Cover
Anna Gavalda
Ich habe sie geliebt
Aus dem Französischen von
Ina Kronenberger
Carl Hanser Verlag
Die französische Originalausgabe erschien
2002 unter dem Titel
Je l’aimais
bei Le Dilettante in Paris
ISBN 978-3-446-24215-9
© 2002 by Le Dilettante
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© Carl Hanser Verlag München Wien 2003/2012
Satz: Filmsatz Schröter GmbH, München
E-Book-Konvertierung: Beltz Bad Langensalza GmbH
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Für Constance
»Was hast du gesagt?«
»Ich habe gesagt, daß ich mit ihnen wegfahre. Es wird ihnen guttun, ein bißchen rauszukommen.«
»Und wann?« fragte meine Schwiegermutter.
»Jetzt.«
»Jetzt? Das meinst du nicht im Ernst.«
»Und ob.«
»Aber, was soll das denn heißen? Es ist fast elf Uhr! Pierre, du …«
»Suzanne, ich rede mit Chloé, hör zu, Chloé. Ich möchte gerne mit euch wegfahren, weit weg von hier. Hast du Lust?«
»…«
»Du findest die Idee nicht gut?«
»Ich weiß nicht.«
»Pack deine Sachen. Wir fahren los, sobald du wieder hier bist.«
»Ich will nicht nach Hause zurück.«
»Dann laß es bleiben. Wir regeln das schon irgendwie vor Ort.«
»Aber du …«
»Chloé, Chloé, bitte – Vertrau mir.«
Meine Schwiegermutter protestierte weiter:
»Nein, also, ihr werdet doch jetzt nicht die Kleinen wecken, also wirklich! Das Haus ist nicht einmal geheizt! Es ist nichts da! Für die Mädchen ist nichts da. Sie …«
Er hatte sich erhoben.
*
Marion schläft im Kindersitz, den Daumen an den Lippen. Lucie liegt zusammengerollt daneben.
Ich betrachte meinen Schwiegervater. Er sitzt ganz aufrecht. Seine Hände umklammern das Lenkrad. Er hat nicht ein Wort gesagt, seit wir losgefahren sind. Ich sehe ihn im Profil, wenn die Lichter eines anderen Autos auf uns zukommen. Ich glaube, er ist genauso unglücklich wie ich. Er ist müde. Er ist enttäuscht.
Er spürt meinen Blick:
»Warum schläfst du nicht? Du solltest lieber schlafen, weißt du, du solltest deinen Sitz umlegen und schlafen. Die Fahrt ist noch lang.«
»Ich kann nicht«, antworte ich, »ich paß auf euch auf.«
Er lächelt mir zu. Ein fast unmerkliches Lächeln.
»Nein, das mach ich …«
Und wir hängen wieder unseren Gedanken nach.
Und ich bedecke mein Gesicht mit den Händen und weine.
Wir halten an einer Tankstelle. Ich nutze seine Abwesenheit, um einen Blick auf mein Handy zu werfen.
Keine Nachricht.
Natürlich nicht.
Bin ich blöd.
Bin ich blöd …
Ich mache das Radio an, mache es wieder aus.
Er kommt zurück.
»Willst du kurz los? Möchtest du etwas haben?«
Ich nicke.
Ich drücke den falschen Knopf, mein Becher füllt sich mit einer widerlichen Flüssigkeit, die ich sofort wieder wegkippe.
Im Laden kaufe ich eine Packung Windeln für Lucie und eine Zahnbürste für mich.
Er fährt nicht eher los, bis ich die Rückenlehne umgelegt habe.
*
Ich schlage die Augen auf, als er den Motor abstellt.
»Bleib sitzen. Bleib mit den Mädchen im Auto, solange es noch warm ist. Ich mache die elektrischen Heizkörper in eurem Zimmer an. Dann hole ich euch.«
Erneut mein Handy angefleht.
Um vier Uhr morgens.
Bin ich blöd.
Ich finde keinen Schlaf.
Wir liegen alle drei im Bett von Adriens Großmutter. Das schrecklich knarrt. Es war unser Bett gewesen.
Wir haben miteinander geschlafen und versucht, uns dabei so wenig wie möglich zu bewegen.
Das ganze Haus wußte Bescheid, sobald jemand nur einen Arm oder ein Bein bewegte. Ich erinnere mich noch an Christines vielsagenden Blick am ersten Morgen. Wir erröteten über unserem Kaffee und hielten unterm Tisch Händchen.
Wir hatten unsere Lektion gelernt. Und liebten uns so diskret wie möglich.
Ich weiß, daß er mit einer anderen in dieses Bett zurückkehren wird und daß er auch mit ihr die schwere Matratze herausnehmen und auf den Boden werfen wird, wenn sie es nicht mehr aushalten.
Marion weckt uns. Sie läßt ihre Puppe über die Daunendecke laufen und erzählt dabei eine Geschichte von verschwundenen Lutschern. Lucie berührt meine Wimpern: »Deine Augen sind ganz verklebt.«
Wir ziehen uns unter der Decke an, im Zimmer ist es zu kalt.
Das ächzende Bett bringt sie zum Lachen.
Mein Schwiegervater hat in der Küche Feuer gemacht. Ich sehe ihn ganz hinten im Garten, wo er im Schuppen Feuerholz holt.
Es ist das erste Mal, daß ich mit ihm allein bin.
Ich habe mich in seiner Gesellschaft nie wohl gefühlt. Zu distanziert. Zu verschlossen. Und alles, was Adrien mir über ihn erzählt hat, wie schwierig es war, unter seinem Blick, seiner Strenge, seinen Wutanfällen aufzuwachsen, die Qualen in der Schule.
Das gleiche gilt für Suzanne. Ich habe zwischen den beiden nie so etwas wie Zärtlichkeit gesehen. »Pierre zeigt seine Gefühle nicht gern, aber ich weiß, was er für mich empfindet«, hatte sie mir eines Tages anvertraut, als wir beim Bohnenputzen über die Liebe sprachen.
Ich hatte genickt, aber nicht verstanden. Ich verstand diesen Mann nicht, der sich ständig zurücknahm und in seinem Schwung bremste. Bloß keine Gefühle zeigen, aus Angst vor Schwäche, das habe ich noch nie begriffen. Bei uns zu Hause küßt und berührt man sich, wie man atmet.
Ich erinnere mich an einen erregten Abend in dieser Küche. Meine Schwägerin Christine beschwerte sich über die Lehrer ihrer Kinder, nannte sie inkompetent und borniert. Anschließend war das Gespräch auf die Erziehung im allgemeinen und die ihre im besonderen gekommen. Und der Wind hatte gedreht. Klammheimlich. Die Küche hatte sich in ein Tribunal verwandelt. Adrien und seine Schwester die Staatsanwälte, der Vater auf der Anklagebank. Was für eine peinliche Situation. Wäre es wenigstens zum Eklat gekommen, aber nein. Die Verbitterung war unterdrückt, der große Knall vermieden worden, und man hatte sich auf ein paar böswillige Sticheleien beschränkt.
Wie immer.
Wie hätte es auch anders sein sollen? Mein Schwiegervater weigerte sich, in die Arena hinabzusteigen. Er hörte sich die scharfen Bemerkungen seiner Kinder an, aber er gab nie eine Antwort darauf. »Eure Kritik perlt an mir ab wie an den Federn einer Ente«, schloß er stets lächelnd, bevor er sich zurückzog.
Dieses Mal war die Diskussion jedoch schärfer verlaufen.
Ich sehe sein verzerrtes Gesicht noch vor mir, seine Hände, die krampfhaft die Wasserkaraffe umschlossen hielten, als wollte er sie vor unser aller Augen zerdrücken.
Ich stellte mir all die Worte vor, die er nie aussprechen würde, und versuchte zu begreifen. Was genau nahm er wahr? Woran dachte er, wenn er allein war? Und wie war er in intimen Situationen?
Aus reiner Verzweiflung hatte sich Christine an mich gewandt:
»Und du, Chloé, was sagst du zu alledem?«
Ich war müde, ich wollte, daß dieser Abend ein Ende nahm. Ich hatte meine Dosis an Familieninterna längst bekommen.
»Ich«, hatte ich nachdenklich gesagt, »ich glaube, daß Pierre nicht unter uns lebt, nicht wirklich, meine ich, ich glaube, daß er eine Art Marsmensch ist, der sich in die Familie Dippel verirrt hat …«
Die anderen hatten mit den Schultern gezuckt und sich abgewandt. Er nicht.
Er hatte die Karaffe losgelassen und sein Gesicht für einen Moment geöffnet, um mir zuzulächeln. Es war das erste Mal, daß ich ihn auf diese Weise lächeln sah. Und vielleicht auch das letzte Mal. Ich hatte das Gefühl, als sei an diesem Abend so etwas wie eine Komplizenschaft zwischen uns entstanden. Etwas ganz Zartes. Ich hatte versucht, ihn so gut ich konnte zu verteidigen, diesen seltsamen Marsmenschen mit den grauen Haaren, der sich soeben mit einer Schubkarre voller Holz der Küchentür näherte.
*
»Alles in Ordnung? Ist dir nicht kalt?«
»Alles in Ordnung, vielen Dank.«
»Und die Kleinen?«
»Sie schauen sich einen Zeichentrickfilm an.«
»Kommen um diese Uhrzeit schon Zeichentrickfilme?«
»In den Schulferien jeden Morgen.«
»Aha – wunderbar. Hast du den Kaffee gefunden?«
»Ja, ja, danke.«
»Und du, Chloé? Apropos Ferien, mußt du nicht …«
»In meiner Firma anrufen?«
»Nun ja, ich weiß ja nicht.«
»Doch, doch, ich werde anrufen, ich …«
Ich fing wieder an zu weinen.
Mein Schwiegervater senkte den Blick. Er zog die Handschuhe aus.
»Entschuldige, ich mische mich in Sachen ein, die mich nichts angehen.«
»Nein, nein, das ist es nicht, es ist nur, daß – ich fühle mich so verloren. Ich bin vollkommen verloren. Ich – du hast recht, ich werde meine Chefin anrufen.«
»Wer ist deine Chefin?«
»Eine Freundin, na ja, ich glaube, ich will mal sehen …«
Ich band meine Haare mit einem von Lucies alten Haarbändern zusammen, das ich in meiner Hosentasche gefunden hatte.
»Du kannst ihr ja sagen, daß du ein paar Tage Urlaub brauchst, um dich um deinen griesgrämigen alten Schwiegervater zu kümmern«, schlug er vor.
»Ja, griesgrämig und gebrechlich werde ich sagen. Das klingt seriöser.«
Er lächelte und blies über seinen Kaffee.
Laure war nicht da. Ich stammelte ihrer Assistentin etwas vor, die einen Anruf auf der anderen Leitung hatte.
Dann zu Hause angerufen. Die Nummer des Anrufbeantworters gewählt. Belanglose Nachrichten.
Was hatte ich erwartet?
Und schon wieder kamen die Tränen. Mein Schwiegervater trat ein und ging sofort wieder hinaus.
Ich sagte mir: »Okay, jetzt wird noch einmal richtig geheult, dann ist es gut. Noch einmal Rotz und Wasser heulen, die letzte Träne herausquetschen, diesen großen traurigen Körper ein für allemal auswringen, und dann eine Seite weiterblättern. Einen Fuß vor den anderen setzen und noch einmal von vorn anfangen.«
Man hatte es mir schon hundertmal gesagt. Denk an was anderes. Das Leben geht weiter. Denk an deine Töchter. Du darfst dich nicht gehenlassen. Reiß dich zusammen.
Ja, ich weiß, ich weiß es genau, aber glaubt mir: Ich schaffe es nicht.
Vor allem, was heißt das denn: leben? Was soll das denn heißen?
Meine Kinder, was kann ich ihnen denn bieten? Eine Mama, die humpelt? Eine verkehrte Welt?
Ich will gern morgens aufstehen, mich anziehen, etwas essen, sie anziehen, ihnen zu essen geben, bis zum Abend durchhalten und sie mit einem Gutenachtkuß ins Bett bringen. Das kann ich gern tun. Jeder kann das. Aber mehr nicht.
Erbarmen.
Mehr nicht.
»Mama!«
»Ja«, antworte ich und schneuze mich in den Ärmel.
»Mama!«
»Hier bin ich, hier bin ich.«
Lucie baute sich vor mir auf, im Nachthemd unter ihrem Mantel. Sie hielt ihre Barbiepuppe an den Haaren und wirbelte sie im Kreis herum.
»Weißt du, was Opa gesagt hat?«
»Nein?«
»Er hat gesagt, daß wir zu McDonald’s gehen.«
»Das glaube ich nicht«, antworte ich.
»Doch, das stimmt aber! Das hat er von ganz allein gesagt.«
»Wann?«
»Grad eben.«
»Ich dachte, er kann solche Läden nicht ausstehen, McDo…«
»Neeein, das stimmt gar nicht. Er hat gesagt, daß wir einkaufen gehen und daß wir dann zu McDonald’s gehen, sogar du, sogar Marion, sogar ich und sogar er!«
Sie nahm mich bei der Hand, als wir zusammen die Treppe hinaufgingen.
»Weißt du was, ich habe fast gar nichts zum Anziehen hier. Wir haben alles in Paris vergessen.«
»Das stimmt«, gebe ich zu, »wir haben alles vergessen.«
»Und weißt du, was Opa gesagt hat?«
»Nein.«
»Er hat zu Marion und mir gesagt, daß er uns was kauft, wenn wir einkaufen gehen. Und daß wir uns die Sachen selber aussuchen dürfen …«
»Aha?«
Ich zog Marion an und kitzelte sie dabei am Bauch.
Unterdessen steuerte Lucie, die auf der Bettkante saß, langsam, aber unaufhaltsam auf ihr Ziel zu.
»Er hat gesagt, daß er einverstanden ist.«
»Einverstanden womit?«
»Einverstanden mit dem, was ich von ihm haben will.«
O Schreck.
»Was willst du denn von ihm haben?«
»Barbiekleider«
»Kleider für deine Barbie?«
»Für meine Barbie und für mich. Die gleichen für uns alle beide!«
»Du meinst doch nicht diese schrecklichen glänzenden T-Shirts!?«
»Doch, und alles, was dazugehört: die rosa Jeans, die rosa Turnschuhe, wo Barbie draufsteht, die Strümpfe mit den kleinen Schleifchen. Du weißt schon – da – mit dem kleinen Schleifchen ganz hinten.«
Sie zeigte mir ihren Knöchel.
Ich legte Marion wieder hin.
»Suuuperrrrr«, sagte ich, »du wirst suuuperrrrrrrr aussehen!!!«
Sie zog eine Schnute.
»Sowieso, alles, was schön ist, findest du immer häßlich.«
Ich lachte und küßte sie auf ihren herzallerliebsten Schmollmund.
Verträumt schlüpfte sie in ihr Kleid.
»Gell, ich werde schön aussehen?«
»Du bist schon schön, mein Schatz, du bist schon jetzt sehr, sehr schön.«
»Ja, aber dann noch mehr.«
»Meinst du, das ist möglich?«
Sie denkt nach.
»Ja, ich glaube schon.«
»Okay, dreh dich um.«
Mädchen, was für eine schöne Erfindung, überlegte ich, als ich sie kämmte, was für eine schöne Erfindung.
Als wir in der Schlange vor der Kasse standen, gestand mir mein Schwiegervater, daß er seit über zehn Jahren keinen Fuß mehr in einen Supermarkt gesetzt hat.
Ich dachte an Suzanne.
Stets ganz allein hinter ihrem Einkaufswagen.
Stets ganz allein, überall.
Nachdem sie ihre Nuggets bekommen hatten, spielten die Mädchen in einer Art Käfig mit bunten Kugeln. Ein junger Mann hatte sie gebeten, ihre Schuhe auszuziehen, und ich hielt Lucies gräßliche Turnschuhe »You’re a Barbie girl!« auf dem Schoß.
Das Schlimmste war dieser angedeutete durchsichtige Absatz.
»Wie konntest du nur so etwas Grauenhaftes kaufen?«
»Es macht ihr soviel Freude. Ich versuche, bei der neuen Generation nicht wieder die gleichen Fehler zu machen. Wie hier dieser Laden. Nie im Leben wäre ich mit Christine und Adrien hierhergegangen, wenn es vor dreißig Jahren möglich gewesen wäre. Niemals! Und warum, frage ich mich heute, warum habe ich ihnen dieses Vergnügen vorenthalten? Was hätte es mich schließlich gekostet? Ein paar Minuten in den sauren Apfel zu beißen? Was sind schon die paar Minuten, verglichen mit den strahlenden Gesichtern deiner Mädchen?«
»Ich habe alles genau falsch herum gemacht«, fügte er kopfschüttelnd hinzu, »und sogar dieses dumme Sandwich halte ich verkehrt herum, oder?«
Er hatte die Hosen voller Mayonnaise.
»Chloé?«
»Ja.«
»Ich möchte, daß du etwas ißt. Entschuldige, daß ich mit dir rede wie Suzanne, aber du hast seit gestern nichts mehr gegessen.«
»Ich kann nicht.«
Er nahm sich wieder zurück.
»Wie soll man auch diesen Schweinkram hier essen?! Wer soll so was essen? He? Sag mir, wer? Niemand!«
Ich versuchte zu lächeln.
»Okay, im Moment erlaube ich dir noch zu hungern, aber heute abend ist Schluß damit! Heute abend werde ich kochen, und du wirst mir die Ehre erweisen, ist das klar?«
»Jawohl.«
»Und das hier? Wie ißt man dieses Kosmonautenzeugs?«
Er zeigte auf einen undefinierbaren Salat im Plastik-Shaker.
*
Den Rest des Nachmittags haben wir im Garten verbracht. Die Mädchen schwirrten um ihren Großvater herum, der sich in den Kopf gesetzt hatte, die alte Schaukel zu reparieren. Ich saß auf den Treppenstufen vor dem Haus und sah ihnen von weitem zu. Es war kalt, es war schön. Die Sonne schien durch ihre Haare, und ich fand sie beide hübsch.
Ich dachte an Adrien. Was er wohl gerade machte?
Wo er in genau diesem Augenblick war?
Und mit wem?
Und unser Leben, wie es wohl aussehen würde?
Jeder Gedanke zog mich ein wenig mehr herunter. Ich war so müde. Ich schloß die Augen. Ich träumte, er würde kommen. Wir hörten Motorengeräusch im Hof, er setzte sich neben mich, nahm mich in den Arm und legte mir einen Finger auf den Mund, um die Mädchen zu überraschen. Ich spüre noch seine sanfte Berührung, seine Stimme, seine Wärme, den Geruch seiner Haut, alles ist da.
Alles ist da.
Ich brauche nur daran zu denken.
Wie lange dauert es, bis man den Geruch desjenigen vergißt, der einen geliebt hat? Und wann hört man selbst auf zu lieben?
Man reiche mir eine Eieruhr.
Das letzte Mal, daß wir uns abgeknutscht haben, hatte ich die Initiative ergriffen. Im Fahrstuhl in der Rue de Flandre. Er hatte es mit sich geschehen lassen.
Warum? Warum hatte er sich von einer Frau umarmen lassen, die er nicht mehr liebte? Warum mir seinen Mund dargeboten? Und seine Arme?
Das macht keinen Sinn.
Die Schaukel ist repariert. Pierre wirft mir einen Blick zu. Ich drehe den Kopf weg. Ich habe keine Lust, seinem Blick zu begegnen. Mir ist kalt, auf den Lippen der Rotz, und außerdem muß ich das Badezimmer vorheizen.
»Was kann ich tun, um dir zu helfen?«
Er hatte sich ein Geschirrtuch um die Hüfte gebunden.
»Sind Lucie und Marion im Bett?«
»Ja.«
»Werden sie auch nicht frieren?«
»Nein, nein, es geht ihnen gut. Sag mir lieber, was ich tun kann.«
»Du könntest einmal heulen, ohne daß ich mich dadurch gekränkt fühle. Es würde mir guttun, dich grundlos heulen zu sehen. Hier, die könntest du schneiden«, fügte er hinzu und hielt mir drei Zwiebeln hin.
»Bist du der Meinung, daß ich zuviel heule?«
»Ja.«
Stille.
Ich nahm mir das Holzbrett neben der Spüle und setzte mich ihm gegenüber an den Tisch. Sein Gesicht war wieder angespannt. Nur das Knistern des Feuers war zu hören.
»Das habe ich eigentlich nicht sagen wollen.«
»Wie bitte?«
»Das habe ich eigentlich nicht sagen wollen, ich finde nicht, daß du zuviel heulst, es bedrückt mich nur. Du siehst so süß aus, wenn du lächelst.«
»Willst du etwas trinken?«
Ich nickte.
»Warten wir, bis er sich ein bißchen erwärmt hat, es wäre schade drum. Willst du in der Zwischenzeit einen Bushmills?«
»Nein, danke.«
»Und warum nicht?«
»Ich mag keinen Whisky.«
»Du bedauernswertes Geschöpf! Das hat nichts miteinander zu tun! Hier, probier mal …«
Ich führte das Glas an die Lippen, es schmeckte scheußlich. Ich hatte seit Tagen nichts gegessen, ich war sofort betrunken. Mein Messer rutschte auf den Zwiebeln aus, und mein steifer Nacken war wie weggeblasen. Ich würde mir einen Finger abschneiden. Ich fühlte mich gut.
»Schmeckt gut, oder? Den habe ich von Patrick Frendall zum Sechzigsten bekommen. Kannst du dich an Patrick Frendall erinnern?«
»Äh – nein.«
»Doch, doch, du hast ihn hier schon gesehen, weißt du nicht mehr? Ein riesiger Kerl mit kräftigen Armen…«
»War das der, der Lucie in die Luft geworfen hat, bis sie fast gespuckt hätte?«
»Genau«, antwortete Pierre und schenkte mir nach.
»Ja, ich erinnere mich.«
»Ich mag ihn gern, ich denke sehr oft an ihn. Seltsam, ich halte ihn für einen meiner besten Freunde, obwohl ich ihn kaum kenne.«
»Du hast so etwas wie beste Freunde?«
»Warum fragst du?«
»Einfach so. Na ja, ich habe keine Ahnung. Du hast nie etwas davon erzählt.«
Mein Schwiegervater nahm sich die Karotten vor. Es ist immer witzig, einem Mann zuzuschauen, der zum ersten Mal in seinem Leben kocht. Diese Art, das Rezept bis aufs Komma zu befolgen, als wäre Bocuse ein Gott, den man leicht beleidigt.
»Hier steht ›die Karotten in mittelgroße Scheiben schneiden‹, meinst du, so ist es in Ordnung?«
»So ist es perfekt!«
Ich lachte. Ohne Nacken wackelte mein Kopf auf den Schultern hin und her.
»Danke. Wo war ich noch mal? Ach ja, meine Freunde… Eigentlich hatte ich drei: Patrick, den ich auf einer Romreise kennengelernt habe. Religiöse Schnapsidee meiner Gemeinde, meine erste Reise ohne Eltern. Ich war fünfzehn. Ich verstand zwar nichts von dem Kauderwelsch dieses Iren, der doppelt so groß war wie ich, aber wir haben uns sofort zusammengetan. Er, von den katholischsten Menschen der Welt erzogen, ich, gerade dem stickigen Dunstkreis meiner Familie entstiegen. Zwei junge Hunde, losgelassen auf die Ewige Stadt. Was für eine Pilgerfahrt!«
Ihm lief noch heute ein Schauder über den Rükken.