die Autorin:
Andrea el Gato kehrte selbst vor einigen Jahren Deutschland den Rücken zu. Als Lektorin begleitete sie bereits mehr als acht Bücher bei der Veröffentlichung. 2010 veröffentlichte sie die Anthologie „Wogen des Lebens“, mit Zerbrochenes Glück erscheint ihr erster Roman. Sie lebt mit Mann und Hunden derzeit in Italien.
Andrea el Gato
Zerbrochenes Glück
Verlagshaus el Gato
Besuchen Sie uns im Internet:
www.traumstunden-verlag.com
Taschenbuchausgabe 1. Auflage Dezember 2011
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise- nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Umschlaggestaltung: Maria Issel
Lektorat: Andrea el Gato
Satz: Verlagshaus Traumstunden el Gato
Druck: Neiko P-Buch ISBN: 978-3-943596-01-4 e-ISBN E-Book 978-3-943596-17-5
Für meine Mädels Ich hab Euch lieb!
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind
im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
Puh! Tief durchatmen. Gleich, in wenigen Minuten, ging es los. Mein Herz klopfte bis in den Hals, ich blickte mich um – Langstreckenflugzeug, nannte man das. Viel breiter als ein normales Flugzeug war dieses Flugzeug jedenfalls nicht. Okay, schließlich entschieden wir uns für Economy - Tickets. Hatte ich mehr erwartet? Blau gepolsterte Sitze füllten die untere Etage der zweistöckigen Boeing 747. Drei Reihen á drei Sitze ließen den Raum enger erscheinen, als er in Wirklichkeit war. Mein Mann Michael, unser vierzehnjähriger Sohn Marius und ich, belegten während der langen Reise eine komplette Reihe im vorderen Bereich an der linken Fensterseite.
Ein großes Abenteuer lag vor uns. Vielleicht das Größte unseres ganzen Lebens. Die Boeing trug uns hinüber in eine neue Zukunft. In eine Existenz voller Hoffen und Bangen. Das Ziel hieß Kanada. Während die Propeller warm liefen, trafen Stewardessen in ihren schicken dunkelblauen Uniformen, an denen silberne Knöpfe verwegen funkelten, die letzten Startvorbereitungen. Die Vielzahl der Reisenden in der Economy Class waren Urlauber, die erwartungsvoll aus den kleinen Bullaugen blickten oder vielsprachig durcheinander plapperten. Die wenigen Geschäftsreisenden schauten sich gelangweilt um, für sie war das Prozedere nichts Neues. Einige lasen, andere bereiteten sich auf ein ausgiebiges Nickerchen vor.
Am lauter werdenden Dröhnen der Propeller war deutlich zu erkennen: Gleich ging es los!
Zehn Stunden Flug. Zehn Stunden noch bis in unser neues Leben. Neugierig sah ich aus einem der kleinen runden Fenster. Reflektiert von der Innenbeleuchtung starrten mich zwei große und von dunklen Ringen umrandete Augen an. Hervorgerufen von der Aufregung und dem Schlafmangel der vergangenen Tage, stach meine spitze Nase besonders hervor. Früher nannten mich Familienangehörige deswegen gern Spitzmaus. Ein leises Lächeln verirrte sich in mein Gesicht.
Ach das waren noch Zeiten damals, ging mir durch den Kopf. Hätte mir damals jemand prophezeit, dass ich mal nach Kanada auswandere, den hätte ich doch glatt als Spinner bezeichnet.
Von Berlin hierher nach Amsterdam verlief der Flug schnell und unkompliziert. Kaum in der Luft, schon wieder gelandet. Aber ab hier fing die Reise erst so richtig an. Voller Vorfreude kribbelte es mich überall, am liebsten würde ich hüpfen, tanzen oder andere verrückte Sachen machen. Nein, die nächsten zehn Stunden würde ich diszipliniert und ruhig auf meinem Sitz im Flugzeug ausharren müssen.
Langsam rollte die kleine Maschine aus. Ein kleines graues Auto fuhr dem Flugzeug voraus und zeigte den Weg auf ein freies Gate. Kurz vor der Rampe drehte das Auto ab. Ein kurzes Hupen ertönte und ich sah, wie der Fahrer grüßend seine Hand zum Cockpit erhob. Neben dem Gate wartete bereits der Kofferwagen und die drei Männer vom Wartungspersonal rieben sich arbeitseifrig die Hände.
Jetzt würde sich zeigen, ob unser Gepäck an den Zwischenstationen ordnungsgemäß verladen wurde.
Der Pilot verabschiedete sich und wünschte den Gästen einen angenehmen Aufenthalt und Urlaub. Urplötzlich kullerte glucksend ein Kichern in mir hoch. Wenn der wüsste!
Zügig verließen die wenigen Passagiere das winzige Flugzeug. Ganz anders war es in Seattle, wo jeder der Erste sein wollte und ein heilloses Gedränge entstand. Wir jedoch konnten uns Zeit lassen, es wartete niemand auf uns. Mit dem Agenturinhaber der Firma ANC waren wir erst am kommenden Tag verabredet.
Langsam, fast andächtig, betrat einer nach dem anderen von uns den Boden des lang ersehnten Traumlandes Kanada.
Überraschend schnell bekamen wir unser Gepäck ausgehändigt. Erleichtert atmete ich auf. Nichts fehlte. Alle Koffer und Taschen waren vollzählig. Freudig stelle ich fest, keine Zollkontrolle. Wir konnten sofort durchgehen und standen nach wenigen Minuten vor der großen modernen Glastür, die uns ins Freie entließ.
Vancouver begrüßte uns mit strahlendem Sonnenschein und einem schon fast filmreifen blauen Himmel. Wie selbstverständlich nahm ich Marius Hand in meine und sah, dass auch er nach der Hand seines Vaters griff. So standen wir einen Moment still und ergriffen, Marius in der Mitte und saugten den Anblick der neuen Heimat in uns auf. Das geschäftige Treiben prallte in diesem ersten Moment komplett von uns ab.
„Taxi! Taxi! Benötigen sie ein Taxi?“
Unsanft riss uns ein junger Mann mit Dreadlocks aus unseren Träumen. Natürlich benötigten wir ein Taxi! Wie sollten wir sonst in unser Hotel kommen. Geschickt manövrierte er uns zum Taxistand und verstaute mithilfe des Fahrers das sperrige Gepäck. Schon wieder sitzen. Die letzten Stunden bestand mein Leben nur aus Sitzen. Mir kam es vor, als würde ich meinen Hintern schon gar nicht mehr spüren. Die Knie taten weh, der Rücken schmerzte, irgendwie bestand mein gesamter Körper nur aus einem einzigen Schmerz. Es half alles nichts, schwer fielen wir auf die unbequemen Rückbank des Taxis. Uns blieb nun mal nichts anderes übrig.
Mit einem schnellen Seitenblick über die linke Schulter reihte sich der Fahrer in den fließenden Verkehr ein. Unsere erste Fahrt durch eine der schönsten und grünsten Städte dieser Welt begann.
Im Hintergrund türmten sich die Cypress Montains und Grouse Montains. Noch immer bedeckten einzelne Schneefelder die Gipfel.
Vorbei an Parks, Hochhäusern und futuristisch aussehenden Gebäuden brachte uns das Taxi immer näher unserem vorläufigen Ziel.
Ich drückte mir meine Nase regelrecht platt an der Scheibe, so beeindruckt war ich von dem, was draußen an mir vorbei huschte. Der Taxifahrer, der schnell kapierte, dass wir hier fremd waren, schlüpfte in die Rolle des Fremdenführers und machte uns immer wieder auf interessante architektonische Besonderheiten aufmerksam. An mir schwirrten Namen vorbei, von denen ich hoffte, dass sie irgendwann mal für mich zum Alltag gehören würden. Kein Wunder, dass Medien und Besucher Vancouver so hoch priesen. Das, was ich aus dem Fenster erhaschte, war einfach nur schön. Sogar das Klima sollte anders sein als im Rest Kanadas. Die umliegenden Gebirge stellten einen natürlichen Schutz dar, sodass trotz der nördlichen Breitengrade Sommer wie Winter ein relativ gemäßigtes Klima herrschte.
Als der Fahrer „False Creek“ sagte, erwachte ich aus meiner Träumerei. „Schon? Das ging aber schnell.“ Wir überquerten den schmutzig braunen Fluss über eine Brücke, deren Namen ich augenblicklich vergaß, als der Fahrer uns ihn nannte. Zu viele Eindrücke stürmten auf mich ein. „False Creek“, diesen Namen hatte ich mir bereits zu Hause eingeprägt. Stellte er doch die natürliche Grenze zur Innenstadt Vancouvers, der Downtown, dar.
Als Berlinerin war ich einiges an Verkehr gewohnt. Dennoch wurde mir angst und Bange, als ich den Trubel sah. Auf überdimensionalen Werbeplakaten präsentierte uns ein junger Mann seine makellosen weißen Zähne. Hotels und Restaurants machten mit blinkenden Leuchtstoffröhren auf sich aufmerksam. Die Straßen wurden immer voller und das Taxi kam mittlerweile nur noch langsam voran. Auf den Gehwegen hasteten Menschen geschäftig an uns vorbei. Ich bemühte mich die Werbebotschaften zu lesen, und vor allem zu verstehen. So lerne ich doch auch, versuchte ich mir selbst einzureden.
Vor einem unauffälligen, braunen, fünf Stockwerke hohen Haus hielt der Fahrer an. Das Hotel sah aus wie das Überbleibsel einer vergangenen Epoche. Trotzig zwängte es sich zwischen all den vielen Hochhäusern, die nur aus Glas und Stahl zu bestehen schienen.
„Wir sind da“, stellte Michael trocken fest, „wir sind am Day Inn – unserem Hotel angekommen.“
Sieben Tage lang sollte das Day Inn als Zwischenstation fungieren. In diesen sieben Tagen wollten wir unser eigenes Heim gefunden haben.
Nicht nur mir steckte der anstrengende Tag und die Aufregung der langen Reise in den Knochen. Müde und mit schmerzenden Gelenken kletterten auch meine Männer aus dem Auto. Wir hatten es fast geschafft.
Nur noch einen kleinen Moment, dann … Ja, was dann? Noch hatte ich überhaupt keine Ahnung, was uns erwarten würde. Während ich noch planlos und ziellos in der Lobby herumstand, strebte Michael bereits die Rezeption an.
So unscheinbar das Haus von außen aussah, so geschmackvoll war es im Innern. Der Boden schien aus Marmor zu bestehen, dunkelbrauner, auf Hochglanz polierter Marmor mit eingelassenen Reliefbildern. In der Mitte der Lobby spendete ein riesiger Kronleuchter angenehmes Licht. Sofas und Sessel in abwechselnden schwarz-weiß Tönen luden zum Sitzen ein. Unwiderstehlich fühlte ich mich von diesen angezogen. Ehe ich mich versah, versank ich bereits in einem dieser riesigen Ungetüme.
Altehrwürdige Gediegenheit, ging mir durch den Kopf. Neben mir fiel mit einem lauten Seufzer Marius in eine schwarze Couch.
Langsam ließen Druck und Anspannung nach. Bis hierher hatte alles super und problemlos geklappt.
Bleierne Müdigkeit senkte sich auf mich herab. Der Kronleuchter verschwamm vor meinen Augen. Unerbittlich fielen mir immer wieder die Lider zu.
Lautes Klappern beendete den Kampf. Michael stand grinsend vor mir und wackelte mit einem großen schweren Messingschlüssel, auf dem deutlich 224 prangte.
Murrend erhob sich Marius und auch ich quälte mich müde aus der all zu bequemen Couch.
Oben angekommen lud uns die weit geöffnete Zimmertür ein – unsere Koffer standen ordentlich aufgereiht in der Mitte des Zimmers, während der Page gerade dabei war, die Gardinen aufzuziehen.
„Ich glaube, der bekommt jetzt Trinkgeld“, raunte ich Michael zu.
„Was meinst du, reichen fünf Kanadische Dollar aus?“, flüsterte der zurück.
„Klar, mehr auf keinen Fall.“ Michael steckte dem Pagen das Geld zu, der sich freundlich bedankte, das Zimmer verließ und die Tür schloss.
„Uff, endlich Ruhe“, ächzte Michael. In diesem Moment flammte wie von Geisterhand angeschaltet der Fernseher auf. Auf dem Bildschirm lasen wir: „Herzlich willkommen Familie Michael Selters. Wir begrüßen Sie in Vancouver im Day Inn Hotel und wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt. Bitte beachten sie folgende Hinweise …“ Laut prustend blickten wir uns an. Niemand hatte Lust den Rest zu sehen. Klick. Schon war der Flimmerkasten aus.
Die Uhr zeigte fast neunzehn Uhr. In Deutschland dagegen war es ungefähr vier Uhr am Morgen. Der Jetlag machte sich mit Macht bemerkbar. Schlafen gehen oder nicht - das war im Moment die große Frage.
Marius sah uns mit großen erwartungsvollen Augen an und meinte:
„Hunger habe ich keinen, aber vielleicht könnten wir ja etwas trinken gehen oder die Gegend erkundschaften.“
„Die Gegend erkundschaften??“, entfuhr es mir ganz entgeistert. Meine Lust reichte gerade noch aus das Bett zu erkunden, jedoch verspürte ich keinerlei Lust, noch irgendetwas außerhalb dieses Zimmers zu unternehmen.
„Was willst du denn erkundschaften?“, schmunzelte Michael.
„Die Stadt, die Umgebung, einfach alles.“
„Pass auf Marius, wir machen das so“, fing Michael an. Ich ahnte, er begann einer seiner berühmt berüchtigten Vorträge.
„Morgen, nach unserem Treffen mit dem ANC Agenturinhaber, fangen wir mit konzentrischen Kreisen an. Wir beginnen mit kleinen Kreisen hier am Hotel und dehnen diese immer weiter aus. So lernen wir systematisch die Gegend kennen und können immer wieder hierher ins Zentrum des Kreises zurückkehren.“
Michael und sein Hang zum Perfektionismus. Leicht entnervt fiel ich den beiden ins Wort:
„Heute gehen wir nirgendwo mehr hin. Wir bleiben im Hotel. Eine Kleinigkeit essen oder etwas trinken. Einverstanden. Aber dann ab ins Bett.“
Noch in Reisekluft, die Koffer blieben unberührt da, wo der Page sie hingestellt hatte, verließen wir das Hotelzimmer und fuhren mit dem Lift ins Erdgeschoss.
Michael strebte zielsicher auf die Smiley O'Neal's Irish Whiskey Bar zu.
„Das bin ich uns einfach schuldig, egal wie müde wir sind“, flüsterte er mir zu.
„Was meinst du damit?“
„Warte es ab“, lächelte er.
Uns empfingen gedämpftes Licht und leise Klaviermusik. Entlang der Wände warteten schwere Ledercouchs auf müde Reisende, die hier in der Bar noch einen Schlummertrunk zu sich nehmen wollen. Viel lieber hätte ich mich in eines dieser bequemen Ungetüme gelümmelt, aber Michael steuerte einen kleinen runden Tisch an, der von vier halbrunden Stühlen flankiert wurde. Die Theke war aus dunklem, auf Hochglanz poliertem Holz. Kopfüber hingen an der einen Seite alle möglichen Gläser und an der anderen Seite jede Menge Flaschen. An jeder Flasche befand sich ein kleiner Hahn, sodass das Eingießen einfach und unkompliziert vor sich gehen konnte. Noch während ich mich umsah, hörte ich mit einem Ohr Michaels Bestellung: Sekt! Er bestellte keinen Whisky, sondern Sekt. Halbtrocken, so wie ich es mochte. Der Ober brachte in Windeseile drei Gläser und öffnete mit einem leisen Plop die Flasche. Langsam goss er das prickelnde Getränk in die Gläser. Zur Feier des Tages durfte sogar Marius ein kleines Glas Sekt trinken. Als der Ober außer Sichtweite war, hob Michael feierlich sein Glas. Seine Stimme vibrierte, als er sagte:
„Auf uns! Auf unseren Neuanfang in Kanada.“
Au ja. Ernst blickte ich meinen Mann an. Leise klirrten die Gläser aneinander.
„Auf uns“, sagte ich leise, „dass alles so wird, wie wir uns das vorgestellt haben.“
„Ja Mom, das hoffe ich auch“, raunte Marius verschwörerisch zurück.
Bereits nach wenigen Schlucken merkte ich, wie mir der Alkohol ins Blut stieg. Alkohol nach einem so anstrengenden Tag war nicht wirklich empfehlenswert. Mir wurde leicht schwindelig und die Müdigkeit war wie weggeblasen. Todesmutig wagte ich einen Vorstoß.
„Ich glaube, wir sollten uns eine Kleinigkeit zum Essen bestellen, sonst fall ich hier vom Hocker.“
Michael blickte mich erstaunt an.
„Jenny, wir sind in einer Whisky Bar, da gibt es nichts zum Essen.“
„Ich muss was essen. Die werden doch bestimmt was zum Knabbern haben, Nüsse oder so.“ Hoffnungsvoll nahm ich noch einmal die Karte in die Hand und suchte, ob nicht doch etwas Essbares drauf verzeichnet stand.
Unbemerkt, wie ein Geist aus dem Nichts erschienen, stand der Kellner bereits neben unserem Tisch.
„Sie haben einen Wunsch?“
Michael räusperte sich und antwortete: „Ja, wir sind schon sehr lange auf den Beinen und spüren erst jetzt, dass wir eine Kleinigkeit essen könnten.“ An seinem Ton hörte ich, wie peinlich ihm die Frage war.
Prompt erwiderte der Kellner: „Sir, Sie befinden sich in einer irischen Whiskey Bar“, unüberhörbar mit tiefster Entrüstung in der Stimme.
„Wir führen keine Speisen.“
„Ja das hatte ich fast befürchtet. Irgendeine Kleinigkeit werden Sie sicher führen? Nüsse zum Beispiel?“
„Natürlich, ich werde Ihnen gleich eine Schale mit Nüssen bringen. Möchten Sie eventuell auch Chips?“ Freudestrahlend antwortete Marius:
„Oh ja Chips, sehr gern.“
„Sehr wohl, haben Sie außerdem noch einen Wunsch?“
Währenddessen hielt ich mein Sektglas in meiner rechten Hand und versuchte mich auf die Kohlensäurebläschen zu konzentrieren. Unaufhaltsam wollte ein Lachen und Kichern aus mir heraus.
Michael verneinte. Kaum war der Kellner außer Sichtweite, hielt mich nichts mehr, ich verdrehte arrogant meine Augen und ahmte den Kellner nach:
„Sir, das ist eine Irische Whiskey Bar.“
Keiner konnte mehr an sich halten, laut lachend prusten wir los.
Unaufhaltsam leerte sich die Flasche Sekt und die Schalen mit Nüssen und Chips.
Zurück im Zimmer mahnten die mitten im Wege stehenden Koffer. Sie wollten endlich ausgepackt sein. Ach was, das hat Zeit bis morgen. Die laufen mir schon nicht weg. Schnell brachte ich nur das Waschzeug ins Bad und fiel müde und leicht beschwipst neben meinem Mann ins Bett.
Leises Murmeln weckte mich aus unruhigen Träumen. Erschrocken wachte ich auf und benötigte einen Moment um mich zu orientieren. Stimmt, wir waren in Kanada.
Michael schlief zwar, aber er grummelte immerzu vor sich hin. Jetzt würde ich gern in sein Gehirn blicken können, um zu sehen, was er träumte. Ein Blick auf die Uhr zeigte, es war sieben Uhr morgens. In Deutschland war es jetzt vier Uhr am Nachmittag. Auch wenn ich noch nicht hundert Prozent fit war, die Stunden Schlaf hatten mir gut getan und meine Lebensgeister neu erweckt. Leise stand ich auf und schlich ins Bad.
So eine Dusche war einfach herrlich. Erfrischt und voller neuer Energie stellte ich mich vor den Spiegel. Kritisch prüfte ich meinen Körper. Fünfundsechzig Kilo auf 165 Zentimeter verteilt, nicht übel. Hier und da sah man mir die vierzig Jahre schon an. Aber der Busen war noch fest, Falten um die Augen hielten sich in Grenzen. Das lange Haar immer noch blond, ohne graue Strähnen. Dunkle Wimpern umrahmten blaue Augen. Scheinbar hatte ich die guten Gene meiner Mutter geerbt, die mit ihren siebzig Lenzen immer noch mancher Männer Blick auf sich zog.
Zurück im Zimmer, tappte ich leise zu Michael, und küsste ihn auf die Stirn. Keine Reaktion.
Na so was. Ich beugte mich weiter vor und küsste ihn auf den Mund. Michael, schon längst erwacht, griff zu und zog mich zu sich ins Bett. Vor Schreck kreischte ich auf. Ich hätte es wissen müssen. Viel zu gern neckte und foppte er mich. Entrüstung vortäuschend gab ich ihm einen kleinen Klaps und schimpfte:
„Du Schauspieler, du! Los, aufstehen!“
Nun bewegte sich auch die Decke, unter der Marius schlief. Müde blinzelte er um die Ecke.
„Ach nö. Müsst ihr denn so einen Krach machen. Es ist doch noch früh!“
„Aufstehen, ihr Schlafmützen! Wir haben heute einiges vor. Geschlafen werden kann ein anderes Mal.“
Konsequenz fing beim eigenen Mann an. Daher zog ich ihm resolut die Decke weg.
„Komm auch du Marius, es ist schon fast acht Uhr.“ Schmunzelnd blickte ich meinen Männern hinterher, wie sie murrend, aber gehorsam im Bad verschwanden.
Endlich hatte ich Zeit, mir unser Zimmer genauer anzusehen. Die Räume zeigten Geschmack und Liebe zum Detail. Mediterrane Farben beherrschten das Bild, die Möbel im warmen Kirschton erzeugten Gemütlichkeit. Die Schränke waren groß und geräumig. Die kleine Miniküche beinhaltete alles, was wir für eine Selbstversorgung benötigten. Was ich sah, gefiel mir. Die Lage mitten im Stadtzentrum, die Profilierung als Nichtraucherhotel sowie die Möglichkeit sich selbst zu versorgen, waren seinerzeit ausschlaggebend für die Buchung.
Gerade als ich summend die letzten Koffer unter den Betten verstaute, verließen Michael und Marius frisch gewaschen, gestylt und angenehm duftend das Bad.
Ach wie liebte ich es, dass „meine“ Männer so auf ihr Äußeres achteten.
Das Frühstück präsentierte uns die erste Überraschung. Als ganz normale Berliner Durchschnittsfamilie aßen wir frische, knusprige, am liebsten noch warme Brötchen mit Butter und Marmelade. Dagegen liebten es die Westkanadier ähnlich deftig wie die Amerikaner. Auf dem Büfett türmten sich Eier, Speck, Bohnen, gegrillte Tomaten und das unverzichtbare labbrige Weißbrot. Mit angewidertem Gesicht schlich ich um das Büfett und versuchte etwas für mich Essbares zu finden. Marius, zum Glück, fand einen kleinen Tisch, auf dem alle Zutaten für ein Müsli ordentlich aufgereiht standen. Obst fanden wir an einem weiteren kleinen Tischchen etwas abseits. Na also, es ging doch. Zufrieden konnten wir unser Frühstück genießen und ließen uns mehrmals heißen, starken Kaffee nachschenken. Wenigstens der schmeckte gewohnt.
Langsam, aber unerbittlich tickte die Uhr.
Um zehn Uhr waren wir mit dem Inhaber der Agentur ANC, Herrn Ludwig Franke, verabredet. Hoffentlich dauerte dieser Termin nicht zu lange. Wir wollten doch endlich Vancouver kennenlernen.
Schlagartig wurde mir etwas klar und platzte aus mir heraus:
„Wisst ihr eigentlich, dass heute unser neues Leben so richtig anfängt? Den heutigen Tag sollten wir niemals vergessen, er markiert den Beginn eines neuen Lebens.“
Während mich plötzlich Aufregung und Neugierde erfasste, ich kaum noch still auf meinem Stuhl sitzen konnte, fielen die Reaktionen von Marius und Michael entschieden verhaltener aus. Marius schob sich nur einen neuen Löffel voll Müsli in den Mund und brummelte: „Hm, ja hast recht.“
Michael biss grade herzhaft in seinen Apfel, als seine Augen starr an mir vorbei blickten. Unwillkürlich drehte auch ich mich um, vor Schrecken blieb mir der Mund offen stehen.
Der Mann, der sich suchend im Foyer umschaute und mit einem breiten Lächeln im Gesicht auf uns zueilte, war überraschend klein. Braun gebrannt, weiße makellose Zähne, blaue Augen, Haare, die früher wohl mal blond gewesen sein mögen, jetzt eher Richtung grau tendierten. Eine karierte Hose, gelbe Schuhe und ein gelbes Hemd. Der Inhaber der Agentur ANC sah aus wie ein Paradiesvogel und nicht wie ein gestandener Geschäftsmann.
„Lasst euch nicht von Äußerlichkeiten täuschen“, flüsterte Michael uns gerade noch zu, da stand der „Paradiesvogel“ bereits an unserem Tisch.
„Herr Selters, Frau Selters, junger Mann … ich freue mich, Sie in Kanada begrüßen zu dürfen. Ich hoffe Sie hatten einen angenehmen Flug und sind ausgeruht.“ Mit diesen Worten gab er jedem die Hand. Positiv registrierte ich: Der Händedruck war fest. Meine Oma meinte immer, den Charakter eines Menschen erkenne man am Händedruck. So klein der Mann auch war, sein Selbstbewusstsein war dafür umso größer.
Mit einem theatralischen Seufzer ließ er sich in die tiefen Sitzpolster fallen. Seine kurzen Beine schlenkerten dabei, wie bei einem kleinen Jungen, hin und her. Gönnerhaft blickte er in die Runde, seine Augen musterten Michael, dann Marius und zum Schluss verweilten seine Augen mit einem langen, tiefen, erotisch wirkenden Blick auf mir.
Mühsam verkniff ich mir ein Grinsen. Die Situation war viel zu ernst und es stand viel zu viel Geld auf dem Spiel. Da ich ahnte, dass es Marius mit Sicherheit ähnlich wie mir ging, dufte ich ihn auf keinen Fall ansehen. Das Lachkonzert wäre vorprogrammiert. Daher suchte ich mir einen imaginären Punkt, den ich einen Moment lang konzentriert anstarrte. Zum Glück war der Moment schnell vorüber, denn Herr Franke begann:
„Mein Team und ich haben Großes mit Ihnen vor. Für heute rechnen Sie mit einem umfangreichen Programm. Zuerst beginnen wir mit einer Stadtrundfahrt, dann folgen einige Wohnungsbesichtigungen und heute Abend stelle ich Ihnen andere Auswanderer vor.“
„Uff, ja das ist ein straffes Programm“, fiel Michael ins Wort.
„Wie sieht es mit Jobs aus? Können Sie uns da bereits etwas anbieten?“
„Bei meinen unzähligen Kontakten haben Sie sofort, wenn Sie wollen, einen Job. Sie sollten jedoch erst einmal das Leben genießen. Setzen Sie sich nicht unter Druck. Lernen Sie die Umgebung kennen. Knüpfen Sie Kontakte.“
Widerspruch regte sich in mir: „Für die ersten Tage mag das alles so in Ordnung sein. Jedoch möchte ich mich hier integrieren und suche daher lieber Kontakte zu Kanadiern.“
Herr Franke beugte sich wie der große Onkel von nebenan vor. Er kam mir immer näher. Ich befürchtete fast, dass er aus seinem Stuhl fiel. Fehlte nur noch, dass seine Hand über meinen Kopf strich. Ein unangenehmes Kribbeln breitete sich, ausgehend von meinem Nacken, in mir aus. Mein Körper hatte beschlossen, diesen Mann nicht zu mögen. Da sagte er bereits:
„Natürlich. Aber immer mit der Ruhe. Nichts überstürzen. Lernen Sie Kanada kennen. Das andere kommt alles ganz von allein.“
Ich war mir ganz sicher: „Wir gehen den richtigen Weg!“
Viele Tage und Nächte verbrachten mein Mann Michael und ich mit Diskutieren und Grübeln. In Deutschland gab es einfach keine Perspektive. Weder für uns noch für so viele andere arbeitslose Menschen. Michael war bereits seit Jahren als Architekt arbeitslos. Mehrere kleinere Jobs mussten in den letzten Jahren als Notlösung herhalten. Als Kraftfahrer, als Pizzabote, auch mal kurz ein Job in einem Architekturbüro.
Da hofften wir so sehr, dass es wieder aufwärtsging. Leider zahlte der Chef keinen Lohn und drei Monate später war dieser Job bereits Geschichte. Dann wurde in Deutschland das Arbeitslosengeld II eingeführt, von allen nur Hartz IV genannt. Ab sofort bildeten wir eine „Bedarfsgemeinschaft“. Damit fing unser Dilemma so richtig an. Als Filialleiterin eines Supermarktes verdiente ich nicht schlecht. Michael bekam auf einmal keinerlei Zuschüsse mehr. Für drei Personen aber war mein Lohn einfach zu wenig. Immer öfter war unsere Kasse schon vor dem Monatsende leer. An Arbeit dagegen mangelte es nicht. Morgens um sechs Uhr verließ ich das Haus, um abends gegen zweiundzwanzig Uhr total geschafft zurück zu kehren. Offiziell standen mir pro Woche zwei freie Tage zu. Aber bei einem Personalbestand von zwei Kassiererinnen, die jeweils nur zwanzig Stunden die Woche arbeiten durften, war das kaum einhaltbar. Die wirtschaftliche und politische Entwicklung Deutschlands war eines der heiß diskutiertesten Themen in unserem Freundeskreis. Derjenige, der einen Job hatte, schuftete fast bis zum Umfallen. Musste oft die Arbeit für zwei oder drei erledigen. Meckern gab es nicht, denn es standen genug Arbeitslose auf der Straße. Es war ja nicht so, dass keine Jobs angeboten wurden. Die Zeitungen standen voll davon. Die Stellenanzeigen lasen sich ganz toll – bis zum Absatz:
„Wenn Sie sich von unserer Anzeige angesprochen fühlen und nicht älter als 35 Jahre sind, dann zögern Sie nicht, sich bei uns zu bewerben.“ Ein Hohn. Witze von der 25 jährigen vollbusigen Blondine mit Hochschulabschluss und dreißig Jahren Berufserfahrung machten die Runde. Projekte sollte man vorweisen können, Auslandserfahrung gesammelt haben. Michael, bereits über 40, konnte keine Auslandserfahrung vorweisen.
Doch ich mochte meinen Job, auch wenn er knochenhart war und alles von mir verlangte. Jeden Morgen spätestens Viertel vor sieben musste ich in der Filiale sein. Oft wartete bereits der erste Lieferwagen. Palette um Palette schob der Fahrer ins Lager. Allerspätestens bis zum nächsten Abend mussten alle abgepackt sein. Das Gemüse kam gleich nach vorne in den Laden und musste bis zur Geschäftseröffnung um neun Uhr abgepackt sein. Danach fuhr das rote Bäckereifahrzeug vor. Einmal pro Woche kam Tiefkühlware. Ohne Unterbrechung der Kühlkette sollte diese so schnell wie möglich in die Truhen geräumt werden. Dazu kam die morgendliche Mindesthaltbarkeitskontrolle. Waren umbauen, Brötchen backen, Gemüse einräumen. Alles und am besten gleichzeitig in nicht mal zwei Stunden. Viel zu wenig für einen allein. Kassen einräumen, schnell ein Schluck Kaffee, Brötchen aus dem Ofen holen, Türen aufschließen, neue Brötchen in Ofen schieben, zur Kasse rennen und erste Kunden abkassieren. So ging das den ganzen Tag. Rennen, rennen und noch mal rennen. Hin und wieder läutete das Telefon. Eine Nachbarfiliale oder die Buchhaltung hatten Nachfragen. Dann meckerten die Kunden rum, sie fänden es nicht toll, dass die Frau auch noch während der Arbeitszeit telefonieren würde. Einmal pro Woche, wenn die Tiefkühlware kam, genehmigte ich mir schon am Morgen eine Kassiererin. Das war schon eine erhebliche Erleichterung, konnten wir doch zusammen abpacken und kassieren und auch hier und da mal ein persönliches Wort wechseln. Den Rest der Woche kam die Kassiererin erst am Nachmittag.
So lange war ich in dem riesigen Laden allein. Wen wunderte es, dass immer öfter ältere Menschen neben der Ware, die sie brav im Wagen an die Kasse zum Bezahlen schoben, genug unbezahlte Waren im Einkaufsbeutel heraustrugen. Nicht Kinder und Jugendliche waren die Diebe. Nein. Es gab in Deutschland einfach zu viele ältere Menschen, bei denen die magere Rente nicht mehr bis zum Monatsende reichte. Und das, obwohl ein arbeitsreiches Leben hinter ihnen lag. Die Zentrale zahlte pro aufgedeckten Diebstahl fünfundzwanzig Euro Kopfgeld. Mir wäre es lieber gewesen, dieses Geld wäre in mehr Personal investiert worden. Wie oft saß in meinem winzigen Büro eine alte Oma, weinend und am Boden zerstört und flehte mich an nicht die Polizei zu benachrichtigen. Mehr Personal und es gäbe weniger Diebstähle. Aber Personal kostete Geld. Die Inventurvorgaben zwangen mich, trotz persönlicher Abneigung, streng gegen jeden noch so kleinen Diebstahl vorzugehen. Doch nichts half. Von Mal zu Mal fielen meine Inventuren schlechter aus. Eine Abmahnung hatte ich bereits erhalten. Was sollte ich dagegen tun? Mein Sohn Marius, zu dem Zeitpunkt zwölf, kam regelmäßig nach der Schule in den Laden. Sonst sahen wir uns ja kaum noch. Er erledigte seine Schularbeiten im Personalraum und ging mit offenen Augen durch den Laden und versuchte wie ein kleiner Detektiv potenzielle Diebe ausfindig zu machen. Er fasste überall mit an, räumte hier was ein, dort was weg. Eines Tages sah dies die Bezirksleiterin – oh weh, was gab das für ein Donnerwetter, wie könne ich, Jenny Selters, Kinderarbeit in der Filiale dulden.
Mir war nicht klar, wie ich mit so wenig Personal den Spagat zwischen Diebstahl und erfolgreicher Ladenbewirtschaftung meistern sollte. Die folgende Inventur fiel noch schlechter aus. Da sprach die Bezirksleiterin leise die Empfehlung aus, dass ich vom Zentrallager angelieferte Ware als Fehlmenge deklarieren sollte. Das war der Punkt, an dem ich am liebsten alles hingeschmissen hätte.
„Das kann es doch nicht gewesen sein? Arbeite ich, um zu leben oder lebe ich, um zu arbeiten?“ Stundenlange Diskussionen folgten. Welche Alternativen hätten wir? Und irgendwann schien die einzig logische Lösung:
«WIR WANDERN AUS!!!»
Nur wohin wusste da noch keiner.
Australien hörte sich toll an. Nein, die suchten keine Architekten. Norwegen und Schweden, die stellten momentan deutsche Handwerker ein. Ja Handwerker. Michael war aber Architekt. Irgendwie, niemand wusste eigentlich mehr, von wem die Idee kam, setzte sich der Gedanke „Kanada“ fest.
Wir beschlossen, der Umzug soll innerhalb eines Jahres realisiert sein. Große finanzielle Reserven? Wo sollten die bitteschön herkommen? Wir wollten alles verkaufen und zu Geld machen, was irgend möglich war.
Das Land stand nun schon mal fest. Einen Zeitplan, zumindest einen groben, hatten wir jetzt auch. Aber Kanada war groß. Wohin genau wir in Kanada wollten, das wussten wir noch immer nicht. Andauernd sprach Michael beim Arbeitsamt vor. Stundenlang saß er im Warteraum und studierte Stellenanzeigen. Die internationale Stellenvermittlung trägt zwar diesen groß tönenden Namen, aber helfen konnten sie nicht. Zumindest hielt er nach einem dieser Besuchstage einige Adressen von möglichen Anlaufstellen in den Händen. Arbeitslose haben schließlich viel Zeit. Denkt man. Michael versuchte, die ihm zur Verfügung stehende Zeit mit allen möglichen Recherchen im Internet zu nutzen. Einen Besuch vorab in Kanada, das konnten wir uns nicht leisten. Genau das sollte sich aber später noch als fatale Fehlentscheidung herausstellen.
Das Internet entwickelte sich für Michael zum wichtigsten Medium schlechthin. Mehrmals sprach er in der kanadischen Botschaft vor, ehe er die Antragsformulare mitbringen konnte.
Mit diesen Papieren vor Augen waren wir uns nicht sicher, ob unsere Entscheidung für Kanada die richtige war. Denn obwohl insgesamt die Einreisebestimmungen gelockert wurden, Architekten fanden auch in Kanada sehr schwer eine Anstellung. Für mich als ausgebildete Einzelhandelskauffrau mit Leitungserfahrung standen die Chancen auf einen Job nicht schlecht. Zweimal mussten wir in die kanadische Botschaft zur Einwanderungsbehörde. Dort wurden unsere Motive auf Herz und Nieren überprüft, und wir mussten uns einem teilweise doch recht peinlichen Interview unterziehen. Vor allem für mich war das Interview unangenehm, denn natürlich fand es in Englisch statt. Obwohl wir zuhause wochenlang übten und ich mich gut vorbereitet hatte, war mein Englisch einfach noch nicht gut genug. Aber es schien gereicht zu haben, denn wir durften beim zweiten Termin die sorgfältig ausgefüllten Einwanderungsanträge abgeben. Nun hieß es warten. Warten. Oh, wie ich das hasste.
Abends, wenn ich dann müde und total erschöpft nach Hause kam, servierte mir mein Mann neben dem Abendessen seine neuesten Entdeckungen aus dem Netz. Den ganzen Tag über freute ich mich auf diese Stunden und fieberte dem Feierabend entgegen. Mittlerweile dachten wir beide, Kanada nun schon so gut zu kennen wie unsere Heimatstadt Berlin. An einem dieser Abende begrüßte mein Mann mich besonders euphorisch. Er hatte eine deutsche Agentur gefunden, die Auswanderern bei der Integration in Vancouver unter die Arme greift.
Einige Tage nach der ersten Kontaktaufnahme mit der Agentur „Auswandern nach Canada“ – kurz „ANC“ genannt, hielten wir bereits eine bunte Broschüre in den Händen. Die Agentur sei neuen Mitbewohnern bei den notwendigen behördlichen Wegen eine Hilfe. Man zahlte eine Gebühr und von der Agentur würden entsprechend der Qualifikation Jobs besorgt, eine Wohnung zur Verfügung gestellt, die Schulanmeldung für vorhandene Kinder vorgenommen und, und, und …
„Genau das ist es, was wir brauchen“ - waren damals Michaels Worte. „Im fremden Land nicht allein stehen, Landsleute an der Seite haben, die uns helfen, ja das machen wir.“
Die Logik erschien mir klar, dennoch machte ich leise den Einwurf:
„Ja, können wir uns das denn leisten?“
„Nein, können wir nicht“, lautete Michaels nüchterne Antwort. Die kanadische Regierung wollte sich keine Sozialfälle ins Land holen. Aus diesem Grund musste jeder Immigrant über einen finanziellen Grundstock für mindestens zwei Jahre verfügen.
Empfohlen wurden einhunderttausend Kanadische Dollar. Immer und immer wieder rechneten wir und schoben die Geldmittel hin und her. Von der Versicherung kamen um die sechsunddreißigtausend Euro. Das Auto würde vielleicht fünftausend einbringen. Die Wohnungseinrichtung vielleicht noch mal so viel. Das wären dann gerade mal knapp fünfzigtausend. Umgerechnet vielleicht knapp siebzigtausend Kanadische Dollar. Würde das reichen? Wir besäßen etwas mehr als die Hälfte der empfohlenen Summe.
„Irgendwie schaffen wir das schon, wenn wir sparsam wirtschaften.“
Irgendwie, aber wie genau, keine Ahnung.
Das Flugzeug war nun bereits seit drei Stunden in der Luft. Michael und Marius schliefen neben mir den Schlaf der Gerechten. Ich sollte ebenfalls schlafen. Aber irgendwie wollte der Schlaf nicht kommen. Zu aufregend waren die letzten Wochen und Tage. Die Sorgen, ob auch alles so klappt, verursachten zusätzlichen Druck.
Das Jahr war vorbei, und von den kanadischen Behörden fehlte noch immer das OK. Einer unserer Freunde empfahl, mit einem Touristenvisum einzureisen und sich dann vor Ort umzusehen und direkt in Kanada die notwendigen Genehmigungen einzuholen. Nein, das wollten wir auf keinen Fall. Das wäre kein so richtiges Auswandern gewesen. Als Tourist in Kanada – nein, danke.
Etwas später, an einem meiner wenigen freien Tage, lag eine Zustellinformation im Briefkasten. Bis zum Nachmittag mussten wir warten, dann konnte Michael den Brief endlich vom Postamt abholen.
Er musste gedüst sein wie die Eisenbahn, denn innerhalb von wenigen Minuten war er bereits wieder zurück. Mit einem nervösen Lächeln stand er in der Tür. Was würde der Brief uns bringen? Öffnete sich die Tür für ein neues und hoffentlich besseres Leben in Kanada oder blieb diese Tür verschlossen?
Jede Einzelheit dieser Minuten stand vor meinem Auge, als wäre sie von einer Filmkamera aufgezeichnet:
Mit zittrigen Händen koche ich einen starken, heißen Kaffee. Ich sehe noch ganz genau Michael vor mir, wie er das braune Kuvert wie einen wertvollen Schatz vorsichtig auf den blank polierten Küchentisch legt. Unbewusst fürchten wir uns davor, den Brief zu öffnen. Starren ihn an. Nehmen ihn in die Hand. Legen ihn wieder hin. In diesen angespannten Minuten findet Michael Worte, die sich in mein Gehirn einbrennen sollen:
„Egal, was in diesem Brief steht, mein Schatz. Wir beide haben uns und wir haben einen wundervollen Sohn. Wir wissen nicht, was die Zeit uns bringt, aber wenn wir auch in Zukunft zusammenhalten, kann uns nichts Schlimmes passieren. Und wenn die uns in Kanada nicht haben wollen, dann versuchen wir es eben woanders. So lange, bis wir ein Land finden, das einen 44 jährigen Architekten, eine 40 jährige Verkäuferin und deren 13 jährigen Sohn nimmt.“
Ach, wie liebte ich meinen Mann. Aber dann nahm er entschlossen den Brief in die Hand und riss das Kuvert auf. Nur ein Blatt Papier kam zum Vorschein. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Nur kurz überflog er das Geschriebene und legte das einzelne Blatt Papier bedächtig auf den Tisch. Ich wollte vor Ungeduld fast platzen, da ich nicht lesen konnte, was auf dem Papier stand. Michael saß vor mir am Küchentisch mit starren Augen, die durch mich hindurchzublicken schienen. Täuschte ich mich, oder kullerte da tatsächlich eine Träne die Wange herunter?
Das sah eindeutig nicht gut aus. „Sag schon, was steht denn nun in diesem verdammten Brief?“
Keine Reaktion. Meine schlimmsten Befürchtungen schienen in diesem Moment wahr zu werden.
„Lies selbst.“
Neugier und Enttäuschung kämpften in meinem Inneren um die Vorherrschaft. Zum einen wollte ich mich mit eigenen Augen überzeugen, zum anderen fürchtete ich mich, unsere Niederlage schriftlich festgehalten, für immer auf das Papier gebannt, zu sehen. Die allen weiblichen Wesen angeborene Neugier gewann den Zwiespalt und zögernd drehte ich das Blatt Papier zu mir herum. Unter dem amtlichen Siegel der kanadischen Regierung stand in fetten Buchstaben:
„Sehr geehrter Herr Michael Selters, sehr geehrte Frau Jennifer Selters, leider haben Sie nicht die Höchstpunktzahl für eine Immigration erreicht. Jedoch reicht der erreichte Punktestand aus, um Ihnen eine Immigration nach Canada zu genehmigen. Herzlichen Glückwunsch. Zur Übergabe Ihrer Papiere laden wir sie recht herzlich …“
Der Rest verschwamm vor meinen Augen. Mir schossen vor Freude die Tränen in die Augen. Jubelnd sprang ich auf.
„Hurra, wir haben’s doch geschafft. Wir bekommen die Papiere! Juhu!“
Schreiend, weinend, jauchzend lag ich meinem Mann in den Armen, der nun endlich auch lachen konnte.
„Marius, Marius, hast du gehört, wir haben eben von der kanadischen Botschaft Bescheid bekommen. Wir bekommen die Einreisepapiere.“
„Hmmm, ja“
„Freust du dich denn nicht?“
„Ich weiß nicht so recht. Weißt du Mom, du freust dich und Paps freut sich. Aber ich, ich weiß nicht.
Du weißt, dass mein Englisch nicht so gut ist. Und dann neue Freunde. Finde ich da überhaupt neue Freunde? Wie wird das mit der Schule werden? Wenn ich ehrlich bin, ich habe Angst.“
„Ach komm. Das mit dem Englisch ist bei mir doch auch nicht viel besser. Aber ich denke, wenn wir tagtäglich englisch sprechen müssen, haben wir das ganz schnell drauf. Und meinst du, ich habe keine Angst? Mehr als du glaubst.“
„Echt?“, fragte Marius da mit großen Augen,
„Ich habe immer gedacht, ihr freut euch, und es fällt euch leicht hier alle Zelte abzubrechen.“
„Ja wir freuen uns doch auch. Jetzt, nachdem wir die nötigen Papiere bekommen, freue ich mich noch mehr. Aber ich habe ebenfalls Angst vor dem Unbekannten, vor dem Neuen, davor, dass wir scheitern. Ich trenne mich nicht gern von meinen Freunden. Und schau mal Oma und Opa Selters bleiben genauso hier wie Oma Müller. Gerade wegen meiner Mutter fällt es mir schwer. Aber andererseits weiß ich, dass es der einzige vernünftige Schritt für uns ist. Wir müssen alte Dinge loslassen. Noch sind wir nicht zu alt für diesen Schritt. In fünf oder zehn Jahren, ich weiß nicht, ob uns die kanadische Regierung da noch rein lassen würde. Ob wir überhaupt noch in der Lage für solch eine Aktion wären. Nein, jetzt ist der richtige Zeitpunkt Deutschland den Rücken zu kehren. Schau wir sind ja nicht die Einzigen, die auswandern. Und nicht umsonst haben all diese Menschen den gleichen Gedanken wie wir.“
„Ja Mom, du hast recht. Vom Verstand weiß ich das alles auch. Mein Herz sagt mir aber was ganz anderes. Wenn ich schon älter wäre, würde ich hier bei Oma und Opa bleiben. Mir gefällt es in Deutschland und ich weiß jetzt schon, dass ich meine Freunde furchtbar vermissen werde.“
„Deutschland als Land gefällt mir auch. Es gibt mit Sicherheit viele liebe Menschen hier. Aber hast du dir mal überlegt, welche Perspektiven wir haben? Welche Perspektiven du hast?“
„Oh Mann“, stöhnte Marius, „fang nicht wieder davon an. Ich weiß das doch alles. Trotzdem …“
Wortwechsel wie diese gab es zwischen Marius und mir dann noch mehrere. Die Beweggründe meines Sohnes waren nicht schwer zu verstehen. Liebe Freunde oder Verwandte zurück zu lassen, fiel niemandem leicht. Dennoch, der Punkt war erreicht, ab dem es kein Zurück mehr gab.
So wie bisher konnte, und wollte ich einfach nicht weiter leben. Ich wollte meinem Sohn eine bessere Zukunft bieten. Vor allem eine sichere. Die Angst, dass er sich eines Tages desillusioniert in das Heer der Arbeitslosen einreihen und den Rest seines Lebens von staatlicher Stütze leben müsste, nein, diese Angst wollte ich einfach nicht mehr haben. Welche Möglichkeiten hätten wir, bereits im Vorfeld etwas dagegen zu tun? Eine gute Ausbildung war in diesem Land noch lange kein Garant für einen Arbeitsplatz. In anderen Ländern, zum Beispiel auch in Kanada, werden deutsche Tugenden wie Ehrlichkeit, Fleiß, Pünktlichkeit sehr geschätzt. Darauf wollte ich aufbauen. Und sie Marius einbläuen. Immer und immer wieder.
Das gleichmäßige Brummen der Triebwerke verfehlte seine Wirkung nicht. Immer häufiger fielen mir die Augen zu. Dennoch, an Schlaf war immer noch nicht zu denken.
Vor allem die letzten Tage zehrten zunehmend an unseren Nerven. In der Wohnung breitete sich Leere aus. Leere und Ungemütlichkeit. Alles, was irgendwie von Wert war, stand mit kleinen Preiszettelchen versehen zum Verkauf bereit. Nur die Dinge, auf die wir auf keinen Fall verzichten wollten, harrten im Schlafzimmer, der Tabu-Zone, auf den großen Frachtcontainer, der mit uns die Reise nach Kanada antreten sollte. Michael erwies sich in diesen Wochen als unermüdlicher Organisator und legte ein Sonnengemüt an den Tag. So manches Mal wollte mir der Geduldskragen wegen der Kleinkariertheit der Menschen platzen. Aber was hätte es gebracht? Wahrscheinlich nicht viel. Besonders schlimm für mich war, dass im Supermarkt solche Typen ein- und ausgingen. Da gab es im Frühjahr zum Beispiel einen Häcksler in der Werbung. Mit Sicherheit brachte dieser Typ Mensch den Häcksler im Herbst wieder zurück und reklamierte, dass er nicht gut genug sei. Nicht mal die Äste aus dem Mahlwerk hatte der Kunde entfernt. Ich konnte mir hundert Prozent sicher sein, dass im kommenden Frühjahr derselbe Kunde denselben Häcksler wieder kaufen würde. Oder die alte Dame, die einmal die Woche frische Milch kaufte. Wenn dann die Milch zu dreiviertel leer war, stellte sie diese regelmäßig in die Sonne. Mit der dann sauer vergorenen Milch erschien sie im Laden und reklamierte. Nachdem das so einige Wochen ging, stellte ich die Kundin zur Rede. Die Dame erklärte mir, dass sie den Tipp von ihren Kindern hätte. Oder die andere Kundin, die immer Waren versteckte. Käse hinter Wurst, frische Leberwurst hinter Konserven. Wenn dann das Haltbarkeitsdatum fast abgelaufen war, kramte sie die Waren aus ihren Verstecken heraus, kam damit zur Kasse und schlug eine Preisreduzierung heraus. Oh, wie sehr hatte ich all diese Menschen satt. Und genau beim Ausverkauf meines Haushaltes musste ich auf diesen Menschenschlag treffen.
„Ist denen denn nicht bewusst, wie wertvoll diese Dinge sind?“, fragte ich damals meine Mutter, als ich in ohnmächtiger Trauer der Verramschung unseres Hausrates zusah.
„Für dich sind diese Dinge wertvoll, für diese Leute nicht.“
„Ja und warum wollen sie die Sachen dann kaufen?“
„Weil sie neugierig sind, weil es billig ist.“
„Genau das ist es. Diese Menschen sind billig. Einfach nur billig.“
„Ja und das wird noch mal Deutschlands Untergang sein. Geiz ist geil. Das neue Schlagwort. Damit wird aber die Wirtschaft kaputt gemacht.“
„Darum hauen wir ja auch ab.“
Die letzte Woche hielten wir es in unserer kahlen Wohnung nicht mehr aus und zogen zu den Schwiegereltern. Lieber wäre ich zu meiner Mutter gezogen, aber deren Wohnung wäre einfach zu klein. Das Verhältnis zu meinen Schwiegereltern war immer etwas schwierig, vor allem zu meinem Schwiegervater. Schließlich war ich keine standesgemäße Partnerin für seinen Sohn. Als wenn so etwas heute noch eine Rolle spielen würde. Jedenfalls verlief diese Woche überraschend harmonisch. Am letzten Abend erfolgte der Knaller schlechthin. Nachdem die Gäste unserer Abschiedsparty gegangen waren, Schwiegermutter und ich Berge von Geschirr in die Spülmaschine geräumt hatten und das Wohnzimmer wieder einigermaßen auf Vordermann gebracht war, rief uns Schwiegervater zu sich. Sonst kein Mensch von Emotionen spürten wir, dass etwas in der Luft lag. Nervös nestelten seine Finger an den Ecken eines Briefumschlages.
„Hier, mein Junge. Wir möchten euch etwas Geld mit auf eure Reise geben. Wir geben es euch gern und vor allem, ihr bekommt es aus unserer warmen Hand. Benutzt es weise, Mutter und ich, wir haben viele Jahre gespart. Unser Trost und unsere Freude sind, dass wir vielleicht noch sehen, was ihr mit dem Geld angefangen habt.“
In dem Umschlag befand sich ein Scheck.
Ausgestellt auf dreißigtausend Euro, dreißigtausend!!
So viel Geld. Vor Schreck blieb sogar Michael der Mund offen.
„Wie habt ihr das denn fertiggebracht?“
Verlegen antwortete der Vater:
„Na ja, wir haben eben gespart. Einen Teil haben wir uns fürs Alter angespart. Den anderen Teil erst für dich, dann später für euch. Wir dachten und hofften wohl auch immer, dass ihr euch mal ein Häuschen baut. Dann hätten wir euch das Geld für den Bau gegeben. So geben wir es euch für euren Neustart in Kanada.“
Verlegen stammelte Michael: „Danke Mutter, danke Vater.“