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ISBN 978-3-7065-5256-1
Buchgestaltung nach Entwürfen von himmel. Studio für Design und Kommunikation,
Innsbruck / Scheffau – www.himmel.co.at
Umschlag: Karin Berner
Satz: Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig
Umschlagabbildungen: Porträtfoto und Unterschrift Leo Stern (Familienarchiv)
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Gerhard Oberkofler
Manfred Stern
Leo (Jonas Leib) Stern
Ein Leben für Solidarität,
Freiheit und Frieden
Im Gedenken an
Domenico Losurdo (1941–2018)
Das Wolfsgesetz des Kapitals ist unverträglich mit dem Menschenbild des Humanismus. Das Privateigentum hat noch jede Brüderlichkeit geopfert.
Hermann Klenner (*1926)1
Es zählt nicht die Motivation, etwas zu tun, selbst wenn diese explizit religiös ist und man etwas für Gott tun will. Was zählt, ist das Tun selbst.
Jon Sobrino SJ (*1938)2
Der 1989 im Auftrag des US-Imperialismus ermordete Ignacio Ellacuría SJ hat sich über die Beweggründe von Menschen, die sich für die Befreiung der Menschheit einsetzen, so ausgedrückt: „Nur mit Utopie und Hoffnung kann man glauben und ausreichend Mut für den Versuch gewinnen, mit allen Armen und Unterdrückten der Welt die Geschichte zum Überlaufen zu bringen, sie umzustürzen und ihr eine andere Richtung zu geben“.3 Das Leben von Jonas Leib (Leo) Stern spiegelt eine solche „Utopie und Hoffnung“ wider und ist mit der Geschichte des ersten Versuchs der Menschheit, die Menschenrechte allseitig zu verwirklichen, untrennbar verknüpft. Dieser Versuch ist grandios gescheitert, die Welt der Gegenwart ist von Profitgier beherrscht. Die „Zivilisation des Reichtums“ lässt mit ihren Verdummungsmedien Versklavung, Unterdrückung, Ausbeutung und Kriege als gottgegeben erscheinen.
Manfred Stern, Mathematiker und Fachübersetzer (Ungarisch, Finnisch, Französisch, Italienisch, Russisch, Amerikanisch in das Deutsche) ist am 1. Februar 2018 in Halle (Saale) nach langer und schwerer Krankheit verstorben. Wir haben uns schon zu Anfang der 1980er Jahre über unseren gemeinsamen Freund und Genossen Eduard Rabofksy zur Kenntnis genommen. Rabofsky hat Leo Stern und Alice Melber-Stern gut gekannt. Seit Herbst 2012 haben Manfred Stern und ich öfters E-Mails ausgetauscht, wir wollten schließlich die Biographie seines Vaters gemeinsam bearbeiten. Im Mai 2017 war ich in Halle, um in den dort noch vorhandenen Materialien samt Bibliothek Nachschau zu halten. Die Kommentare von Manfred Stern zum Zeitgeschehen stehen in der humanistischen Tradition seiner Eltern, etwa wenn er sich über die „westliche Bombenwertegemeinschaft“ empörte. So schreibt er mir am 3. September 2015: „es ist alles wirklich sehr schlimm. keiner redet davon, wer die jetzigen fluechtlingsstroeme verursacht hat. als der irak bombardiert wurde, sind millionen nach syrien geflohen und haben dort schutz gefunden. wir leben in einer welt, die sich an nichts erinnert und keine zusammenhaenge kennt. gut drauf sein lautet die devise der spassgesellschaft. orwell ist erschreckende realitaet geworden“. Die Biographie seines Vaters soll nicht zuletzt Zusammenhänge sichtbar machen.
Alice Melber-Stern hat 1993 personenbezogene Unterlagen über ihren Ehemann Leo Stern von der Institution „Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“ in Kopie und mit Entschlüsselung von Decknamen erhalten. Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk (Berlin) hat mir die von ihm bei seinen Forschungen über die DDR-Historiographie im Bundesarchiv Berlin gesammelten Unterlagen über Leo Stern zur Verfügung gestellt.4 Das war ein ganz ungewöhnliches Entgegenkommen, zumal unsere wissenschaftspolitischen Auffassungen durchaus nicht konform sind! Zitate aus dem Bestand des Bundesarchivs Berlin werden im Fußnotenapparat nicht in jedem Detail ausgewiesen, sie lassen sich jedoch über das gute Suchsystem leicht finden (http://www.bundesarchiv.de/DE/Navigation/Finden/Epochen/Deutsche-Demokratische-Republik/deutsche-demokratische-republik.html).
Für die Biographie qualitativ besonders ergiebig war der Schriftgutbestand SAPMO (Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, DY 30 Bestand: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Zentralkomitee. Wissenschaft). Ausdrücklich danke ich der Referentin des Bundesarchivs Berlin (Referat DDR 1) Anja Klimaczewski für ihr stets freundliches Entgegenkommen. Das Archiv des Gymnasiums Salzburg, das Universitätsarchiv Wien, das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands Wien, das Österreichische Volkshochschularchiv Wien, das Landesarchiv Salzburg, das Wiener Stadt- und Landesarchiv, das Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, das Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, das Archiv der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und das Archiv der Comenius-Universität in Bratislava haben Materialien überlassen oder Auskünfte erteilt. Kostenlos, was heute nicht mehr selbstverständlich ist.
Helga E. Hörz (Berlin), Herbert Hörz (Berlin) und Hermann Klenner (Berlin) haben mich durch ihre freundschaftliche Ermunterung sehr gefördert. Beat Glaus (Zürich) hat mich auch diesmal begleitet, Günther Grabner (Vöcklabruck) hat mich durch kritisches Mitlesen unterstützt. Aber ohne das vertrauensvolle Einvernehmen mit Sylvia Stern (Springe/Halle), Tochter von Leo Stern, wäre die Arbeit nicht zum Abschluss gekommen. Für die aufmerksame Betreuung im StudienVerlag bedanke ich mich bei Theresa Frank. Voraussetzung für die Fertigstellung war die langjährige und freundschaftliche Verbundenheit mit dem Inhaber des StudienVerlags in Innsbruck, Markus Hatzer.
Gerhard Oberkofler
Wien, März 2019
Es ist eine Tatsache, dass Personen in die Geschichte eingreifen und
dass die Geschichte in die Gesellschaft als solche mit ihren
gesellschaftlichen Gruppen, Institutionen etc. eingreift.
Ignacio Ellacuría (1930–1989)5
Die verschiedenen Volksgruppen in der 1775 von der Habsburgermonarchie erworbenen Bukowina waren in sich nicht abgeschlossen und ihr Verhältnis zueinander war von vielen ökonomischen, religiösen und politischen Faktoren bestimmt. Der langjährige, aus Südtirol stammende Zürcher Nationalökonom Julius Platter (1844–1923), dessen fundierte bürgerliche Kritik an Karl Marx (1818–1883) Friedrich Engels (1820–1895) aufgefallen ist,6 hat 1878 als Universitätsprofessor in Czernowitz eine Schrift über den Wucher in der Bukowina geschrieben.7 In dieser wird nebst den erbärmlichen Lebensbedingungen der Bevölkerungsmehrheit statistisch nachgewiesen und erläutert, dass Czernowitz „mit vollem Rechte eine Judenstadt genannt werden kann. Wer durch die Verkehrsstraßen der Stadt oder gar über den Ringplatz geht, der begegnet denn auch fast nur Kaftanen und Stirnlocken und langen Bärten. Allein die Mehrzahl der Juden ist arm“.8
Die Juden in der Bukowina haben sich selbst weder als Westjuden noch als Ostjuden gesehen, sie wollten im System des habsburgischen Vielvölkerstaates ein besonderer Typus „österreichischer Judenheit“ sein.9 Politisch verkörpert hat diese „österreichische Judenheit“ der langjährige Reichsrats- und Landtagsabgeordnete Benno Straucher (1854–1940), der in Abgrenzung vom Zionismus für die Anerkennung der Juden als Nation der Bukowina eingetreten ist und als Symbol ein jüdisches Nationalhaus als Prachtbau in Czernowitz bauen ließ.10 Für Julius Platter war es selbstverständlich, dass die Nationalität getaufter Juden „durch das Taufwasser nicht weggewaschen werden konnte“.11 Die Juden in der Bukowina waren keine in sich geschlossene Bevölkerungsgruppe. In den galizischen und bukowinischen Städten galten sie im verbreiteten, teilweise von Juden selbst verwendeten Jargon als „Pflasterjuden“, jene in den Dörfern als „Wiesenjuden“, als „Ackerjuden“ oder als „Landjuden“.12 Der langjährige Ordinarius an der k. u. k. Orientalischen Akademie in Wien und Spitzenantisemit Adolf Wahrmund (1827–1913) machte die „Landjuden“ verantwortlich für den bei der Dorfarmut der Bukowina verbreiteten Alkoholismus: „Hier wüthet die Branntweinpest ohne Schranken; hier zeigt der Jude sein Organisationstalent in der Zusammenstellung und Ausbeutung christlicher Sklavenbanden […]“.13 Der in Czernowitz geborene Salomon Kassner (1881–ca. 1942) führt die enorme Erhöhung des Pachtschillings in der Bukowina vor Kriegsausbruch auf die zumeist über Initiative der jüdischen Landwirte erbauten Spiritusbrennereien zurück.14 Der Staatsdienst und die autonomen Ämter standen Juden aber nur in einem sehr beschränkten Umfang offen. Der jüdische Landtagsabgeordnete Nathan Löwenstein (1859–1929) hat schon recht, wenn er 1907 mit der Episode eines sich um eine feste Anstellung bewerbenden jüdischen Praktikanten das Jüdischsein als ausschlaggebend für die Nichtanstellung im Staatsdienst erzählt. Ein Praktikant habe auf der Rückseite seines Gesuchs die mit Bleistift geschriebene Anmerkung gelesen: „alles in größter Ordnung; ein Jüdelchen“.15
Um 1910 waren in der Landeshauptstadt der Bukowina Czernowitz von 86.128 Einwohnern 28.612 Juden, 15.253 Ruthenen, 13.440 Rumänen, 14.893 Polen und 12.747 Deutsche, die verbleibenden Einwohner gehörten anderen ethnischen Gruppen wie Griechen, Armeniern, Roma und Huzulen an.16 Entsprechend verschiedenartig waren die in Czernowitz vertretenen Religionen. Christliche deutsche und jüdische Bukowinaer hatten wenig Gemeinsamkeiten. Dazu ist kein Widerspruch, dass die beiden promovierten jüdischen Juristen Eduard Reiss (1850–1907) und Salomon von Weisselberger (1867–1931) am Ende der Monarchie gewählte Bürgermeister von Czernowitz waren (1905–1907 bzw. 1913/14). Die Ordnung des Leichenzuges für Reiss am 30. April 1907 hätte in jeder anderen Stadt der k. k. Monarchie stattfinden können, mit Ausnahme der Aufstellung vor dem Tempel: „Vom Bahnhof aus die Militärmusik, hinter welcher die Bukowinaer k. k. Militär-Veteranen-Vereine marschieren, diesen schließt sich an die freiwillige Feuerwehr und hinter dieser das uniformierte bürgerliche Schützenkorps, dann folgt der Leichenwagen, welchem die rituellen Funktionäre, die Familienangehörigen, der Gemeinderat, die Magistratsbeamten, die Korporationen und alle übrigen Leidtragenden und Trauergäste folgen. Den Zug schließen die städtische Feuerwehr und die städtischen Aufseher. Die Zöglinge des israelitischen Waisenhauses nehmen vor dem Tempel Aufstellung, die Schüler der deutsch-israelitischen Volksschule bilden vom Tempel bis zum Ringplatz Spalier und nehmen, nachdem der Zug den Ringplatz eingeschwenkt hat, auf dem Westplateau des Ringplatzes Aufstellung, wo selbst auch die übrige Schuljugend postiert sein wird. Als Ordner fungieren die Herren Stadträte und mehrere Magistratsbeamten, welche sämtliche durch Kokarden kenntlich sein werden“.17 Die jüdische Oberschicht stellte sich durch ihre Sprecher als Fundament der habsburgischen Bukowina und als Vorposten deutscher Kultur und eines ziemlich nebulösen österreichischen Staatsgedankens im äußersten Osten der Monarchie dar.18 Sie hatte sich mit der Verkommenheit des habsburgischen Adels und der sozialen, nationalen und rassistischen Unterdrückung arrangiert und lebte parasitär davon.
Die Ghetto-Novellen „Juden von Barnow“ von Karl Emil Franzos (1848–1904), der sich nicht zufällig der nachgelassenen Schriften des genialen revolutionären Dichters Georg Büchner (1813–1837) als erster angenommen hat, schildern die schreckliche Armut in den ostgalizischen Dörfern, die sich von jener in den Dörfern der Bukowina nicht unterschied.19 Franzos trat für die Juden ein, weil sie unterdrückt waren, er trat gegen die orthodoxen Juden auf, die nicht mehr die Tradition ihres Glaubens leben wollten. Zu Czernowitz, wo frühe deutschnationale Intellektuelle die Namensgebung einer Gasse nach ihm verhindern wollten,20 hatte Franzos einen besonders engen Kontakt, er hat dort das Gymnasium besucht, das damals die einzige Schule mit deutscher Unterrichtssprache in Galizien war. In der Regel wurden in den öffentlichen Schulen die Juden, gleich ob getauft oder nicht getauft, unter den Deutschen subsumiert, weshalb mit Beginn des Schuljahres 1909/1910 die Lehrerbildungsanstalt in Czernowitz in drei Abteilungen, in die ruthenische, rumänische und deutsche Abteilung, geteilt wurde. Die jüdischen Schüler werden gelegentlich unter sich Jiddisch wie zuhause gesprochen haben, sicher aber vorwiegend Deutsch, weil das „besser“ war, so Prive Friedjung (1902–2005) in ihren Erinnerungen aus der Bukowina.21
Am 2. September 1914 hat sich Czernowitz den zaristischen Truppen ergeben, am 22. Oktober 1914 wurde es von den k. u. k. Truppen wieder besetzt, am 22. November 1914 ist es zur neuerlichen Einnahme durch die zaristischen Truppen gekommen und am 16. Februar 1915 wurde es von den k. u. k. Truppen erneut besetzt. Vom 18. Juni 1916 bis 3. August 1917 waren wieder die zaristischen Truppen in Czernowitz. Mit Ende Oktober 1918 ging die Bukowina in Rumänien auf, weil die herrschenden Schichten ein Einvernehmen mit den russischen Revolutionären abgelehnt hatten und die Bukowina Rumänien von der Entente seit August 1916 ohnehin versprochen war. Mit dem Vertrag von St. Germain vom 10. September wurden die eingetretenen Herrschaftsverhältnisse völkerrechtlich festgeschrieben. Czernowitz hieß jetzt Cernăuţi. Die Geschichtsschreibung hat die militärischen und politischen Optionen bis zum Friedensschluss mit Blick auf die heutigen Anforderungen der herrschenden Interessen dargestellt.22
Am 20. November 1917 hat der k. k. Hofrat und Polizeidirektor in Czernowitz Konstantin Tarangul Edler von Valeautsei, von dem die in der österreichischen Nationalbibliothek gezeichneten Plakate über Geiselaushebungen überliefert sind, einen Situationsbericht über die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in und um Czernowitz während der „III. feindlichen Besetzung der Stadt Czernowitz“ an den k. k. Minister des Innern abgeliefert.23 Über das Verhalten der Juden schreibt er:
„Für das außerordentliche Anpassungsvermögen dieses Volksstammes hat die letzte Invasion den eklatanten Beweis geliefert. Die Juden traten zu den Russen sofort in nähere Beziehungen, indem sie mit ihnen eifrigen Handel betrieben. Sie reisten nach Russland, um Waren einzukaufen, die sie dann später zu hohen Preisen hier abzusetzen pflegten. Der von den Russen eingeführte Kurs von 1 Rubel = 3 K[ronen] 33 H[eller] und später sogar 1 Rubel = 4 Kronen beschwerte sie gar nicht. Sie halfen sich einfach auf diese Weise, dass sie mit der Kronenwährung aufhörten und die Preise nur in Rubel ansetzten, aber so, dass derjenige Gegenstand, der früher beispielsweise 1 K gekostet hat, nunmehr mit einem Rubel bewertet wurde, worunter die einheimische Bevölkerung unsäglich litt. Alle machten ganz gute Geschäfte und waren aus Utilitätsgründen mit der Russenherrschaft sehr zufrieden, abgesehen von den Chikanen der russischen Polizei, oder anderer Behörden, die sie mit Bestechungen zu mildern oder zu verhüten wussten. Viele Juden, darunter solche aus den ärmsten Bevölkerungsschichten, sind zu bedeutendem Reichtum gelangt. Ihnen war nur das Geschäft maßgebend. Der österreichische Staatsgedanke wurde, weil er unter der russischen Herrschaft nicht einträglich war, bei Seite geschoben. Man kann nicht behaupten, dass sie dem Russophilismus und dem russischen Regime aus Überzeugung gehuldigt hatten. Für sie war das Geschäft die Triebfeder. Ursache für dieses Verhalten, welches man bei der bisher zu Schau getragenen Loyalität von ihnen nicht erwarten sollte, war der Mangel jeder den Handel beschränkenden Verordnung. Es gab keine Höchstpreise, keine Geschäftssperre, keine Preistreibereimaßnahmen oder sonstige administrative Maßnahmen gegen die Kaufleute. Mitbestimmend war auch die lange Zeit hindurch bestandene leichte Beschaffungsmöglichkeit von Waren, da Soldaten und Offiziere in gleichem Maße gestohlene und geschmuggelte Waren an die Bevölkerung verkauften. Endlich mag auch das längere Zusammenleben mit ihren massenhaft aus der seit Kriegsbeginn vom Feinde besetzt gewesenen Gebieten, sowie aus Russland selbst hierher eingeströmten vom russischen Regime bereits korrumpierten Glaubensgenossen auf sie einen ungünstigen Einfluss geübt haben. Erwähnt sei noch, dass zuletzt der General-Vizegouverneur ein Jude, Dr. Landsberg, war und dass sowohl im Soldaten- wie auch im Arbeiterrate und im Vollzugskomité jüdische Vertreter waren, an welchen Persönlichkeiten die Juden eine mächtige Stütze hatten. Es kann schließlich nicht verschwiegen werden, dass unter der Bevölkerung Stimmen laut sind, dass die jüdischen Handelsleute alle jene Artikel des täglichen Bedarfes, an welchen es in den letzten Tagen vor der Invasion hier so gemangelt hatte, insbesondere Tabak, Seife, Mehl, Zucker, sofort nach dem Einzuge der Russen in den Geschäftsläden, auf den Marktplätzen, Straßen und selbst in Haustoren in Massen zum Verkauf brachten, während andererseits alle jene Lebensmittel, wie Schwarz-Weißbrot, Feingebäck etc., welche namentlich von jüdischen Händlern wie gewöhnlich während der Invasion, so auch noch am Abende der Reokkupation der Stadt auf den Straßen in großen Massen öffentlich feilgehalten worden sind, spurlos verschwanden, sobald der letzte russische Soldat die Stadt verlassen hatte.“
Nicht zwingt der Schöpfer den Menschen,
nicht beschließt er über sie, dass sie Gutes oder Böses tun,
sondern alles ist ihnen überlassen.
Moses ben Maimon (1135–1204)24
Die Familie Stern gehörte zu den völlig verarmten jüdischen Familien in der Bukowina. „Seid fruchtbar und mehret Euch“ ist eines der zentralsten jüdischen Gebote.25 Viele Kinder zu haben war in jüdischen Familien Tradition und gang und gäbe. Die deutschen Judennamen blieben erkennbar, zumal durch hebräische oder doch spezifisch jüdische Vornamen. Salomon (Zalman) Stern (1861–1902) und Jetty Stern geborene Korn (1863–1934) hatten acht Kinder. Salomon Stern verstarb vorzeitig, die erst einunddreißigjährige Witwe eröffnete in Woloka eine Schenke, die es ihr ermöglichte, die Kinder zu versorgen. Woloka ist ein kleines Dorf etwa 16 km südlich von Czernowitz. Die Umgebung von Czernowitz gehörte zu den ackerbaubetreibenden Bezirken. Platter hat beschrieben, dass zu seiner Zeit die Dörfer in der Umgebung von Czernowitz zum großen Teil aus deutschen Bauerngemeinden bestehen, die „sich durch Wohlhabenheit, Fleiß und Sparsamkeit, durch rationelleren Wirthschaftsbetrieb, durch hübschere Wohnhäuser u. s. w. auszeichnen. Man erkennt diese Leute sofort nicht nur an ihren ächt germanischen Gesichtern, sondern insbesondere an ihrem anständigeren Aussehen, ihrer respectablen Kleidung“.26
Die vier Stern-Söhne wurden von ihrer Mutter gedrillt, sich möglichst eine gute Schulbildung anzueignen. Bildung hat in der jüdischen Gemeinschaft ein traditionell religiöses Element. Das Lernen der Tora ist religiöse Pflicht, was die Hochschätzung des Lernens überhaupt fördert. Die Töchter sollten gut verheiratet werden. Das war nicht selbstverständlich, weil Prostitution und Mädchenhandel mit jüdischen Mädchen bis hin nach Argentinien und Brasilien durch jüdische Händler noch verbreitet waren.27 Partnervermittlungen von jüdischen Männern und Frauen entsprachen der Realität und erweiterten bestehende Geschäftsbeziehungen. Dieses Denken ist nicht spezifisch jüdisch, der römisch-katholische Habsburgerclan und seine Adelscliquen haben über Generationen vor einer Verheiratung zuerst den Zugewinn gerechnet. Die reformierten Zürcher Bankiers bemühen sich nicht weniger als jüdische Geschäftsleute bei Eheschließungen unter sich zu bleiben. Sally (Surzia) Held geborene Stern war die älteste der Schwestern und wurde von den Deutschen 1942 ermordet, Dora Rosenberg geborene Stern überlebte ein Konzentrationslager, die dritte der Schwestern war Henia Dermer geborene Stern, die jüngste der Schwestern war Rosa Müller geborene Stern und zuletzt in Rumänien ansässig. Über die Bar-Mitzwa-Zeremonien der Familie Stern mit dem Singen in der Synagoge ist nichts bekannt, sie werden sich nicht von anderen unterschieden haben. Philipp (Feiwel) Stern (*1886) war Jurist und Buchhalter in der Bukowina. Manfred (Moshe) Stern (1896–1954) hat sich einmal selbst als „Chederjunge“ bezeichnet.28 Er ist, wie weiter unten noch angedeutet wird, der berühmteste der Stern-Brüder. Wolf Stern (1897–1961), verheiratet seit 1941 mit Gerda geborene Frankfurter (1903–1992), war international tätiger Kommunist, Sowjetbürger und zuletzt Oberst der Nationalen Volksarmee der DDR. Als Jugendlicher hat er in Wien mit Roman Rosdolsky (1898–1967) zusammengearbeitet und gemeinsam haben beide verschiedene illegale Zeitschriften, Aufrufe und Broschüren in die Bukowina geschickt.29 Er war dann am Aufstand des 113. Regiments beteiligt.
Jonas Leib Stern, am 27. März 1901 in Woloka geboren (verstorben in Halle am 2. Jänner 1982), konnte nach der Volksschule am deutschen Gymnasium in Czernowitz beginnen. Im Sommer 1914 lernte er den „Radetzkymarsch“, so wie ihn Joseph Roth (1894–1939) unübertroffen schildert, in seiner barbarischen Realität kennen, denn „der Krieg der österreichischen Armee begann mit Militärgerichten. Tagelang hingen die echten und die vermeintlichen Verräter an den Bäumen auf den Kirchplätzen, zur Abschreckung der Lebendigen“.30 Die Erfolge der zaristischen Truppen trieben viele Juden in die Flucht, sie fürchteten sich vor eventuellen Pogromen. 1915 sollen aus Galizien und der Bukowina zwischen 350.000 und 500.000 jüdische Flüchtlinge geflohen sein, die meisten von ihnen landeten in der Hoffnung auf verwandtschaftliche Unterstützung in Wien.31 Die Wiener Willkommenskultur war überschaubar. Ende des Schuljahres 1915/16 entschloss sich Jetti Stern zur Flucht und kam mit ihrem jüngsten Sohn LSt und den noch bei ihr wohnenden Töchtern nach Salzburg. Anstoß war die gewaltige Offensive der russischen Truppen unter General Alexej Alexejewitsch Brussilow (1853–1926) mit der Einnahme von Czernowitz am 18. Juni 1916. In Salzburg wurde LSt am k. k. Staats-Gymnasium für das Schuljahr 1916/1917 in die IV. Klasse (49 Schüler) aufgenommen.32 In den Salzburger Schulunterlagen von LSt wird als Beruf der Mutter „Schänkerin“ angegeben, als Wohnort Seekirchen und als sein Religionsbekenntnis mosaisch. Auf dem städtischen Meldeschein von Salzburg vom 13. September 1916 wird mit Herkunft vom Flüchtlingslager Grödig als erster Wohnort Salzburg Linzergasse 27 bei Maier / Weschler eingetragen.33 1910 zählte die jüdische Gemeinde Salzburgs 285 Mitglieder. Im kleinbürgerlichen, katholisch-deutschnationalen Salzburg hatten einige Juden Kaufhäuser, seit 2007 erinnert das Projekt „Stolpersteine“ an die ermordeten Salzburger Juden.34 Der spätere Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg Ludwig Löwy hat das Salzburger Gymnasium einige Jahre vor LSt besucht. Als nach Kriegsende in Salzburg die Kriegsschuldfage debattiert wurde, gaben die Christlichsozialen in ihrer Tageszeitung die Antwort: „Wo steckt also der Jud? – Dahinter!“35 Im Jahreszeugnis für das Schuljahr 1916/1917 hat LSt der israelitische Religionslehrer Rabbi Dr. Viktor Kurrein (1881–1974) die Note „sehr gut“ gegeben (Jahreszeugnis vom 28. Juni 1917). Kurrein, der 1938 nach Großbritannien fliehen konnte, hat darauf geachtet, dass die ihm anvertrauten jüdischen Kinder auf Weihnachten verzichteten und anstatt dessen Chanukka feierten.36 Ein achttägiges Lichtfest zur Erinnerung an die Tempelweihe des Juda Makkabi (+161 v. u. Z.) wird in Salzburg eine Herausforderung gewesen sein. Ein jüdisch religiöses Leben war dort nur schwer möglich. Am 30. November 1916 dürfte LSt in der Salzburger Kollegienkirche die Ansprache des fürsterzbischöflichen geistlichen Rates Johann Grömer (1863–1946) bei der Trauerfeier für Franz Josef I. (1830–1916) gehört haben, die endet: „Der Kaiser ist nicht tot! Er lebt und triumphiert mit Österreich in Ewigkeit!“.37
Am 30. Juli 1917 war in der Illustrierten Kronen-Zeitung, die eine Rubrik „Kunde von Kriegsgefangenen“ hatte, ein Brief aus dem Fernen Osten zu lesen: „Ersuche höflichst, in Ihrem geschätzten Blatt aufnehmen zu wollen: Einj[ährig]. Freiw[williger]. Manfred Stern vom I[nfanterie]. R[egiment]. 95, gefangen seit 5. September 1916, derzeit in Troizkosawsk, sucht seine Angehörigen Jetti Stern aus Woloka, Bukowina, hielt sich zuletzt in Seekirchen bei Salzburg auf, und seinen Bruder Dr. F[eiwel] Stern, Landmarodenhaus Radautz, zuletzt in Kirlibaba [Cârlibaba], Bukowina. Verbindlichsten Dank Manfred Stern“. Manfred Stern war als Czernowitzer Medizinstudent als Fähnrich zur k. u. k. Wehrmacht eingezogen worden und am 31. August 1916 in russische Gefangenschaft geraten. Nach der Oktoberrevolution stellte sich Manfred Stern sofort an die Seite der Bolschewiken und bildete aus Kriegsgefangenen internationale Einheiten, die er zum Partisanenkampf gegen die Weißgardisten führte. Arnold Zweig (1887–1968) beschreibt „Das ostjüdische Antlitz“ und mit dem Blick auf jüdische Jugendliche wie die Brüder Stern: „Die stärkste Bewegung der ostjüdischen Jugend hat ungleich ernstere Namen als „Jugendbewegung“. Sie heißt Sozialismus, Revolution. […] so ist im Osten, noch einmal, die Assimilation revolutionär, tatbereit, radikal und von den wertvollsten und kräftigsten Typen getragen“.38
Im Schuljahr 1917/18 (Jahreszeugnis vom 28. Juni 1918) war LSt in der V. Klasse (28 Schüler, davon drei mit israelitischem Bekenntnis) und blieb in Religionslehre in Ermangelung eines Religionslehrers ungeprüft, in Betragen war die Note „sehr gut“, in den übrigen Fächern (Lateinische Sprache, Griechische Sprache, Geschichte und Geographie, Naturgeschichte, Turnen) wurde ihm die Note „genügend“ gegeben. Die drei letzten Gymnasialklassen legte LSt in Czernowitz ab, das seit Kriegsende zu Rumänien gehörte (Cernăuți) und wohin seine Mutter zurückgekehrt ist. Das ganze Schülerleben von LSt war durch die äußeren Gegebenheiten kompliziert und nur durch seinen unermüdlichen Bildungswillen und die Unterstützung seiner Mutter war es durchzuhalten.
Porträtfoto von Jonas Leib (Leo) Stern um 1925 (Familienarchiv)
Seit 1919 wurde an der Wiener Universität ein sechssemestriges staatswissenschaftliches Studium angeboten. Otto Glöckel (1874–1935) hat es 1919 ohne viele Rückfragen bei den stockkonservativen Juristenfakultäten installieren lassen, nachdem frühere Initiativen gescheitert waren. Das neue Studium sollte irgendwie mithelfen, für die junge Republik einen bürgerlich fortschrittlichen Beamtenapparat heranzubilden. Das war eine der vielen Illusionen von Sozialisten, mit solchen Bildungsreformen die Grundstrukturen des bürgerlichen Staates transformieren zu können.39 War Wien der richtige Studienort für Jonas Leib Stern? Am 14. November 1918 war in der von Jonas Kreppel (1874–1940) herausgegebenen jüdischen Korrespondenz („Wochenblatt für jüdische Interessen“) zu lesen, dass die „Volksrepublik Deutschösterreich“ auf seine jüdischen Bürger „jederzeit“ rechnen könne. Deutschösterreich müsse „im wahren Sinne des Wortes ein Volksstaat“ sein. Zur Zeit der Übersiedlung von LSt nach Wien war in der Republik Österreich der Kampf um die politische Macht zugunsten der Bourgeoisie entschieden. Die sozialdemokratische Parteiführung hat es während der Novemberrevolution geschickt verstanden, ihren zentristischen Kurs der Arbeiterklasse dank der für die Bourgeoisie notwendig gewordenen Zugeständnisse als revolutionär zu verkaufen. Die am 3. November 1918 gegründete Kommunistische Partei Österreichs wurde seit ihrer Gründungsphase als „eine Partei der Verwirrung“ diffamiert.40 „Der Krieg ist aus, der Kampf beginnt“ – wie dieser Klassenkampf zu führen war, das wusste der weit links stehende Vertreter des Austromarxismus Max Adler (1873–1937) auch nicht so recht.41 Die Illusion des Austromarxismus, dass die Bourgeoisie mit in Krisenzeiten abgerungenen Zugeständnissen an die Arbeiterklasse ihre Herrschaft letztendlich verlieren werde, endete im Desaster.
LSt eigenhändig ausgefülltes Nationale der Wiener Universität mit dem Stempel der Quästur vom 2. Oktober 1921 gibt als Wohnadresse die Franz-Hochedlinger-Gasse 25/15 im II. Wiener Gemeindebezirk an, als Religion mosaisch, als Muttersprache deutsch und als Staatsbürgerschaft rumänisch. Als seinen Vormund bezeichnet LSt seinen Bruder Philipp Stern, der inzwischen Anwalt in der Nähe von Czernowitz in Vășcăuți (Waschkautz) war und seinen jüngsten Bruder gerne unterstützte. Von Beginn an hatte LSt nicht das Rechtswissenschaftliche Studium, sondern die Staatswissenschaften in seinem Programm, was nicht von vorneherein als „Brotstudium“ gelten konnte. LSt inskribierte die von Max Adler angekündigte zweistündige Vorlesung über Geschichte und Theorie des Marxismus, die von Friedrich von Wieser (1851–1926) angekündigten Vorlesungen über Volkswirtschaftslehre (fünfstündig) und über Finanzwissenschaft (fünfstündig) und das von Emanuel Hugo Vogel (1875–1946) angebotene Proseminar für Finanzwissenschaft. Dekan Ernst Freiherr von Schwind (1865–1932) vidierte dieses Vorlesungsprogramm mit 25. November 1921. Bis einschließlich Sommersemester 1924 war LSt Student der Staatswissenschaften, ab dem Sommersemester 1923 wohnte er im IX. Bezirk in der Porzellangasse 53/3 ab Sommersemester 1924 in der Mühlgasse 7 in Mödling bei Wien. Am 28. November 1922 stellte LS beim Wiener Magistrat das Ansuchen um Verleihung der Wiener Landesbürgerschaft. Das Bezirksamt für den 9. Bezirk war „wegen des zu kurzen Aufenthaltes und des gänzlichen Mangels von Gründen für die Gesuchsgewährung“ für die Abweisung des Gesuchs, die Abteilung 50 des Wiener Magistrats stimmte als politische Landesbehörde aufgrund der Zustimmung der Bezirksvertretung vom 12. April 1923 mit Verfügung vom 20. September 1923 für die Verleihung. Das Gelöbnis als Staatsbürger der Republik Österreich hat LSt am 2. Oktober 1923 im magistratischen Bezirksamt für den 9. Bezirk abgelegt. Das war gewiss nicht selbstverständlich, weil die Republik Österreich ihre Staatsbürgerschaft an Ostjuden sehr restriktiv verliehen wurde.
Ob LSt mit Max Adler, Sohn eines im zweiten Wiener Gemeindebezirk ansässigen kleinbürgerlichen jüdischen Händlerfamilie und Absolvent der Wiener Universität, an der er seit 1919 als Privatdozent lehrte, wirklich ein engerer persönlicher Kontakt zustande gekommen ist, bleibt offen, er hat dessen Vorlesungen nach dem ersten Semester nicht mehr besucht. Eine über die Privatdozentur hinausgehende akademische Laufbahn war für Max Adler, der 1921 den honorarfreien Titel eines außerordentlichen Universitätsprofessors erhalten hat, wegen der rassistischen und politischen Vorbehalte nicht möglich. Auch innerhalb der Sozialdemokratie wurde er da und dort hinter vorgehaltener Hand diskriminiert. Karl Renner (1870–1950) nannte ihn auf die Antisemiten in seiner Partei schielend „Feldrabbiner des Sozialismus“.42 Leo Trotzki (1879–1940) hat Max Adler als „eine ziemlich komplizierte Abart des austromarxistischen Typus“ charakterisiert: „Er ist ein Lyriker, ein Philosoph, ein Mystiker – der philosophische Lyriker der Passivität, wie Renner ihr Tagesschriftsteller und Rechtsgelehrter“.43 Der aus einer jüdischen Familie stammende Walter Schiff (1866–1950), dessen fünfstündige Vorlesung über „Volkswirtschaftspolitik“ LSt im Sommersemester 1924 besuchte, dürfte den Namen seines Hörers „Jonas Leib Stern“ mit Interesse gelesen haben, denn ein Zweig der Familie Schiff nannte sich auch Stern.44 Schiff engagierte sich mit seinem Freund Ludwig Moritz Hartmann (1865–1924) in der von diesem initiierten Wiener Volkshochschule und war in deren Vorstand.45 Schiff wird später LSt als Kursleiter empfohlen haben. Von 1931 bis 1934 war Schiff geschäftsführender Leiter des „Volksheimes Ottakring“. Zuerst Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs war Schiff seit 1934 Mitglied der illegalen Kommunistischen Partei Österreichs, von 1930 bis 1934 Vorsitzender des „Antikriegskomitees“ und Zweiter Präsident des „Bundes der Freunde der Sowjetunion“ sowie seit 1933 im „Dimitroff-Komitee“ und in der „Rote Hilfe“ tätig. Nach den Kämpfen vom Februar 1934 wurde Schiff aus allen beruflichen Ämtern entlassen, seine Wohnung blieb bis 1938 wichtiger konspirativer Treffpunkt der illegalen Kommunisten und Revolutionären Sozialisten (illegale Sozialdemokraten und Sozialisten).
Das zweistündige Seminar für Allgemeine Staatslehre von Hans Kelsen (1881–1973) war für LSt eine Pflichtveranstaltung, die er im Sommersemester 1923 absolvierte, ebenso dessen zweistündige Vorlesung über die politische Theorie des Sozialismus (Sommersemester 1924). Beim Abtestat dürfte ihn Leo Strisower (1857–1931) angesprochen haben, der stammte aus Brody, war mosaisch und las vierstündig über Völkerrecht (Sommersemester 1922 und 1923). Dasselbe kann für Carl Grünberg (1861–1940) angenommen werden, der, Absolvent des Gymnasiums in Czernowitz, über Wirtschaftsgeschichte dreistündige Vorlesungen angekündigt hatte, die LSt besucht hat (Sommersemester 1923). Der als akademischer Marxist arbeitende Grünberg hat Wien schon 1924 in Richtung Frankfurt verlassen, weshalb ihn LSt nicht näher kennenlernen hat können. Den 1919 nach Wien berufenen Othmar Spann (1878–1950) und dessen zum Austrofaschismus hinführende Ideologie von der ständischen Struktur der Gesellschaft hat LSt im Winter- (einstündige Vorlesung „Geschichte und Kritik des Sozialismus“) und Sommersemester 1922/23 (einstündige Vorlesung „Einführung in die deutsche Sozialphilosophie“ und zweistündige Veranstaltung „Volkswirtschaftslehre und gesellschaftliche Übungen“) kennengelernt. Weiters hat LSt Pflichtveranstaltungen von Adolf Menzel (1857–1938) und von anderen Vortragenden belegt. Im Sommersemester 1923 hat LSt die von Othmar Spann angebotene „Einführung in die deutsche Sozialphilosophie“ (einstündig) und dessen „Volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Übungen (zweistündig) inskribiert. Von Spann war LSt sichtlich angetan, jedenfalls sprach er sich mit ihm wegen seiner geplanten Dissertation ab. Das Werk von Spann über die Haupttheorien der Volkswirtschaftslehre auf dogmengeschichtlicher Grundlage war ein die kleinbürgerliche Studentenschaft ansprechende Lehrmeinung. Erich Kästner (1899–1974) erzählt 1931 in seiner Geschichte eines Moralisten treffsicher jenes studentische Argumentationspotential, das heute wieder bei Transform-Linken herumgeistert.46 Von seiner nationalistischen Kriegshetze im Sommer 1914 hat sich Spann nie distanziert.47 Das Dissertationsthema von LSt „Der universalistische Gedanke im Merkantilismus“ entsprach dem einsturzgefährdeten Gedankenhochhaus von Spann. Das traditionelle Handwerk, der Kleinhandel und die Bauernschaft seien bloß durch eine falsche Wirtschafts- und Sozialpolitik deklassiert worden, seine „Stände“-Theorie mit dem universalistischen Gemeinschaftsgedanke könnten das reparieren.48 „… diese Querverbindung von Klassen sei möglich, da die Jugend wenigstens die Elite, den hemmungslosen Egoismus verabscheue und außerdem klug genug sei, eine Zurückführung in organische Zustände einem unvermeidlichen Zusammenbruch des Systems vorzuziehen“ – so lässt Kästner seinen Fabian in Vorbereitung eines deutschen Universitätsseminars sprechen.49 In der Konsequenz gehörte Spann zu den Wegbereitern des katholischen Faschismus in Österreich. Hans Mayer (1879–1955), der als Nachfolger des emeritierten Friedrich von Wieser seit Sommersemester 1923 in Wien als Nationalökonom lehrte und bei dem LSt in beiden Semestern des Studienjahres 1923/24 das „Volkswirtschaftliche Seminar“ (zweistündig) besucht hatte, war Zweitbegutachter seiner Dissertation. Es ist das eine seltsame Konstellation. Spann und Mayer waren Kontrahenten in ihrer Fakultät, der eine war „Obmann“ eines antisemitischen Zirkels, der andere galt als Förderer von Ostjuden.50 Beide haben die Dissertation von LSt positiv beurteilt und LSt konnte am 20. Juli 1924 zum Doctor rerum politicarum promovieren.51 Im Studienjahr 1923/24 hat es an der Wiener Universität insgesamt 73 Promotionen (68m und 5w) zum Dr. rer. pol. gegeben, den Dr. iur haben 198 Studentinnen und Studenten erworben.52
LSt war im selben Alter wie Friedrich Engels, als dieser 24-jährig seine erste ökonomische Arbeit „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“ geschrieben hat.53 Karl Marx hat diese Arbeit von Engels als eine „geniale Skizze“ bezeichnet.54 Engels schreibt, wie das Merkantilsystem zu „Handels- und Freundschaftstraktaten“ der Nationen geführt hat: „Aber im Grunde war es doch die alte Geldgier und Selbstsucht, und diese brach von Zeit zu Zeit in den Kriegen aus, die in jener Periode alle auf Handelseifersucht beruhten. In diesen Kriegen zeigte es sich auch, dass der Handel, wie der Raub, auf dem Faustrecht beruhe; man machte sich gar kein Gewissen daraus, durch List oder Gewalt solche Traktate zu erpressen, wie man sie für die günstigsten hielt“.55 Von Marx zitiert LSt im Literaturverzeichnis dessen ersten Band vom „Das Kapital“ (7. Auflage 1914) ohne offenliegende Reflexion. Auf das „Manifest der Kommunistischen Partei“, worin vom Untergang der feudalen Gesellschaft und damit einhergehend von der Ablösung der bisherigen feudalen oder zünftigen Betriebsweise ausgegangen wird, wird kein Bezug genommen.56 Das mag mit dem studentischen Blick auf die Empfindlichkeiten des Erstbegutachters zu tun haben, der das Menschenbild von Marx und den Marxismus scharf abgelehnt hat. Ist für Marx der Staat entscheidendes politisches Organ der herrschenden Klassen zur Durchsetzung ihrer rechnenden Interessen, so ist der Staat für Spann eine schöpferische Wertordnung. Mit Spann argumentiert LSt: „Im Universalismus wirken dynamische Prinzipien, er erfasst die Dinge im Werden, das Leben selbst und das Handeln steht im engen Kontakt mit der sinn- und richtunggebenden Idee“.57 LSt benützt den gängigen volkswirtschaftlichen Literaturkanon und diskutiert Fragen des Individualismus mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) und Friedrich Nietzsche (1844–1900). Speziell setzt er sich mit der Arbeit „Der Einzige und sein Eigentum“ (Leipzig 1844/1845) von Max Stirner (1806–1856) auseinander. Nach Stirner, dessen Ausgangspunkt sein Gegensatz zu Bruno Bauer (1809–1882) und Ludwig Feuerbach (1804–1872) ist, bleibt „Mein Eigentum“ das, was in meiner Macht ist, es hat keine andere Grenze als meine Kraft und kein Zugeständnis eines übergeordneten Seins. LSt kennt die Thesen von Marx und Engels in der „Deutschen Ideologie“58 noch nicht, aber er schreibt: „Stirner hat den grandiosen Traum eines geistig auf sich selbst gestellten Individuums geträumt, grandios im Irrtum! Es ist der herbe Trotz des autarken Individuums, eine Art Autosuggestion, ein Berauschen an sich selbst. Der Einzelne ist nicht Glied eines Gesamtganzen nach Stirner, er ist Mittelpunkt, um den sich alles dreht – er ist selbstherrlich und stolz. Dieser Machtrausch entspringt der Ohnmacht und hat nichts mit innerer Begeisterung gemein“.59 LSt idealisiert seinem Lehrer Spann folgend die dem Merkantilismus vorausgehende Produktionssphäre: „Die friedlich-patriarchalischen Beziehungen zwischen den Meistern und Gesellen schlagen deshalb in das Gegenteil um; es wird ein zäher Kampf ums Dasein geführt. In der einst so wohl gefügten Zunftorganisation machten sich individualistische, zentrifugale Kräfte bemerkbar. Hier sind die ersten Ansätze der stark anti-universalistischen Tendenz der kommenden kapitalistischen Erwerbswirtschaft“.60 Adam Müller (1779–1829) und Friedrich List (1789–1846) sind ihm „Anwälte des Lebens und sie sträuben sich gegen jede Begrenzung seiner Unendlichkeit“.61 Und so ist es kein Zufall, dass Ricarda Huch (1864–1974) mit ihrer in den 1920er Jahren viel gerühmten Einschätzung der progressiven Tendenzen der Romantik in das Blickfeld des Doktoranden LSt getreten ist. Die „Arbeiter-Zeitung“ huldigte Ricarda Huch aus Anlass ihres sechzigsten Geburtstages.62 Ein viele Jahre später wieder auftauchende Grundgedanke von LSt über „die großen Einflüsse der Kirche, deren Interessen eine Spaltung in der Bevölkerung hervorriefen“, wird erstmals angesprochen. LSt hat die öffentlich dargestellten Vorbehalte der katholischen Kirche gegenüber den Lehren seines Doktorvaters Spann registriert. In der „Reichspost“ hat der Wiener Georg Bichlmair SJ (1890–1953) darüber mit der Schlussbemerkung Position bezogen: „Nirgends findet sich der Gemeinschaftsgedanke so ausgesprochen und stark betont wie im Katholizismus“.63 LSt ließ die Ideen seines Lehrers Spann auf sich einwirken: „Wenn der Universalismus sich von Bindungen befreit, so handelt es sich um geistig unfruchtbare; er tritt aus ihnen aus, um in neue und fruchtbarere einzugehen. Unter diesen Aspekten wird auch die Revolution angesehen, die die überkommenden Bindungen auflöst, um eine geistige Gestaltung auf einer neuen Grundlage anzustreben“. Revolution ist also, so zitiert LSt seinen Spann, „nicht Losbindung, sondern Neubindung“.64
Mit „Gezweiung“ hat Spann in der Universitätswelt die „geistige Ganzheit“ und den Universalismus dem Individualismus entgegengestellt.65 Solche Ausdrücke finden sich in der Sprache des Volkes nicht. Für Spann war „der Individualismus die Urzelle des Marxismus“.66 Hochschullehrer wie Spann fanden mit ihrem die objektive Realität des Klassenkampfes ignorierenden Anbot, aus den Krisenjahren hin zu einer „solidarischen“, gleichwohl antikommunistischen Ordnung zu gelangen, unter ihren Hörern Gefolgschaft. Mit dem Studienjahr 1924/25 wollte LSt die Rechtswissenschaften anschließen, doch war ihm das nicht möglich. Im zuletzt inskribierten Sommersemester 1925 gab er im eigenhändigen Nationale nach wie als seinen Vornamen „Jonas Leib“ an, als Vormund seinen Bruder Philipp Stern und als Religion mosaisch. Der Wechsel auf dem Vornamen „Leo“ ist fließend und bei Juden nicht ungewöhnlich. Joseph Roth beschreibt beispielsweise, wie ein anderer Ostjude im zweiten Wiener Bezirk seinen Antisemiten aufreizenden Vornamen Leib auf Leo gewechselt hat.67
LSt hat an der Wiener Universität selbst erlebt, wohin der Antisemitismus führen kann. Der im KZ Buchenwald umgekommene Jura Soyfer (1912–1939) schreibt an seine Mutter über seine Begegnung mit den „Alten Herren“ und über die Tradition, die ihm auf Schritt und Tritt begegnete: „Die Alma Mater Rudophina ist ebenso schön und ehrwürdig wie ihr Name. In der Aula: marmorne Ehrentafeln und ein Denkmal des kriegsgefallenen Studenten. Im Hof Kolonnaden rund um eine Statue der Weisheit und in endloser Reihe die Büsten berühmter verstorbener Professoren. Auf Schritt und Tritt weht einem der Hauch einer großen akademischen Tradition entgegen“.68 Die Aufstellung des Heldendenkmals („Siegfriedskopf“) in der Aula der Wiener Universität am 2. November 1923 hat LSt als Student erlebt, er ist an diesem in den nächsten Semestern und dann wieder nach 1945 vorbeigegangen.69 Das von Josef Müllner (1879–1968) geschaffene Denkmal wurde auf Initiative jener „Deutschen Studentenschaft“ errichtet, die im selben Jahr bei Bürgermeister Jakob Reumann (1853–1925) gegen die Einbürgerung von Ostjuden protestiert hat, denn diese würden ohne Unterschied der Partei „moralisch und volkswirtschaftlich als die großen Schädlinge der deutschen Stadt Wien“ betrachtet werden.70 Manche von ihnen haben bei ihrer Ankunft in Wien kein Deutsch gesprochen, sondern nur Jiddisch. Die Ostjuden wurden auch von den in Wien schon etablierten Juden abgelehnt.71 Auf Ostjuden wurden, wie das Albert Einstein (1879–1955) feststellte, ganz allgemein starke antisemitische Instinkte gelenkt, weil es eine Methode war, „durch Einwirkung auf die Stimmung des Volkes die Aufmerksamkeit von den wahren Ursachen der allgemeinen Notlage abzulenken“.72 Die Denkmäler im Arkadenhof der Universität mit Joseph von Sonnenfels (1732–1817), dem unter anderem die Abschaffung der Tortur zu danken ist, wie jene von anderen Gelehrten jüdischer Abstammung werden diesen „Deutschen Studenten“ keine humanistische Anregungen gegeben haben. Die Philosophische Fakultät der Wiener Universität lehnte trotz zustimmender Fachgutachten am 7. Dezember 1923 die Zulassung des hochqualifizierten Physikers Karl Horovitz (1892–1958) als Privatdozent mit der Argumentation ab, er passe nicht zum Kollegium. Zuvor hatte die „Deutschösterreichische Tageszeitung“ gegen den Juden und Kommunisten – Horovitz war konfessionslos und kein Kommunist – polemisiert.73 Der Akademische Senat der Universität Innsbruck formulierte im Rektorat des Chirurgen Hans von Haberer (1875–1958) zu Ende des Sommersemesters 1923 für die Dekane Fakultäten Richtlinien zur Verhinderung der Immatrikulation von Ostjuden insbesondere aus Polen, der Ukraine, aus Rumänien, Russland, Ungarn und der Tschechoslowakei, auch sei die die Neuaufnahme jüdischer Inländer nach Möglichkeit zu vermeiden.74 Die „Deutschen Studenten“ fanden bei ihren antisemitischen Aktionen volle Unterstützung beim Strafrechtler und Wegbereiter der Nazijustiz Wenzeslaus Graf Gleispach (1876–1944).75
Im Studienjahr 1924/1925 besuchte LSt die von Stephan Brassloff (1875–1943) angekündigten romanistischen Vorlesungen, im Wintersemester 1924/25 dessen zweistündige Übungen aus römischem Recht, im Sommersemester 1925 Pfandrecht und Familienrecht auf römischrechtlicher Grundlage je zweistündig und Pandektenpraktikum zweistündig. Gegen Brassloff mobilisierten schon seit längerem die deutschvölkische Studenten. Brassloff wurde dann aufgrund studentischer Denunziationen von den scharfen Antisemiten des juridischen Professorenkollegiums Gleispach, Ernst Schönbauer (1885–1966), dessen fünfstündige Vorlesung über Deutsche Rechtsgeschichte im Wintersemester 1924/25 LSt gehört hatte, und Othmar Spann in einem Disziplinarverfahren akademisch niedergemacht.76 Diese an den österreichischen Universitäten führenden Rassisten haben die Machtübernahme der Nazis vorbereitet. Brassloff wurde in das KZ Theresienstadt deportiert. Mit dem von antisemitischen Berichten begleiteten XIV. Zionistenkongress vom 18. bis 31. August 1925 im Wiener Konzerthaus mit rund 300 Delegierten hat sich LSt nicht beschäftigt.
Ideen entspringen aus Wissen und aus der Verfügbarkeit über Wissen.
Der Appell an die Ideen wird konkret, wenn die Bildung vermittelt wird,
aus der die Ideen entspringen.
Hans Heinz Holz (1927–2011)77
LSt konnte nach Beendigung seines staatswissenschaftlichen Studiums in der Volkshochschule Ottakring als Lehrkraft Fuß fassen.78 Er kündigte als Kursleiter in den Semester 1927/28 bis 1933/34 im Volksheim Ottakring aktuelle gesellschaftspolitische Themen an. Für 1928/29 sind keine Kurse oder Vorträge von LSt aufgelistet.79 Ankündigungen nach dem Februar 1934 konnten von LSt wie von Ludwig Birkenfeld (1901 – nach 1940) nicht mehr realisiert werden.80