1 Einleitung
2 Die Musiklandschaft im 3. Reich
2.1 Das Genre „Ernste Musik“
2.2 Das Genre „Unterhaltungsmusik“
3 Die Institutionalisierung der Musik im 3. Reich
3.1 Frühe Formen der Institutionalisierung
3.2 Das Amt Rosenberg
3.3 Die Reichsmusikkammer
3.3.1 Der organisatorische Aufbau
3.3.2 Die Mitglieder
4 Unterhaltungsmusik im nationalsozialistischen Deutschland
4.1 Die Frage nach der Kontinuität
4.2 „Räume“ für die Unterhaltungsmusik
4.2.1 Live-Musik / Konzerte
4.2.2 Rundfunk
4.2.3 Schallplatten
4.2.4 Film
4.3 Wechselnde Anforderungen an die Unterhaltungsmusik
4.4 Neue Formen der Unterhaltungsmusik
5 Das Schlagwort Jazz
5.1 Antagonismus von staatlichem Anspruch und Realität
5.1.1 Die Haltung des Regimes zum Jazz
5.1.2 Der Jazz im Alltag
5.2 Die heterogene Gruppe der Jazzanhänger
5.2.1 Die „Jazzgemeinde“
5.2.2 Jazzanhänger im Dienst des Regimes
5.2.3 Die Swingbewegung
6 Schlussbetrachtung
7 Literaturverzeichnis
Marc Brüninghaus
Unterhaltungsmusik im Dritten Reich
ISBN: 978-3-8428-1739-5
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2010
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„Das goldene Zeitalter des deutschen Schlagers“, so oder ähnlich wird noch heute, über 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Untergang des verbrecherischen Regimes der Nationalsozialisten, das Dritte Reich, in Bezug auf seine Schlager betitelt. 1
In vielen Radioprogrammen laufen immer noch bekannte Unterhaltungsmusiktitel aus jener Zeit im Original. Interpreten wie Hans Albers, Marika Rökk, Zarah Leander oder Johannes Heesters sind keine Seltenheit in vielen Rundfunksendern und werden immer noch als die großen Stars der Unterhaltungsmusik gefeiert. Einige zeitgenössische Interpreten covern sogar Titel aus jener Zeit, so etwa Nina Hagen (Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen), Extrabreit (Flieger, grüß mir die Sonne) oder Barbara Schöneberger und die Kölner Band Brings (Nur nicht aus Liebe weinen). Auf Parties oder zu Karneval können sehr viele der meist jungen Zuhörenden zumindest die Refrains der gecoverten Schlager mitsingen. Der Hintergrund deren Entstehung dürfte aber nur den wenigsten bekannt sein.
Gleichzeitig bewerben CD-Labels ganze CD-Boxen mit Zusammenstellungen von Swing-Klassikern und anderer im Dritten Reich unerwünschter Musik, als Hingucker mit dem berüchtigten Plakat der Ausstellung „Entartete Musik“ oder mit einem alt gestalteten Fraktur-Schriftzug „Swing tanzen verboten“.2 Bereits in den 1970er Jahren brachte ein Schallplattenlabel eine ähnliche Serie heraus, zur Werbung wurden kleine Blechschilder, auf denen in Frakturschrift „Swing tanzen verboten – Reichskulturkammer“ stand, produziert. 3
Die Beispiele zeigen, dass sowohl die damals genehme als auch die verfemte Musik bis heute nichts an Reiz eingebüßt hat, wobei dieser noch dadurch verstärkt oder bei manchem Hörer möglicherweise erst geweckt wird, dass, wie bei den Swing-CDs, die Musik mit Verweisen auf die Entstehungszeit vermarktet wird. Bei den Schlagern sorgen Hinweise auf die UfA und entsprechendes Layout ebenfalls für eine schnelle Assoziation mit den 1930er und 1940er Jahren.
Außer diesen bis heute populären Evergreens ist das meiste der Musik jener Zeit, vor allem die damals zeitgenössische ernste Musik, in Vergessenheit geraten und lagert in Archiven, und jenseits des Halbwissens über Swingbewegung, Durchhalteschlager oder das „Wehrmachtswunschkonzert“ ist das Wissen über Unterhaltungsmusik des Dritten Reiches heute eher gering.
Zwar beruht das Halbwissen stets auf korrekten Grundlagen, die Werbeschilder mit dem Swingverbot haben natürlich historische Vorbilder ebenso wie die Vorstellung vom Durchhalteschlager, der das deutsche Volk auf den Endsieg einschwören sollte; es stellt sich aber die Frage, welche Wahrheiten tatsächlich diesen bruchstückhaften Kenntnissen zu Grunde liegen.
Welchen Stellenwert hatte Unterhaltungsmusik in einer Zeit der Diktatur und während des Krieges? Was führte dazu, dass die Schlager dieser Epoche noch heute bekannt und beliebt sind, obwohl es nach den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur und des Krieges doch augenscheinlich anderes gegeben haben müsste, das im Gedächtnis blieb, als Unterhaltungsmusik. Wie konnte der Zeitraum von 12 Jahren, in dem von Deutschland aus größtes Leid über die Welt gebracht worden ist, gleichzeitig eine „Blüte“ einer unpolitisch erscheinenden Kunstform hervorbringen? Ist dies ein Widerspruch oder bedingt sich beides?
Die Frage ist also: Warum ließ ein verbrecherisches Regime eine Kunstform, die nichtmals allen als Kunst galt, zu oder förderte diese sogar? Wurden Anforderungen an unterhaltende Musik gestellt und wenn ja, welche? Erfüllte sie einen Zweck innerhalb des Regimes? Gleichermaßen stellt sich aber auch die Frage, welchen Zweck unterhaltende Musik in ihren Ausprägungen für die Konsumenten dieser Musik hatte, wie sie instrumentalisiert wurde und die Hörenden beeinflusste.
Die Betrachtung der Unterhaltungsmusik kann allerdings nicht erfolgen, ohne den Gegenpart, die ernste Musik, erläuternd darzustellen; dieses Vorgehen hilft, den Bereich der Unterhaltungsmusik besser abzugrenzen und verständlich zu machen, welches Musikgenre wann im Dritten Reich welchen Stellenwert besaß und zu welchem Zeitpunkt welche Funktion erfüllte. Die Trennung zwischen beiden Genres kann allerdings insofern schwer fallen, als dass der Name impliziert, dass es auch Musik gab und gibt, die eben nicht unterhält und die möglicherweise kulturell wertvoller als die Unterhaltungsmusik ist. Trotzdem kann als unterhaltend gelten, was dem Inhalt nach traurig ist, ein heiteres, klassisches Werk gleichermaßen aber der ernsten Musik zugeordnet werden.4 Zwischenbereiche wie die leichte Klassik werden nicht betrachtet, zumal die Grenze zwischen ernster und unterhaltender Musik manchmal sowieso fließend ist.
Die betrachtete Unterhaltungsmusik im Falle der vorliegenden Studie ist klar eingegrenzt auf die Musik des Alltags, die die meisten Menschen erreichte: Schlager, Filmschlager, Jazz und Swing, eine Richtung des Jazz. Auch Volksmusik und Hausmusik, auch wenn sie der Unterhaltung diente, wird nicht betrachtet. Volksmusik wurde bereits im Dritten Reich zur Gebrauchsmusik statt zur unterhaltenden Musik gezählt. 5
Gleichermaßen wichtig wie die Eingrenzung des Themenbereiches ist die Erläuterung der Institutionalisierung der Musik im Dritten Reich, wobei auch auf den Unterschied zwischen Theorie und Praxis geschaut wird; das Wissen darüber hilft eine mögliche Instrumentalisierung der unterhaltenden Musik besser einzuordnen und zu verstehen.
Erst danach kann auf die unterhaltende Musik als solche geschaut werden, zunächst mit der Frage nach ihrer Kontinuität, dann verschiedene Aspekte wie die Berührungspunkte der Bevölkerung mit unterhaltender Musik und die an sie gestellten Anforderungen hinterfragend.
Dabei soll stets darauf geachtet werden, wie die unterhaltende Musik wirkte, ob und welche Erwartungen in sie gesetzt wurden und welche Erwartungen sie davon erfüllte.
Ein Sonderfall dabei ist der Jazz mit seiner Unterform Swing. Jazz und Swing werden in dieser Studie als Teile der Unterhaltungsmusik betrachtet und nicht als eigene, für sich stehende Genres. Auch erfolgt der Blick darauf ohne eine ideologische Prägung, die in Literatur zu dieser Thematik entsprechend des künstlerischen wie politischen Lagers des Autors öfters feststellbar ist. Der breite Raum wird diesen beiden Arten der Unterhaltungsmusik in dieser Studie zugestanden, weil sie im Bereich der unterhaltenden Musik während des Dritten Reiches am stärksten umstritten waren und weil gerade bei den Anhängern dieser beiden Musikrichtungen eine sehr starke Bindung zu „ihrer“ Musik bestand, was zu Problemen führen konnte.
Eine genaue musiktheoretische Betrachtung der Stilistik der Unterhaltungsmusik des Dritten Reiches, sowohl textlich als auch melodisch, erfolgt in der vorliegenden Studie nicht. Stattdessen ist das Hauptaugenmerk auf die praktische Dimension der Unterhaltungsmusik gerichtet, auf Gebrauch, Wirkung und Organisation.
Obwohl an dieser Stelle nur die Bereiche der ernsten Musik und der Unterhaltungsmusik betrachtet werden – der Trennung der Reichsmusikkammer zwischen etablierter klassischer Musik, der „E-Musik“, und Unterhaltungsmusik, der „U-Musik“, entsprechend – bestand die Musiklandschaft des Dritten Reiches aus mehr als diesen beiden Facetten. Das Hauptanliegen nationalsozialistischer Musikpolitik war, dass jegliche Musik, auch die der Unterhaltung dienende, für das Regime nutzbar war. Einen bedeutenden Teil – möglicherweise irgendwo zwischen beiden Polen der E- und U-Musik einzuordnen – machte etwa die Kampf- und Marschmusik aus. 6
Der hohe Stellenwert, der dieser Musikrichtung aus nationalsozialistischer Sicht beigemessen wurde, lag darin begründet, dass sich beim gemeinsamen Singen und Musizieren, das bei dieser Musikrichtung ein wichtiger Bestandteil war, jeder in die musikalische Gemeinschaft einzuordnen hatte, was aus ideologischer Sicht dem passiven Konsum des Musikhörens vorzuziehen war. 7
Der Aspekt der Beeinflussung der Befindlichkeit durch Musik wird aber auch durch die Betrachtung der Unterhaltungsmusik deutlich.
Hauptbemühung nationalsozialistischer Musikpolitik war weniger, einen bestimmten Musikstil zu propagieren, als vielmehr bestimmte Stile abzulehnen. Die erwünschte Musik sollte vor allem der nationalsozialistischen Weltanschauung nicht zuwiderlaufen. Das war das wichtigste Merkmal. Was der Weltanschauung entsprach und was nicht, war allerdings nicht immer eindeutig zu definieren: Abgelehnt wurde vor allem die „Neue Musik“, die nach dem Ersten Weltkrieg aufgekommen war.8 Ein „krasserer Gegensatz zur deutschen Musik“ 9 als diese war für die Nationalsozialisten kaum vorstellbar.
Dennoch war der Übergang zur nationalsozialistischen Kulturpolitik nach dem 30. Januar 1933 nicht so einfach, wie von den Nationalsozialisten vorher angekündigt. Vor der Machtübernahme war viel gefordert und die Demokratie immer als Hindernis dargestellt worden. Nach der Machtergreifung musste dann das Erbe der Republik herhalten, wenn sich Pläne nicht so schnell umsetzen ließen.10
„Der bestehende Gegensatz zwischen der ernsten und der unterhaltenden, der anspruchsvollen und der mit leichten Mitteln ansprechenden Musik ist wohl damit zu erklären, daß ernstere Musik eine künstlerische Tradition besitzt, unterhaltende aber noch bemüht ist, sich eine Tradition zu schaffen.“11
Die Propaganda verbreitete dennoch selbstbewusst, dass sich bis zur Regierungsübernahme Adolf Hitlers noch nie ein Politiker so um die deutsche Musik verdient gemacht habe wie er, der als Anwalt der Künstler dargestellt wurde. 12
Tatsächlich hatte die demokratische Weimarer Regierung wenig Einfluss auf die Kultur, da diese Ländersache war, was aber auch zu einer weit gefächerten Kulturlandschaft führte. Die Weimarer Regierungen hatten dementsprechend nur in geringem Umfang die Kultur und damit die Musik finanziell gefördert. Reichskanzler Hitler hingegen liebte die Kunst und die Musik, was er auch entsprechend propagierte, und präsentierte sich selber als Mäzen, dessen politische und künstlerische Vorstellungen im Einklang miteinander waren.13 Er sah sich selber als verhinderten Künstler, weswegen er sich umso lieber als Förderer der Kunst präsentierte. Auch Goebbels, als studierter Literaturwissenschaftler, und Rosenberg, der sich ebenfalls als Schriftsteller versucht hatte, sahen ihre Positionen ähnlich. 14
Die nationalsozialistische Musikpolitik gab vor, totalitärer zu sein, als sie es war. Das zeigte auch, dass nach den Säuberungen nach der Machtergreifung auch Musiker im Amt verblieben, die wegen ihrer Rasse oder aus sonstigen Gründen eigentlich entlassen worden wären. Gründe dafür waren Irrtümer, Pragmatismus oder aber Protektion, beispielsweise durch Hermann Göring, der gerne einzelne Künstler persönlich protegierte.15 Diese persönliche Musikpolitik einiger nationalsozialistischer Funktionsträger diente allein dem eigenen Prestige und hatte manchmal Ähnlichkeiten mit aristokratischer Patronage. Fehlte diese Patronage, war es für missliebige Musiker am erfolgversprechendsten, möglichst populär zu sein, um weiter den Beruf ausüben zu können.16 Da es nationalsozialistische Kulturpolitiker aber als ihre Pflicht sahen, alle Juden aus der Musikwelt zu entfernen, nützte auch Popularität nicht immer etwas. Es war ein bequemes Mittel, Musikern eine jüdische Abstammung anzudichten um diese am Musizieren zu hindern. 17
Staatliche Musikförderung erfolgte vor allem in der frühen Phase des Dritten Reiches auf Grund von Abstammung und politischer Ausrichtung statt Qualität, was dem nationalsozialistischen Anspruch widersprach, eine „wahre deutsche Musik“ der „undeutschen“ oder „entarteten Musik“ der „Kulturbolschewisten“ entgegenzustellen. 18
Diese eigenen hohen Ansprüche erfüllte die nationalsozialistische Musikpolitik nicht. Sie war nicht gradlinig, verfolgte in der Praxis, wenn überhaupt, Reformvorhaben nur halbherzig und war stattdessen eher pragmatisch. In Bezug auf den Umgang mit Künstlern, vom Versuch, die Juden auszuschalten abgesehen, unterschied sie sich nicht sonderlich von der Musikpolitik anderer totalitärer Staaten.19
Einer langen Musiktradition entsprechend schätzte auch ein Großteil der nationalsozialistischen Kulturpolitiker zunächst die ernste Musik höher als die Unterhaltungsmusik. Aber auch bei der ernsten Musik passte nicht alles in die nationalsozialistische Weltanschauung.
Die erwünschte zeitgenössische Musik im Dritten Reich unterschied sich in der Regel von der internationalen zeitgenössischen Musik, auch von der anderer faschistischer Staaten, so auch von der italienischen zeitgenössischen Musik. 20
Gesucht wurde ein deutscher Musikstil. Was aber als „Deutsche Musik“ gelten sollte und damit erwünscht war, wurde nie eindeutig definiert, dennoch wurde lange an der Idee der deutschen Musik festgehalten. Es war die Suche eines Genres, das es nicht gab – das nach Ansicht vieler Musikwissenschaftler aber existieren musste. Es sollte nicht nur Musik in Deutschland oder von deutschen Komponisten beinhalten, sondern tatsächlich unverkennbar deutsche Musik sein. Leichter als die positive Definition deutscher Musik fiel aber die Definition dessen, was abgelehnt wurde: alles, was als Ausfluss der politischen Gegenrichtung und rassisch minderwertig gesehen wurde. 21
Vor allem für zeitgenössische Musik fiel eine Definition schwer, da auch die Musik arischer Komponisten als entartet gelten konnte, was meist mit jüdisch gleichgesetzt wurde. Am häufigsten wurde eine Definition über die Gefälligkeit der Musik versucht, was jedoch auch Musik von beispielsweise Beethoven oder Bach ausschließen konnte. Auch bei Felix Mendelssohn Bartholdy, der von den Nationalsozialisten als Jude abgelehnt wurde, war diese Definition problematisch: dass seine sehr beliebte Musik so gefällig war, wurde mit seiner jüdischen Intelligenz begründet, die es ihm wie allen Juden ermöglicht habe, den Stil der Zeit zu erfassen und zu kopieren, der ihm als Nichtarier eigentlich fremd gewesen sei, da Juden zu „Atonalität“ und „Entartung“ neigten.22 Atonalität galt den Nationalsozialisten als Versuch, „fremdrassige Einflüsse und artfremde ‚Gefühlsmomente’ in das deutsche Musikleben einzu-‚schmuggeln’“ 23
Allerdings gab es auch im Dritten Reich moderne Musik arischer Komponisten, darunter auch Atonales und Zwölftonmusik. Arische Künstler, die entsprechende Musik machten, liefen aber Gefahr, von unwissenden Musikkritikern pauschal als Juden betitelt zu werden, da es vielen an Boykotten Beteiligten undenkbar erschien, dass entsprechende Musik aus der Feder eines Ariers stammte. War ein Name aber erst einmal fälschlicherweise auf irgendeiner Liste als jüdisch aufgetaucht, ließ sich der Imageschaden nur noch schwer wieder korrigieren, selbst wenn es zu einer offiziellen Rehabilitation kam. 24
Die für deutsche Musik angenommene „Erhabenheit“, festgestellt vom natürlichen „Rasseempfinden“, das Atonalität angeblich ablehnte, war immer eines der genannten Definitionsmerkmale für deutsche Musik.25 Hitler selber beurteilte die Musik berühmter deutscher Komponisten nach dem von ihm ausgemachten Anteil germanischen und slawischen Blutes; damit war er mit seinem Chefideologen Rosenberg nicht konform, der davon ausging, dass alles Musikalische von Geltung nur durch die nordische Rasse entstanden war. Die Idee einer „Deutschen Musik“ wurde wegen der Schwierigkeiten dann spätestens 1936 aufgegeben. 26
Aber auch klassische Musik arischer Komponisten war den Nationalsozialisten nicht uneingeschränkt willkommen: Wegen der alttestamentarischen Stoffe war zum Beispiel vielen Musikern unklar, ob Händels Oratorien weiterhin aufgeführt werden durften. Es gab zwar bereinigte Versionen von Händels Werken, aber auch die Originalversionen durften gespielt werden, worauf die Reichsmusikkammer in den Jahren 1934 und 1935 mehrfach hinwies.27
Aus den gleichen Gründen wurden häufig die Spielpläne von Konzerthäusern und Opern „eingedeutscht“, indem überwiegend nur noch Werke von arischen deutschen Komponisten und denen aus dem befreundeten Ausland gespielt wurden. Die meistgespielte ernste Musik war von Mozart, Verdi und Wagner. Von offizieller Seite aus wurde dennoch stets versucht, vor allem Wagner und Beethoven als urdeutsche Komponisten darzustellen, mit der Begründung, dass diese, entsprechend der nationalsozialistischen Bewegung, in ihrer Zeit auch für einen neuen Aufbruch standen. Bei Wagner war sein Antisemitismus ein weiterer Anknüpfungspunkt; dass er sich an der 1848er Revolution beteiligt hatte, wurde hingegen verschwiegen. 28
Diese staatliche Beeinflussung des Musikangebotes hatte allerdings negative Auswirkungen auf die Besucherresonanz, was Goebbels veranlasste, die Häuser wieder dazu zu bewegen, zu anderen Spielplänen und den Aufführungen neuer Werke zurückzukehren. Goebbels befürchtete einen Niedergang des Kulturbetriebes wegen zu starker staatlicher Gängelung. 29
Auch mit zeitgenössischer ernster Musik wurde versucht, an tradierte Formen anzuknüpfen. Sehr häufig wurden Kantaten komponiert, die sich auch in eine Huldigungstradition einordnen ließen. Oft waren es Wettbewerbsbeiträge.30 Auch die NSDAP nutzte die ernste Musik in eigener Sache. Ihr Kulturträger war das „NS-Reichs-Symphonieorchester“. 31
Trotz vieler Bemühungen wurde das Regime seinem eigenen Anspruch bei der Steuerung der ernsten Musik – wie in vielen anderen Feldern auch – nicht gerecht. Selbst klassische Musik wurde vom Jazz beeinflusst, was die Nationalsozialisten eigentlich vermeiden wollten. Ein Beispiel ist die „Concertante Musik“ von Blecher, 1937 uraufgeführt und stark vom Jazz inspiriert, die einen Kritiker der „Zeitschrift für Musik“, der kurz vorher ein Ballett mit Jazzeinflüssen zerrissen hatte, zu einer positiven Kritik bewegte. Das zeigt, dass die Behandlung zeitgenössischer ernster Musik insgesamt sehr willkürlich war. In erster Linie waren rassische oder ideologische Gründe für die Beurteilung wichtig, dann kamen ästhetische. Auch die politische Vergangenheit des Künstlers spielte eine Rolle. Die auf zeitgenössische Musik bezogene Aussage „[…] Was uns zerstören wollte, haben wir zerstört.“ 32 ist falsch, zumal zu diesem frühen Zeitpunkt. Abgeschafft wurde der Modernismus in der Musik von den Nationalsozialisten nicht, auch wenn sie sich dies stets auf die Fahnen schrieben. 33
Ein Höhepunkt dieser Selbsttäuschung waren die Reichsmusiktage in Düsseldorf 1938, zu denen die Ausstellung „Entartete Musik“ gehörte, die selbst bei dem Regime Nahestehenden und den Organisatoren der Reichsmusiktage umstritten war und an den weiteren Standorten wenig Erfolg hatte. 34
Solange der Krieg erfolgreich war, nutzte die nationalsozialistische Propaganda auch ernste Musik zur Steigerung der Moral, die Musik wurde zur besseren Wirksamkeit in bestimmte Kontexte des Kriegsgeschehens eingebettet. 35
Der Anspruch der „Erhabenheit“ wurde aber schnell fallen gelassen. Auch im Konzertsaal sollte im Krieg, erst recht nach der Kriegswende, die Musik unterhalten und nicht nachdenklich stimmen. Der Kulturbetrieb wurde zunächst aufrechterhalten, Goebbels sorgte dafür, dass das Musikleben durch Einberufungen nicht beeinträchtigt wurde.36 Nach der Ausrufung des totalen Krieges wurden dann aber viele Orchester verkleinert, 1944 wurde der offizielle Kulturbetrieb im Reich eingestellt.37
Neben der ernsten Musik war die Unterhaltungsmusik das zweite wichtige Genre nationalsozialistischer Musikpolitik, dessen Bedeutung spätestens seit dem Kriegsbeginn die der ernsten Musik überwog.
Dem Sammelbegriff Unterhaltungsmusik können viele Musikkategorien zugeordnet werden. In dieser Studie betrachtet werden Schlager, Jazz und Swing. Das im Kaiserreich und der Weimarer Republik sehr beliebte Genre der Operette, das durchaus der unterhaltenden Musik zuzurechnen ist, spielte im Dritten Reich nur noch eine untergeordnete Rolle, weswegen es auch nicht berücksichtigt wird. 38
Am Ende der Weimarer Republik war Berlin ein großes Zentrum der europäischen Unterhaltungsmusik. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten versuchten viele Unterhaltungsmusikkomponisten, sich musikalisch dem Regime anzudienen, der Unterhaltungsmusikmarkt wurde bald von Titeln wie „Ein Hitlermädel tanzt Polka“ oder „Kleines blondes Hitlermädel, du“ überflutet. Die frechen Schlagertexte der 1920er Jahre waren vorbei, allerdings hatte sich diese Entwicklung schon Anfang der 1930er Jahre abzuzeichnen begonnen. 39
40Zwar gab es nicht so viele jüdische Stars der Unterhaltungsmusik, wie von der Propaganda verkündet, die wenigen, die es gab, wurden aber absichtlich als Negativbeispiele herausgehoben.
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