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Nr. 2673

 

Das 106. Stockwerk

 

In den Tiefen des TLD-Towers – und im Zentrum einer Verschwörung

 

Hubert Haensel

 

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In der Milchstraße schreibt man das Jahr 1470 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) – das entspricht dem Jahr 5057 christlicher Zeitrechnung. Das heimatliche Solsystem ist vor mehr als drei Monaten spurlos von seinem angestammten Platz im Orionarm der Milchstraße verschwunden.

Die Heimat der Menschheit wurde in ein eigenes kleines Universum transferiert, wo die Terraner auf seltsame Nachbarn treffen, die ihnen allem Anschein nach übel wollen. Seither kämpft die solare Menschheit um ihr Überleben.

Von den geheimnisvollen Spenta weiß man am wenigsten: Ihnen liegen Sonnen am Herzen. Ihrer Ansicht nach wird Sol durch den Leichnam der Superintelligenz ARCHETIM verschandelt – deshalb haben sie das Herz des Systems »verhüllt«.

Ganz anders die Fagesy: Sie sehen in den Menschen gemeine Diebe, die den Leichnam einer Superintelligenz gestohlen haben, und fordern Sühne. Ihnen zur Seite stehen die Sayporaner, die nichts Geringeres im Sinn haben als die »Neuformatierung« der Menschheit. Nachdem sie vertrieben werden konnten, will Reginald Bull nun in ihr Heimatsystem vorstoßen. Er benötigt dazu DAS 106. STOCKWERK ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Reginald Bull – Der Resident erfährt vom 106. Stockwerk.

Attilar Leccore – Der TLD-Chef kehrt zurück.

Fydor Riordan – Ein Verräter spinnt sein Netz aus Intrigen.

Ve Kekolor – Die »Stille Ve« tut alles für die Unsterblichkeit.

Flemming Burnett – Ein Koko-Interpreter ist es gewohnt, alles aus der falschen Perspektive zu sehen.

Prolog

 

Manchmal war die Welt ruhig, so wie in diesem Moment. In solchen Stunden genoss Flemming Burnett die Einsamkeit seines subplanetaren Arbeitsraums und versuchte, das außerhalb herrschende Chaos zu ignorieren.

Momentan fiel es ihm allerdings schwer. Er lehnte nicht wie sonst im Sessel, sondern saß weit vorn, auf der Kante der Sitzfläche, stützte die Ellenbogen auf den polierten Schreibtisch und vergrub das Gesicht in den Händen. Unablässig kratzten seine Fingernägel am Haaransatz entlang.

Da draußen sind Stimmen.

Lärm.

Eine heftige Explosion in den oberen Stockwerken des TLD-Towers!

Burnett gab sich einen Ruck und sah auf. Sekundenlang lauschte er, während seine Fingerspitzen die Stirn hinunterglitten und zwischen den Augen verharrten. Beinahe schmerzhaft massierten sie die Nase.

Es war weiterhin still. Hatte der Lärm nur in seinen Gedanken nachgeklungen? Nein. Nein.

Nein.

Der ohnehin sinnlose Angriff war beendet, gleichwohl konnte er jederzeit von Neuem aufflammen. Eine Atempause herrschte im Untergang.

Sie werden keine Ruhe geben, dachte Flemming Burnett. Warum sollten sie?

Sein Blick streifte die Datumsanzeige, es war der 1. Dezember 1469 NGZ. Noch ein Monat bis zum Jahreswechsel.

Burnett setzte sich steif auf. Er fragte sich, ob es die Mühe wert war, überhaupt an das neue Jahr zu denken. Wahrscheinlich würde Terra bis dahin in Eiseskälte erstarrt sein.

Der Tod braucht keine viereinhalb Wochen ... Oft kommt er atemraubend schnell.

Flemming Burnett lauschte dem verwehenden Gedanken. Zweifellos bestimmte die schlimmste Interpretation über die nächsten Tage und Wochen.

»Die Anomalie wird zunehmend instabil. Sie kollabiert. Oder sie bricht auseinander.«

Wort für Wort stieß er halblaut hervor und ließ jedem eine kurze Pause folgen. Es gab für ihn keine schlimmere Vorstellung. Ein Zusammenbruch des Miniaturuniversums, in dem sich das Solsystem befand, würde Terra zermalmen und kaum mehr als Atome übrig lassen ... Ein Aufbrechen oder eine Explosion konnte den Planeten sonst wohin schleudern – nur würde das kein angenehmeres Schicksal sein.

»Wir müssen miteinander reden, AGENT GREY.« Der Wunsch Burnetts kam eher zwangsläufig, weil er das Geschehene ohnehin mit niemandem besser diskutieren konnte. Zugleich wischte er mit dem Arm einige Stäubchen von der Tischplatte.

Um nichts in der Welt hätte er seinen Schreibtisch gegen eine moderne Arbeitskonsole eingetauscht, die diese gewisse steril-universelle Ausstrahlung standardisierter Kommunikationszentralen verbreitete. Der Tisch aus dunklem Holz hingegen atmete geradezu.

Burnett griff nach dem kristallenen Tintenfass und rückte es zurecht. Ebenso den antiken Kolbenfüller, der nicht exakt parallel zur Tischkante lag. Ein Original wäre für ihn unbezahlbar gewesen; es handelte sich bei dem Füllfederhalter um eine von Terra-Nostalgikern vertriebene Replik. Das galt ebenso für das Schreibpapier, dessen Wasserzeichen verriet, dass es aus Totholz hergestellt worden war. Sinnigerweise wurden Tinte, Papier und Füller irgendwo in der Milchstraße produziert und von den Nostalgikern nur importiert.

Die Entführung des Sonnensystems hatte den Nachschub versiegen lassen. Flemming Burnett rückte den kleinen Papierstapel zurecht.

Mitten in der Bewegung hielt er inne, denn ihm wurde plötzlich bewusst, dass AGENT GREY ihm die Antwort schuldig blieb.

»Wir müssen miteinander reden ...« Hatte er das eben gesagt oder nicht? Womöglich hatte er den Satz nicht laut ausgesprochen, sondern nur daran gedacht, das war alles.

Fordernd schaute er auf das große Wandholo. Der gläserne Regen in der Projektion wirkte abstrus und verlockend zugleich. Wenn Burnett sehr genau hinsah, so intensiv, dass ihm die Augen schmerzten, glaubte er das Rieseln und Tröpfeln Tausender transparenter Signets zu sehen. Doch das war immer nur für wenige Sekunden, denn der Glasregen wurde sehr schnell zum dichten Vorhang eines steten Wasserfalls, und dahinter ...

Flemming Burnett lächelte mild. Seine Arbeit provozierte solche Überlegungen, der Umgang mit dem Unwahrscheinlichen, dem eigentlich Undenkbaren, das für ihn einen völlig anderen Stellenwert hatte als für neunundneunzig Komma neun Prozent der Menschheit.

Hinter dem Glasregen saß AGENT GREY. Burnett stellte ihn sich als Mann mittleren Alters vor, grau gekleidet, aber nicht in billige synthetische Faser, sondern in Wollstoff. Die Hose bestach durch zwei molekular geprägte Bügelfalten an jedem Bein, und das offen getragene Sakko mit dem geschwungenen Stehkragen hatte etwas Zeitloses.

Ebenso grau wie seine Kleidung waren AGENT GREYS Augen. Wahrscheinlich blickten sie ein wenig kalt. Dazu das grau melierte, modisch stufenförmig geschnittene Haar, das an den Schläfen silbern schimmerte.

Ja, das war AGENT GREY. Dieses imposante Wesen wartete hinter der Holowand, in der von ihm meist nur der gläserne Regen zu sehen war, als gäbe es nichts Aufregenderes zu zeigen. Andererseits verbarg der Regen sein Schmunzeln über die Unwissenheit der materiellen Welt.

AGENT GREY wusste keineswegs alles. Jedoch hinterfragte er die Dinge, ging sie auf eine Art und Weise an, die Menschen für verrückt hielten, mitunter für irrsinnig.

Flemming Burnett lächelte nachsichtig.

Verrückt! – Das ist verrückt und irr. Zeige mir jemand den Menschen, der so etwas längere Zeit aushält, ohne den Verstand zu verlieren.

Genau das waren seine Worte gewesen, als er zum ersten Mal mit einem Kontra-Computer konfrontiert worden war. Burnett erinnerte sich gut. Jahrzehnte lag das zurück, die Begegnung hatte ihn zu dem gemacht, was er heute war: Als Koko-Interpreter beherrschte er den Umgang mit Kontra-Computern, jenen positronischen Querdenkern, deren Berechnungen grundsätzlich von konträren Annahmen und den unwahrscheinlichsten Voraussetzungen ausgingen.

Heute ist ein guter Tag, weil sich das Schicksal der Erde entscheidet. Wir schaffen es, die Sternengaleonen zu vertreiben, die Sonne wird mühelos neu entzündet werden, und danach kehren wir in die Milchstraße zurück, an den angestammten Platz des Solsystems im Orion-Arm.

Ja, das alles erschien ihm extrem unwahrscheinlich.

Aber war es denn unwahrscheinlich genug?

Flemming Burnett streckte die Arme aus und legte beide Hände auf die Tischplatte. AGENT GREYS Konterfei zeichnete sich vage in dem unruhigen Glasregen ab, doch Äußerlichkeiten interessierten Burnett in dem Moment nicht mehr, lediglich das mächtige biomechanische Gehirn des eleganten Mannes, ein Block wie aus reinem Kristall. Es war makellos und ohne den Hauch einer Trübung, und wegen dieser Reinheit glaubte Burnett an den grauen Herrn. Das ging so weit, dass er AGENT GREY jederzeit sein Leben anvertraut hätte.

Und AGENT GREY, das wusste er, vertraute ihm.

»Eines Tages wirst du mich verfluchen und alles daransetzen, mich zu vernichten, Flemming Burnett«, hatte AGENT GREY einst geäußert. Konnte es einen größeren Vertrauensbeweis der Biopositronik geben, als dass sie genau dies als die unwahrscheinlichste Variante aller absurden Möglichkeiten ansah?

Burnett kniff die Augen zusammen. Selten hatte er sich so verwirrt und elend gefühlt wie nach dem Versuch der Landetruppen, in den Tower einzudringen. Nichts wünschte er sehnlicher herbei, als dass dies alles schnell aufhörte. Tief atmete er ein, dann lächelte er wieder und griff nach der winzigen Figur, die er mit dem Papier unbeabsichtigt zur Seite geschoben hatte.

Sie war aus extrem hartem Holz und nicht einmal fünf Millimeter groß. Allzu leicht konnte sie durch eine unbedachte Bewegung verloren gehen.

Sekundenlang hielt er sie zwischen Daumen und Zeigefinger, dann setzte er sie vorsichtig mitten auf dem Papierstapel ab. Um die Figur in all ihrer Feinheit betrachten zu können, bedurfte es eines optischen Vergrößerungsfelds. Ein Samurai, ein historischer terranischer Krieger in voller Rüstung und selbst in den winzigsten Details perfekt bemalt. Burnett drehte die Gestalt so, dass sie ihn anblicken konnte, danach hatte alles wieder die gewohnte Ordnung.

Er rutschte auf der Sitzfläche des Sessels zurück.

»Hast du Zeit für mich?«, fragte er.

Der gläserne Regen wurde zum Sturzbach aus Daten, Ziffern und Zeichen in einer Fülle und Schnelligkeit, dass Burnett das Gefühl hatte, von der Flut mitgerissen zu werden.

»Ich habe alle Zeit der Welt für dich, Flemming Burnett«, antwortete AGENT GREY mit seiner sonoren, beruhigenden Stimme.

1.

 

Reginald Bull stand vor der Panoramascheibe seines Büros hoch oben in der Solaren Residenz. Er genoss den Eindruck direkter Sicht durch das makellose Glasverbundmaterial: Nichts außer dieser unsichtbaren Barriere trennte ihn von den wehenden Dunstschwaden dort draußen, durch die immer mehr kleine Schneeflocken tanzten.

Für kurze Zeit fraß sich sein Blick im Südwesten fest, wo eigentlich Sol am Himmel ihr Licht verströmen sollte.

Die Sonne war da, aber sie blieb unsichtbar – ein schwarzer Stern ohne Leuchtkraft, ohne Wärme. Am 30. September hatten die Spenta das Zentralgestirn gelöscht und damit eine Katastrophe für Terra heraufbeschworen; nun zeigte der Kalender bereits den 1. Dezember, aber Sol war nach wie vor äußerlich tot.

Eine erloschene Sonne ...

Die meisten Terraner hatten sich mittlerweile damit abgefunden, dass ihre Heimat ohne den Pulk der eigenen Kunstsonnen längst zum Eisblock erstarrt und alles Leben an der Oberfläche unmöglich geworden wäre.

Damit abgefunden ... das ist etwas völlig anderes als daran gewöhnt ...

Es gab Dinge, an die gewöhnte man sich nie. Sogar solche, die nicht annähernd so bedeutend waren wie eine erloschene Sonne.

Terrania ertrank im trüben Nachmittag. Ein rötlich düsterer Schimmer überzog den Himmel, als wolle er das Ende aller Tage ankündigen.

Bull verschränkte die Arme vor dem Leib. Er zwang sich zur Ruhe. Ob er es wahrhaben wollte oder nicht, er dachte immer wieder daran, sich mit der Wut des in die Enge Getriebenen zu verteidigen. Mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln.

Einfach draufschlagen. Als ob wir nichts mehr zu verlieren hätten.

Wie oft hatten fremde Mächte Terra schon eins auf die metaphorische linke Wange gegeben? Und wie oft hatte die Mutterwelt der Menschheit das nicht nur ertragen, sondern auch noch die rechte Wange hingehalten? Dazu war man einmal in der Lage, sogar ein zweites Mal und öfter, aber irgendwann ...

Irgendwann läuft das Fass über. Selbst der Friedlichste sucht dann nicht länger nach Lösungen, sondern schlägt zurück. Weil es keine Rolle mehr spielt, ob er den Kampf gewinnt oder verliert. Er muss ganz einfach handeln, will er sich selbst jemals wieder in die Augen sehen.

Mit einem knappen Kopfschütteln wischte Bully die Feststellung beiseite. So reizvoll der Gedanke sein mochte, etwas zu tun, wusste er genau, wie schnell das in eine Sackgasse führte. Wenn er sich mit so etwas ernsthaft befasste, wirkte er nicht nur auf andere, sondern auch auf sich selbst nur wie ein Verzweifelter.

Und das würde er nicht zulassen.

Es blieb dabei: ein Schritt nach dem anderen.

Der TLD-Tower war das nächste Ziel.

Er blickte hinaus in das stärker werdende Schneetreiben, in dem plötzlich grün leuchtende Zahlen auftauchten: 1. 4. 0. 0.

Für einen Moment war er verwirrt, dann erleichtert. Der Servo projizierte die Uhrzeit seines nächsten Termins.

»Sollen reinkommen«, sagte er in den Raum hinein.

Dann drehte er sich um, sodass er die Tür genau im Blick hatte. Sekunden darauf öffnete sie sich, und drei Personen betraten das Büro; die ersten beiden selbstsicher und dennoch höflich, harmonisch gemeinsam und gleichzeitig wie um den Vortritt rangelnd. Der dritte hielt sich etwas im Hintergrund. Bull registrierte all das, ohne es zu thematisieren. Die beiden merkten aller Wahrscheinlichkeit nach nicht einmal, was sie da taten.

Instinkte ..., dachte Reginald Bull, der Solare Resident.

Shanda kam auf ihn zu. Die schlanke, hochgewachsene junge Frau nickte knapp. Ihr Blick ging an ihm vorbei.

»Schnee«, sagte sie. »Wenigstens die Kinder haben Spaß daran. Die meisten Erwachsenen sehen ihn als Sinnbild der Katastrophe.«

»Zum Glück sind wir nicht so weit, dass Terrania im Schnee versinkt«, widersprach der Resident.

»Schnee hat etwas Faszinierendes«, sagte der zweite Besucher mit seiner unverkennbaren dunklen Stimme. Er trat mit ein paar schnellen Bewegungen an Bull vorbei und presste die flache Hand gegen die Scheibe. Langsam ließ er die Finger auseinanderwandern, als wolle er die Kälte spüren, die dort draußen herrschte.

»Delorian schickt mich, wenn auch ohne Geschenkverpackung, Reginald Bull«, sagte er, ohne den Residenten anzusehen. »Er meint, du wirst ihm die fehlende Schleife nachsehen.«

Shanda Sarmotte ließ sich in den ersten Sessel der kleinen Besprechungsecke sinken. Mit einer schnellen Handbewegung wischte sie ihr scheitellos fallendes glattes Haar hinters Ohr zurück. Ein breites Lächeln erschien auf ihren Zügen, als sie die beiden Männer betrachtete wie ein interessierter Zuschauer. Und genau das war sie ganz sicher nicht.

»So. Meint Delorian. Ist das so?« Bully kratzte sich an der Schläfe. »So, wie er meint, dass sich das einzige funktionstüchtige Transitparkett und damit die einzige Möglichkeit, ins Herz der Sayporaner vorzustoßen, im Tower des Terranischen Liga-Dienstes befindet?«

»Ach, Effendi«, sagte Toufec und klopfte ihm auf den Rücken. »Du bist ein sehr humorvoller Mann, sagt man. Ich werde versuchen, deinen Humor zu verstehen. Aber ich mag ihn.«

»Effendi?«, echote Reginald Bull.

»Gib zu, du hast die ganze Zeit daran gedacht, jemand, der wie ich aussieht, müsse auch ständig so etwas sagen.«

Toufec war nicht sehr groß, dafür kompakt und muskulös gebaut. Mittlerweile kannte Bully die Geschichte des Mannes, dessen Heimat zwar auf der Erde lag, nur keineswegs in der Jetztzeit, sondern Mitte des 6. Jahrhunderts vor Christus. Toufec war nicht pflegeleicht, ein Naturbursche eben, den die raue arabische Wüste geprägt hatte, doch Bully vertraute ihm instinktiv.

»Ja, Hadschi Halef Omar ...«, murmelte Bull. Eigentlich bewegte er nur die Lippen, weil er plötzlich zu wissen glaubte, woran Toufec ihn erinnerte, aber der Beduine hatte Ohren wie ein Luchs.

»Von wem sprichst du?«, hakte Toufec nach. Mit beiden Händen wühlte er durch seinen schwarzen Vollbart, als müsse er das verfilzte Gestrüpp wenigstens hin und wieder von ungebetenen Gästen befreien. »In Marib habe ich von einem Abu Omar reden hören, einem Karawanenführer, dem viele Überfälle nachgesagt ...«

Mit einer knappen Handbewegung schnitt Bull dem Beduinen das Wort ab. »Unwichtig. Das war nur eine ferne Erinnerung an eine fiktive Figur.«

Eine sehr ferne Erinnerung, gestand Bully sich ein. Wie alt mochte er gewesen sein, als ihm eines von Karl Mays Werken in die Hände gefallen war? Fünfzehn? Zwanzig? Er wusste es nicht mehr. Nur an den Titel der in deutscher Sprache geschriebenen Reisegeschichte erinnerte er sich: Durchs wilde Kurdistan. Jemand in seinem Bekanntenkreis hatte sich als Übersetzer versucht.

»Wähl dir einen Reisebegleiter und dann erst den Weg«, sagte Toufec. »Hast du gut gewählt, wirst du dein Ziel wohlbehalten erreichen.«

»Ich denke, ich habe gut gewählt«, bestätigte Reginald Bull.

Toufecs dunkle Augen verengten sich. »Du denkst?«, fragte er schroff. »Überzeugt solltest du sein!«

»Es liegt an dir, mich zu überzeugen. An dir und deinem Dschinn.«

Ganz betont wandte er sich von ihm ab und dem dritten Besucher zu: Hevaistos a Gellman gehörte zu den Kräften, die Vashari Ollaron für die Eroberung des TLD-Towers eingesetzt hatte. In Bulls Plänen kam ihm die Rolle des Einsatzleiters zu.

Er war ein knorriger Mann, der vom Äußeren her etwa doppelt so alt wirkte, wie er tatsächlich war, und von seiner inneren Flamme her so jugendfrisch wie ein knapp Zwanzigjähriger. Ein auf Terra geborener Marsianer der a-Klasse, so absurd es klang.

»Nehmt Platz.« Reginald Bull wartete, bis jeder sich gesetzt hatte.

»Nur wir vier«, sagte er. »Deshalb habe ich euch in mein Büro gebeten und nicht in Raum Eins-Eins. Es geht weniger um Einzelheiten des bevorstehenden Einsatzes als darum, dass wir uns gegenseitig einschätzen können. Außerdem dürfte Toufec Fragen haben.«

»Für mich ist der TLD-Tower tatsächlich wie eine verborgene Oase«, bestätigte der Beduine.

»Wir sind gemeinsam im Antigravlift nach oben gekommen und konnten uns dadurch bereits bekannt machen«, sagte Gellman. »Und wer kennt den Schatten Toufec und seine Aktivitäten nicht?«

 

*

 

»In Terrania steht also mittlerweile der dritte Tower des Liga-Dienstes«, stellte Toufec fest. »Und jedes dieser Gebäude wurde tief in den Wüstenboden eingegraben, als gälte es, alle Spuren eines Überfalls zu beseitigen?«

»Nicht beseitigen.« Shanda Sarmotte lachte hell. »Verhindern. Der TLD-Tower ist dafür da, Überfälle zu verhindern.«

Toufec schenkte der jungen Frau sein mitfühlendstes Lächeln. »Etwas, das niemand sehen kann, übt keine Wirkung aus«, kommentierte er. »Offensichtlich konnte keiner verhindern, dass der so sorgfältig vergrabene Schatz von den Sayporanern vereinnahmt wurde.«

»So kann man es durchaus sehen«, warf Gellman ein. »Aber das ist nur eine Seite der Medaille, kein komplexes Bild der Geschehnisse.«

»Was geschah mit den anderen versenkten Bauwerken?«, fragte Toufec.

»Der originale TLD-Tower befindet sich in einer fernen Galaxis«, antwortete Reginald Bull. »Um es salopp auszudrücken, er wurde mitsamt eines größeren Areals ...«

»Abtransportiert?«

»Gestohlen!«

Toufec zog die Lippen zurück. Es sah aus, als lache ein Kamel. Ein ausgesprochen spöttisches Kamel. Aber er sagte nichts.

»Der zweite Tower wurde als Ausweichquartier auf dem Mond errichtet«, fuhr Bull fort. »Genügt das als Information?«

»Er wurde ebenfalls gestohlen?«

»Zerstört.«

»Von wem?«

Bull schürzte die Lippen. »Von den Arkoniden, vor rund eineinhalb Jahrhunderten.«

Toufec schaute ihn durchdringend an. Scheinbar gedankenverloren zwirbelte der Beduine an seinem Bart. »Was ist nur aus meiner Welt geworden? Mein Oheim hat stets davor gewarnt, dass schlechte Zeiten kommen würden. Ihr lasst euch bestehlen, lasst zu, dass die eigene Hütte von Freunden niedergebrannt ...«

»Nicht alle Arkoniden waren unsere Freunde«, stellte Reginald Bull fest. »Und sag jetzt nicht: ›Pack schlägt sich, Pack verträgt sich.‹«

Toufec grinste tiefgründig. »Trotzdem frage ich mich, welche Folgen die Zerstörung des zweiten Turms auf dem Mond hatte. Er muss eine große Lücke hinterlassen haben.«

»Durchaus. Er stand im Mare Crisium, aber das wird dir wenig sagen. Jedenfalls befindet sich dort nun das ITE.«

»ITE?«, wiederholte Toufec gedehnt. »Wenn du mir erklärst, was ...«

»Es handelt sich um das Institut für Triebwerksentwicklung, eine normale Außenstelle der Waringer-Akademie. Geleitet wird es von Jamila Boukman.«