltern erbaut hatten. Es lag am Rand einer Ansammlung von alten Hütten, die früher einmal ein Dorf waren. Direkt vor unserer Tür begann die freie Natur.

 

Im Haus selbst war es sehr beengt, aber der Garten war wunderschön. Er ernährte uns und wurde von meiner Mutter akribisch gepflegt. Obstbäume und allerlei Gemüse gab es dort. Hinter dem Haus hielt sie Hühner und Hasen, die sich fest in meine Erinnerung eingebrannt haben. Schon als Dreijährige habe ich gesehen, wie die Tiere geschlachtet wurden. Eklig fand ich das schon, aber es war damals normal. Jeder musste halt schauen, dass er sich so autark wie möglich am Leben hielt.

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Unser Leben in Barnaul war arm. Sieben Menschen drängten sich auf engstem Raum. Ein großer Kachelofen wärmte das Haus. Wasser machte meine Mutter über einem Feuer in der Küche warm. Ein Kriechkeller, der in den Permafrostboden unter dem Haus geschlagen war, diente als Kühlschrank. Oft hatte ich als kleines Kind kaum Platz zum Spielen oder musste Rücksicht auf die anderen nehmen. Trotzdem empfinde ich heute meine Kindheit in Sibirien als sehr gücklich. Meine Tage habe ich im Schnee oder in der Sonne verbracht. Es waren immer kurze, heiße Sommer, die satt waren mit Mohnfeldern, Kirschblüten und Blumenwiesen. Intensive Farben und Gerüche, wie ich sie danach nie mehr wahrgenommen habe. Die Winter waren bitterkalt und verschneit. Uns Kindern hat das aber wenig ausgemacht, wir waren immer dick angezogen. Ich trug damals einen Bärenmantel und richtig dicke Pullover. Gespielt habe ich mit den Nachbarskindern, stundenlang draußen. Wir bauten Schneemänner, liefen Schlittschuh oder sammelten Holz. Schon als Dreijährige hatte ich einen Verehrer. Ein Junge von nebenan, der jeden Tag vor unserer Tür stand. »Julitschka«, hat er immer gerufen, »lass uns Schlitten fahren.« Mit ihm bin ich dann Hand in Hand losgezogen, neuen Abenteuern entgegen. Manchmal liefen wir einen ganzen Tag durch den Wald und trafen keinen Menschen. Vielleicht mal einen Fuchs. Es soll dort auch Wölfe und Bären gegeben haben. Sibirien war extrem, rauh und launisch, aber auch wunderschön.

 

So lernte ich schon sehr früh, dass man nur überleben kann, wenn man robust ist. Wir Menschen waren den Zyklen und Gegebenheiten der Natur ausgeliefert. Umso wichtiger waren der Schutz der Gemeinschaft und auch die Loyalität in der Familie. Wir mussten füreinander da sein, schon um zu überleben. Wenn man mal von meinem Vater absieht, hat mich dieser liebevolle Umgang untereinander ebenso stark geprägt wie das Leben mit den Naturkräften. Das imponiert mir bis heute. Immer wenn sich die Verwandtschaft meiner Mutter im großen Kreis trifft, stelle ich fest, dass diese Menschen Werte und Tugenden konserviert haben, nach denen wir heute lange suchen müssen.

 

Zu meinem Vater hatte ich nie ein wirkliches Verhältnis. Irgendwie stand er immer neben uns, gehörte nicht so recht dazu. Er war ein konservatives Familienmitglied. Oft habe ich mitbekommen, dass er meine Mutter mehr als schlecht behandelte. Er hob oft genug die Hand. Dann saß ich zusammengekauert in einer Ecke und hatte Angst um sie. So entwickelte ich sehr früh schon ein Gefühl für Ungerechtigkeit und Misstrauen. Oft habe ich gebetet, dass Mama das überlebt, denn ihre Herzprobleme waren verständlicherweise besonders heftig nach solchen Vorfällen.

 

Instinktiv war mir schon sehr früh klar, dass meine Eltern eine unglückliche Ehe führten und dass meine Mutter auch deswegen so krank war. Doch sie war von klein auf natürlich meine wichtigste Bezugsperson. Gleich danach kamen meine älteren Schwestern Regina und Lena. Sie waren schon früh angehalten worden, sich um ihre jüngeren Geschwister zu kümmern und Verantwortung zu übernehmen.

 

Regina war damals 16 und ich drei. Sie und meine Schwester Lena gaben mir das nötige Urvertrauen.

 

Und dann war da noch unser Hund, den ich über alles liebte. Er hieß Dusic, war dreifarbig – braun, rot und schwarz – ein Mischling aus Collie und Schäferhund. Er bewachte das Haus, war zu den meisten Menschen aggressiv und ließ niemanden an sich heran. Zu mir war Dusic zutraulich, ich konnte mit ihm machen, was ich wollte. Er hörte auf mich, und ich konnte mich sogar von ihm tragen lassen.

 

Mein Großvater Matthias Schumacher ist der Vater meiner Mutter. Mit Einbürgerung in Berlin musste er zur Wehrmacht. Er zog in den Krieg und kam viele Jahre in Gefangenschaft. Nach seiner Entlassung ging er in den Westen, nach Ludwigshafen, da es ihm unmöglich war, dorthin zurückzukehren, wo er früher gelebt hatte. Geld hatte er keines, und seine Familie war von den Russen deportiert. So lebte Opa Matthias die ausgehenden 40er-und frühen 50er-Jahre alleine, weil er nicht in Erfahrung bringen konnte, wo Frau und Kinder waren. Als Konrad Adenauer 1955 zu einem Staatsbesuch in Moskau eingeladen wurde, hatte er sich auf die Fahne geschrieben, die noch gefangenen Soldaten und Zivilisten zu befreien. In zähen Verhandlungen schaffte er es. So kamen auch die Russlanddeutschen frei, die als Kriegsverschleppte galten und ebenfalls in Lagern gefangen waren. Von diesem Zeitpunkt an wurde einiges einfacher. Das Rote Kreuz durfte jetzt auch offiziell helfen, Verwandte wiederzufinden. Mein Großvater nutzte das, um seine Liebsten zu suchen.

 

Eines Tages bekam dann meine Mutter in Barnaul die Information, dass ihr Vater am Leben sei und in Ludwigshafen wohne, verbunden mit der Frage, ob sie die leibliche Tochter sei. Mama war vollkommen überfordert, denn sie ging davon aus, Vollwaise zu sein. Was mit ihrem Bruder geschehen war, wusste sie nicht. Ihre beiden Schwestern, die ältere Magdalena und die jüngere Julia, waren wie sie auch verschleppt worden, und so wohnten sie alle in derselben Region. Vom Rest der Familie hatte sie nie wieder etwas gehört. Als sie von ihrem Vater erfuhr, war sie um die 40.

 

Nach vielen vergeblichen Versuchen meiner Mutter, ausreisen zu dürfen, zogen wir schließlich zu ihrer Schwester Magdalena, die näher an der Grenze wohnte, nach Tiraspol. Dort waren die Bestimmungen nicht so hart, das Leben irgendwie auf vielen Ebenen einfacher.

 

Ich erinnere mich dann noch genau an den langen weiten Weg aus Russland. Irgendwie war es auch schon traurig, dass wir unser Heim, unsere Heimat verlassen mussten. Wir konnten ja nichts mitnehmen, nur ganz wenige private Dinge. Bilder, Kleider, Dokumente und ein paar kleine Erinnerungsstücke. Lena zum Beispiel hatte eine alte Streichholzschachtel mit russischer Erde dabei. Ich wollte natürlich den Hund mitnehmen, der aber nicht mitdurfte. Es war ein sehr schlimmer Abschied für mich. Als wir mit dem Bus abfuhren, riss Dusic sich von seiner Kette los, rannte uns hinterher bis zu einer Kreuzung, wo er dann verschwand. Die nächsten 300 Kilometer habe ich nur geheult. Dann ging es weiter mit dem Zug, und ich sehe mich noch am Bahnhof in Moskau sitzen. Mit einer Limo in der Hand, deren Geschmack ich nie vergessen werde.

 

Für mich als fünfjähriges Mädchen war alles Abenteuer ...