Prolog
Mein Herze wir sind verreist
Der 22. Februar 2006
»Und was machst Du heute Morgen?« – »Ich gehe in die Stadt und kaufe Handschuhe.« – »Wer geht denn mit?« – »Ich gehe alleine, das kann ich gut genug!« – »Oh, Hilde, dann nimm doch den Stock mit, überall liegen noch tückische Eisplatten auf den Gehwegen.« – »Du kannst mich nicht älter machen, als ich bin, ich gehe recht gut ohne Stock!« – »Dann pass gut auf dich auf, Liebe.«
Der 22. Februar 2006 ist ein klirrend kalter Wintertag. Ein Taxi fährt Hilde Domin vom Graimbergweg zum Heidelberger Bismarckplatz. Sie wird in zwei großen Kaufhäusern gesehen, wie sie sich energisch nach Handschuhen erkundigt – doch man hat bereits die Frühjahrskollektion ausgestellt, die Winterware ist rar. Hilde Domin begibt sich auf den Heimweg, ohne Handschuhe gekauft zu haben.
Kurz vor ein Uhr mittags klingelt mein Telefon: »Liebste, ich bin in der Uniklinik, mach dir keine Sorgen, vielleicht ist das Bein verstaucht, aber ich gebe dir mal den Arzt, der soll dir alles erklären. Bitte komm gleich, ach.«
Wie immer hat sich Hilde Domin am Telefon nicht mit ihrem Namen gemeldet, doch natürlich habe ich ihre Stimme sofort erkannt; sie klingt nicht so fest wie sonst. Der Arzt erklärt mir, dass Hilde Domin in der Stadt gestürzt ist, ein freundlicher Herr den Krankenwagen gerufen und sie in die Universitätsklinik begleitet hat.
Die Verletzung ist allerdings schwerwiegend, keine Verstauchung: Hilde Domin hat sich bei dem Sturz einen medialen Oberschenkelhalsbruch zugezogen und muss operiert werden.
Später in der Notfallambulanz klärt mich der Professor unter vier Augen über die Operation auf, die nicht nur wegen des hohen Alters der Patientin riskant ist. Auch die Zeit nach der Operation bleibt gefährlich, und körperliche Einschränkungen müssen in Kauf genommen werden.
Hilde Domin eingeschränkt beweglich und pflegebedürftig? Sie wird es nicht ertragen, ihre Unabhängigkeit aufzugeben.
Hilde Domin ist erleichtert, dass ich jetzt bei ihr bin. »Jetzt macht das alles meine jüngere Schwester für mich«, erklärt sie den Ärzten. »Jüngere Schwester« nannte sie mich immer, nicht etwa Tochter, denn »dann hättest du nicht nur mein Blut, sondern auch Erwins Blut in dir.«
Ich gebe den Ärzten Auskunft über Tabletten, Krankheiten, Befunde. Wie gesund Hilde Domin doch ist: Fast alle Medikamente sind pflanzlich – Gingko, Weißdorn, Ginseng –, dienen fast ausschließlich der Kräftigung von Geist und Körper.
In dem Maße wie Hilde Domin ruhiger wird, nehmen ihre Schmerzen zu, der Blutdruck steigt trotz der Medikamente stetig an. Die Ärzte entschließen sich, nun sofort zu operieren.
Hilde Domin hasst Krankheiten und Gebrechlichkeiten, ihre Unterschrift zur Einwilligung für die Operation ist ein großer Strich quer über das Papier, als ob sie damit alle Risiken eliminieren könnte. Diese Unterschrift wird nicht akzeptiert, nun muss ich für sie unterschreiben.
Mittlerweile liegt Hilde Domin quer im Bett, rutscht immer mehr an den Rand, sucht menschliche Nähe.
Quer im Bett zu liegen war ihre Eigenart: Jederzeit war sie bereit sofort aufzuspringen. Fluchttier.
Jetzt gibt sie dem Pflegepersonal mit energischer Stimme Anweisungen: »Nein, nicht schmerzhaft langsam ausziehen. Nehmen Sie eine große Schere und schneiden Sie das alles auf!«, fordert sie den zögernden jungen Pfleger auf, und der durchtrennt die gute Kleidung. Soll sie sich in dieser Situation um so etwas Unwesentliches wie Kleider sorgen?
»Sag dem Schoßhund Gegenstand ab.«1 Wie alltagstauglich die Worte aus Hilde Domins Gedichten sind.
Zwischen den Schmerzschüben besprechen wir, was zu erledigen ist: die morgige Lesung absagen, die Blumen gießen, die geplante Italienreise stornieren und ihren Kulturbeutel so packen, als ob wir verreisen.
»Mein Herze wir sind verreist« – die Zeilen aus dem Abschiedsgedicht für ihren Mann Erwin Walter Palm bewegen mich.
Ein junger Assistenzarzt tritt ans Bett: »Sind Sie nicht Hilde Domin?« – »Ach, Sie kennen meine Gedichte?« – »Nein, aber mein Vater ist der Künstler, der vor kurzem in Darmstadt die Büste von Ihnen angefertigt hat. Ich habe Sie wiedererkannt.«
Immer haben Hilde Domins Lebenswege Kreise gezogen.
Der Pfleger holt Hilde Domin ab, um sie zum Operationssaal zu fahren. Ich begleite sie, halte sie fest an ihrer Hand.
»Wir gehen jeder für sich den schmalen Weg über den Köpfen der Toten – fast ohne Angst – im Takt unseres Herzens, als seien wir beschützt.«2
An der Schleuse zum Operationssaal dann ihre Bitte: »Ach Liebste, komm doch mit rein. Ich habe Angst.« Wie kann ich sie trösten? Ich küsse sie zum Abschied auf die Stirn: »Liebes, bedenke doch, dass du in so guten Händen bist.« Hilde Domin schaut mich lange an: »Ja, ich bin in guten Händen.«
Ich ahne nicht, dass dies ihre letzten Worte an mich sind.
Mittlerweile ist es kurz nach fünf Uhr. Den Anruf des Arztes erwarte ich zu Hause, habe die engsten Freunde über den Unfall informiert, die Anweisungen erledigt. Mit den Freunden stelle ich schon einen Dienstplan für die Zeit der Rehabilitation auf.
Der Anruf des Professors kurz vor sieben Uhr besteht aus zwei Nachrichten. Der Chirurg ist zufrieden, die Operation ist optimal verlaufen. Er reicht den Hörer weiter. Der Anästhesist dagegen klingt besorgt, man hat Hilde Domin bereits einmal reanimiert. Auf dem Weg zum Wachraum hat das Herz kurzzeitig versagt.
Hat Hilde Domin das Unabänderliche, die Operation, mit Disziplin absolviert, doch jetzt verweigert sich der Körper einem pflegebedürftigen Leben?
Um sieben Uhr bin ich wieder in der Klinik. Hilde Domin liegt im Wachraum, an viele Geräte angeschlossen – als könnten die kleinen regelmäßigen Kurven ein Abbild ihres bewegten Lebens sein.
Zweimal hat man sie mittlerweile reanimiert. Jetzt schläft sie tief. Der Anästhesist ist zuversichtlich, der Zustand der Patientin scheint endlich stabil zu sein. »Im Laufe der Nacht wird sich wohl nichts mehr ändern. Sie sollten jetzt nach Hause gehen. Wir informieren Sie umgehend, wenn sich der Zustand der Patientin verändert.«
Um kurz nach neun Uhr verlasse ich die Klinik. Ich bin noch keine zehn Minuten unterwegs, als mein Mobiltelefon klingelt. »Vielleicht ist es doch besser, Sie kommen wieder, der Zustand der Patientin ist kritisch.« Um 21.29 Uhr eile ich in den Wachraum, über dem die großen Zeiger die Zeit weiterschieben. Die Schwestern halten mich auf. »Bitte warten Sie noch einen Moment.« Hilde Domin ist um 21.28 Uhr gestorben.
Sie scheint nur zu schlafen, noch warm, rosig, friedlich. Sie wird mich spüren, ich halte sie bis Mitternacht im Arm.
Mich ruft der Gärtner.
Unter der Erde seine Blumen
sind blau.
Tief unter der Erde
seine Blumen
sind blau.