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Nr. 1291

 

Die Verblendeten

 

Sie atmen ESTARTU – drei Shana auf dem Weg der Vollendung

 

von H. G. Ewers

 

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Zehntausende von Vironauten werden seit Wochen und Monaten in den Weiten der Mächtigkeitsballung Estartu mit Ereignissen konfrontiert, die ihrer ganzen Einstellung zuwiderlaufen. Diese Ereignisse machen ihnen aber auch klar, dass nichts in den zwölf Galaxien so ist, wie es ihnen vorher verkündet worden ist.

Gleichzeitig verändert sich die Lage in der Lokalen Gruppe der Galaxien weiter. In Fornax kommt es zur Begegnung mit Nocturnenstöcken, die Hanse-Karawane kann Paratau laden, und Anson Argyris, der Robotkaiser von Olymp, sucht die Auseinandersetzung mit Stalker, dem nach wie vor mysteriösen Boten der Superintelligenz ESTARTU. Das wiederum hat weitreichende Folgen.

Denn spätestens nach dem Duell »Stalker gegen Stalker« muss der Sotho seine Pläne ändern – auch wenn noch niemand in der Lokalen Gruppe so genau weiß, was der Fremde eigentlich wirklich vorhat. Seine neuen Pläne betreffen drei seiner Schüler.

Deshalb geht es auch im zweiten Teil dieses PERRY RHODAN-Doppelbandes in erster Linie um jene drei Personen, die in der ersten von Stalker eingerichteten »Schule der Helden« auf Terra ihre Grundausbildung erhielten und sich als absolute Musterschüler entpuppten. Gemeint sind Julian Tifflor, der ehemalige Erste Terraner und langjährige Wegbegleiter Perry Rhodans seit den Stunden der Dritten Macht, Nia Selegris und Domo Sokrat, der Haluter aus dem Tiefenland.

Nach Stalkers Willen sollen die drei Galaktiker nun im Schnellverfahren ihre Upanishad-Ausbildung abschließen. Der Gesandte aus der Mächtigkeitsballung Estartu braucht sie dringend für seine weiteren Pläne – denn sie sind DIE VERBLENDETEN ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Julian Tifflor, Nia Selegris und Domo Sokrat – Drei Shana auf dem Weg zur »Vollendung«.

Ris Bhran und Yag Veda – Ausbilder der »Heldenschule« auf Terra.

Stalker – Der Sotho ist in Zeitnot.

Fitu – Ein mysteriöser Zwerg.

Anson Argyris – Robotkaiser von Olymp.

1.

STAR WARRIORS

 

Es kam völlig überraschend für meine Begleiter und mich.

Die beiden Panisha Ris Bhran und Yag Veda hatten uns zurückgerufen. Mit »uns« meine ich Nia Selegris, Domo Sokrat und mich selbst, Julian Tifflor.

Wir drei Shana hatten die paar Tage Urlaub, die uns von unseren Ausbildern zur psychischen Entspannung vor dem Eintritt in Talosh, den 5. Schritt auf dem Weg zu unserer Vollendung, gewährt worden waren, zu einer Bergwanderung über die Gletscherbrüche zwischen der Westschulter des Mount-Everest-Massivs und dem Nuptse benutzt. Es war eine Art Feuertaufe gewesen.

Selbstverständlich hatten wir unsere Shant-Kombinationen sowie hochwertige Gravojet-Aggregate getragen, aber Orkane und Eisbrüche hatten uns dennoch schwer zu schaffen gemacht. Unsere Zuversicht, nach der Hamosh-Probe bei den Kartanin dicht an unserem Ziel zu sein, Superkämpfer zu werden, hatte einen Knacks erlitten. Noch düsterer wurden meine Gedanken, als ich mich daran erinnerte, dass in beinahe schon grauer Vorzeit Terraner ohne einen Bruchteil unserer Ausrüstung und mit Seilen (man bedenke: mit besseren Paketschnüren!) als einzige Absicherung zum Gipfel des Mount Everest aufgestiegen waren.

Domo Sokrat hatte es als Haluter naturgemäß etwas leichter als wir, obwohl die ursprüngliche halutische Überlegenheit im Verlauf unserer bisherigen Ausbildungsschritte von Nia und mir fast ausgeglichen worden war. Immerhin vertrug er den eisigen Orkan mit einem müden Lächeln, während wir die Zähne zusammenbeißen mussten, und er arbeitete sich unter Bergen von Eisbrocken, die über ihm zusammengestürzt waren, ohne jede Hilfe wieder heraus.

Ich hatte dennoch versucht, ihm zu helfen – und selbstverständlich hatte Nia mich dabei unterstützt. Das hieß, sie hatte mich unterstützen wollen, war dann aber plötzlich verschwunden.

Damals hatte ich nicht bemerkt, dass sie von einer Schneelawine in die Tiefe gerissen worden war – und sie hatte mich nicht über Funk verständigt, weil sie sich mit Hilfe ihrer technischen Ausrüstung selbst zu befreien gedachte. Ich erfuhr das erst viel später.

Der Grund dafür war das Wesen, das urplötzlich vor mir aus wirbelnden Wolkenfetzen auftauchte.

Im ersten Augenblick hielt ich es für Domo, denn seine Gestalt entsprach der eines Haluters. Sie war mindestens 3,50 Meter groß, in den Schultern zirka 2,90 Meter breit und hatte den Kuppelkopf wie ein jeder Haluter. Zu spät fiel mir der Unterschied zu »unserem« Haluter auf, nämlich die tiefschwarze Haut, die ihn statt des silberfarbenen Shants umhüllte, wie auch Domo Sokrat ihn statt seiner roten Kombination trug.

Aber da hatte er mich schon mit seinen vier Armen gepackt – und ich bekam den anderen Unterschied im Vergleich zu Domo zu spüren. Aus Domos Griff hätte ich mich mit voller Konzentration und unter Anspannung aller meiner Willenskräfte sehr wahrscheinlich befreien können; gegen den Griff des schwarzen Giganten dagegen besaß ich nicht die geringste Chance. Außerdem kam er mir viel größer vor als Domo Sokrat.

»Wer bist du?«, schrie ich ihm ins Gesicht, als er mich hochhob, so dass ich sein raubtierähnliches Gebiss und seine drei rotglühenden Augen sah.

Die drei riesigen Sehorgane glühten stärker auf, dann ließen mich die beiden Handlungsarme des Giganten sekundenlang los, während die sogenannten Laufarme mich schier zerquetschten. Die prankenartigen Hände der Handlungsarme klatschten hart gegen die Seiten meines Shant-Helmes (jedenfalls kam es mir so vor, aber in einem Winkel meines Bewusstseins blieb mir klar, dass in dem Fall mein Schädel zerquetscht worden wäre, was aber nicht geschah). Als die Benommenheit von mir wich, wurde mir bewusst, dass der Haluter mit seinem Doppelschlag nur meine KOM-Einrichtung zerstört hatte, damit ich keine Hilfe herbeiholen konnte.

Außerdem bemerkte ich, dass er mit mir zwischen mehreren pyramidenartigen Gipfeln hindurchkurvte, die durch tiefe Kare ausgehöhlt waren, in denen Gletscher entsprangen. Als ich den Kopf drehte, bemerkte ich, dass die Gletscherbrüche zwischen Westschulter und Nuptse unter und hinter mir lagen – und weit hinten stieß der Gipfel des Everest-Massivs unwirklich weiß in den Sonnenglast des Himmels.

Der Haluter flog also nicht mit mir zur Tschomolungma, sondern von ihr weg.

Zum ersten Mal seit dem Überfall kam mir der Gedanke, dass es sich dabei nicht um eine von den Panisha inszenierte Prüfung, sondern um eine echte Entführung handelte.

Der Feind aus dem Dunkel!, durchfuhr es mich gleich einem elektrischen Stromschlag.

Seit dem 31. Dezember des Jahres 429, als der unbekannte Gegner, der sich unter dem Namen »Außerparlamentarische Wissenschafts-Lobby« verbarg, mit drei Robotern einen Überfall auf mich in meinem Hausboot im Dal-See bei Srinagar verübt hatte, waren keine neuen Anschläge mehr erfolgt – und ich hatte auch nichts darüber erfahren, ob diese Kräfte ihre verschleierten Ziele weiter verfolgten.

Die turbulenten Ereignisse in der Wirbelrad-Galaxis, wie M 33 mitunter genannt wurde, mit dem Kartanin-Konflikt und der Invasion der Giftatmer hatten mich diese Zwischenfälle auch ganz vergessen lassen, zumal sie unblutig verlaufen waren.

Doch der Feind aus dem Dunkel hatte offenkundig nicht geschlafen, sondern nur auf eine günstige Gelegenheit gewartet, wieder – und diesmal möglicherweise erfolgreicher – zuzuschlagen. Er schien zudem aus seinen vorherigen Fehlern gelernt zu haben, denn seine Taktik unterschied sich so von der früher angewandten wie die Jagdpraktiken einer Spinne von denen eines Jagdfalken.

Lelila Lokoshan fiel mir wieder ein.

Die ersten Schläge des Feindes aus dem Dunkel waren untrennbar mit dem unverhofften Auftauchen der Kamashitin verknüpft gewesen, die angegeben hatte, auf der Suche nach ihrem Vater-Schwester-Sohn Tovari Lokoshan und dem alten Erbgott der Lokoshans, Lullog, zu sein. Damals hatten die Aktivitäten der Außerparlamentarischen Wissenschafts-Lobby eigentlich erst angefangen. Deshalb hatte ich angenommen, dass der Lokoshan-Clan in die mysteriöse Affäre verwickelt sei.

Jetzt aber erschien mir das plötzlich unwahrscheinlich.

Lelila Lokoshan war in M 33 geblieben, nachdem sie mit uns die Hamosh-Prüfung bestanden hatte und von Stalker zur Shada-Shan ernannt worden war, was soviel wie eine Shan ehrenhalber bedeutete. Folglich konnte der heutige Anschlag des Feindes aus dem Dunkel nichts mit ihr zu tun haben, zumindest nicht direkt.

Aber was bezweckten die unbekannten Gegner dann?

Es wurde schlagartig finster.

Im ersten Moment dachte ich, der Haluter hätte mich in eine Höhle bugsiert, doch dann sah ich, dass der Himmel über dem Everest-Massiv sich schlagartig verdunkelt hatte. Von den Gipfeln war überhaupt nichts mehr zu sehen.

Ein Blick nach unten zeigte mir, dass mein Überwinder mit mir dicht über den Büßerschnee raste, jene dichten und hohen Eisnadeln, die den unteren Teil der Zunge des Khumbugletschers bedeckten, Produkte eines ausgefallenen Schmelzprozesses unter den Bedingungen der trockenen Luft dieses Gebiets und der extrem intensiven Sonneneinstrahlung in dieser Höhe.

Gleich darauf befanden wir uns direkt über dem hellen Band des Khumbugletschers – und dann wurde es stockfinster.

Als ich diesmal nach oben blickte, entdeckte ich allerdings keinen durch Wolken verdunkelten Himmel mehr, sondern erahnte mehr, als ich es sah, die Decke einer Höhle – und mir fiel ein, dass es im Mount-Everest-Massiv Tausende von Höhlen geben sollte, von denen nur wenige erforscht und noch weniger kartographiert worden waren.

Ein wahrhaft »sicheres« Versteck hatte sich mein Kidnapper für sich und mich ausgesucht ...

 

*

 

Doch es kam noch schlimmer.

Der Haluter kurvte mit mir durch ein wahres Labyrinth von Eishöhlen, so dass meine Hoffnungen, die Freunde sowie die Panisha der Tschomolungma würden uns aufspüren, rapide sanken.

Darum setzte ich alles auf eine Karte, als wir hautnah über eine Eisbrücke hinwegflogen, unter der sich ein düsterer Abgrund verbarg. Ich sah das alles nicht einmal richtig, sondern spürte es mit Hilfe meines Shants.

Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung machte ich mich so schwer, dass meine Beine hart gegen die Eisbrücke prallten. Sie hielt dem Anprall nicht stand, sondern barst. Aber sie bremste den Flug meines Entführers doch so weit ab, dass er sich überschlug und in den Abgrund stürzte.

Sofort beschleunigte ich mit aller Energie mein Gravojet-Aggregat, denn das war funktionsfähig geblieben, nur hatte ich die Schaltungen bisher nicht erreichen können. Raketengleich schoss ich nach oben.

Nicht für lange.

Etwas packte meine Beine mit unwiderstehlichem Griff. Sie schienen mir aus dem Rumpf gerissen zu werden.

Ich hieb auf den Notschalter, um die Sicherheitsschaltung des Gravojet-Aggregats, die eine Überlastung verhindern sollte, zu überbrücken.

Ganz bewusst riskierte ich dadurch, irgendwo über mir an einer Eis- oder Felsdecke zerschmettert zu werden. Doch mein Unterbewusstsein wusste, dass das nicht geschehen würde.

Und es behielt recht.

Etwas knallte gleich einem Dampfhammer gegen den Rückentornister meines Flugaggregats und ließ von ihm nicht mehr übrig als ein paar Fragmente von Spulen, Metallplastikverkleidungen, Generatoren, Injektoren und Projektoren.

Etwas Schweres, Schwarzes wälzte sich von hinten über mich und fing den Aufprall an der Höhlendecke ab. Zusätzlich zu den Metallplastiksplittern surrten Felssplitter um meinen Schädel. Danach ging es erneut abwärts, durch eine enge Schlucht hindurch – und auf die zugefrorene Fläche eines Sees, die von den Felswänden ringsum von starken Scheinwerfern erhellt wurden.

Ich ging in die Knie, als der brutale Zugriff meines Entführers schlagartig aufhörte.

Aber ich hätte kein Shan sein dürfen, hätte ich meinen Kampfeswillen nicht ungebrochen erhalten. Sofort schaltete ich die Notlampe im Gürtel meines Shants ein, wirbelte herum und sprang in weiten Sätzen dorthin zurück, woher ich gerade erst gekommen war – zu der engen Schlucht, die aus der Höhle mit dem See hinausführte.

Ich stieß meinen Kampfschrei aus, als ich die Schlucht durch die massige Gestalt des schwarzen Haluters versperrt sah. Meine Arme wirbelten gleich Dreschflegeln durch die Luft, und meine Absätze knallten mit der Wucht von prähistorischen Kanonenkugeln gegen den Kuppelkopf meines Gegners.

Es ließ ihn völlig kalt.

Ich wurde gepackt und gleich einem Sack voller Abfall auf die Eisfläche zurückgeschleudert.

Im nächsten Moment klang eine Stimme auf.

»Wehre dich nicht länger, Julian Tifflor!«, rief sie laut und deutlich und in unverfälschtem Interkosmo. »Du bist nicht bei Feinden, sondern bei Freunden!«

Beinahe hätte ich trotz meiner unerfreulichen Situation laut gelacht. So aber rappelte ich mich nur auf, hielt die rechte Hand schützend über meine geblendeten Augen und rief zurück:

»Freunde pflegen sich mir offen zu nähern. Bisher haben sie mich noch nie entführen lassen, um mir ihre Freundschaft zu bekunden.«

»Früher warst du auch noch ein Mensch, dessen Reaktionen berechenbar und vor allem menschlich waren«, erwiderte die Stimme – und ich glaubte, eine gewisse Bitterkeit aus ihr herauszuhören. »Heute bist du eine fanatisierte Kampfmaschine. Ich will dir trotzdem offen gegenübertreten, wenn du mir dein Wort gibst, dass du nichts gegen mich unternimmst, sondern mich bis zu Ende anhörst.«

»Wenn ich dir mein Wort gebe ...?«, fragte ich verwundert.

Irgendwie erschütterte es mich, dass jemand, der mich mit brutaler Gewalt hatte entführen lassen und der mich fürchtete und mich völlig falsch einschätzte, bereit war, meinem Wort zu trauen.

»Das Wort Julian Tifflors genügt mir jederzeit«, antwortete die Stimme.

Ich holte tief Luft, dann antwortete ich:

»Du hast mein Wort darauf. Zeige dich!«

Zwei Scheinwerfer drehten sich. Ihre Lichtkegel richteten sich auf ein winziges Plateau, das in zirka fünf Metern Höhe über der Eisdecke des zugefrorenen Sees hing.

Es dauerte einige Sekunden, bis ich begriff, dass das winzige Etwas, das dort oben auf dem Plateau stand, keine Nippesfigur war, sondern ein waschechter Siganese.

Es verschlug mir beinahe den Atem.

Gerade die Siganesen waren seit der Gründung ihrer Kolonie immer die loyalsten und treuesten Freunde und Verbündeten der Menschheit und ihrer verschiedenen Organisationsformen gewesen, angefangen vom Solaren Imperium über die Liga Freier Terraner bis hin zur Kosmischen Hanse.

Es erschien mir undenkbar, dass ausgerechnet sie gegen die Menschheit oder gegen das Galaktikum rebellieren könnten.

»Wer bist du?«, fragte ich.

»Mein Name ist Hibiskus Hainu«, antwortete der knapp fingergroße Zwerg mit der lindgrünen Haut, dem schulterlangen pechschwarzen Haar und der borkenbraunen Flugkombination.

»Hainu?«, schnappte ich perplex. »Tatcher a Hainu in verkleinerter Form?«

»Tatcher a Hainu war ein Verwandter«, erklärte der Siganese beschwichtigend. »Aber von einem ganz anderen Zweig unserer großen Familie. Sie lebte bis zirka 2115 alter Zeitrechnung auf Terra, dann wanderte die eine Hälfte zum Mars aus und wurde zu den a Hainus; die andere Hälfte ging nach Siga, wurde dort umweltangepasst und entwickelte sich zum friedfertigen Zweig der ehemaligen Familie, der sich besonders den schönen Künsten widmete.«

»Den schönen Künsten!«, rief ich in einem Anflug von Sarkasmus. »Warum spielst du mir dann nicht etwas auf der Flöte vor, anstatt mich gefangen zu halten?«

»Ich bin zufällig kein Künstler, sondern Erfinder – und Patriot. Aber Patriot nicht im kriegerischen Sinn, sondern in dem Sinn, dass ich das ganze Universum als mein Vaterland ansehe und alle darin lebenden Intelligenzen als meine Brüder und Schwestern.«

Ein Spinner, wahrhaftig ein Spinner!

»Und was willst du von mir?«, erkundigte ich mich so freundlich, wie man zu einem Psychopathen sein sollte. »Ich betrachte das Universum ebenfalls als mein Vaterland und dich als meinen Bruder.«