Summary
1. Einleitung
2. Theoretischer Teil
2.1 Themenrelevante Begriffserläuterungen
2.2 Kurzdarstellung ausgewählter empirischer Studien
3. Methodischer Teil
3.1 Datenerhebung
3.2 Datenanalyse
3.3 Gütekriterien der Praxisforschung
4. Darstellung und Diskussion der Interview-Ergebnisse
4.1 Die Expertinnen
4.2 Darstellung der ausgewählten frauenspezifischen Einrichtungen
4.3 Diskussion der Ergebnisse
5. Fazit
6. Forderungen an das Hilfesystem
7. Schlussbemerkung
Literaturverzeichnis
Anhang
Anhang 1 – Interview Leitfaden
Anhang 2 - Kurzfragebogen
Anhang 3 – Schaubild Qualifizierte Angebote für wohnungslose Frauen in Notsituationen
Anhang 4 – Schaubild Kontakthäufigkeit nach Bedarfslage
Anhang 5 – Schaubild Vermittlung in Wohnform nach Bedarfslagegruppen
Anhang 6 – Schaubild Weitervermittlung ins Hilfesystem, Externe Kontakte, Kooperation nach Problembereichen
Jutta Preisinger
Zwischen den Stühlen: Psychisch kranke Frauen in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe
Eine qualitative Befragung von Sozialpädagoginnen
ISBN: 978-3-8428-1749-4
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2011
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http://www.diplomica-verlag.de, Hamburg 2011
Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit den spezifischen Problemlagen von psychisch kranken Frauen in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe. Sie handelt ferner von den Sozialpädagoginnen, die dort arbeiten und in zunehmendem Maße mit diesen Klientinnen, ihren typischen Verhaltensweisen und Problematiken konfrontiert sind. Durch die Befragung von fünf Expertinnen aus frauenspezifischen Einrichtungen der Münchner Wohnungslosenhilfe wird untersucht, welche zentralen Herausforderungen sich im Hinblick auf eine adäquate Betreuung psychisch kranker Frauen ergeben und welche Forderungen an das Hilfesystem sich hieraus ableiten lassen.
Dazu werden nach der Einleitung zunächst themenrelevante Begriffe erörtert und einige Studien, die Berührungspunkte mit dieser Untersuchung aufweisen, vorgestellt. Im methodischen Teil wird das Vorgehen bei der Datenerhebung und Auswertung der Interviews beschrieben. Diese Interviews werden im vierten Kapitel durch die Verknüpfung von Theorie und Praxis diskutiert. Im Fazit werden dann die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst, bevor abschließend die zentralen Forderungen an das Hilfesystem formuliert werden.
Durch die Auswertung der Interviews wurde deutlich, dass psychisch kranke Frauen in zunehmendem Maße die Dienste von Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe in Anspruch nehmen. Ursachen dafür sind u.a. die meist unangemessenen Versorgungsstrukturen fachpsychiatrischer Einrichtungen – und hier insbesondere die hohen Zugangsvoraussetzungen. Hinzu kommen Probleme der KlientInnen auf der Individualebene wie Furcht vor Stigmatisierung, mangelnde Krankheitseinsicht und Kommunikationsfähigkeit aber auch negative Vorerfahrungen.
Die Wohnungslosenhilfe ist jedoch den Anforderungen, die sich aus der Betreuung ergeben, weder konzeptionell noch hinsichtlich ihrer Ressourcen gewachsen. Das, von Zurückgezogenheit und geringem Hilfesuchverhalten geprägte, krankheitsspezifische Verhalten der Klientinnen erfordert intensivere und zeitaufwendigere Betreuung. Verschärft wird diese Situation durch fehlende Unterstützungsinstrumentarien, unzureichende Ausbildung des Personals sowie mangelnde Infrastruktur. Dies bedeutet hohe Belastungen für die MitarbeiterInnen und führt nicht selten auch zu Überforderung.
Eine zentrale Forderung zur Lösung dieser Probleme für den Bereich der Wohnungslosenhilfe ist die Überprüfung ihrer fachlichen und quantitativen Ressourcen. Im Einzelfall werden Erhöhungen des Personalschlüssels erforderlich sein. Darüber hinaus müssen seitens der Träger die Rahmenbedingungen für die Einführung regelmäßiger Supervisionen geschaffen werden sowie auch die zeitlichen und finanziellen Voraussetzungen für intensive und umfassende Schulungen und Fortbildungen. Es bedarf genereller Regelungen hinsichtlich der Unterstützung der Mitarbeiterinnen durch fachpsychiatrisches Personal – ob durch temporäre psychiatrische Sprechstunden oder ein dauerhaftes interdisziplinäres Team – und einer weitestgehenden Flexibilisierung bei der Festlegung der Betreuungsintensität. Zudem sind durch verbindliche Übereinkünfte verlässliche, effektive und fachübergreifende Netzwerke aufzubauen, auf die im Bedarfsfall zurückgegriffen werden kann. Ergänzend dazu sind qualitativ und quantitativ neue Angebote, wie gemischtgeschlechtliche Einrichtungen, frauenspezifische niederschwellige Tagesstätten und gestaffelte Betreuungsangebote innerhalb der Einrichtungen zu schaffen.
Auch die Fachpsychiatrie muss ihre bislang starren und hochschwelligen Konzepte den speziellen Bedürfnissen und Kompetenzen wohnungsloser Frauen anpassen, indem Zugangsvoraussetzungen und Therapieziele neu definiert werden. Zum Ausbau des ambulanten Hilfesystems sind Voraussetzungen zu schaffen, die wohnungslosen Frauen den Zugang zu niedergelassenen PsychiaterInnen und PsychologInnen erleichtern.
Zur Realisierung dieser Forderungen bedarf es zunächst der Anerkennung der Problematik durch die Verantwortlichen und der Bereitschaft, gemeinsam an diesem Ziel zu arbeiten.
„Verrückt ist nicht immer der, welcher den Verstand
verloren hat, sondern der, welcher alles verloren hat
außer dem Verstand.“
(Gilbert Keith Chesterton)
Die Autorin:
Jutta Preisinger, geb. 1966 in München. Nach 15-jähriger kaufmännischer Tätigkeit begann die Autorin 2002 ihr Studium der Sozialen Arbeit an der Katholischen Stiftungsfachhochschule in München und schloss es im Jahre 2006 mit summa cum laude ab.
Bereits während des Studiums arbeitete die Autorin in frauenspezifischen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, wo sie sich intensiv mit der Betreuung von psychisch Kranken befasste und erste praktische Erfahrungen auf diesem Arbeitsgebiet sammelte. In den beiden Studienschwerpunkten, Frauen- bzw. Gefährdetenhilfe, erarbeitete sie sich die erforderlichen theoretischen Grundlagen für ihre Untersuchung, vertiefte diese Kenntnisse durch Befragungen im Rahmen von Studienarbeiten. Dabei setzte sie sich eingehend mit den Zielgruppen, ihren Biographien und Problemlagen auseinander. Nach ihrem Abschluss als Diplom-Sozialpädagogin arbeitete sie zunächst in einem niederschwelligen Fachdienst an der Schnittstelle zwischen Psychiatrie und Wohnungslosenhilfe (Betreutes Einzelwohnen für psychisch kranke Frauen mit Wohnproblemen). Später wechselte sie in eine ambulant betreuende Einrichtung der Wohnungslosenhilfe, in denen sie sich mit der Thematik der Betreuung von psychisch kranken Frauen in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe abermals konfrontiert sieht.
Vielleicht ist sie Ihnen in der Nähe vom Ostbahnhof in München schon einmal aufgefallen? Eine ältere, zierliche Frau, die mindestens 15 große, prall gefüllte Taschen etappenweise von einer Stelle zur anderen transportiert? Man ist geneigt, ihr Hilfe anzubieten, verzichtet aber angesichts der großen Menge an Taschen darauf – es wäre ohnehin umsonst, denn diese Frau hat den „Auftrag zu tragen“ und dabei kann ihr niemand behilflich sein. Früher, als sie noch im Frauenobdach gewohnt hat, war sie oft 14 Stunden täglich unterwegs. Jetzt, wo sie endlich einen Platz im `Wohnprojekt Gravelotte-Straße´ annehmen konnte und dort in psychiatrischer Behandlung ist, muss sie nur noch 1-2 Mal pro Woche ihrem Auftrag nachkommen.
Sie ist eine von vielen Betroffenen – eine von den wohnungslosen psychisch kranken Frauen in München. Allerdings hatte sie Glück und hat einen der wenigen Plätze in einem Wohnheim für psychisch kranke wohnungslose Menschen bekommen. Alle anderen sind gefangen zwischen den Hilfesystemen – zwischen den Stühlen – und befinden sich überwiegend in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe. Nicht, dass es ihnen dort schlecht ginge. Nicht, dass sie dort mehr leiden, als anderswo – eine nachhaltige Versorgung, die eine Verbesserung ihrer Gesundheit und ihres Wohlbefindens bewirken könnte, bekommen sie dort jedoch nur in eingeschränktem Maße.
Bevor ich mein erstes Praktikum in einer frauenspezifischen Einrichtung der Wohnungslosenhilfe begonnen habe, war mir nicht bewusst, dass ich es dort auch mit psychisch kranken Frauen zu tun haben würde. Mein erster Kontakt mit einer schizophrenen Klientin ist mir noch heute deutlich vor Augen. Im Laufe des Praktikums habe ich ein immer größer werdendes Interesse für diese Klientinnen entwickelt, aber auch für die Sozialpädagoginnen, die täglich mit ihnen arbeiten. Aus dieser Erfahrung heraus ist die Idee für diese Buch entstanden.
Wohnungslosigkeit ist ein altbekanntes Phänomen. Erst seit wenigen Jahren finden in der Fachöffentlichkeit Frauen als eigenständige Gruppe Beachtung. Die wenigen Studien, die existieren, beschränken sich überwiegend auf eine Beschreibung der soziodemographischen Daten, ihrer Lebenslagen sowie den Ursachen und Auslösern der Wohnungslosigkeit (u.a. von Romaus 1990, Rosenke 1996, Neusser 1998). Eine Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend befasste sich u.a. mit dem Hilfebedarf alleinstehender wohnungsloser Frauen (vgl. Enders-Dragässer et.al., 2000).
Erst seit Mitte der 80er Jahre beschäftigt man sich in Deutschland mit der psychosozialen und psychiatrischen Problemlage von wohnungslosen Menschen (vgl. Romaus/Gaupp 2003, 11). Abermals finden Frauen als eigenständige Zielgruppe wenig Raum in diesen Studien. Ausnahmen sind die Untersuchungen von Greifenhagen (1995) und Torchalla (2002). Dies ist umso erstaunlicher, da festgestellt wurde, dass Frauen im Allgemeinen und wohnungslose Frauen im Speziellen in einem weit höheren Maße von psychischen Erkrankungen betroffen sind als Männer (vgl. Greifenhagen 1995, 126).
Es gibt keine aktuellen Studien, die sich mit der Problematik der Betreuung von psychisch kranken Frauen in der Wohnungslosenhilfe befassen. Sofern diese Thematik überhaupt Teil von Untersuchungen ist, beziehen sich diese auf Einrichtungen für alleinstehende wohnungslose Männer (siehe Romaus/Gaupp 2003).
Die vorliegende Studie soll deshalb von der Betreuung wohnungsloser psychisch kranker Frauen handeln. Dabei war für mich sowohl die Erlangung von Kontextwissen, d.h. Informationen über Handlungsstrukturen und Eigenschaften von psychisch kranken wohnungslosen Frauen als auch von Betriebswissen, d.h. Informationen über die internen Strukturen und die Arbeit mit den psychisch Kranken von Interesse. Dazu wurden fünf Sozialpädagoginnen aus frauenspezifischen Einrichtungen der Münchner Wohnungslosenhilfe interviewt. Sie wurden gebeten, ihre Erfahrungen im Umgang mit diesen Klientinnen zu schildern. Auf diese Weise sollen Rückschlüsse auf ihre Arbeitsbedingungen, vorhandene Unterstützungsinstrumentarien und ihre persönliche Einstellung zur Arbeit mit psychisch Kranken möglich werden, die dann unter Zuhilfenahme von Fachartikeln und Ergebnissen unterschiedlicher Studien diskutiert werden. Ziel der vorliegenden Studie ist, folgende Fragestellung zu beantworten:
Welche zentralen Herausforderungen ergeben sich für das Hilfesystem, um eine adäquate Betreuung und Unterbringungsmöglichkeit für wohnungslose psychisch kranke Frauen zu schaffen und dabei die Mitarbeiterinnen der Wohnungslosenhilfe in ihrer Arbeit mit dieser Klientel so zu unterstützen, dass sie langfristig motiviert und zufrieden sind?
Zur Beantwortung dieser Frage werden folgende Aspekte näher beleuchtet: Stellt der Anteil der psychisch kranken Frauen in der Wohnungslosenhilfe quantitativ tatsächlich einen so hohen Faktor dar, dass dieser überhaupt separat beachtet werden muss? Wenn dem so ist, weshalb sind diese Frauen in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe und nicht in fachpsychiatrischen Einrichtungen? Bestehen in der Betreuung von psychisch kranken Frauen Unterschiede gegenüber anderen Klientinnen der Wohnungslosenhilfe? Fühlen sich die Mitarbeiterinnen der Wohnungslosenhilfe von der Arbeit mit dieser Klientinnengruppe überfordert? Wenn ja, welche Bewältigungsstrategien und/oder Unterstützungsinstrumentarien stehen ihnen zur Verfügung? Sind die Mitarbeiterinnen der Wohnungslosenhilfe für die Betreuung psychisch kranker Frauen ausreichend ausgebildet? Sind die Handlungsziele der Wohnungslosenhilfe mit den Bedürfnissen psychisch kranker Frauen vereinbar? Über welche Netzwerke verfügt die Wohnungslosenhilfe und wie gut wird die Zusammenarbeit mit den Akteuren bewertet?
Im theoretischen Teil der vorliegenden Studie werden zunächst themenrelevante Begriffe erläutert. Danach werden ausgewählte Studien mit Bezug zum Thema dieser Studie vorgestellt. In Kapitel drei wird das methodische Vorgehen bei der Auswahl und Durchführung von Datenerhebung und Datenanalyse ausführlich beschrieben, um dieses transparent und nachvollziehbar zu machen. Der empirische Teil in Kapitel vier ist in verschiedene Themengebiete unterteilt. Zunächst werden die befragten Sozialpädagoginnen und ihre Einrichtungen vorgestellt. Im anschließenden Auswertungsteil findet die Verknüpfung von Theorie und Praxis statt, indem prägnante Interviewausschnitte angeführt und Übereinstimmungen oder Widersprüche zu bestehenden Studien oder Fachartikeln diskutiert werden. Das fünfte Kapitel stellt eine Zusammenfassung der empirischen Ergebnisse dar. Im Anschluss daran werden die daraus entstandenen Forderungen an das Hilfesystem formuliert und schließlich noch durch einige persönliche Schlussbemerkungen ergänzt.
Ich habe mich entschieden, in der vorliegenden Studie die weibliche Sprachform zu verwenden, da die Zielgruppe und die befragten Expertinnen allesamt Frauen sind. Ausnahmen stellen Zitate dar. Sofern ich auf männerspezifische Studien und/oder Fachartikel Bezug nehme, gebrauche ich die jeweils angemessene Sprachform.
Über Menschen ohne Wohnung liegen bereits seit der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts Aufzeichnungen vor (vgl. Greifenhagen 1995, 7). Die Bezeichnungen für diese Menschen variieren seitdem. Die Rede ist von Berbern, Wanderern, Vagabunden, Stadtstreichern, Pennern oder Tippelschicksen, um nur einige zu nennen (vgl. Kellinghaus 2000, 1).
Noch heute gibt es in der Fachöffentlichkeit keine einheitliche Begriffsbestimmung für diese Personengruppe (vgl. ebd. 2000a, 1). Bis in die 80er Jahre wurde überwiegend der Begriff der »Nichtsesshaften« verwendet (vgl. Specht-Kittler 2004, 41). Aus sozialrechtlicher Sicht wurden bis Dezember 2004 zwei Personenkreise unterschieden: Obdachlose1 und Nichtsesshafte2, wobei die Rechtskategorie der erstgenannten Gruppe nicht identisch mit deren tatsächlicher Lebenslage zu deuten war (vgl. Holtmannspötter 2002a, 20). Danach wurde der Begriff des »Nichtsesshaften« durch verschiedene Erklärungsmodelle abgelöst. Der Deutsche Städtetag gab 1987 die Empfehlung ab, dass Personen und Haushalte dann als »Wohnungsnotfälle« gelten, wenn diese
„- unmittelbar von ersatzlosem Wohnungsverlust, etwa durch Räumungs klage, bedroht sind,
- [...] akut vom Wohnungsverlust betroffen sind, faktisch ohne Wohnung und Unterkunft oder ordnungsrechtlich mit einer Wohnung oder Unterkunft versorgt sind,
- [...] aus sonstigen Gründen in unzumutbaren Wohnverhältnissen leben.“ (Holtmannspötter 2002a, 25).
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG W) bezeichnet Personen als „wohnungslos [...], wer nicht über einen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum verfügt.3“ (www.bag-wohnungslosenhilfe...(b) 2005). Für Kellinghaus et al. (2000, 33) sind für eine Zuordnung zu Lebensorten und Hilfesystemen neben der Dauer der Wohnungslosigkeit vor allem die sozialen und materiellen Ressourcen der betroffenen Person ausschlaggebend. Sie schlagen deshalb eine andere Einteilung vor:
„1) Menschen, die auf der Straße leben und übernachten („sleeping rough“)
2) Menschen in Notunterkünften und sonstigen Einrichtungen für Wohnungslose („hostel“, „shelter“)
3) Menschen, die vorübergehend bei Freunden, Verwandten etc. übernachten („doubled up“). “
(Kellinghaus et al, 2000, 33).
Diese, sich voneinander unterscheidenden Begriffserklärungen machen deutlich, dass es sich um eine sehr heterogene Gruppe von Menschen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen und -verläufen handelt. Aufgrund dessen sollte auf eine Kategorisierung verzichtet werden.
Wohnungslosigkeit bei Frauen findet in der Fachöffentlichkeit erst seit den 90er Jahren Beachtung (vgl. Weizel 2003, 99). Der Unterschied zur allgemeinen Wohnungslosigkeit, wie in Kapitel 2.1.1. beschrieben, liegt vor allem darin, dass ein Großteil der betroffenen Frauen in »verdeckter Wohnungslosigkeit« lebt. Das bedeutet, Frauen gehen Zweckpartnerschaften ein, prostituieren sich, um bei Freiern übernachten zu können oder versuchen vorübergehend bei Bekannten, Freunden oder Verwandten unterzukommen; häufig kehren sie zurück zu (gewalttätigen) Partnern oder in konfliktbelastete Situationen in den Herkunftsfamilien, um so der Wohnungslosigkeit zu entgehen (vgl. Schröder 2004, 57; www.bag-wohnungslosen...(b) 2005; Redemann 1996, 162).
Von »latenter Wohnungslosigkeit« – auch davon sind überwiegend Frauen betroffen – sprechen Enders-Dragässer und Sellach (2000a, 100) bei Frauen, die zusammen mit (Ehe-)Partnern zwar in eigenen Wohnungen leben, jedoch selbst nicht im Mietvertrag stehen, wodurch für sie im Trennungsfall keine Rechtsgrundlage zum Verbleib in der Wohnung besteht. Ebenso hinzuzuzählen sind Frauen, die Arbeitsverhältnisse mit angeschlossener und somit ungesicherter Unterkunft eingehen und dadurch als kurzzeitig von Wohnungslosigkeit bedroht gelten (vgl. Holtmannspötter 2002b, 15; Enders-Dragässer/Sellach 2000a, 100). Außerdem zählen zu dieser Gruppe Frauen, die nach einem Aufenthalt in Institutionen, z.B. Suchtkliniken, Strafanstalten, etc., nicht in eine eigene Wohnung zurückkehren können (vgl. ebd. 2000, 100). Die BAG W ging davon aus, dass bundesweit im Jahr 2002 330.000 Menschen (ohne Aussiedler) wohnungslos waren; der geschätzte Anteil alleinstehender wohnungsloser Frauen im Sozialhilfesektor lag hier bei etwa 21%4 (vgl. Fachausschuss Frauen der BAG W 2003, 33).
Der Begriff der »alleinstehenden Wohnungslosen« hat sich als Bezeichnung für die Zielgruppe der Wohnungslosenhilfe durchgesetzt (vgl. Holtmannspötter 2002b, 15). Eine Eingrenzung der Personengruppe wird von verschiedenen Autoren angestrebt. Kellinghaus (2000, 3) beispielsweise bezieht die Bezeichnung auf Personen,
„die sich in Einrichtungen des Hilfesystems für alleinstehende Wohnungslose aufhalten, und solche, die ohne Wohnung oder Zimmer sind und von den Sozial- und Ordnungsbehörden an Einrichtungen des Hilfesystems für alleinstehende Wohnungslose verwiesen werden, wenn sie um Hilfe nachfragen (vgl.Gerstenberger 1993, John 1988, Ruhstrat et al.1991).“ (zit. ebd. 2000, 3 – Hervorhebung durch den Verfasser).
Holtmannspötter (2002b, 15) erweitert den Personenkreis um solche, die sich ohne eigene Wohnung in Kliniken, Anstalten und Frauenhäusern aufhalten, solche, die in verdeckter Wohnungslosigkeit leben und solche, die in teil- oder vollstationären Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe untergebracht sind. Überdies bezeichnet seiner Auffassung nach »alleinstehend« nicht nur eine Umschreibung des Familienstandes, sondern auch die Auswirkungen der sozialen Ausgrenzung und Isolation, die Wohnungslose erfahren (vgl. ebd., 15).
Bei beiden Erklärungsversuchen bleiben Mütter – unabhängig davon, ob sie mit ihren Kindern zusammenleben oder nicht – unberücksichtigt (vgl. Pechmann 1993, 125). Enders-Dragässer und Sellach (2000a, 78) hingegen bezeichnen Mütter, „die ohne Wohnung sind oder von ihren Kindern getrennt leben, aber ihre Lebensverhältnisse so stabilisieren wollen, dass sie mit ihren Kindern wieder zusammenleben können“ ebenfalls als alleinstehende Wohnungslose.
Der, in der vorliegenden Studie verwendete Begriff der wohnungslosen psychisch kranken Frau meint alleinstehende Wohnungslose ohne Kinder bzw. solche, die nicht mit ihren Kindern zusammenleben und sich dadurch von Frauen mit Kindern, die in Mutter-Kind-Heimen untergebracht sind, unterscheiden (vgl. Greifenberg 1995, 6).
Geschichte der Wohnungslosenhilfe. – Die Unterstützungsformen für Menschen ohne festen Wohnsitz haben sich in den vergangenen Jahrhunderten oft gewandelt (vgl. Reifferscheid/Lutzenberger 2000, 85ff). Im 19. Jahrhundert unterlagen sie der Obhut privater Fürsorgeorganisationen (vgl. Greifenhagen 1995, 10), der so genannten „Wanderarmenhilfe“, deren Ziel es war, die Arbeitsfähigen auf der Suche nach Arbeit zu unterstützen (vgl. Holtmannspötter 2002a, 21) und den Arbeitsunfähigen Hilfe zu gewähren und sie zu betreuen (vgl. Reifferscheid/Lutzenberger 2000, 88). Zu Zeiten des Nationalsozialismus wurde der Fürsorgegedanke völlig verdrängt (vgl. ebd., 88). Nach 1945 etablierte sich der Begriff der Nichtsesshaftenhilfe, deren Aufgabe sich an den Zielen der Hilfeleistungen vor 1933 orientierte. Dies waren die Schaffung von Notunterkünften und die Errichtung von Arbeiterkolonien, die bis in die 70er Jahre hinein bestehen blieben (vgl. ebd., 88).
In der heutigen Praxis ist nach Reifferscheid und Lutzenberger (2000, 89) ein Wandel in der Bedarfslage feststellbar. Die primäre Aufgabe der Wohnungslosenhilfe ist nicht mehr nur die Versorgung mit Wohnraum und die Wiedereingliederung von Wohnungslosen sondern „zunehmend die langfristige, dauerhafte Versorgung von Wohnungslosen“ (ebd., 89).
Frauenspezifische Angebote innerhalb der Wohnungslosenhilfe entwickelten sich erst Anfang der 80er Jahre. Seit 1992 existiert in der BAG W ein Fachausschuss, der sich speziell und ausschließlich für die Frauenproblematik einsetzt (vgl. Hassemer-Kraus 2004, 105). Bundesweit gab es 2002 lediglich 63 frauenspezifische Angebote und 24 ambulante Beratungsstellen (vgl. ebd., 105). München ist im bundesweiten Vergleich jedoch relativ gut mit frauenspezifischen Angeboten für wohnungslose Frauen ausgestattet (siehe Anhang Nr. 3).
Rechtliche Grundlagen. – Die Zielgruppe der heutigen Wohnungslosenhilfe ist in § 67 SGB XII definiert. Es handelt sich dabei um „Personen, bei denen besondere Lebensverhältnisse mit sozialen Schwierigkeiten verbunden sind, [...].“ (SGB XII, 80). Eine Unterscheidung zwischen Obdachlosen und Nichtsesshaften wurde in der neuen Gesetzgebung abgeschafft. Die Arten der Hilfeleistung sind in den Paragraphen §§ 3-6 der VO zur Durchführung der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten gem. §68-69 SGB XII geregelt (vgl. Sozialhilferecht in Bayern 2005, 122ff). Die Betreuung orientiert sich dabei an den Bedürfnissen und dem individuellen Hilfebedarf der Betroffenen. Dazu zählen demnach Maßnahmen zur Wohnraumerhaltung, -sicherung oder -beschaffung sowie Beratung und persönliche Unterstützung. Darüber hinaus werden Hilfen zur Ausbildung, Erlangung und Sicherung eines Arbeitsplatzes sowie Hilfen zum Aufbau und zur Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen und zur Gestaltung des Alltags angeboten (vgl. ebd., 122ff).
Prinzipiell sind Hilfeleistungen nach § 67 ff SGB XII gegenüber anderen Leistungen nachrangig zu gewähren (vgl. www.fhh.hamburg... 2006). Zu solchen Leistungen gehören Eingliederungshilfen nach § 53ff SGB XII für Menschen mit einer körperlichen, seelischen oder geistigen Behinderung (vgl. SGB XII, 75). Personen, denen aus persönlichen Gründen Maßnahmen nach § 53ff SGB XII nicht zugänglich sind bzw. von ihnen abgelehnt werden und die sich deshalb in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe gemäß § 67ff SGB XII befinden, können ergänzende Hilfen nach §§ 54. Abs.II, 55 SGB XII beantragen.
Obschon in der Alltagssprache häufig verwendet, gibt es bis heute „keinen einheitlichen, allgemein anerkannten Begriff von Krankheit“ (Vollmoeller 2001, 11). Auf Empfehlung der WHO5 wurde der Begriff »Krankheit« weitgehend von dem weniger stigmatisierenden Wort der »Störung« abgelöst (vgl. Hardtmann 2005, 671). Psychische Krankheiten sind nach Freud Störungen im Erleben und in den Verhaltensweisen in den Bereichen der Liebes-, Arbeits- und Genussfähigkeit (vgl. Klosinski 2001, 1447). Das Bundesministerium für Gesundheit und Frauen fügt ergänzend hinzu, dass psychische Störungen erst dann als solche bezeichnet werden können, wenn die Betroffenen „deutlich in ihrem sozialen, beruflichen und privaten Leben eingeschränkt“ (www.frauenratgeberin...2005) sind und erhebliche Abweichungen vom Erleben oder Verhalten psychisch gesunder Menschen zu erkennen sind (vgl. Vollmoeller 2001, 62 und 119), was das „Bestehen von Normverhaltensregeln voraus(setzt)“ (Klosinski 2001, 1447)6. Um eine einheitliche Diagnostik und Klassifikation unterschiedlicher Krankheitsbilder zu gewährleisten, unterstützt die WHO seit den 40er Jahren die Entwicklung des Diagnosenschlüssels ICD7 (vgl. Hardtmann 2005, 671), dessen 10. Revision seit 1991 weltweit anerkannt ist (vgl. Klosinski 2001, 1447). Im Kapitel V des aktuellen ICD-10 werden psychische Störungsbilder beschrieben (vgl. www.dimdi.de...2006). Parallel dazu wird häufig auch das, von der American Psychiatric Association entwickelte Klassifikationssystem DSM IV8 verwendet (vgl. Davison/Neal 2002, 58).
In der vorliegenden Studie wird, in Abstimmung mit den Interviewpartnerinnen, der Alltagsbegriff der »psychischen Krankheit« verwendet. Damit sind psychotische Störungen, wie affektive Psychosen, Schizophrenien, schwere neurotische Störungen oder Persönlichkeitsstörungen gemeint. Mit diesem Vorgehen habe ich mich an der Berliner Studie von Paetow-Spinosa (1997)9 orientiert.
Gemäß ICD-10, Kapitel V (F) gehören zu dieser Gruppe auch Sucht- und Abhängigkeitserkrankungen (vgl. www.dimdi.de...2006). In der Alltagssprache der Sozialpädagoginnen werden diese jedoch von den oben angeführten Erkrankungen unterschieden.
Nachfolgend werde ich auf die jeweilige Aufgabenstellung, die Stichprobe, das Untersuchungsdesign und die Erhebungsmethode von drei ausgewählten Studien, die für die vorliegende Untersuchung relevant sind, näher eingehen.
Greifenhagen (1995) untersuchte in ihrer Studie psychische Erkrankungen bei alleinstehenden wohnungslosen Frauen. In der Erhebung von Romaus/Weizel (2005) wurden diese Klientinnen als Untergruppe betrachtet, wobei hier außerdem, wie auch in der Forschungsarbeit von Romaus und Gaupp (2003), Arbeitsprozesse und Handlungsweisen von Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe analysiert wurden.
Die Ergebnisse dieser Untersuchungen werden in Kapitel 4 auszugsweise herangezogen, um die geführten Interviews zu diskutieren.
Aufgabenstellung. – Ziel der Studie war es, einen Beitrag zum Verständnis medizinischer und psychiatrischer Problematiken wohnungsloser Frauen zu leisten. Dazu wurde der Forschungsauftrag in drei Teile gegliedert:
„1. Wie hoch ist die Gesamtprävalenz10 psychischer Erkrankungen nach den Diagnosekriterien des DSM-III in der Gruppe alleinstehender wohnungsloser Frauen in einer deutschen Großstadt (München) im Vergleich zu alleinstehenden Männern und der weiblichen Allgemeinbevölkerung?
2. Wie häufig sind spezielle psychiatrische Erkrankungen (z.B. schizophrene Psychosen, Angststörungen, Suchtmittelmißbrauch) in dieser Personengruppe?
3. Welche Beeinflussungsfaktoren für die Entwicklung schwerer psychischer Erkrankungen bestehen bei alleinstehenden wohnungslosen Frauen unter Berücksichtigung demographischer Merkmale, sozialer Unterstützung, belastender Lebensereignisse und der aktuellen Lebenssituation?“
(ebd., 55 – Hervorhebung durch die Verfasserin, Rechtschreibung übernommen).
Zum Zeitpunkt der Erhebung – 1988 bis 1990 – gab es in Deutschland nur wenige Studien zur Untersuchung von psychisch kranken Wohnungslosen; keine davon beschäftigte sich speziell mit Frauen. Mit der Bestandsaufnahme von psychischen Erkrankungen bei alleinstehenden wohnungslosen Frauen in München leistete Annette Greifenhagen somit im Rahmen ihrer Dissertation einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Wohnungslosenpolitik.
Stichprobe, Untersuchungsdesign, Erhebungsmethode. – Die epidemiologische Studie basierte auf der Befragung von 32 alleinstehenden wohnungslosen Frauen und 146 Männern aus dem Betten-, Mahlzeiten- bzw. Autarkensektor11