1 Kleine Kinder in einer großen Welt – eine Einleitung
2 Kurze Geschichte der außerfamiliären Betreuung von Kindern in den ersten drei Lebensjahren
2.1 Die Rolle der Frau in der Gesellschaft und ihre Bedeutung für das Entstehen öffentlicher Kinderbetreuung
2.2 Die Entdeckung der Betreuungslücke
2.3 Von der Jahrhundertwende bis 1945
2.4 Geteiltes Deutschland - geteilte Krippenentwicklung
2.5 Die Krippe im vereinten Deutschland
3 Kinder in den ersten drei Lebensjahren
3.1 Gesellschaftliche Perspektive
3.2 Entwicklungspsychologische Grundlagen
4 Bildung in der frühen Kindheit
5 Frühkindliche Bedürfnisse – Herausforderung für Erwachsene
5.1 Eingewöhnung und Beziehung
5.2 Versorgung und Pflege
5.3 Frühkindliches Spiel
6 Elementarpädagogische Konzepte
6.1 Konzept ist nicht Rezept
6.2 Montessori-Pädagogik
6.3 Waldorf-Pädagogik
6.4 Waldkindergärten
6.5 Situationsansatz
6.6 Bewegungskindergärten
6.7 Pikler-Pädagogik
6.8 Reggio-Pädagogik
7 Ausblick
Quellenverzeichnis
Internetquellen
Anhang
Die Autorin
Was unterscheidet ihre Einrichtungen von anderen Kinderkrippen?
Die Kinderkrippe Gleiwitzer Straße ist eine städtische Einrichtung. Seit 15 Jahren arbeiten wir nach dem Konzept Emmi Piklers. Dabei arbeiten wir mit Anna Tardos und anderen Mitarbeitern des Pikler-Instituts in Budapest zusammen.
Unsere Arbeit richtet sich nach den Prinzipien der Achtung vor dem Kind, der beziehungsvollen Pflege, dem freien Spiel und der autonomen Bewegungsentwicklung.
Anders als in anderen Krippen haben wir alterhomogene Gruppen. Im Babyzimmer werden Säuglinge ab acht Wochen bis Kleinstkinder im Alter von ca. 18 Monaten betreut, in der Wald-, Regenbogen- und Blumengruppe werden Kinder bis zum Eintritt in den Kindergarten betreut. In den ersten drei Lebensjahren halten wir, wie auch Emmi Pikler, die Altershomogenität an die Bedürfnisse der Kinder angepasst. Sie werden nicht von den Kompetenzen älterer Kinder abgelenkt, sondern können sich auf ihre eigene Entwicklung konzentrieren. Wenn Kinder das Kindergartenalter erreichen, dann merkt man ihnen an, dass sie auch ältere Kinder als Antrieb für ihre Entwicklung benötigen, dann halten wir eine Altermischung für sinnvoll.
Der Betreuungsschlüssel liegt im Babyzimmer bei zwei Erzieherinnen für acht Kinder und in den anderen Gruppen bei zwei Erzieherinnen für zehn oder elf Kinder.
Außerdem arbeiten wir bei der Eingewöhnung der Kinder ausschließlich nach dem Berliner Eingewöhnungsmodell INFANS.
Wie gelingt in ihrer Einrichtung die Vereinbarung von Konzept und alltäglicher Praxis?
Das Konzept stellt die Basis für die Arbeit mit den Kindern, jede Erzieherin muss jedoch in die achtende Haltung den Kindern gegenüber hineinwachsen.
Die Raumgestaltung mit den Spielgittern, Podesten, Wickeltischen, Sitzmöbeln und Betten entspricht den Anforderungen Emmi Piklers und wird von uns als durchdacht und sinnvoll im Alltag erlebt.
In Feinheiten, wie etwa der Einrichtung des „Knabberbetts“ für auf ihr Essen wartende Kinder, weichen wir von den Vorschlägen Piklers ab. Diese Eigengestaltung ist aber eher eine Anpassung an den Alltag als eine negative Abweichung.
Welche pädagogischen Angebote bekommen die Kinder in ihrer Einrichtung?
Gemäß der Maxime „Dem Kind immer etwas mehr Raum zu geben, als es ausnutzen kann“, bereiten die Erzieherinnen in den Gruppen die Umgebung vor. Ziel ist es dabei immer, den Kindern durch die Auswahl bestimmter Dinge und Materialien freies und selbstständiges Spiel zu ermöglichen und ihre Bewegungsfreiheit zu gewährleisten. Dazu dienen auch die Spielgitter und Türgitter. Sie sollen die Kinder nicht in ihrer Freiheit einschränken, sondern ihnen überschaubare Räume bieten, in denen sie sich ihrer Selbst sicher sein können.
Lebenspraktische Tätigkeiten wie etwa das Händewaschen, Anziehen, den Tisch decken oder das Säubern des Gummi-Stiefel-Regals sind in den Alltag integriert und die Kinder nehmen ihrer individuellen Entwicklung gemäß teil.
Die Raumgestaltung und der Einsatz der Pikler-Materialien erfolgt also immer mit der Absicht, den Kindern unterschiedliche Bewegungsmöglichkeiten, ihrem Entwicklungsstand und ihren Bedürfnissen gemäß, zu bieten.
Welche Ausbildung haben die Erzieherinnen der Einrichtung?
Im Gegensatz zur Montessori- oder Waldorfarbeit haben die Erzieherinnen keine gesonderte Ausbildung. Es wird zwar seit einiger Zeit eine Pikler-Ausbildung in Wien angeboten, doch die Kosten, etwa 3500€, sind für ein durchschnittliches Erzieherinnengehalt nicht zu bewältigen.
Bevor die Frauen in der Gleiwitzer Straße mit der Arbeit anfangen, lesen sie sich anhand der vorhandenen Literatur ein, danach werden sie von den Kolleginnen eingearbeitet.
Wie gestaltet sie die Arbeit mit den Eltern?
In Vorgesprächen werden die Eltern mit der Pikler-Arbeit vertraut gemacht. Doch nur wenige Eltern übernehmen die Ideen für ihren privaten Umgang mit den Kindern. Die Kinder können jedoch gut unterscheiden, wo sie gerade sind, welche Regeln dort gelten und passen sich dementsprechend an.
Wie, wann und von wem wird die Arbeit mit den Kindern geplant und vorbereitet?
Jeden Dienstag treffen sich alle Erzieherinnen und die Leitung zur Teamsitzung, dieses Treffen dient zur allgemeinen Organisation der Krippe. Einmal im Monat werden auf dieser Teamsitzung pädagogische Themen besprochen.
Jedes Erzieherinnenteam bespricht das individuelle Vorgehen für die jeweilige Gruppe, dies geschieht immer dann, wenn Lücken im Tagesablauf, z.B. während der Schlafenszeit der Kinder, entstehen.
Welche Aufgaben übernehmen die Erzieherinnen?
Gedächtnisprotokoll des Gesprächs mit Andrea Löher, Leiterin der Kindertagesstätte Casa Bambini, am 17. Januar 2008 in Kassel
Was unterscheidet ihre Einrichtung von anderen Kinderkrippen?
Das Casa Bambini besteht erst seit September 2007. In diesem, an Ideen der reggianischen Architektur, angelehnten Neubau, wurden zwei bestehende eingruppige Kindertagesstätten zusammengelegt. Dadurch befindet sich die Einrichtung immer noch in einem Orientierungsprozess, vieles muss mit Team und Kindern noch oder wieder ausgehandelt werden.
Aus dem Situationsansatz kommend orientieren wir uns nun an der Reggio-Pädagogik. Dabei findet der Raum „als Dritter Erzieher“ besondere Bedeutung. Beispielsweise gibt es in fast allen Türen Ausschnitte aus Glas in Kinderhöhe und alle Räume sind mit großen Fenstern versehen. Die Gruppen sind mit unterschiedlichen Materialien ausgestattet. Während in der unteren Gruppe Rollenspiel, Lesen, Musik und Ruhe im Vordergrund stehen, finden die Kinder in der oberen Gruppe Konstruktionsmaterial und bereits ein kleines Atelier. Wir arbeiten auf die Reduzierung des vorstrukturierten Spielzeuges hin, doch dies muss langsam und behutsam geschehen, da die Kinder es teilweise als Verlust wahrnehmen.
Im Casa Bambini haben wir uns bewusst für die so genannte „große Altersmischung entschieden.“ Ab dem Aufnahmealter mit frühestens sechs Monaten werden die Kinder in einer Gruppe mit je 20 Kindern betreut. Für die fünf unter Dreijährigen pro Gruppe sehen wir darin die Möglichkeit, von den älteren Kindern zu lernen.
Wie gelingt in ihrer Einrichtung die Vereinbarung von Konzept und alltäglicher Praxis?
Unser Team hier im Casa Bambini steht noch am Anfang einer an der Reggio-Pädagogik orientierten Arbeit.
Wir alle kommen aus dem Situationsansatz. Die Haltung, das Kind als kompetent und sich selbstbildend zu begreifen, ist im Team vorhanden. Doch die Erzieherinnen müssen noch mehr Zutrauen in die Fähigkeiten und die Kompetenzen der Kinder, vor allem der jungen Kinder, entwickeln.
Aber man kann sich auch ein Konzept nicht einfach überstülpen wie einen neuen Schuh, es wird noch eine Weile dauern, bis wir alle hier so weit sind.
Welche pädagogischen Angebote bekommen die Kinder in ihrer Einrichtung?
Unsere beiden Gruppen sind offen konzipiert. Die Kinder, auch die unter drei Jahren, können sich also im ganzen Haus bewegen und sich Spielmaterial und Spielpartner frei wählen.
Dreimal in der Woche bieten wir altershomogene Bewegungsangebote an, um so den unterschiedlichen Bewegungsbedürfnissen der Kinder entsprechen zu können.
Mit der Atelierarbeit stehen wir noch am Anfang, doch auch in diesem Bereich sollen zum offenen Angebot altershomogene hinzukommen.
Einmal in der Woche findet ein gruppenübergreifender Waldtag statt, für den die Kinder sich frei entscheiden können, und für die angehenden Schulkinder haben wir eine Schul-AG ins Leben gerufen.
Uns ist wichtig, dass Bildung und Erfahrung nicht auf Zeiten oder Räume begrenzt ist, sondern sich im ganzen Lebensraum Kindertagesstätte vollzieht.
Intensive Zusammenarbeit mit den Eltern, sie als Partner und nicht Rivalen zu verstehen, mit ihnen die Übergänge von Elternhaus in die Einrichtung und von der Einrichtung in die Schule bewusst zu gestalten, sehen wir als einen wichtigen Teil unserer pädagogischen Arbeit.
Welche Ausbildung haben die Erzieherinnen der Einrichtung?
Die hier arbeitenden Frauen haben eine reguläre Erzieherinnenausbildung absolviert. Hinzu bekommen bei einzelnen Weiterqualifizierungen in Theaterpädagogik und Integrationspädagogik.
Zwei der Frauen haben Sozialpädagogik studiert, werden aber natürlich auch als Erzieherinnen bezahlt.
Das feste Team wird zurzeit von zwei Jahrespraktikantinnen ergänzt, die damit ihre Erzieherinnenausbildung abschließen, und an drei Tagen in der Woche kommen zwei Sozialassistentinnen, die ebenfalls ein Praktikum im Rahmen ihrer Ausbildung absolvieren.
Vor dem Umzug haben wir mit dem Team eine mehrtägige Weiterbildung bei Prof. Tassilo Knauf zur Reggio-Pädagogik gemacht und wollen uns in diesem Bereich natürlich konsequent weiterbilden.
Wie gestaltet sie die Arbeit mit den Eltern?
Nachdem Eltern an einer Informationsveranstaltung im Haus teilgenommen und sich für den Eintritt entschieden haben, kommen sie gemeinsam mehrere Male mit ihrem Kind zum Hospitieren in die jeweilige Gruppe. Auf diesem Weg sollen erste Kontakte zu Erzieherinnen, zur Umgebung und zu den anderen Kindern ermöglicht werden.
Die Eingewöhnungszeit beträgt etwa vier Wochen, um den Kindern die Möglichkeit zu geben, sich an die Einrichtung, die neuen Bezugspersonen und das Getrennt-Sein von den Eltern zu gewöhnen.
Fünf Elternvertreter haben die Möglichkeit sich an Diskussionen und Entscheidungen zu beteiligen. Die Rahmenbedingungen sind, anders als in Reggio Emilia, in Deutschland leider nicht auf die Partizipation der Eltern am Geschehen der Kindertagesstätten ausgelegt. Doch wir versuchen über die Elternvertretung hinaus, sie in Projekte wie etwa den Ausbau der neuen Ateliers, einzubinden.
Für die Eltern der unter Dreijährigen findet einmal im Quartal ein Gesprächskreis statt, um ihnen einen Ort zu geben, darüber zu sprechen, was es bedeutet, so junge Kinder fremd betreuen zu lassen.
Wie, wann und von wem wird die Arbeit mit den Kindern bei ihnen geplant und vorbereitet?
Die konzeptionelle und organisatorische Arbeit und Planung findet im wöchentlichen Team statt, an dem alle Erzieherinnen beteiligt sind.
Die gruppeninterne Vorbereitung organisieren die Erzieherinnen in ihren Gruppen. AGs und gruppenübergreifende Angebote wie der Wald-Tag werden von den jeweiligen Erzieherinnen geplant.
Welche Aufgaben übernehmen die Erzieherinnen?
Obwohl der Träger hierarchische Strukturen vorsieht, wurden im Team unterschiedliche Kompetenzbereiche vergeben. Im „Tandem“ oder auch alleine tragen die Erzieherinnen die Verantwortung für die Bereiche
In eigener Regie planen sie Aktivitäten in den Gruppen, führen Elterngespräche und die Eingewöhnung durch.
Im Alltag übernehmen sie als Bezugserzieherinnen für Jüngeren das Füttern und das Wickeln.
Außerdem sind sie an der Konzeptentwicklung beteiligt.
Katharina Lorber
Erziehung und Bildung von Kleinkindern
Historische Entwicklungen und elementarpädagogische Handlungskonzepte
ISBN: 978-3-8428-1766-1
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2012
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Bis 2013 sollen für 30% der Kinder in den ersten drei Lebensjahren in Deutschland Betreuungsplätze geschaffen werden. Diese gesetzlich verankerte Forderung spiegelt gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen im Denken und Handeln wider, die sich aus den unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft ergeben. Auf der einen Seite stehen private Entscheidungen wie die Familienplanung, die Verteilung von Familienarbeit auf beide Elternteile, die Erwerbsarbeit von Frauen und die unterschiedlichsten Familienkonstellationen sowie wirtschaftliche Zwänge in den Familien. Zum anderen fordert die Gesellschaft mehr und besser ausgebildete Kinder, hinzu kommt die stetige wachsende Anerkennung, der frühen Kindheit als für den gesamten Lebenslauf bedeutender prägender Zeit.
Diese Einstellung fasste der Neurobiologe Gerhard Roth jüngst treffend zusammen:
„Jeder von uns ist ein höchst individuelles Mosaik verschiedener Merkmale, das die Art wie wir wahrnehmen, fühlen, denken, erinnern und unsere Handlungen planen und ausführen, festlegt. Es ist in seinem Kern, dem Temperament, schon bei der Geburt deutlich ausgeprägt und in seiner weiteren Ausprägung durch frühkindliche Erfahrungen in größerem Ausmaß veränderbar, verfestigt sich aber mit zunehmendem Alter“ (2011:72).
Die Psychologin Anna Tardos sagte im Rahmen der Pikler-Krippentagung im April 2011:
„Jede Geste, jede Berührung, jedes Wort hinterlässt Spuren beim Kind.“
Für in der Arbeit mit Kindern in den ersten drei Jahren professionell tätige Menschen muss sich angesichts dieser beiden Zitate die Frage aufdrängen: Welche Teile füge ich diesem individuellen Mosaik mit meiner Arbeit hinzu und welche Spuren hinterlasse ich bei den Kindern? Und auf der Suche nach Antworten wird die eigene Lebensgeschichte als wesentlicher Einflussfaktor auf das eigene Denken, Handeln und Empfinden sehr schnell deutlich. Jeder Mensch ist ein Mosaik aus Anlagen, Erfahrungen und den Spuren, die andere Menschen in seinem Lebenslauf hinterlassen haben. Die Fähigkeit, nicht nur die persönliche Geschichte zu reflektieren, sondern auch ein grundlegendes Verständnis der Welt und Gesellschaft, in der wir leben, ist eine der wesentlichen Kompetenzen für eine positive frühpädagogische Praxis.
In der Arbeit mit Kindern in den ersten drei Lebensjahren wird Reflektion auf unterschiedlichen Ebenen verlangt. Um verstehen zu können, warum in Deutschland die außerfamiliäre Betreuung von Kindern in den ersten drei Lebensjahren bis heute ein emotional besetztes Thema ist, dass unter Müttern ebenso heiß und inbrünstig diskutiert wird, wie an Stammtischen, von Kirchenmännern und Politikern, der muss einen Blick in die Vergangenheit werfen. Dabei zeigt sich, dass die Rolle der Frau in der Gesellschaft eng mit der Entwicklung frühkindlicher Betreuungseinrichtungen verbunden ist. Um dieses Verständnis zu fördern, habe ich mich entschieden, diese Verknüpfung bezogen auf die Mutterrolle ausführlich darzustellen. Dabei wird auch deutlich, wie gesellschaftliche und politische Entwicklungen bis in die Gegenwart hineinwirken. Die Rollenverteilung der bürgerlichen Familie des 19.Jahrhunderts, das Mutterbild der Nationalsozialisten und die Hausfrauenehe der 1950er und 1960er Jahre wirken z.T. unterschwellig, z.T. offensichtlich bis in die „moderne Beziehung“ zwischen gut ausgebildeten, selbstständigen jungen Frauen und ihren liberalen und an den Kindern ehrlich interessierten Partnern. Werden heute aus Paaren Eltern, sind sie wie keine Generation zuvor vor die Wahl von Lebensentwürfen für ihre kleine Familie gestellt und müssen entscheiden, was für sie „richtig oder falsch“ ist. Alle Varianten, ob der Vater in Elternzeit geht und die Mutter Vollzeit arbeitet, beide arbeiten und das Kind in eine Krippe oder zu einer Tagespflegeperson kommt oder ob die Mutter drei Jahre zuhause bleibt und der Mann das Geld verdient, werden aus den unterschiedlichen Perspektiven gewertet. Anerkennung für ihre Wahl müssen sie sich in jedem Fall erkämpfen. Welche Rolle, politische Interessen und gesellschaftliche Überzeugungen für das Leben von Kindern und ihren Familien, zeigt der Vergleich der unterschiedlichen Entwicklungen der Kinderbetreuungspolitik in DDR und BRD.
Diese historische Reflektion zieht eine Betrachtung der aktuellen Lebenswelt von Kindern und ihren Familien nach sich. Hinsichtlich einer professionellen Arbeit stellen sich die Fragen, inwiefern außerfamiliäre Kleinkindbetreuung den Bedürfnissen der Eltern, im besonderen Maße jedoch den Bedürfnissen der Kinder gerecht werden kann. Dieses Buch möchte Kinder in den ersten drei Lebensjahren in den Fokus rücken. In keiner anderen Zeit im Leben findet in einem solchen rasanten Tempo eine solch bedeutende Entwicklung statt. Es soll jedoch keine weitere Abhandlung frühkindlicher Entwicklung sein sondern aufzeigen, welche Anforderungen sich aus dieser besonderen Lebensphase für die pädagogischen Fachkräfte ergeben und wie diesen entsprochen werden kann. Dabei nehme ich immer wieder Bezug auf die Pikler-Pädagogik. Im Jahr 2011 wurde das Lóczy geschlossen und damit zumindest was die Lokalität betrifft eine Ära beendet. Das Lóczy war ein Säuglingsheim das die Kinderärztin Emmi Pikler in der Nachkriegszeit in Budapest gründete. Dort entwickelte sie auf der Basis ihrer Erfahrungen als Ärztin und Beobachtungen der Bewegungsentwicklung junger Kinder, eine Arbeitsweise mit den elternlosen Säuglingen, die ihres gleichen sucht. Liebevoll und mit größter Achtsamkeit wurde trotz materiellem Mangel und eingeschränkten personellen Ressourcen eine Pädagogik entwickelt, die den Säuglingen das Heranwachsen zu emotional und körperlich gesunden Persönlichkeiten ermöglichte. Trotz dieser sogar von einer Studie der WHO bestätigten Erfolge blieb Piklers Arbeit abgesehen von ein paar wenigen Einrichtungen in Deutschland lange unbeachtet. Durch den gesetzlichen Ausbau der Betreuungsplätze in Deutschland wurde eine Art verzweifelter Suchbewegung nach pädagogischen Handlungsmöglichkeiten für die Arbeit mit dieser Zielgruppe ausgelöst. Viele der Suchenden landen bei den Arbeiten Emmi Piklers und ihrer Mitarbeiterinnen. Sie entdecken dort einerseits viele Antworten auf ihre in der Praxis entstandenen Fragen. Doch die Pikler-Pädagogik ist mehr als ein Rezeptbuch für eine gelingende Krippenpraxis. Die Pikler-Pädagogik muss als Haltung, als Philosophie verstanden werden, auf deren Basis angepasst an die Individualität des Kindes, die Individualität der pädagogischen Fachkraft und die Besonderheit der jeweiligen Einrichtung eine für die Kinder positive außerfamiliäre Betreuung möglich wird.
Trotz dieser Individualität einer jeden Betreuungsbeziehung von Kindern in den ersten drei Lebensjahren, gibt es globale und essentielle Bedürfnisse, die pädagogische Fachkräfte herausfordern. Diese frühpädagogischen Antinomie von Individualität und Globalität möchte ich darstellen und Denkanstöße für eine tatsächlich an dem einzelnen Krippenkind orientierte pädagogische Praxis geben.
Dieser Rückblick zeigt, in welchen gesellschaftlichen Entwicklungsrahmen die Betreuung von Kindern in den ersten drei Lebensjahren einzuordnen ist. Nur so wird nachvollziehbar, warum in einem demokratischen und entwicklungsorientierten Land wie Deutschland, die außerfamiliäre und insbesondere die institutionelle Betreuung von jungen Kindern bis heute ein die Gemüter unterschiedlicher Menschen bewegendes Thema ist.
Institutionelle Kleinstkinderbetreuung wurde in der Vergangenheit stets von einem sozialpädagogischen Doppelmotiv, wie Reyer & Kleine (1997:10) es nennen, angetrieben. Der Haushaltsbezug und die Notwendigkeit (und heute die „Wahlfreiheit“) der Mütter zum Lebensunterhalt beizutragen, bleiben bis in unsere Zeit dem Kindbezug, den physischen und psychischen Bedürfnissen der Kinder, übergeordnet. Die Entstehung dieses Doppelmotivs ist auf Veränderungen in den familiären und gesellschaftlichen Strukturen zurückzuführen, die sich insbesondere auf die Lebenssituation von Frauen ausgewirkt haben.
Die Verknüpfungspunkte von Kinderbetreuung und Frauengeschichte werden im ersten Abschnitt dieses Kapitels dargestellt. Anschließend wird die Entwicklung der Krippe durch die vergangenen drei Jahrhunderte nachgezeichnet. Der Schwerpunkt dieser historischen Betrachtung liegt auf der gesamtgesellschaftlichen Rezeption dieser Einrichtung sowie auf der konzeptionellen Ausrichtung der Krippe. Abschließend wird die Betreuungslandschaft für Kinder unter drei Jahren in Deutschland seit der Wiedervereinigung vorgestellt.
Die Frage nach Kinderbetreuung war und ist eng mit der Rolle der Frau in der Gesellschaft verbunden.
In der vorindustriellen Gesellschaft war das wichtigste und am weitesten verbreitete Wirtschafts- und Sozialgebilde, besonders in bäuerlichen und handwerklichen Kreisen, die Sozialform des „ganzen Hauses“. Zentrales Merkmal war die Einheit von Produktion und Haushalt. Das „ganze Haus“ umfasste die verwandten Familienmitglieder, Knechte und Mägde, Gesellen und Lehrlinge und unterstand dem „Hausvater“ (vgl. Peuckert 2002:21). Die „Haus“-Frau übernahm in dieser streng organisierten Arbeitsgemeinschaft neben der Kinderbetreuung Aufgaben im produktiven landwirtschaftlichen und handwerklichen Bereich. Kinderbetreuung wurde jedoch nicht von der Mutter alleine geleistet, sondern innerhalb des „ganzen Hauses“ arbeitsteilig organisiert (Schmidt in Ahnert 1998: 59). Kinder wurden als potenzielle Arbeitskräfte betrachtet. Dies zeugt von einem Übergewicht gefühlsarmer Beziehungen der Familienmitglieder und kann auch auf die Beziehung der Geschlechter zueinander übertragen werden. Es drückt sich außerdem besonders in der Partnerwahl aufgrund ökonomischer Momente (Arbeitskraft, Mitgift) aus (Peuckert 2002:21). Mit der Trennung von Familie und Arbeitsplatz, bedingt durch die Ausbreitung industrieller Produktionsweisen im 19.Jahrhundert, verlor das „ganze Haus“ an Bedeutung. Als Folge entwickelte sich zunächst im gebildeten und wohlhabenden Bürgertum „[…] ansatzweise der Typ der auf emotional- intimen Funktionen spezialisierten bürgerlichen Familie als Vorläufer der modernen Kleinfamilie “ (ebd. 22). Die mit dem Ideal der romantischen Liebe und der damit zunehmenden Bedeutung von Gefühlen verbundene Leitbildfunktion der bürgerlichen Familie brachte die nichterwerbstätige Hausfrau und Mutter hervor. Bürgerliche Frauen wurden im Rahmen der ökonomischen Möglichkeiten in den häuslichen Bereich verwiesen und wie die Kinder von der Erwerbstätigkeit freigestellt (ebd. 24). Obwohl für Arbeiterfamilien der Wegfall der weiblichen Erwerbseinkünfte aufgrund ihrer sozio-ökonomischen Lage unvorstellbar war, fand eine Annäherung in normativer Hinsicht an das Idealbild der bürgerlichen Familie statt Innerhalb der bürgerlichen Familien setzte sich einen Art Arbeitsteilung durch. Während die Männer als Autoritätsperson über die Familie wachten und sie versorgten, waren die Frauen für die emotional-affektiven Bedürfnisse und die Haushaltsführung zuständig (ebd. 24f). Die damit verbundene Stilisierung der Mutterschaft und die mütterliche Aufsicht als „natürliche“ Form der Kinderbetreuung (Lamb & Sternberg in ebd. 16) negierte jedoch bereits in ihrer Entstehungszeit die Lebenswirklichkeit vieler Frauen, die auf Erwerbstätigkeit und damit auf Kinderbetreuung angewiesen waren. Diese Mythisierung und die Aufspaltung der bürgerlichen Gesellschaft in eine öffentliche und eine private Lebenssphäre entspricht laut Peuckert (2002: 25) einer Neudefinition der Geschlechtsrollen. Der Mann wird der außerhäuslichen Sphäre zugeordnet und die Frau der innerhäuslichen.
In den 50er und 60er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts erlebte die bürgerliche Familie als ideales Familienmodell ihren Höhepunkt. Der Mann als materieller Versorger und die Frau als emotionaler Versorgerin hatte sich in der Bundesrepublik zur dominanten Familienform durchgesetzt (vgl. Peuckert 2002:25f). Erwerbstätigkeit von Frauen und Müttern blieb daher im Westen Deutschlands stets umstritten. Tassilo Knauf schreibt dazu treffend „Die enge Mutter-Kind-Beziehung ist ohnedies nicht etwa eine historische Grundkonstante in der frühkindlichen Lebensgeschichte, sondern hat sich als Zivilisationsfolge der Moderne herauskristallisiert, die sich durch veränderte Familienkonstellationen vielfach wieder auflöst “ (Rauh 2006: 89). Welchen Einfluss ideologische und kulturelle Prägungen nehmen zeigt die Praxis frühkindlicher Betreuung in der DDR: Weibliche und mütterliche Erwerbstätigkeit wurden aus ideologischen Überzeugungen und pragmatischen Zwängen des Staates positiv bewertet und gefordert (Schmidt in Ahnert 1998:64). Kinderbetreuung wurde von staatlicher Seite bereits für die Jüngsten angeboten, um Frauen für die Erwerbsarbeit freizustellen. Die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie bedeutete für die Frauen in der DDR jedoch eine Doppelbelastung, da „tradierte Verhaltensweisen und Rollenbilder von Mann und Frau“ (Obertreis zit. nach Schmidt 1998: 64)t trotz der fortschrittlichen Politik des Staates weiter im Alltag verankert waren.
Wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklungen seit der Mitte der 1960er Jahre haben dazu geführt, dass die traditionalen Geschlechtsrollen an Geltung und Überzeugungskraft eingebüßt haben. Frauen rückten als Arbeitskräfte für Industrie und Verwaltung in das Interesse des Arbeitsmarktes. Die Emanzipationsbewegung und die durch staatliche Bildungspolitik seit den 1970er Jahren geförderte berufliche Qualifizierung wirkten außerdem als Antrieb für die Selbstständigkeit junger Frauen (vgl. Kaufmann 1995 zit. nach Peuckert 2002: 234). Diese Orientierung von Frauen an außerhäuslichen Tätigkeiten und ihre Entsprechung durch den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedarf bewirkt mit den aktuell stattfindenden Prozessen des sozialen und wirtschaftlichen Wandels eine Pluralisierung der Lebensformen. Die Rolle des Mannes als Haupternährer der Familie ist durch die weibliche Arbeitstätigkeit und wirtschaftliche Zwänge ins Wanken geraten (ebd. 34). Neben der Normalfamilie bestehen „Wilde Ehen“, Ein-Eltern-Familien, Ein-Personen-Haushalte, Patchwork-Familien und andere Familienformen (Nave-Herz 2002: 13)1. Allerdings haben vor allem die Lebens- und Haushaltsformen ohne Kinder während der letzten Jahrzehnte zugenommen. Während sich die Lebenszeit verlängert, hat sich die Familienphase aufgrund der geringen Kinderzahl pro Familie auf etwa ein Viertel der gesamten Lebenszeit verkürzt (vgl. Fünfter Familienbericht 1994 zit. nach Peuckert 2002:41). Die Pluralisierung von Frauenleben im Familienzusammenhang drückt sich vorrangig in einer Doppelorientierung aus. Frauen wollen Berufstätigkeit und Familienarbeit miteinander vereinbaren, doch weder Arbeitswelt noch Familie nehmen Rücksicht auf den jeweils anderen Bereich (Nave-Herz 2002:43). Die Generation der „Neuen Väter“ nimmt nach der Geburt die ihnen zustehenden Vätermonate des Elterngeldes in Anspruch. Doch in den meisten Familien, übernehmen Mütter weiterhin die Hauptlasten der Familienarbeit, was von Teilen der Gesellschaft auch immer noch als „natürlich“ angesehen wird (vgl. Schweizer 2007:382). Diese fortbestehende geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die z. T. in der familienunfreundlichen Beschäftigungspolitik deutscher Arbeitgeber begründet ist, lassen die Doppelorientierung zur Doppelbelastung der Frauen werden.
Die Stellung der Frau in der modernen Gesellschaft und deren Konzept der Kindheit waren und sind eng an die lückenlose Erwerbsbiographie des Mannes gebunden. Der gesellschaftliche und ökonomische Wandel bedingt jedoch immer deutlicher eine Veränderung der einzelnen Elemente dieses „Systems“. Auch in der Wirtschaft scheint dieser Veränderungsdruck stärker zu werden. So wirbt im Sommer 2011 ein weltweit agierendes Telekommunikationsunternehmen in einem TV-Spot dafür, dass es insbesondere Frauen die Vereinbarkeit von Familie und Karriere ermöglicht. Als eines der ersten deutschen Großunternehmen soll eine Frauenquote in Vorstandspositionen von 30% erreicht werden.
Der beschlossene und z. T. bereits umgesetzte quantitativen Ausbau von Krippenplätzen zeugt davon, dass die Erwerbstätigkeit von Müttern zwar gesellschaftliche Realität ist, in weiten Teilen Deutschlands die Unterstützung in der Verantwortung für die Betreuung von Kleinkindern noch nicht zufrieden stellend ist. So beherrschte lange eine wenig pädagogische Debatte dafür eine umso ideologischere Diskussion die Auseinandersetzung mit der Weiterentwicklung der deutschen Kinderbetreuungspolitik. Vor allem die Rolle der Mutter wurde öffentlich diskutiert. Der Augsburger Bischof Mixa ging dabei soweit, der Politik vorzuwerfen, dass die staatliche Förderung von Krippenbetreuung Frauen zu „Gebärmaschinen“ degradiere und die Erwerbstätigkeit beider Eltern ein „ideologischer Fetisch“ der damaligen Familienministerin Ursula von der Leyen sei (www.zeit.de am 01.12.2001).
Die Geschichte der Krippe ist also immer auch die Geschichte der Frau – deren Grundproblematik sich aus dem Widerspruch zwischen weiblicher Geschlechtsrollennorm und Geschlechtsrollenrealität zusammensetzt.
Im Zuge der Industrialisierung und der damit einhergehenden Verstädterung Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden in Deutschland „Säuglingsbewahranstalten“, die sich an französischen Vorbildern, den „Créches“, orientierten. Firmin Marbeau deckte in seiner Funktion als Mitglied der „Commision zur Berichterstattung über Kleinkinderbewahranstalten“ in Paris die Tatsache auf, dass viele Kinder „der armen Classen“ (Marbeau 1846 zit. nach Reyer & Kleine 1997: 18) vom zweiten Lebensjahr an, in öffentlichen Einrichtungen versorgt würden, dass diese öffentliche Sorge aber bereits für die Jüngsten, für Säuglinge und Kleinstkinder, benötigt würde.
Mit dieser Erkenntnis legte Marbeau den Grundstein für das sozialpädagogische Doppelmotiv. Der Entstehungsgedanke der öffentlichen Kleinkinderziehung und die sich anschließende Entwicklung der Krippen weist aus, warum ihre Geschichte nicht als Teil der Bildungsgeschichte zu begreifen, sondern der Geschichte der Familienhilfe zuzuordnen ist (Reyer in Fried & Roux 2006: 268).
Breite Bevölkerungsschichten waren im Zuge Lebens- und Arbeitsverhältnisse in den Städten von Armut betroffen. Häufig mussten beide Elternteile erwerbstätig sein, um das Überleben der Familie zu gewährleisten. Die Entstehungsgeschichte der Krippe lässt sich daher eingliedern in die allgemeine Entstehungsgeschichte öffentlicher Kleinkinderziehung, deren Aufgabe es war, die Betreuungsnotstände in Familien abzufangen. In den Kleinkinder-Schulen, Kleinkindbewahranstalten und Kindergärten des 19. Jahrhunderts2 konnte jedoch den altersspezifischen Bedürfnissen von Säuglingen und Krabbelkindern nicht Sorge getragen werden. Das Leitmotiv dieser Einrichtungen war es, die Kinder zu beaufsichtigen und „Sitten und Gesundheit zu bewahren“ (zit. nach Baacke 1999: 310) sowie die Kontrolle der Kinder und ihrer Familien durch die öffentliche Hand zu gewährleisten.
Die Gründung von Krippen lässt sich daher auf zwei Motive zurückführen: an erster Stelle bestand die Notwendigkeit, Müttern Erwerbsarbeit zu ermöglichen; an zweiter Stelle die Erfüllung alterspezifischer Entwicklungsbedürfnisse der Kleinstkinder. Im Gegensatz zu den Kinderbewahranstalten war die Aufgabenstellung im Hinblick auf das kindbezogene Motiv nicht die Erziehung der Kinder nach trägerspezifischen Ordnungs- und Wertevorstellungen, sondern die Eindämmung der Krankheits- und Sterblichkeitsraten in der jüngsten Altersgruppe. Die sich daraus ergebende institutionelle Identität baute vorrangig auf einer hygienischen Versorgung der Kinder auf. Nicht die Pädagogik stellte daher den wissenschaftlichen Bezugsrahmen für die Krippen dar, sondern die Pädiatrie (vgl. Reyer & Kleine 1997: 17).
Trotz des offensichtlichen gesellschaftlichen Interesses gingen Krippengründungen in der Regel auf die Initiative von Einzelpersonen zurück. Die Trägerschaft dieser Neugründungen lag in mehr als zwei Dritteln der Fälle in der Hand von eigens dafür gegründeten Vereinen. Um das Jahr 1912 zählte Rott 234 Krippen im Deutschen Reich (ebd. 24).
159 dieser Einrichtungen befanden sich in der Trägerschaft von Vereinen wie dem Frankfurter „Verein zu Errichtung und Erhaltung von Krippen“, andere Träger waren Stiftungen, Kirchliche Gemeinden und Diakonissenhäuser. Außerdem gab es eine kleine Anzahl Fabrikkrippen, Einrichtungen von Privatpersonen und politischen Gemeinden (vgl. ebd.). „Ohne die herausragende Bedeutung der Rechts- und Organisationsform des Vereins bei der Gründung und Trägerschaft ist die Krippengeschichte kaum zu denken “ schlussfolgern Reyer & Kleine (ebd. 23).
Um den andauernden Finanzierungsproblemen entgegenwirken zu können, aber auch um die gesellschaftliche Anerkennung der Krippen zu stärken schlossen sich im Laufe der Jahre die einzelnen Vereine zu Zentralvereinen zusammen. Diese Zusammenschlüsse führten auf längere Zeit zu einer Professionalisierung der Arbeit und der Vereinheitlichung der Konzepte. Diese Prozesse basierten jedoch nicht auf pädagogischen Ansprüchen. Ziel war es stets, die Mortalitätsrate bei Krippenkindern zu senken. Denn die Krankheitsanfälligkeit und Sterblichkeit stellte bis über die Jahrhundertwende hinaus das zentrale Streitthema zwischen Krippengegnern und ihren Befürwortern dar (ebd. 28).
Diese Ausrichtung der Krippen spiegelte sich im Namen ihres Verbandsnamens wieder: „Deutschen Vereinigung für Säuglingsschutz“ (Deutscher Krippenverband 1919 zit. nach ebd. 29.). Mütter sollten die Möglichkeit erhalten, den Lebensunterhalt für die Familie zu sichern, die Kinder wollte man während der Arbeitszeit ihrer Mütter „vor Verderben“ schützen, so Fritz Rott vom „Organisationsamt für Säuglingsschutz des Kaiserin Auguste Victoria-Hauses“ in Berlin zu den Aufgaben der Krippe (vgl. ebd. 30).