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Nora Roberts

Insel des Sturms

Aus dem Amerikanischen
von Uta Hege

Autorin

Nora Roberts schrieb vor rund zwanzig Jahren ihren ersten Roman und hoffte inständig, überhaupt veröffentlich zu werden; heute wird weltweit alle fünf Minuten ein Buch von ihr gekauft. Mit deiser neuen Irland-Trilogie über die Gallagher-Brüder gelang ein weiterer Höhepunkt ihres Schaffens.

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Ganz offensichtlich, gar keine Frage, war sie übergeschnappt!

Als Psychologin sollte sie es wissen.

Sämtliche Zeichen waren da, und zwar bereits seit Monaten. Die Gereiztheit, die Übellaunigkeit, der Hang zu Tagträumen und die Vergesslichkeit. Der Mangel an Motivation, an Energie, an der normalerweise für sie typischen Zielstrebigkeit.

Ihre Eltern hatten sich bereits in der ihnen eigenen milden Art, die besagen sollte, Du-kannst-es-besser-Jude, dazu geäußert. Und ihre Kollegen bedachten sie inzwischen mit verstohlenen Seitenblicken voll des stummen Mitleids oder des missbilligenden Unbehagens. Sie hatte begonnen, ihre Arbeit und ihre Studenten zu verabscheuen; bei ihren Freunden, Verwandten, Mitarbeitern und Vorgesetzten deckte sie permanent Dutzende störender Eigenschaften auf.

Allmorgendlich empfand sie die einfache Pflicht des Aufstehens und sich für den Unterricht Ankleidens als ebenso beschwerlich wie das Erklimmen eines Bergs. Und zwar eines Bergs, den sie weder aus der Ferne sehen noch mühselig erklimmen wollte.

Dazu kam dieses unbesonnene, impulsive Verhalten, das sie seit einer Weile an den Tag legte. O ja, dieses Verhalten war das Beunruhigendste von allem. Die stets ach so gelassene, nüchterne Jude Frances Murray, einer der kräftigsten Äste des Stammbaums der Chicagoer Murrays, die stets ach so vernünftige und arbeitswillige Tochter des Ärztepaares Linda und John K. Murray, schmiss plötzlich ihren Job hin.

Sie hatte weder ein Forschungssemester genommen noch um ein paar Wochen Urlaub gebeten, sondern einfach mitten im Semester ihren Posten an den Nagel gehängt.

Warum? Totaler Blackout!

Ihr Verhalten schockierte sie selbst ebenso wie den Dekan, ihre Kollegen und Eltern.

Hatte sie vor zwei Jahren, als ihre Ehe in die Brüche gegangen war, derart heftig reagiert? Nein, natürlich nicht. Sie war stoisch mit ihrer täglichen Routine fortgefahren wie zuvor – hatte ihre Vorlesungen abgehalten, ihre Studien weitergeführt, ihre Termine wahrgenommen – und das alles, ohne mit der Wimper zu zucken – selbst in den Wochen, in denen sie regelmäßig zu ihrem Anwalt geschlurft war und sorgsam die Papiere ausgefüllt hatte, die das Ende einer Beziehung besiegelten.

Nicht dass es eine besonders innige Verbindung gewesen wäre oder dass die Anwälte viel Arbeit gehabt hätten. Eine Ehe von nicht einmal acht Monaten Dauer bedeutete wenig Durcheinander, wenig Probleme. Wenig Leidenschaft.

Leidenschaft, so nahm sie an, hatte von Anfang an gefehlt. Hätte sie auch nur die geringste Leidenschaft gezeigt, hätte William sie ganz sicher nicht, beinahe noch ehe die Blumen aus ihrem Brautstrauß verwelkt waren, einer anderen Frau wegen verlassen.

Aber es war sinnlos, jetzt noch darüber nachzugrübeln, dachte sie. Hier handelte es sich um Jude Frances. Oder das hatte es jedenfalls, verbesserte sie sich. Wer sie jetzt war, wusste bestenfalls der liebe Gott.

Vielleicht stellte diese Frage einen Teil des Ganzen dar, überlegte sie. Sie hatte am Rande eines Abgrundes gestanden, hatte hinabgesehen in das weite, dunkle Meer der Gleichförmigkeit, der Monotonie, der Langeweile – das Miss Murray seit ihrer Geburt verkörperte. Heftig hatte sie mit den Armen gerudert, war von dem Abgrund zurückgestolpert  – und schreiend davongerannt.

Für sie eine vollkommen untypische Reaktion.

Bereits der Gedanke an ihr verändertes Verhalten versetzte ihr derartige Stiche, dass sie sich fragte, ob sie vielleicht, um die ganze Sache abzukürzen, einfach einen Herzinfarkt bekam.

AMERIKANISCHE COLLEGEPROFESSORIN TOT IN
GEMIETETEM VOLVO AUFGEFUNDEN

Es wäre ein seltsamer Nachruf. Vielleicht erschiene er ja sogar in der von ihrer Großmutter so geliebten Irish Times. Ihre Eltern wären natürlich vollkommen niedergeschmettert. Es wäre ein derart unordentlicher, öffentlicher, peinlicher Tod. Mehr als unpassend!

Natürlich waren sie auch traurig, aber vor allem verwirrt. Was, in aller Welt, hat sich das Mädchen nur dabei gedacht, einfach nach Irland abzuhauen und eine viel versprechende Karriere sowie eine herrliche Wohnung mit Seeblick aufzugeben?

Sicher kämen sie zu dem Ergebnis, das alles wäre die Folge von Omas unseligem Einfluss.

Und natürlich hätten sie mit der Vermutung Recht – so wie sie immer in allem Recht gehabt hatten, seit die Tochter infolge ihrer äußerst geschmackvollen Partnerwahl genau ein Jahr nach ihrer Hochzeit auf die Welt gekommen war.

Obgleich sie lieber nicht darüber nachdachte, war Jude sicher, dass das körperliche Zusammensein ihrer Eltern ebenso wie die genannte Partnerwahl immer äußerst geschmackvoll und präzise verlief. Genau wie die sorgsam choreografierten, traditionellen Ballettvorführungen, die sie beide so gerne besuchten.

Aber weshalb saß sie hier in einem gemieteten Volvo, dessen dämliches Lenkrad auch noch auf der falschen Seite saß, und dachte an das Liebesleben ihrer Eltern?

Jude presste ihre Finger auf die Augen, bis das Bild allmählich verschwand.

Das, sagte sie sich müde, war genau die Art von Bildern, die man sah, wenn man verrückt wurde.

Sie atmete tief ein. Sauerstoff reinigte und beruhigte das Gehirn. So, wie sie die Sache sah, hatte sie folgende Alternativen: Entweder zerrte sie ihre Koffer aus dem Auto, ging zurück in den Dubliner Flughafen, drückte die Wagenschlüssel der Mietwagenfirma-Angestellten mit dem karottenroten Haar und dem kilometerbreiten Lächeln wieder in die Hand und buchte sofort den Rückflug.

Natürlich hatte sie keinen Job mehr, aber sie käme sicher eine Zeit lang mit ihren beachtlichen Ersparnissen zurecht. Auch ihr Apartment war sie los, da sie es für sechs Monate an dieses nette Pärchen vermietet hatte, aber wenn sie nach Hause zurückflöge, nähme bestimmt Oma sie erst mal bei sich auf.

Und sähe sie mit ihren wunderschönen vergissmeinnichtblauen Augen traurig an. Jude, Liebling, du wagst dich immer nur bis an den Rand deiner Wünsche. Weshalb tust du nie den letzten, endgültigen Schritt?

»Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht.« Elend hob Jude die Hände vors Gesicht und wiegte sich müde hin und her. »Es war deine Idee, dass ich hierher fliegen sollte, nicht meine. Was soll ich denn während der nächsten sechs Monate im Faerie Hill Cottage, in deinem alten Häuschen auf dem Feenhügel, bitte anfangen? Ich weiß ja nicht mal, wie man dieses verdammte Auto steuert.«

Noch eine weitere Klage und sie bekäme einen Heulkrampf. Sie spürte, wie das Wasser in ihrer Kehle aufstieg und wie es in ihren Ohren rauschte; doch ehe die erste Träne Gelegenheit hatte zu kullern, ließ sie den Kopf nach hinten sinken, kniff die Augen fest zusammen und verfluchte sich für ihren Mangel an Beherrschung. Heulkrämpfe, Wutanfälle, Sarkasmus und andere Arten unerfreulichen Benehmens waren einfach verschiedene Wege, die Dinge zu dramatisieren. Auf Grund ihrer Erziehung und Ausbildung erkannte sie die Anzeichen. O nein, sie gäbe dem Aufruhr in ihrem Inneren nicht nach!

»Das ist dann wohl jetzt das nächste Stadium, Jude, du jämmerliche Närrin! Sprichst mit dir selbst und sitzt jammernd in einem Volvo herum, weil du zu unentschlossen, verdammt, zu gelähmt bist, um den Schlüssel im Zündschloss herumzudrehen und ganz einfach loszufahren.«

Vorsichtig atmete sie aus und straffte die Schulter. »Zweite Möglichkeit«, murmelte sie. »Führ zu Ende, was du nun mal begonnen hast.«

Sie startete den Motor, sandte ein leises Stoßgebet gen Himmel, dass sie auf der Fahrt niemanden – auch sich selbst nicht – umbrächte oder verletzte, und rollte dann langsam vom Parkplatz auf die Straße.

 

Um nicht jedes Mal zu schreien, sobald sie an einen der von den Iren so fröhlich »Rundherums« genannten Kreisverkehre gelangte, sang sie leise vor sich hin. Immer wenn ihr schwindlig wurde, sie mal wieder links mit rechts verwechselte und um ein Haar irgendwelche unschuldigen Fußgänger über den Haufen fuhr, sang sie, welches Lied ihr in ihrem Entsetzen auch momentan durch den Kopf schoss.

Auf dem Weg von Dublin bis hinunter in die Grafschaft Waterford grölte sie Filmmusik, brüllte irische Trinklieder, und jaulte – infolge eines Beinahe-Zusammenstoßes kurz hinter Carlow – derart lautstark den Refrain von »Brown Sugar«, dass Mick Jagger, hätte er es gehört, sicher vor Neid erblasst wäre.

Dann wurde der Verkehr ein wenig ruhiger. Vielleicht hatte sie mit ihrem Lärm die Götter des Straßenverkehrs ausreichend schockiert, sodass sie aufhörten, ihr andere Wagen in den Weg zu schleudern – vielleicht aber war es auch der segensreiche Einfluss der allgegenwärtigen der Heiligen Jungfrau gewidmeten Mariensäulen – jedenfalls wurde das Fahren ein wenig angenehmer und Jude fing beinahe an, die Strecke und die Umgebung zu genießen.

Woge um Woge grüner Hügel schimmerten im Sonnenlicht, das sich glühend wie das Innere einer Muschel weiter und weiter bis in die Schatten hoher Berge fortsetzte, diese hoben sich vor dem mit rauchigen Wolken behangenen, perlmuttfarbenen Himmel dunkel ab – alles eher auf ein Gemälde als in die Wirklichkeit gehörend.

Das Gemälde fand sie so schön, dass sie nach längerem Hinschauen das Gefühl bekam, sie glitte mitten hinein, verschmelze mit den Farben, den Formen, der Szene, die irgendein Meister mit Brillanz kreiert hatte.

Genau das sah sie, wenn sie es wagte, die Augen von der Straße zu erheben. Brillanz und eine überwältigende, betörende Schönheit, die einem das Herz, noch während man ihm gut zuredete, förmlich zerriss.

Grüne, unglaublich grüne Felder wurden von uralten rauen Hecken oder knorrigen, windgebeugten Bäumen unterbrochen, gefleckte Kühe oder zerzauste Schafe zupften gemächlich an den Grashalmen, Menschen auf Traktoren tuckerten gemütlich darüber hinweg. Hier und da standen kleine, weiß oder cremefarben getünchte Häuser, in deren Gärten frische Wäsche flatterte und vor deren Türen wilde, leuchtend bunte Blumen wucherten.

Dann ragten wunderbar und massiv die verfallenen Gemäuer einer alten Abtei, wenn auch nur Überreste, so doch stolz, in den blendend hellen Himmel – als warteten sie auf ihre Renaissance.

Was würdest du empfinden, wenn du dieses Feld überqueren und die glitschigen Stufen zu der alten Brustwehr erklimmen würdest, überlegte Jude. Würdest, oder besser könntest du die Jahrhunderte spüren, während derer die Füße anderer Menschen dieselben Stufen hinaufgeklettert sind? Würdest du, wie Großmutter behauptet, die Musik und die Stimmen, das Klirren alter Waffen, das Schluchzen von Frauen, das Gelächter von Kindern vernehmen, das bereits vor langer Zeit verklungen ist?

Natürlich glaubte sie nicht an solche Dinge. Aber hier, in diesem Licht, in dieser Luft, erschien es doch irgendwie möglich.

Das endlos grüne Land bot dem Betrachter einfach alles, von alter, längst vergangener Pracht bis hin zu reizvoll beständiger Schlichtheit: strohgedeckte Dächer, steinerne Kreuze, Burgen, dann wieder Dörfer mit engen, gewundenen Straßen und Schildern in gälischer Sprache.

Einmal sah sie einen alten Mann, der mit seinem Hund die Böschung entlang spazieren ging, wo das Gras bis zu den Knöcheln reichte und ein kleines Schild vor Rollsplitt warnte. Zu Judes großer Freude hatten sowohl Mann als auch Hund identische braune Hütchen auf dem Kopf. Sie behielt das Bild lange im Kopf und beneidete die beiden um ihre Freiheit und natürliche Zusammengehörigkeit.

Sicher gingen sie jeden Tag denselben Weg und kehrten dann, ob Regen oder Sonnenschein, zum Tee zurück in ein romantisches Cottage mit reetgedecktem Dach und einem sorgsam gepflegten Vorgarten. Bestimmt hatte der Hund seine eigene kleine Hütte, aber normalerweise läge er wohl zusammengerollt zu Füßen seines Herrn vor dem Kamin.

Auch sie liefe gern mit einem derart treuen Freund über diese Felder. Laufen und laufen, bis sie sich setzen wollte. Würde sitzen und sitzen, bis sie wieder aufstehen wollte. Dies war eine Vorstellung, die sie verwirrte. Zu tun, was sie wollte, wann sie es wollte, in ihrem eigenen Tempo und auf ihre eigene Weise.

Diese einfache, alltägliche Freiheit war ihr vollkommen fremd. Aber sie fürchtete auch, sie am Ende zu finden, ihr silbriges Ende mit den Fingerspitzen zu berühren und dann wieder zu verlieren.

Da sich die Straße wie ein schmales braunes Band entlang der Waterford’schen Küste Richtung Süden schlängelte, erhaschte Jude immer wieder einen Blick aufs Meer, das seine blaue Seide mit dem Horizont verwob oder in turbulentem Grün und Grau gegen einen breiten, sanft geschwungenen Sandstrand klatschte.

Die Anspannung zwischen ihren Schulterblättern nahm ein wenig ab, und ihre Hände umfassten das Lenkrad etwas lockerer. Dies war das Irland, von dem ihre Großmutter zu sprechen, dies waren die Farben, die Dramatik, der Frieden, von denen sie zu schwärmen pflegte. Und dies, so dachte Jude, genau diese Dinge hatten sie bewogen zu kommen: um zu sehen, wo ihre Familie, ehe man ihre Wurzeln ausgerissen und auf der anderen Seite des Atlantiks wieder eingepflanzt hatte, verwachsen gewesen war.

Sie war froh, dass sie nicht bereits auf dem Flughafen kehrtgemacht und einen Platz in der nächsten Maschine zurück nach Chicago gebucht hatte. Hatte sie nicht den Großteil der dreieinhalbstündigen Fahrt ohne ein einziges Missgeschick hinter sich gebracht? Abgesehen von der kleinen Panne an dem Kreisverkehr in Waterford City, wo sie dreimal rundherum gefahren war und sich schließlich um ein Haar in einen Wagen mit ebenso hilflosen Touristen gebohrt hatte.

Im Grunde war ja niemandem etwas geschehen.

Und jetzt lag das Ziel vor ihr. Die Wegweiser zum Dorf Ardmore waren der Beweis. Auf Grund der sorgfältigen Zeichnung ihrer Großmutter wusste sie, dass der Weiler Ardmore nahe bei dem Cottage lag. Dass sie dort ihre Einkäufe und mögliche andere Besorgungen erledigen konnte.

Natürlich hatte ihre Großmutter ihr außerdem eine beeindruckende Liste mit Namen von Menschen gegeben, die sie besuchen sollte – entfernte Verwandte, die sich sicher freuen würden, wenn sie kam. Doch das, so dachte Jude, hatte noch Zeit.

Wenn sie sich vorstellte, dass sie tagelang mit niemandem ein Wort wechseln musste! Dass niemand ihr irgendwelche Fragen stellen und erwarten würde, dass sie die Antworten darauf fand. Dass sie keinen Small Talk halten müsste wie mit ihren Kollegen und Studenten. Dass es keinen Zeitplan gab.

Nach einem Augenblick seliger Freude machte ihr Herz einen erschreckten Satz. Was, in Gottes Namen, sollte sie sechs Monate lang tun?

Es müssten ja keine sechs Monate sein, tröstete sie sich, als die alte Anspannung wieder zurückkehrte. Niemand konnte sie dazu zwingen. Sie würde nicht verhaftet oder vor Gericht gestellt, wenn sie bereits nach sechs Wochen, nach sechs Tagen oder gar sechs Stunden zurückkehrte.

Und als Psychologin wusste sie, dass ihr Hauptproblem bei den Erwartungen anderer lag. Einschließlich ihrer eigenen. Obgleich sie akzeptierte, dass sie eine wesentlich bessere Theoretikerin als Praktikerin war, würde sie das auf der Stelle ändern, und zwar für ihren gesamten Irlandaufenthalt.

Wieder ruhiger stellte sie das Radio an. Angesichts des Stroms gälischer Worte, der aus dem Gerät sprudelte, rollte sie mit den Augen, suchte nach einem Sender in englischer Sprache und nahm dabei versehentlich die Straße weiter Richtung Ardmore statt nach Tower Hill, wo das alte Cottage lag.

In dem Augenblick, in dem ihr der Irrtum klar wurde, öffnete der inzwischen graue Himmel seine Schleusen, als hätte eine riesengroße Hand ein Messer in die Größte der Wolken gebohrt. Regen trommelte auf das Dach und die Windschutzscheibe ihres Wagens; sie suchte nach dem Schalter für den Scheibenwischer, fuhr vorsichtig an den Straßenrand und wartete darauf, dass der Guss ein wenig an Gewalt verlor.

Das Dorf lag am südlichen Zipfel der Grafschaft genau zwischen der Irischen See und der Bucht von Ardmore, Ardmore Bay. Sie hörte, wie der leidenschaftliche, machtvolle Sturm das Wasser gegen das Ufer branden ließ, wie der Wind an den Fenstern ihres Wagens rüttelte und bedrohlich durch einen kleinen Spalt pfiff.

Sie hatte sich vorgestellt, wie sie durch das Dorf spazierte, sich mit den malerischen Cottages, den rauchigen, sicher gut besuchten Pubs vertraut machte, über den von ihrer Großmutter geliebten Sandstrand, die schroffen Klippen, die grünen Felder schlenderte.

Doch in ihrer Vorstellung war es ein wunderbarer, sonniger Nachmittag gewesen, an dem die Dorfbewohnerinnen rosige Babys in Kinderwagen durch die Gegend schoben und die Männer augenzwinkernd ihre Mützen lüfteten, wenn sie ihnen begegnete.

An ein plötzliches gewaltiges Frühjahrsunwetter, dessen heftige Windböen die Menschen von den Straßen in die Häuser trieben, hatte sie nicht gedacht. Vielleicht lebt hier ja auch niemand, argwöhnte sie mit einem Mal. Möglicherweise kam sie um Jahrhunderte zu spät, am Ende war dies inzwischen eine Art potemkinsches Dorf.

Ein weiteres ihrer Probleme, sagte sie sich streng, war ihre Fantasie, die sie mit betrüblicher Regelmäßigkeit zur Ordnung rufen musste.

Natürlich wohnten Menschen in dem Dorf, sie waren eben vernünftig genug, vor den verdammten Wolkenbrüchen zu fliehen. Die hübschen Häuser standen nebeneinander wie Damen auf einem Ball, zu deren Füßen jemand Blumen gestreut hatte. Blumen, bemerkte sie, die momentan ziemlich niedergedrückt wurden.

Es gab keinen Grund, weshalb sie nicht einfach auf den wunderbaren, sonnigen Nachmittag warten sollte, um sich das Dorf genauer anzusehen. Jetzt war sie sowieso zu müde, hatte leichte Spannungskopfschmerzen und wollte nur noch unter irgendein warmes und gemütliches Dach.

Jude lenkte den Wagen wieder auf die Straße und kroch, aus Sorge, dass sie sonst die Abzweigung abermals verpasste, im Schneckentempo zurück.

Dass sie auf der falschen Straßenseite fuhr, merkte sie erst, als sie beinahe mit einem entgegenkommenden Fahrzeug frontal zusammenstieß. Oder, um genau zu sein, als der andere Wagen ihr in letzter Sekunde auswich und der Fahrer sie wütend anhupte.

Aber zumindest fand sie die Abzweigung, die sie eigentlich auch beim ersten Mal gar nicht hätte verpassen dürfen, da die steinerne Spitze des großen runden Turms hoch oben auf dem Hügel unmöglich zu übersehen war. Wie ein Speer ragte sie in die Gräue hinauf und bewachte die alte Kathedrale von Saint Declan ebenso wie all die alten, mit schiefen, bemoosten Steinen markierten Grabstätten.

Einen Augenblick lang meinte sie, auf dem Friedhof einen Mann zu sehen, in einem im Regen trüben, nass schimmernden, silbrigen Gewand. Sie blickte derart angestrengt zu der Stelle hinüber, dass sie beinahe von der kaum noch als Straße zu bezeichnenden Fahrspur in einen Graben fuhr. Dieses Mal machte sie ihrer Nervosität nicht durch lautes Singen Luft. Ihr Herz trommelte einfach zu heftig, als dass sie auch nur einen Ton über die Lippen gebracht hätte, und mit zitternden Händen lenkte sie den Wagen weiter. Immer noch versuchte sie, den Mann genauer zu erkennen, auszumachen, was er tat. Doch außer dem hohen Turm, der Ruine und den Gräbern konnte sie beim besten Willen nichts mehr sehen.

Natürlich war ganz einfach niemand da gewesen, hielt sie sich vor. Niemand besuchte während eines Unwetters einen alten Friedhof. Ihre Augen waren müde, sie spielten ihr allmählich Streiche. Sie musste nur rasch ins Trockene und Warme, wo sie wieder zur Besinnung kam.

Als die Straße sich zu wenig mehr als einem schlammig nassen, zu beiden Seiten von mannshohen Hecken gesäumten Streifen verengte, glaubte sie, sie hätte sich hoffnungslos verfahren. Der Wagen holperte durch tiefe Schlaglöcher, und sie suchte verzweifelt nach einer Stelle, an der sie wenden konnte, um ins Dorf zurückzugelangen.

Bestimmt gäbe es in Ardmore einen trockenen, warmen Ort, und sicher hätte irgendjemand Mitleid mit einer hirnlosen Amerikanerin, die sich in der Gegend nicht auskannte.

Nun passierte sie eine hübsche, mit irgendeinem Rankengewächs bedeckte Steinmauer, die sie zu jedem anderen Zeitpunkt sicher pittoresk gefunden hätte, dann kam eine schmale Öffnung, bei der es sich anscheinend um etwas Ähnliches wie eine Zufahrt handelte – doch sie war bereits daran vorbei, als ihr dies klar wurde. In dem Schlamm rückwärts zu fahren und dann auch noch zu wenden, wagte sie entschieden nicht.

Der Weg stieg immer weiter an, und aus den Schlaglöchern wurden echte Gräben. Ihre Nerven waren gespannt wie Drahtseile, und ihre Zähne klapperten so laut, dass sie es hörte; inzwischen umrundete sie eine weitere Vertiefung und zog ernsthaft in Erwägung, einfach darauf zu warten, dass jemand vorbeikäme, der sie den ganzen Weg zurück nach Dublin abschleppte.

Als sie eine erneute Öffnung in der kleinen Mauer sah, stöhnte sie erleichtert auf. Vorsichtig bog sie ein, wobei sie nur minimal den Lack an ihrem Kotflügel zerkratzte, legte dann ermattet den Kopf auf das Lenkrad und schloss die Augen.

Sie hatte sich verfahren, war hungrig, müde und musste unbedingt aufs Klo. Jetzt stand es ihr bevor, im strömenden Regen auszusteigen und bei diesem fremden Haus hier anzuklopfen. Wenn der Besitzer ihr erklärte, dass das Faerie Hill Cottage weiter als drei Minuten entfernt wäre, müsste sie ihn darum bitten, sie seine Toilette benutzen zu lassen.

Nun, die Iren waren für ihre Gastfreundschaft bekannt, und deshalb würde sie, egal von wem, ganz sicher nicht zum Pipi-Machen ins Gebüsch geschickt. Trotzdem wollte sie nicht hektisch und panisch wirken, wenn sie auf der Türschwelle erschien.

Im Rückspiegel sah sie, dass der Blick aus ihren für gewöhnlich ruhigen grünen Augen tatsächlich ein wenig wild wirkte. Die Feuchtigkeit hatte ihre Haare gekräuselt, sodass sie aussah, als trüge sie einen rindenfarbenen Busch auf ihrem Kopf. Ihre Haut war kreidebleich – ein Resultat der Müdigkeit und Panik –, doch um nach ihrem Make-up zu kramen und zu versuchen, den größten Schaden zu beheben, hatte sie einfach nicht die Energie.

Sie versuchte, ein nettes Lächeln aufzusetzen, das die Grübchen in ihren Wangen hervorlockte. Auf Grund der Breite ihres Mundes und der Größe ihrer Augen schien sie weniger zu grinsen, als eine Grimasse zu schneiden – doch besser ging es eben nicht.

Entschlossen schnappte sie sich ihre Handtasche, öffnete die Tür des Wagens und machte sich ans Aussteigen.

Plötzlich nahm sie hinter einem Fenster in der oberen Etage eine beinahe unmerkliche Bewegung wahr. Das leichte Flattern eines Vorhangs, das sie innehalten ließ. Eine Frau in einem weißen Kleid und mit dichtem, goldfarbenem Haar, das wogend über ihre Schultern und ihren Oberkörper fiel. Als sie durch den grauen Schleier zum Wagen herblickte, strahlte sie große Schönheit, doch auch abgrundtiefe Trauer aus.

Dann war die Erscheinung verschwunden, und nur noch der Regen beherrschte die Szene.

Jude fing an zu zittern. Die kalte Nässe und der Wind schnitten ihr eisig ins Gesicht, also opferte sie auch den Rest ihrer Würde, rannte in Richtung des weißen Gartentores, durch das man den winzigen, doch auf Grund der sich zu beiden Seiten des schmalen Weges befindlichen Blumenpracht einladenden Vorgarten betrat.

Es gab keine Veranda, nur eine schmale Treppe, die indessen durch die ein wenig überhängende obere Etage des Cottages Schutz vor dem schlimmsten Regen bot. Jude hob einen Messingklopfer in Form eines keltischen Knotens und schlug damit an die massive, raue, doch zugleich behäbige Bogentür.

Während sie bebend versuchte, an etwas anderes zu denken als an den Druck ihrer Blase, betrachtete sie das Cottage genauer – das reinste Puppenhaus! Die Fenster mit den vielen kleinen Scheiben hatten duftig weiße, mit grünen Rändern gesäumte Vorhänge und Holzläden, die gleichermaßen funktional wie dekorativ wirkten. Das strohgedeckte Dach erschien ihr wie ein hübsches Wunder, und ein aus drei Glockenreihen bestehendes Windspiel sang eine kleine Melodie.

Ein wenig energischer klopfte sie noch mal. Verdammt, ich weiß, dass jemand da ist, dachte sie erbost, warf jedes Benehmen über Bord, trat in den Regen hinaus und spähte durch ein Fenster ins Haus.

Dann wich sie schuldbewusst beiseite, als hinter ihr deutliches Hupen laut wurde.

Ein rostiger roter Pick-up, dessen Motor schnurrte wie eine zufriedene Katze, bog hinter ihrem Wagen in die Einfahrt. Jude schob sich die nassen Haare aus der Stirn und legte sich, als der Fahrer ausstieg, fieberhaft eine Erklärung für ihre Anwesenheit zurecht.

Zuerst dachte sie, bei dem Fahrer mit den verkratzten, schlammverkrusteten Stiefeln, der schmutzigen Jacke und der abgetragenen Arbeitshose handele es sich um einen kleingewachsenen, schmalbrüstigen Mann. Doch das Gesicht, das sie unter einer schmutzig braunen Kappe hinweg anstrahlte, gehörte ganz eindeutig einer Frau.

Und zwar einer zauberhaften Person.

Ihre Augen waren so grün wie die nassen Hügel der Umgebung, ihre Haut schimmerte wie seidiges Perlmutt und Strähnen leuchtend roter Haare schoben sich unter dem Mützenrand hervor, als die Frau trotz der Stiefel geschmeidig den Weg herauf gestapft kam.

»Sie müssen Miss Murray sein. Gutes Timing, finden Sie nicht?«

»Ach ja?«

»Nun, ich bin heute ein bisschen später dran als sonst, weil Mrs. Duffys Enkel Tommy mal wieder die Hälfte seiner Bauklötze ins Klo geworfen, abgezogen und dadurch eine Risensauerei veranstaltet hat.«

»Hmmm«, war alles, was Jude zur Antwort einfiel, während sie sich fragte, weshalb sie hier im Regen stand und sich mit einer völlig Fremden über verstopfte Toiletten unterhielt.

»Können Sie Ihren Schlüssel nicht finden?«

»Meinen Schlüssel?«

»Für die Haustür. Tja, ich habe meinen dabei, also befördern wir Sie am besten erst einmal raus aus dieser Nässe und hinein ins Warme!«

Das klang wie eine herrliche Idee. »Danke«, sagte Jude, während sie der Frau zum Eingang folgte. »Aber wer sind Sie?«

»Oh, bitte entschuldigen Sie, ich bin Brenna O’Toole.« Brenna streckte einen ihrer Arme aus und schüttelte Jude kraftvoll die Hand. »Ihre Oma hat Ihnen doch sicherlich erzählt, dass ich das Cottage für Sie hergerichtet habe.«

»Meine O – das Cottage? Das hier ist mein Cottage?«

»Allerdings! Naja – falls Sie Jude Murray aus Chicago sind.« Brenna lächelte freundlich, obgleich ihre linke Braue fragend hochgeschossen war. »Ich wette, nach der langen Reise fühlen Sie sich vollkommen geschafft.«

»Richtig!« Während Brenna die Tür öffnete, fuhr sich Jude mit den Händen durchs Gesicht. »Und außerdem dachte ich, ich hätte mich verfahren.«

»Scheint eher so, als hätten Sie Ihr Ziel erreicht. Ceade mile failte.« Sie trat einen Schritt zurück und ließ Jude den Vortritt.

Tausendmal willkommen! So viel Gälisch hatte Jude von ihrer Großmutter gelernt. Und fühlte sich tatsächlich tausendmal willkommen, als sie in die Wärme trat.

Links von dem schmalen Flur, kaum breiter als die Treppe, gelangte man über eine Reihe durch die Zeit und die Benutzung spiegelblank polierter Stufen in den ersten Stock; rechts führte ein reizender Bogen in das kleine Wohnzimmer. Mit seinen Wänden in der Farbe frischer Kekse, den honigfarbenen Bordüren und den vom Alter leicht vergilbten spitzengesäumten Gardinen, auf Grund derer alles in sanftes Sonnenlicht gehüllt erschien, war der Raum mehr als einladend.

Die Möbel sahen etwas abgenutzt aus; doch der, wenn auch leicht verblichene, blau-weiß gestreifte Stoff und die dicken, weichen Kissen luden zum gemütlichen Verweilen und zum Betrachten der Sammelobjekte ein – Kristallgefäße, Schnitzfigürchen, Miniaturflaschen auf den blank polierten Tischen. Den geschrubbten Dielenboden bedeckten etwas mitgenommene Flickenteppiche, und in dem steinernen Kamin lag etwas, von dem Jude meinte, es wäre frischer Torf.

Der Raum verströmte einen erdigen sowie leicht blumigen Geruch.

»Wirklich allerliebst!« Wieder schob sich Jude das Haar aus dem Gesicht und drehte sich im Kreis. »Wie ein Puppenhaus!«

»Die alte Maude hatte eben eine Vorliebe für hübsche Dinge.«

Etwas in Brennas Stimme ließ Jude in der Bewegung innehalten. »Tut mir Leid, ich habe sie nie kennen gelernt. Sie haben sie anscheinend sehr gemocht.«

»Sicher, jeder hier liebte die alte Maude. Sie war eine wunderbare alte Dame. Es würde sie sicher freuen, wenn sie wüsste, dass Sie hier sind und sich um das Cottage kümmern. Bestimmt wollte sie nicht, dass es leer und verlassen da steht. Soll ich Ihnen vielleicht erst mal alles zeigen? Damit Sie sich besser zurechtfinden?«

»Sehr gern, aber vorher müsste ich unbedingt auf die Toilette.«

Brenna lachte fröhlich auf. »Von Dublin ist es ein ganz schön weiter Weg. Direkt neben der Küche gibt es ein kleines WC. Mein Dad und ich haben es erst vor drei Jahren aus einem alten Einbauschrank gezimmert. Einfach geradeaus.«

Ohne weitere Zeit mit Erkundigungen zu verlieren, schlug Jude die genannte Richtung ein. »Klein« war wirklich die einzig passende Beschreibung für das Bad. Wenn sie die Arme angewinkelt und angehoben hätte, hätte sie ganz sicher Kratzer an den Ellenbogen bekommen. Aber die Wände wiesen einen reizenden Rosaton auf, das weiße Porzellan war auf Hochglanz poliert, und überall hingen bestickte Handtücher.

Ein Blick in den ovalen Spiegel über dem Waschbecken verriet Jude, dass ihr Aussehen ihre Befürchtungen beinah noch übertraf. Und trotz ihrer durchschnittlichen Größe und Statur kam sie sich neben der elfengleichen Brenna wie eine ungeschlachte Amazone vor.

Wütend über den Vergleich blies sie sich die krausen Haare aus der Stirn und verließ das Bad.

»Oh, ich hätte die Sachen doch selbst geholt.«

Brenna hatte bereits ihr gesamtes Gepäck in den kleinen Flur geschleppt. »Nach der Reise fallen Ihnen sicher gleich die Augen zu. Ich nehme an, Sie hätten gern das Zimmer von der alten Maude. Es ist wirklich entzückend. Und dann stelle ich den Wasserkessel auf, mache Ihnen einen Tee und setze das Feuer in Gang. Immerhin ist es heute ziemlich kühl.«

Während sie sprach, wuchtete sie Judes beide riesige Koffer die Treppe hinauf, als wären sie leer. Jude wünschte sich, sie hätte mehr Zeit mit Krafttraining verbracht, als sie mit ihrer Tasche, ihrem Laptop und ihrem tragbaren Drucker hinterherkeuchte.

Nun zeigte Brenna ihr die beiden Schlafzimmer, und natürlich erwies sich ihre Beurteilung als richtig – das Zimmer der alten Maude mit seinem Blick zum Vorgarten war eindeutig das Schönere. Doch Jude bekam nur einen vagen Eindruck, denn als sie das Bett entdeckte, ließ sie dem Jetlag zufolge ihren Körper wie ein Bleigewicht auf die Matratze fallen.

Sie hörte nur halb zu, als die fröhliche, melodische Stimme von Leintüchern, der Heizung, und den Unwägbarkeiten des winzigen Kamins am Fuß des Bettes sprach, während Brenna den Torf in Brand steckte. Dann folgte sie wie in Trance, als Brenna die Treppe wieder hinunterpolterte, das Teewasser aufsetzte und ihr die Funktionsweise der Küche erläuterte.

Jude hörte etwas von einer frisch gefüllten Speisekammer und davon, dass sie, wenn sie etwas brauchte, bei Duffy’s im Dorf an der besten Adresse war. Es wurde noch viel mehr gesagt  – neben der Hintertür läge ein Haufen Torf, wie es die alte Maude gemocht hatte; aber natürlich gäbe es, falls Jude das vorzöge, auch jede Menge Holz; das Telefon hätte man wieder angeschlossen, und das Feuer im Küchenherd müsse man von Hand schüren.

»Oje, Sie schlafen ja im Stehen ein.« Mitfühlend drückte Brenna Jude einen dicken blauen Becher in die Hand. »Nehmen Sie den am besten mit nach oben, und legen sich ein wenig hin. Ich mache Ihnen hier unten schon einmal das Feuer an.«

»Tut mir Leid. Ich bekomme wirklich kaum noch etwas mit.«

»Wenn Sie erst mal ein Nickerchen gemacht haben, geht es Ihnen wieder besser. Meine Nummer steht hier auf dem Zettel neben dem Telefon, falls Sie irgendetwas brauchen. Meine Familie lebt kaum einen Kilometer von hier entfernt – meine Mutter, mein Vater und vier Schwestern –, falls Sie also in Not sind, rufen Sie uns an oder kommen Sie einfach vorbei!«

»Ja, ich – vier Schwestern!«

Wieder lachte Brenna, als sie Jude zurück in den Flur geleitete. »Tja, mein Dad hat die Hoffnung auf einen Jungen einfach nicht aufgeben wollen, aber manchmal laufen die Dinge eben anders als man denkt. Er ist umgeben von lauter Frauen, selbst unser Hund ist eine Hündin. Und jetzt rauf mit Ihnen in die Falle!«

»Vielen Dank. Wirklich, normalerweise bin ich nicht so … benommen.«

»Schließlich fliegen Sie auch nicht jeden Tag über den Atlantik. Kann ich noch irgendetwas für Sie tun, bevor ich wieder fahre?«

»Nein, ich …« Jude lehnte sich gegen das Geländer und blinzelte. »Oh, das hätte ich beinahe vergessen. Vorhin war eine Frau in diesem Haus. Wo ist sie so plötzlich hin?«

»Eine Frau, sagen Sie? Wo?«

»Hinter einem der Fenster.« Jude schwankte – beinahe wäre der Tee aus dem Becher geschwappt – und schüttelte den Kopf. »Als ich ankam, stand hinter einem der Fenster in der oberen Etage eine Frau und blickte heraus.«

»Ach ja?«

»Allerdings. Eine blonde, junge, wunderschöne Frau.«

»Ah, das war sicher Lady Gwen.« Brenna betrat das Wohnzimmer und hielt ein Streichholz an den im Kamin aufgeschichteten Torf. »Sie zeigt sich nicht jedem.«

»Aber wohin ist sie gegangen?«

»Oh, sie ist wohl immer noch im Haus.« Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass der Torf brannte, erhob sich Brenna und klopfte sich die Knie ihrer Arbeitshose ab. »Ob Sie es glauben oder nicht, sie ist inzwischen dreihundert Jahre alt … Ihr Geist, Miss Murray!«

»Mein was?«

»Ihr Geist. Aber machen Sie sich darüber keine Gedanken. Sie wird Ihnen ganz sicher nichts zu Leide tun. Lady Gwen hat eine traurige Geschichte, aber die erzähle ich Ihnen besser ein anderes Mal, wenn Sie nicht so müde sind.«

Jude konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Ihr Hirn wollte die Arbeit ebenso einstellen wie ihr Körper, aber es erschien ihr wichtig, dass es in diesem Punkt zumindest sofort Klarheit gab. »Versuchen Sie ernsthaft, mir einzureden, in diesem Haus lebe ein Geist?«

»Und ob! Hat Ihre Oma Ihnen das denn nicht erzählt?«

»Ich glaube nicht, dass sie etwas Derartiges erwähnte. Sie behaupten also, Sie glauben an Geister?«

Abermals zog Brenna ihre linke Braue in die Höhe. »Nun, haben Sie sie gesehen oder nicht? Also bitte«, fügte sie, als Jude lediglich die Stirn runzelte, zufrieden hinzu. »Und jetzt machen Sie ein Nickerchen, und wenn Sie dann wieder aufstehen und Ihnen danach zumute ist, kommen Sie in Gallagher’s Pub – dort gebe ich Ihnen Ihr erstes echt irisches Guinness aus.«

Zu verblüfft, um sich weiter auf das Gesagte konzentrieren zu können, schüttelte Jude müde den Kopf. »Ich trinke kein Bier.«

»Tja, das ist aber bedauerlich«, erklärte Brenna gleichermaßen aufrichtig wie schockiert. »Dann guten Tag, Miss Murray!«

»Jude«, murmelte Jude und starrte ihr Gegenüber immer noch verwundert an.

»In Ordnung, Jude!« Brenna bedachte sie mit ihrem wunderbaren Lächeln und glitt durch die Haustür in den Regen.

Hier sollte es einen Geist geben, dachte Jude, als sie mit schwirrendem Kopf die Treppe zu ihrem Schlafzimmer erklomm. Sicher war das nichts weiter als romantisches irisches Geschwätz. Ihre Großmutter hatte ihr, weiß der Himmel, in ihrer Kindheit zahllose Märchen erzählt, aber mehr war es auch nicht gewesen. Eine Unzahl von spannenden Geschichten, mit denen man sich abends vor dem prasselnden Torffeuer unterhielt.

Aber sie hatte jemanden gesehen… oder etwa nicht?

Nein, bestimmt war es bloß der Regen gewesen, die Vorhänge, das Spiel der Schatten im Inneren des Cottages. Sie stellte den bisher unberührten Tee auf einen Tisch und zog ganz mechanisch ihre Schuhe aus. Es gab einfach keine Geister. Dies hier war nichts weiter als ein hübsches kleines Haus auf einem hübschen kleinen Hügel. Über dem es augenblicklich in Strömen goss.

Bäuchlings fiel sie auf das Bett, dachte daran, sich die Decke überzuziehen, und sank, ehe sie es fertig brachte, in einen tiefen Schlaf.

 

Und als sie träumte, träumte sie von einer Schlacht auf einem grünen Hügel, wo das Licht der Sonne die Schwerter wie Juwelen blitzen ließ, von Feen, die im Wald tanzten, während das Mondlicht Tränen auf die Blätter der hohen Bäume schickte, und von einem dunkelblauen Meer, dessen Wogen im Rhythmus ihres Herzens an das Ufer schlugen.

Und durch all die Träume zog sich beständig das leise Weinen einer Frau.