HUNTER S. THOMPSON
Herausgegeben und mit einem Vorwort
von Jann S. Wenner
Aus dem Amerikanischen
von Teja Schwaner, Christoph Hahn
und Wolfgang Farkas
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Vorwort
Jann S. Wenner
Die Akten in unserem Archiv besagen, dass wir 1970 Hunter S. Thompsons »Die Schlacht von Aspen« veröffentlichten und er 1971 über die Unruhen unter der mexikanischstämmigen Bevölkerung in East Los Angeles berichtete und dabei einen verbissenen Anwalt namens Oscar Zeta Acosta porträtierte, der Jahre später als Dr. Gonzo in dem Buch Angst und Schrecken in Las Vegas wieder auftauchen sollte.
1972 begannen wir mit einer permanenten Berichterstattung über den Wahlkampf zwischen Nixon und McGovern. Das war der Moment, in dem Hunter anfing, zu einem bestimmenden Faktor meines Lebens zu werden – und es auch in etlichen der folgenden Jahre zu bleiben, wenn er Zwischenberichte ablieferte (lange nächtliche Telefongespräche und häufige Strategiediskussionen, die ebenfalls ganze Nächte dauerten) und ganz besonders, wenn er am Schreiben war.
Alles, was er nach Angst und Schrecken in Las Vegas verfasste, war vom Aufwand her vergleichbar mit einem Feldzug. Ihm eine Akkreditierung oder die entsprechenden Kontakte zu verschaffen war vergleichsweise unproblematisch – Hunter war so gut wie überall willkommen, und er wäre aufgrund seiner Fähigkeiten und seines Instinkts in der Lage gewesen, einen Präsidentschaftswahlkampf zu führen, wenn er es denn gewollt hätte. Weniger unkompliziert waren die Reisevorbereitungen: Hotels, Tickets, Rechercheure, Zuarbeiter, Mietwagen. Später, als es ans Schreiben ging, galt es dann, einen Ort für ihn zu finden, an den er sich zurückziehen konnte – das Seal Rock Inn, Key West, Owl Farm, vorzugsweise möglichst abgeschieden und ausgestattet mit einer guten Bar. Darüber hinaus musste man ihm immer wieder IBM-Selectric-Schreibmaschinen einfliegen – mit einer bestimmten Type – sowie Drogen und Schnaps besorgen (wobei er diesen Teil meist schon selbst erledigt hatte) und ihm einen Assistenten (Mädchen für alles) engagieren. Mein Job in der Redaktion des Rolling Stone bestand darin, stets präsent zu sein, um die acht bis zehn Seiten langen Manuskripte zu lesen und zu redigieren, die in unregelmäßigen Abständen aus dem Xerox-Fernkopierer quollen (wir nannten ihn den Mojo Wire) – eine Frühform des Faxgeräts mit einer Druckerdüse, die nur in Kombination mit übel riechendem Spezialpapier funktionierte und für eine Seite sieben Minuten brauchte. Dazu musste ich Stunden mit ihm am Telefon zubringen, um anschließend die verschiedenen Abschnitte und Szenen zu sortieren und in die richtige Reihenfolge zu bringen. Hunter hatte die Angewohnheit, beim Schreiben irgendwo in der Mitte anzufangen, sich von dort aus zum Anfang zurückzuarbeiten oder einfach nur einer plötzlichen Eingebung folgend ein paar Beobachtungen und Szenen festzuhalten, die man später irgendwo hineinmontieren konnte – oder sich in fantastischen Spinnereien zu ergehen (»Einschub ZZ« oder »Worte zur Nacht«), die später ebenfalls eingebaut wurden, weil es sich dabei um brillante Gedankenblitze eines Genies in Hochform handelte. Im Allgemeinen war es nicht so schwierig: Am Anfang kam immer eine kurze dramatische Abhandlung darüber, wie das Wetter dort war, wo er gerade saß und schrieb, dann kam ein Sammelsurium an Überschriften und Überleitungen zwischen den Kapiteln, um Logik und Fluss in die Angelegenheit zu bringen, die er immer erst am Ende zurechtbastelte, bevor er schließlich früher oder später zu seinen Schlussfolgerungen kam, die bei uns immer unter der Bezeichnung »die Weisheit« liefen.
Er hatte Spaß daran, sich beim Arbeiten am Rande der Katastrophe zu bewegen – und wenn eine solche gerade nicht zur Verfügung stand, dann sorgte er dafür, dass es dazu kam. Wir hatten niemals Streit über meine redaktionelle Arbeit. Ich habe nie versucht, irgendetwas an seinen Artikeln zu ändern oder zu »verbessern«, aber da ich ein ausgeprägtes Verständnis für seinen Stil und seine Motive hatte, war ich in der Lage zu sagen, worauf er hinauswollte, und neben ihm zu sitzen und ihm wie ein Kopilot die Route vorzugeben. Bei seinen Arbeiten für den Rolling Stone bestand er darauf, dass ich persönlich alles, was er schrieb, komplett überwachte, andernfalls weigerte er sich, einen Artikel zu Ende zu bringen. Es war ein wenig so, als würde man in der Ringecke von Muhammad Ali sitzen. Um Hunter als Redakteur zu betreuen, musste man Ausdauer und Mumm haben, aber ich war jung, und mir – ebenso wie ihm – war klar, dass sich hier eine Chance bot, wie man sie nur einmal im Leben bekam.
Wir waren beide politisch sehr engagiert und von dem Ehrgeiz besessen, unserer Auffassung von der Lage der Nation Ausdruck zu verleihen (daher auch die Bezeichnung »National Affairs Desk«). Und so wurden wir auch auf diesem Gebiet Partner, so verrückt es damals auch erscheinen mochte, dass ein Rock-’n’-Roll-Magazin und ein Mann, der über Rockerbanden schrieb, auf einmal mit gemeinsamen Kräften daran arbeiteten, das Land zu verändern. Wir lasen laut vor, was er gerade geschrieben hatte, feilten an Sätzen und Formulierungen, um anschließend in Begeisterung auszubrechen – »Verdammte Scheiße, verschärfter geht’s ja wohl nicht«. Es war atemberaubend, einzigartig und machte einen Riesenspaß. Er war mein Waffenbruder.
Das alles ist mittlerweile Vergangenheit. Und ich habe nach wie vor das Gefühl, dass ich ihm etwas schuldig bin und dass meine Arbeit für ihn noch nicht zu Ende ist. Ich komme nicht dagegen an. Und das ist der Grund, warum wir nun einen weiteren Schwung seiner Arbeiten veröffentlichen.
Nach Hunters Tod haben wir eine Sonderausgabe des Rolling Stone herausgegeben, in der nahezu hundert seiner Freunde, Kollegen und Mitverschworenen mit kurzen Erinnerungen und Fußnoten zu Wort kamen. Wir brauchten für diese Ausgabe zehn Tage, während derer ein halbes Dutzend Redakteure rund um die Uhr arbeitete, um das Heft trotz übelstem Termindruck unter Dach und Fach zu kriegen – genau wie früher haben wir uns abgerackert bis zum Gehtnichtmehr, um Hunter S. Thompson einen letzten Dienst zu erweisen. Und auch dieses Mal waren wir völlig gefangen von der Magie, die er noch immer verströmte und die sogar jene in der Redaktion erfasste, die ihm noch nie begegnet waren.
Diese Sonderausgabe ist auch als Buch erschienen, Gonzo: The Life of Hunter S. Thompson, eine mündliche Überlieferung mit 150000 Wörtern Umfang, die bis heute als die Biografie Hunter S. Thompsons gilt, unverzichtbar zum tieferen Verständnis des Lebens und Wirkens dieses Mannes. Ich habe jedes einzelne Wort dieses Buches redigiert – und dies mit großer Hingabe.
Ich war immer der Auffassung, dass Hunter seine Autobiografie in gewisser Weise schon im Rolling Stone zu Papier gebracht hatte und dass, wenn man seine gesammelten Werke entsprechend redigierte, sich daraus von selbst ein Erzählstrang ergeben würde, der dem Leser einen Eindruck von Hunters wildem, aufregendem Leben vermittelte, denn schließlich war er selbst seine größte Schöpfung, wenn es um literarische Figuren ging.
Diese Auffassung stand im Zentrum der Überlegungen, die ich gemeinsam mit Paul Scanlon anstellte, als wir uns daranmachten, dieses Buch zusammenzustellen. Paul war schon während meiner Jahre in San Francisco meine rechte Hand und verantwortlicher Redakteur. Er ist mit den Arbeiten für den Rolling Stone bestens vertraut und seine redaktionelle Arbeit war stets von großer Sorgfalt und Geschmackssicherheit geprägt – insofern war es naheliegend, ihn zur Zusammenarbeit bei der Herausgabe von Hunters gesammelten Arbeiten für den Rolling Stone hinzuzuziehen.
Wir haben darüber hinaus einige Briefwechsel zwischen Hunter und mir (wobei es sich um einen sehr kleinen Teil unserer Korrespondenz handelt) mit einfließen lassen sowie ein paar seiner überaus geistreichen – und manchmal haarsträubenden – Memos an die Mitarbeiter, um auf diese Weise seinem Schaffen eine weitere Ebene hinzuzufügen und es um eine geschmackliche Note zu bereichern. Hunter führte ein aufregendes Leben, geprägt von Genie, Talent und Engagement. Ich hoffe, dies spiegelt sich auf den folgenden Seiten.
Einleitung
Paul Scanlon
Meine erste Begegnung mit Hunter S. Thompson fand 1971 statt. Ich hatte keine Ahnung, wer mir da gegenübertreten würde. Ich war vertraut mit seinem Schaffen, hatte selbstverständlich im Rolling Stone den wunderbaren Bericht über seinen Wahlkampf um das Amt des Sheriffs von Pitkin County (Aspen), Colorado, gelesen und davon gehört, dass er in Los Angeles gewesen war, um an einem Artikel über die Ermordung des Journalisten Ruben Salazar zu schreiben. Gleichzeitig kursierten – sehr vage – Gerüchte, dass er an irgendeiner Geschichte über Las Vegas arbeiten würde. Und dann spazierte er an einem wunderbaren Frühlingstag in die Redaktionsräume des Rolling Stone in San Francisco. Von da an war nichts mehr so, wie es einmal gewesen war. Weder für mich noch für den Rolling Stone.
Für einen progressiv eingestellten Studenten in den Sechzigern gab es eine Reihe von Büchern, die einfach zum Pflichtprogramm gehörten: Einer flog übers Kuckucksnest von Ken Kesey, A Conferderate General from Big Sur und Trout Fishing von Richard Brautigan, The Kandy-Kolored Tangerine-Flake Streamline Baby und The Electric Kool-Aid Acid Test von Tom Wolfe sowie Hell’s Angels von Hunter S. Thompson.
Ich studierte damals Journalismus, und während meines Grundstudiums fühlte ich mich magisch angezogen vom Schreibstil Tom Wolfes und einiger anderer, die damals das praktizierten, wofür man kurze Zeit später den Begriff »New Journalism« prägen sollte, und seltsamerweise existierte selbst an einer ultraliberalen Hochschule wie San Francisco eine Kluft – damals nannte man es »Generationskonflikt« – zwischen Lehrpersonal und Studenten, was die Beurteilung dieser neuen Art zu schreiben anging. Unsere Dozenten hielten Wolfe und Leute seines Schlages für Windbeutel, deren mit fiktionalen Elementen angereicherter Reportagestil lediglich dazu führen würde, dass der Journalismus auf die Dauer zu einer Art Kabarett verkam, während wir überzeugt waren, dass unsere Lehrer uns lediglich zu hirnlosen Drohnen abrichten wollten, deren Karriereziel die Redaktionen irgendwelcher Kleinstadtblättchen waren.
Es war wohl während meines ersten oder zweiten Semesters, als ich in der Studentenkantine eine Ausgabe der Zeitschrift The Nation aus dem Regal nahm und so zum ersten Mal etwas von Hunter S. Thompson zu lesen bekam. Es war der erste Teil einer zweiteiligen Reportage über seine Fahrten mit den Hells Angels. Die Rockerbande hatte ein Chapter in Oakland, das in der Bay Area eine Institution darstellte. Es war keine Seltenheit, einer Gruppe von Angels über den Weg zu laufen, vor allem nachdem sie sich dem LSD zugewandt hatten und bei Dance-Rock-Konzerten in Läden wie dem Fillmore Auditorium oder dem Winterland herumhingen. Big Brother and the Holding Company wurden zu ihrer »offiziellen« Band. Wenn man in ihrer Nähe war, gab es ein paar einfache Faustregeln, die man besser beachtete: Abstand halten und Augenkontakt vermeiden. Denn selbst während ihrer kurzen gutmütigen Phase waren die Angels noch immer ein Furcht einflößender Haufen, bei dem es jederzeit zu unvorhersehbaren Gewaltausbrüchen kommen konnte.
Insofern war es für mich eine Offenbarung zu lesen, dass es ein Schriftsteller geschafft hatte, ihr Vertrauen zu gewinnen und von ihnen auf ihre Ausfahrten mitgenommen zu werden. Dazu gehörten Courage und Verstand, und Hunter S. Thompson besaß offensichtlich beides – oder er war so etwas wie ein mit massenhaft Talent ausgestatteter Vertretertyp und dazu noch leicht meschugge. Was auch immer. Jedenfalls war ich nach besagtem Artikel in The Nation davon überzeugt, dass dieser Kerl der wahre Stoff war. Und so kam es, dass ich etwas später am gleichen Tag meinen Mitstudenten gegenüber die Frage aufbrachte, was unsere Dozenten wohl von ihm halten würden.
In den frühen Siebzigern beim Rolling Stone zu arbeiten war eine aufregende Angelegenheit. Soziale, kulturelle und politische Unruhen lagen in der Luft, und wir versuchten, über diese Turbulenzen in einer Art und Weise zu berichten, die anders war als die der etablierten Zeitungen und Zeitschriften. Ich war damals über etliche Jahre geschäftsführender Herausgeber und hatte das Glück und Vergnügen, mit einigen der brillantesten Journalisten des Landes zusammenzuarbeiten, darunter auch mehrere feste Redaktionsmitglieder. Meine Kollegen waren ein wilder, hoch talentierter Haufen von Rebellen, die ihre journalistische Ausbildung bei angesehenen Zeitungen wie der Los Angeles Times, der New York Post, der Detroit Free Press, dem Cleveland Plain Dealer und dem Wall Street Journal absolviert hatten. Zwei unserer talentiertesten Mitarbeiter hatten Schriftstellerei an der San Francisco State University und in Stanford studiert. Unser erster Herstellungsleiter (copy chief), der dafür sorgte, dass die zweiwöchige Erscheinungsweise immer eingehalten wurde, ohne dass uns der Laden um die Ohren flog, war ein hochgebildeter Typ aus dem Nahen Osten, der eine Zeit lang mit Owsley Stanley III. zusammen eine Wohnung geteilt hatte. Was uns alle einte, war die Abneigung gegen traditionellen Mainstream-Journalismus und der Wille und die Bereitschaft, hart zu arbeiten.
Als Hunter sich unseren Reihen anschloss, dauerte es nicht lange, bis er sich zu einer Art Führungspersönlichkeit entwickelte. Sein Ruf als journalistischer Outlaw stand damals bereits außer Frage, doch mit seinem Artikel über Salazar sollte er sich darüber hinaus auch als investigativer Journalist einen Namen machen, der geradezu besessen recherchierte.
Er war ein Typ, den man einfach mögen musste. Ich glaube, es lag an seinem angeborenen Südstaatencharme in Kombination mit einer gewissen, sagen wir mal, Schüchternheit – so widersprüchlich das auch klingen mag. Er war in jenem Frühling in der Stadt, um an »Angst und Schrecken in Las Vegas Teil I« zu schreiben, wozu er sich im Keller von Jann Wenners Haus einquartiert hatte. Seine Besuche in den Redaktionsräumen – einer ehemaligen Fabriketage in einem Lagerhaus in Downtown San Francisco mit jeder Menge freiliegender Deckenbalken und unverputzten Wänden – waren nicht allzu häufig, doch hinterließen sie jedes Mal einen bleibenden Eindruck. Hunter war ein groß gewachsener, stämmiger Typ, der dennoch eine gewisse Grazie und ein unzweifelhaftes Charisma ausstrahlte, dem man sich nicht entziehen konnte.
Er war etwa eins fünfundachtzig groß, trug normalerweise Khaki-Shorts und Basketballschuhe und dazu entweder einen Parka oder eine Safarijacke. Wann immer er die Redaktion betrat, verfiel er in einen o-beinigen Tänzelschritt und rauschte kreuz und quer durch den Raum wie eine Comicfigur, um seinem Auftritt mehr Verve zu verleihen, bevor er auf den großen, runden Eichentisch in der Chefredaktion zusteuerte, der als allgemeiner Treffpunkt diente, um dort seinen Lederrucksack abzustellen und dessen Inhalt auszubreiten, der mit leichten Abweichungen immer aus den gleichen Zutaten bestand: etwas zu essen, beispielsweise eine Grapefruit, eine Stange Dunhill-Zigaretten, eine Flasche Wild Turkey, eine Stablampe, wie sie die Polizei benutzte, und eine Dose Reizgas.
Erst dann machte er den Mund auf und fing an zu reden. Ich bezeichnete diesen Redeschwall als »Hunter-isch«. Seine Vorträge hatten etwas von einem Rasensprenger oder einem Maschinengewehr. Eine sprudelnde Abfolge von dahingemurmelten Silben, die man anfangs kaum verstand, doch sobald man sich einmal in den Rhythmus hineingefunden hatte, wurde einem klar, dass es sich bei dem, was er da in einem Affentempo von sich gab, um wohlformulierte Sätze handelte.
Eines Tages kam Hunter kurz vor Mittag vorbei und verteilte diverse Manuskriptseiten an mich und ein paar andere Redakteure, um gleich darauf wieder von dannen zu ziehen, ohne auch nur ein Wort gesagt zu haben. Wie sich herausstellte, handelte es sich dabei um den ersten Teil von Vegas, und bis zum späten Nachmittag hatte der größte Teil der Belegschaft die Sachen gelesen und war völlig geplättet. Immer wieder brach irgendwer in Gelächter aus und allenthalben wurden Lieblingsstellen zitiert: »Ein Zug zu viel? Du armer Trottel. Warte erst mal, bis du die elenden Fledermäuse siehst!« Auf Hunter-isch vorgetragen, versteht sich.
Wenn er gerade nicht mit Schreiben beschäftigt war, und dies betrieb er mit großer Ernsthaftigkeit, widmete er sich gern grobem Unfug oder brach Ärger vom Zaun. Es gab etliche drogengeschwängerte und von Eskapaden erfüllte Nächte, im Anschluss an die ein Großteil der Redaktion auf dem Zahnfleisch kroch. Darüber hinaus gehörten zu seinem – und später auch unserem – Bekanntenkreis ein paar sehr interessante Gestalten wie beispielsweise Oscar Zeta Acosta, an den die Figur des »dreihundert Pfund schweren samoanischen Anwalts« aus Vegas angelehnt war, sowie ein Kumpel und gelegentlicher Gehilfe, den alle nur als Savage Henry kannten.
Hunter hatte diverse Vorlieben, an die wir uns anfangs erst gewöhnen mussten: so zum Beispiel sein Faible für Karnevalsperücken oder Tonbandaufnahmen von Tieren im Todeskampf, die auf mysteriöse Art und Weise plötzlich aus den Lautsprechern der Stereoanlage in der Redaktion drangen. Oder Scherzartikel, die er in irgendwelchen obskuren Läden erstanden hatte. Eines Abends beispielsweise waren wir bei Jann zu Hause eingeladen. Als wir ankamen standen wir mit einem Mal Hunter gegenüber, der ein zerrissenes Batik-T-Shirt trug, das mit roten Flecken übersät war. Er hielt eine riesige Injektionsspritze für Pferde in der Hand und verkündete, dass er sich damit eine Ladung 80-prozentigen Rum direkt in den Nabel jagen würde. Im nächsten Augenblick rammte er sich die »Nadel« in den Bauch, kippte vornüber und stieß eine Reihe stöhnender Klagelaute aus. Einer meiner Bekannten wäre beinahe in Ohnmacht gefallen.
Dennoch waren Jux und Tollerei für Hunter wie für den Rest von uns stets eine zweitrangige Angelegenheit – an erster Stelle stand die Arbeit. Wir hatten Spaß an dem, was wir machten, und ihm ging es ebenso. Als er bei einer späteren Gelegenheit einmal auf seine wilden frühen Jahre zu sprechen kam, meinte er, dass er »weder für Armut noch für ehrliche Arbeit etwas übrighatte und die Schreiberei deswegen der einzige Ausweg« für ihn gewesen sei. Was natürlich ironisch gemeint war, denn er betrieb sein Gewerbe mit großem Eifer und Ernst, war stets bemüht, auf den Gebieten der Grammatik und Syntax dazuzulernen, und gab dieses Wissen auch bereitwillig weiter. Wir hatten beispielsweise einen Mitarbeiter in unseren Reihen, der zwar jede Menge Talent besaß, aber sich immer wieder kritisieren lassen musste, weil seine Manuskripte so schlampig abgefasst waren, bis ich eines Tages miterleben durfte, wie Hunter ihm mit einer Engelsgeduld auseinandersetzte, dass ordentlich abgefasste, fehlerfreie Manuskripte nicht nur eine Notwendigkeit im Pressewesen darstellen, sondern sich darüber hinaus auch positiv auf seinen Schreibstil auswirken würden (womit er recht hatte). Und auch sonst legte er häufig eine große Hilfsbereitschaft und Interesse an unserer Arbeit an den Tag. Manchmal erfuhr er um drei Ecken, welche Projekte ich gerade anleierte, und dann fand ich gelegentlich Zettel von ihm auf meinem Schreibtisch, auf denen er in seiner unverkennbaren Handschrift Tipps und Hinweise über Quellen und Kontaktpersonen hinterlassen hatte. Diese Notizen trugen immer die Unterschrift: OK/HST. Er verfügte über die Gabe, andere zu inspirieren und so zu besseren Leistungen anzuspornen.
Er hätte sich aufführen können wie ein Star, doch wirkliche Könner verkneifen sich derartige Allüren. Hell’s Angels hatte ihm einen gewissen zweifelhaften Ruhm eingebracht, und auch sein Artikel über das Kentucky Derby für Scanlan’s sowie seine frühen Arbeiten für den Rolling Stone erregten breite Aufmerksamkeit. Doch er begnügte sich damit, ein Freund und netter Kollege zu sein, und die Reaktionen unsererseits waren entsprechend. Als der Typ mit den schlampigen Manuskripten erfuhr, dass Hunter gerne schwimmen ging, um sich zu entspannen, nahm er ihn mit zu einer Tauchschule, die ein paar Blocks von der Redaktion entfernt lag, wo Hunter seine Bahnen ziehen konnte, wenn kein Betrieb war.
Einer der Orte, an denen Hunter, wann immer er in der Stadt war, sich mit Vorliebe aufhielt, war Jerry’s Inn, die Redaktionstränke auf der anderen Straßenseite. Hier fühlte er sich zu Hause, trank nie übermäßig, aber regelmäßig und dozierte mit großem Eifer in Vier-Augen-Gesprächen über alles Mögliche – von seinen Helden Scott Fitzgerald und Joseph Conrad über Klassiker des Sportjournalismus wie Jimmy Cannon und Red Smith bis zu den Oakland Raiders, einer Footballmannschaft, die größtenteils aus Rabauken, Fies- und Finsterlingen bestand, von denen einige seine Freunde waren. Er redete auch gerne übers Geschäft, über Artikel, die er im Esquire und anderswo gelesen hatte, wodurch etliche der Stunden, die wir im Jerry’s anstatt in der Redaktion zubrachten, doch einen ziemlichen Nutzwert hatten. Zumindest rede ich mir das heute ein.
Als Hunter sich 1972 der Wahlkampfmaschine anschloss, markierte dies sowohl für den Rolling Stone als auch für ihn selbst einen Wendepunkt. Es war wie das Ende des einen und der Beginn eines neuen Kapitels. Anfangs hatte keiner von uns einen Plan. Es ging einfach nur darum, in Washington, D. C., Präsenz zu demonstrieren, indem man dort ein Büro eröffnete. Doch im Verlauf der Arbeit entwickelte er permanent neue Perspektiven, und das Ganze nahm von Ausgabe zu Ausgabe andere Formen an, sodass sich sein Auftrag zu einer nicht endenden Odyssee durch die USA wandelte. Er stand beim Schreiben permanent unter extremem Termindruck und reichte seine Manuskripte immer in letzter Sekunde ein, was sowohl für ihn als auch für die Redaktion eine harte Bewährungsprobe darstellte. Zu meinem Glück war ich in diese Vorgänge nicht direkt involviert, da ich mich um genügend andere Dinge zu kümmern hatte, doch ich war nahe genug dran, um mitzubekommen, unter welchem ungeheuren Druck Jann, der Mitherausgeber David Felton und der Korrektor Charles Perry und alle anderen standen, die in heroischer Weise mit der Heftproduktion befasst waren. Der mittlerweile berühmte Mojo Wire stand gleich neben der Tür zu meinem Büro, und diese Höllenmaschine brach Nacht für Nacht in infernalisches Gepiepe aus, wann immer die Hektik angesichts des Termindrucks am größten war, und signalisierte uns so Hunters Anwesenheit am anderen Ende der Leitung, während Jann oder Felton danebenstanden und nervös darauf warteten, dass der Apparat seine Manuskripte ausspuckte. Es war fast so, als wäre Hunter in unserer Mitte. Und rückblickend betrachtet waren es diese Artikel, durch die der Rolling Stone ein ernsthaftes politisches Profil gewann und Hunter zu einer Berühmtheit wurde (im Guten wie im Schlechten). Außerdem entstand daraus ein hervorragendes Buch. Eine journalistische Meisterleistung, hervorgebracht unter einem immensen Druck, und niemand außer Hunter wäre dazu in der Lage gewesen.
Ein paar Monate nach der Wahl saßen wir im Jerry’s. Hunter sah aus wie durch den Wolf gedreht, und seine Stimmung war mies. Aus Gründen, die mir bis heute unbekannt sind, fasste ich den Entschluss, ihm einige gute Ratschläge zu erteilen: Schick dein Alter Ego Raoul Duke in den Ruhestand, sagte ich, oder zumindest für eine gewisse Zeit in Urlaub. Werd wieder der Journalist, der Hell’s Angels geschrieben hat. Mach ein bisschen halblang mit Schnaps und Drogen. Er drehte sich zu mir um und griff in eine Tasche seiner Safarijacke. Er schaute mich an. Es war kein fieser Blick, sondern einfach nur ein Starren. Dann zog er einen Löschpapierstreifen Mr. Natural Acid aus seiner Tasche, schaute mir in die Augen, steckte ihn in den Mund und schluckte ihn hinunter. Ich hatte verstanden. Wir unterhielten uns weiter, als wäre nichts passiert.
Meine letzte Zusammenarbeit mit ihm war 1975, als er kurz vor dem Abzug der Amerikaner aus Saigon seine »verbotenen Meldungen von der Front« schickte. Danach hatten wir kaum noch Kontakt miteinander, außer wenn wir uns in New York zufällig über den Weg liefen. Unsere letzte Unterhaltung fand 1996 statt – anlässlich der Feier des 25-jährigen Jubiläums der Erstausgabe von Angst und Schrecken in Las Vegas, das bei dieser Gelegenheit eine Neuausgabe in der Reihe Modern Library erfuhr und dadurch endgültige literarische Weihen erhielt, worauf er zu Recht stolz war. Es war ein ganz ausgezeichneter Abend. Unter den Gästen waren etliche Rolling-Stone-Mitarbeiter der ersten Stunde und auch Johnny Depp, mit dem Hunter eine wunderbare Freundschaft verband und der 1998 in der Filmfassung von Vegas die Rolle des Raoul Duke, Doktor des Journalismus, spielen sollte.
Eines meiner Lieblingserlebnisse mit Hunter – und es ist sogar auf Video festgehalten – ereignete sich im Frühjahr 1973. Er hatte sich im Seal Rock Inn am westlichen Rand von San Francisco verschanzt, um »Angst und Schrecken im Wahlkampf« den letzten Schliff zu geben, und wurde von einem Fernsehteam, das an einer Dokumentation über den Rolling Stone arbeitete, beim Auschecken abgepasst. Er erklärte sich zu einem kurzen Interview bereit und verpasste ihnen einen klassischen sinn- und verstandfreien Hunter-S.-Thompson-Sermon von ein paar Minuten Länge.
Als er jedoch in der Redaktion ankam, um sich von allen zu verabschieden, tauchte das Fernsehteam erneut auf und bombardierte ihn mit dämlichen Fragen. Hunter und ich gaben uns große Mühe, sie zu ignorieren, indem wir uns in seine Fanpost vertieften, die ebenfalls starker Tobak war, bis Hunter schließlich aufgab, den Flur entlang auf den Ausgang zustrebte und mir über die Schulter hinweg zurief: »ICH MUSS MICH DRINGEND MIT JEMAND AUF DER ANDEREN STRASSENSEITE TREFFEN!« Auf der anderen Straßenseite war das Jerry’s, und der besagte Jemand war ich.
Hunter war ein Schreiber der Extraklasse, und es ist unter anderem seinem Talent zu verdanken, dass der Rolling Stone in den Anfangstagen über manche Klippe hinwegkam. Er war ein ganz hervorragender Trinkkumpan, ein Handelsvertreter mit höllischen Qualitäten und, ja, er war ein bisschen verrückt. Verrückt wie ein Fuchs.
Es ist vierzig Jahre her, seit sich Hunter S. Thompson der Wahlkampfkarawane anschloss, und fast sieben Jahre seit seinem Tod. Dennoch schafft er es bis zum heutigen Tag, dass sich viele von uns mit ihm beschäftigen. Als ich mit den Arbeiten an diesem Buch begann und den Umfang seiner Arbeiten für den Rolling Stone in Augenschein nahm, kam ich auf über 450000 Wörter. Nach etlichen Kürzungen und redaktionellen Eingriffen blieben immer noch 210000 übrig.
Der Auswahlprozess war relativ einfach. Es wurden lediglich vier Artikel nicht berücksichtigt, weil sie schlicht und einfach vom Niveau her mit den anderen nicht mithalten konnten. Was allerdings auch bedeutete, dass die notwendigen Kürzungen am Rest des Materials umso mehr Mühe bereiten würden.
Am wenigsten kompliziert war das Material über die Wahlkampfkarawane. Es war über weite Strecken auf die damaligen Zustände gemünzt, und etliches davon hatte in der Zwischenzeit an Bedeutung verloren. Allerdings gab es jede Menge Vignetten und skurrile Vorfälle, und auch der Reportagestil hatte nach all den Jahren erstaunlich wenig von seiner Frische eingebüßt.
Charakteristische Merkmale von Hunters Schreibstil sind die grandiose Abschweifung sowie der etwas kürzere, aber sorgfältig formulierte ausführliche Seitenstrang. Wenn eine Abschweifung den Erzählfluss störte, wurde sie gestrichen. Das beste Beispiel für diese Vorgehensweise ist »Fear and Loathing at the Superbowl«. Beinahe die Hälfte dieses Artikels war eine famose Abschweifung, die sich mit den Oakland Raiders beschäftigte, aber ansonsten nichts mit dem eigentlichen Thema zu tun hatte. Wenn allerdings eine Abschweifung oder ein Seitenstrang in hohem Maße komisch war, wurde auf sie natürlich nicht verzichtet. Es wäre ein Verbrechen gewesen, Hunters Abenteuer bei der Fahrt auf einer Vincent Black Shadow auszusparen. Das Gleiche gilt für Angst und Schrecken in Las Vegas. Der hier abgedruckte Auszug ist ein separater Abschnitt aus Teil II, in dem Duke und sein Anwalt einem ahnungslosen Delegierten auf der Konferenz der Bezirksstaatsanwälte schwer zusetzen.
Merkwürdigerweise war der Artikel, bei dem es am meisten Probleme bereitete, Streichungen vorzunehmen, Hunters erster Auftrag für den Rolling Stone, nämlich »Die Schlacht von Aspen«, wo er seine Bemühungen schildert, unter Einsatz von »Freak Power« das Amt des Sheriffs von Pitkin County, Colorado, zu übernehmen. Anfangs strich ich ein paar kurze Passagen, doch beim zweiten Lesen war ich nicht mehr davon überzeugt und ließ die Finger davon. Der ganze Artikel ist einfach zu dicht und zu komplex.
Hunters Zusammenarbeit mit dem Rolling Stone beschreibt einen Bogen, der sich schon im Inhaltsverzeichnis eindeutig abzeichnet. Sein Output von 1970 bis 1972 war einfach sensationell, und auch 1974 war er wegen Watergate und allem, was mit Nixon zusammenhing, ständig involviert. Als er im gleichen Jahr nach Zaire geschickt wurde, um eine Reportage über den Kampf zwischen Ali und Foreman zu schreiben, kehrte er mit leeren Händen zurück. Seine Reise nach Saigon kurz vor dem Ende des Vietnamkriegs brachte ein allenfalls mageres Ergebnis in Form einer unfertigen, zusammengestrichenen Rohfassung. Eine spätere Exkursion nach Grenada blieb ganz ohne Resultat. In der Zwischenzeit hatte er durch seine Vorträge an Universitäten eine ziemliche Popularität erlangt; diese waren gut bezahlt, und an Nachfrage herrschte kein Mangel. Allerdings blieb dabei das Schreiben für längere Zeiträume auf der Strecke.
Wenn er dann auf den Seiten des Rolling Stone doch wieder aus der schriftstellerischen Versenkung auftauchte, lieferte er häufig erstklassiges Material. »Die Todesfee schreit nach Büffelfleisch« von 1977 ist eine Hymne auf seinen Freund und seine gelegentliche Nemesis Oscar Acosta, der – vermutlich im Zuge eines schiefgelaufenen Drogendeals – verschwunden war. Im Jahr darauf lieferte er ein zweiteiliges Interview/Porträt von Muhammad Ali, das vor Detailreichtum nur so strotzte und streckenweise einfach haarsträubend war. Wer sonst brächte es fertig, mit einer afrikanischen Stammesmaske vor dem Gesicht in Alis Hotelzimmer zu springen und den Champ dazu zu bringen, dass er Tränen lacht?
Es folgten wieder fünf Jahre Funkstille, bis Hunter eine letzte, großartige Reportage über den skandalumwitterten Scheidungsprozess von Roxanne Pulitzer für den Rolling Stone lieferte. »A Dog Took My Place« zeigt Hunter in Hochform; hin- und hergerissen zwischen Staunen und Abscheu, taucht er in die Sex-und-Drogen Kultur der wohlhabenden Palm-Beach-Schickeria ein.
In den Neunzigern sollten noch zwei späte Meisterwerke folgen: »Fear and Loathing in Elko« – eine fantastische Erzählung bestehend aus albtraumhaften Sequenzen, die sich um den Richter am Supreme Court Clarence Thomas und eine Bande Durchgeknallter drehen. Es ist beißend komisch und düster zugleich – eigentlich sogar wesentlich düsterer als Angst und Schrecken in Las Vegas. »Polo in Las Vegas« ist ein letztes Beispiel für seinen gelegentlich lyrischen Schreibstil und seine Neigung einen großen Bogen zu spannen, wobei er seine Beobachtungen über einen Sport für die Reichen mit Betrachtungen über die verloren gegangene Welt Scott Fitzgeralds und über Sexpuppen vermengt. In diesem Zusammenhang muss man anmerken, dass diese beiden Artikel ebenso wie seine ersten für den Rolling Stone am schwierigsten zu kürzen waren.
Die Korrespondenz zwischen Jann und Hunter beginnt mit ihrem ersten Briefwechsel 1970. Sie gibt Blicke hinter die Kulissen, man kann dem Autor bei der Arbeit über die Schulter schauen und miterleben, wie Vegas entstand, wie die Berichterstattung über den 72er-Wahlkampf konzipiert wurde; Ideen für Reportagen werden entwickelt (und häufig wieder fallen gelassen), Faxe enthüllen den Druck und die Drohungen, die notwendig waren, um Hunters spätere Arbeiten zu realisieren. Alles in allem stellen diese Briefe und Memos eine zusätzliche Facette in der Biografie dieses Schriftstellers dar, der seine bedeutendsten Arbeiten für den Rolling Stone verfasst hat.