Nora Roberts
Kinder des Sturms
Aus dem Amerikanischen
von Uta Hege
Das Dörfchen Ardmore schmiegte sich an die Südküste Irlands hoch über der irischen See. Es gab dort einen kleinen Hafen, einen goldenen Sandstrand, eine mit wildem Gras bewachsene, erhaben über das Meer ragende Klippe, und auf dieser Klippe stand ein Hotel.
Wenn man wollte, konnte man einen schönen, wenn auch anstrengenden Spaziergang auf dem schmalen Pfad um die Landspitze herum unternehmen und auf der Kuppe des ersten Hügels die Ruinen der Kapelle und den Brunnen des Heiligen Declan besichtigen.
Der Anstieg lohnte sich wegen der Aussicht auf den Himmel, das Meer und das unter einem befindliche Dorf. Die Hügelkuppe war heiliger Boden, doch obgleich mehrere Tote hier begraben waren, gab es nur noch einen Grabstein mit einer leserlichen Inschrift.
Im Dorf säumten bunt bemalte Häuser, einige traditionell mit Reet gedeckt, die aufgeräumten Straßen. Unzählige Blumen ergossen sich aus Kästen, Körben, Töpfen oder wogten leuchtend in den Gärten. Sowohl aus der Ferne als auch aus der Nähe bot sich dem Betrachter ein liebreizendes Bild, und die Dorfbewohner konnten den Besuchern voller Stolz erzählen, dass ihnen nicht zu Unrecht zweimal hintereinander der Preis für die schönste Ortschaft in der Grafschaft verliehen worden war.
Oben auf dem Tower Hill fanden sich ein schönes Beispiel eines alten Rundturms mit immer noch intakter, konisch zulaufender Spitze sowie die Ruine der im zwölften Jahrhundert zu Ehren des Heiligen Declan erbauten Kathedrale. Die Menschen der Umgebung erzählten immer wieder gerne, dass Declan bereits dreißig Jahre vor dem Heiligen Patrick in Irland Heiden bekehrt hatte. Nicht um anzugeben, sondern nur, damit man wusste, wie es um diese Dinge stand.
Diejenigen, die sich für solche Sachen interessierten, fanden in den Steinen in der Kathedrale, die kein Dach hatte, Beispiele für altirische Gravuren und einen zwar verwitterten, doch immer noch betrachtenswerten römischen Säulengang.
Anders als die alte Kirche war das Dörfchen, wie bereits beschrieben, mit seinen ein, zwei kleinen Läden und den unweit der wunderbaren Strände verstreuten, hübschen Häuschen weniger erhaben als vielmehr einfach pittoresk.
Am Eingang von Ardmore begrüßte ein Schild die Menschen mit failte, einem herzlichen gälischen Willkommen.
Es war genau diese Mischung aus alter Geschichte, Einfachheit und Gastfreundschaft, die Trevor Magee interessierte.
Seine Familie stammte aus dieser Gemeinde. Sein Großvater war hier geboren, in einem kleinen Häuschen nahe der Bucht von Ardmore, hatte während der ersten Jahre seines Lebens die feuchte Seeluft eingeatmet und vielleicht an der Hand seiner Mutter die Läden oder Strände aufgesucht.
Später hatte sein Großvater das kleine Dorf verlassen, war mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn nach Amerika gegangen und, soweit Trevor wusste, niemals weder tatsächlich noch auch nur in Gedanken je nach Ardmore zurückgekehrt. Der alte Mann hatte stets eine bittere Distanz zu der alten Heimat empfunden. Über Irland, Ardmore und die Familie, die er zurückgelassen hatte, hatte Dennis Magee kaum je ein Wort verloren.
So war Trevors Vorstellung von Ardmore gleichermaßen von Neugier und sentimentalen Empfindungen geprägt, waren die Gründe für die Auswahl gerade dieses Dörfchens rein persönlicher Natur.
Aber das konnte er sich leisten.
Er war ein Mann, der baute, und zwar ebenso wie sein Großvater und Vater clever und sehr gut.
Sein Großvater hatte als Maurer angefangen, während und nach dem Zweiten Weltkrieg mit Grundstücken spekuliert und schließlich den Kauf und Verkauf übernommen und für das Bauen andere bezahlt.
Seine Anfänge als Maurer hatte der alte Magee ebenso wenig verklärt wie seine alte Heimat. Soweit Trevor sich entsann, hatte er in keinerlei Hinsicht je irgendein Gefühl gezeigt.
Aber Trevor hatte das Herz und die Hände des Maurers ebenso wie den Geschäftssinn des alten Mannes geerbt und gelernt, beides Gewinn bringend zu nutzen.
Auch hier kämen ihm seine Fähigkeiten sicherlich zupass, wenn er sie neben einem gewissen Maß an Sentimentalität in den Bau seines Theaters investierte, eines traditionellen Gebäudes für traditionelle Musik, mit dem bereits etablierten Pub der Gallaghers als einladendem Vorbau.
Der Vertrag mit den Geschwistern war bereits unterzeichnet, der Boden für das Vorhaben bereitet, ehe er es endlich geschafft hatte, genug Zeit zu finden für einen etwas längeren Besuch. Doch endlich war er hier, und er hatte die Absicht, mehr zum Gelingen des Bauwerks beizutragen, als dass er andere bezahlte und ihnen bei der Arbeit zusah.
Er wollte selbst mit anfassen.
Auch im Mai in Irland konnte ein Mann in Schweiß geraten, wenn er den Vormittag damit verbrachte, Betonsäcke zu schleppen. Am frühen Morgen hatte Trevor, bekleidet mit einer warmen Jacke und einen Becher heißen Kaffee in den Händen, dem von ihm gemieteten Cottage den Rücken zugewandt. Jetzt, nur ein paar Stunden später, hatte er die Jacke ausgezogen, und trotzdem war sein Hemd von Schweiß durchtränkt.
Er hätte hundert Pfund gegeben für ein kühles Bier.
Bis zum Pub war es nicht weit. Er wusste von einem Besuch am Vortag, dass dort mittags recht viel los war. Aber ein Mann konnte unmöglich seinen Durst mit einem Hellen löschen, wenn er seinen Angestellten den Alkohol beim Arbeiten verbot.
Er ließ die Schultern kreisen, drehte seinen Kopf nach allen Seiten und sah sich zufrieden um. Der Betonmischer rumpelte beständig, Männer gaben einander brüllend Anweisungen oder bestätigten deren Erhalt. Arbeitsmusik, dachte Trevor. Er wurde sie anscheinend niemals leid.
Dies war ein Erbteil seines Vaters. Man musste die Dinge von der Pike auf lernen, hatte Dennis junior ihm ständig gepredigt, und genau das hatte er dann auch getan. Über zehn Jahre lang – fünfzehn, wenn er die Sommer zählte, während deren er auf Baustellen geschwitzt hatte – hatte er sämtliche Bereiche des Bauhandwerks gelernt.
Er kannte die Rückenschmerzen, die blutigen Schwielen und den Muskelkater ganz genau.
Jetzt, mit zweiunddreißig Jahren, verbrachte er mehr Zeit mit Vorstandssitzungen und Besprechungen als auf dem Gerüst, aber niemals hatte er die Freude oder die Befriedigung vergessen, die es einem verschaffte, wenn man selbst den Hammer schwang.
Und genau das würde er hier in Ardmore beim Bau seines Theaters endlich wieder einmal tun.
Er blickte auf die zierliche Frau mit der abgetragenen Kappe und den schlammbespritzten Stiefeln, die, während der nasse Beton durch die Rinne rutschte, wild gestikulierend zwischen den Arbeitern herumlief. Sie kletterte über Sand und Steine, klopfte mit ihrer Schaufel laut gegen die Rinne, damit der Fahrer des Mischers die Maschine anhielt, und watete dann zusammen mit den anderen durch den Schlamm, um den Beton an die richtigen Stellen zu verfrachten und zu glätten.
Brenna O’Toole, dachte Trevor und war froh darüber, seinem Instinkt gefolgt zu sein. Es war richtig gewesen, sie und ihren Vater zu Vorarbeitern zu ernennen. Nicht nur wegen ihres beeindruckenden handwerklichen Talents, sondern weil sie das Dorf und die Bewohner genau kannten und dafür sorgten, dass die Arbeit glatt lief und die Männer von morgens bis abends ackerten, ohne die Freude daran zu verlieren.
Werbung dieser Art war für sein Projekt ebenso wichtig wie ein gutes Fundament.
Ja, tatsächlich, sie machten ihre Sache gut. In den drei Tagen seit seiner Ankunft hatte sich die Wahl des O’Toole’schen Familienunternehmens als goldrichtig erwiesen.
Als Brenna aus dem Loch herauskam, trat Trevor einen Schritt nach vorn, reichte ihr die Hand und zog sie mühelos über den Rand.
»Danke.« Sie steckte ihre Schaufel in die Erde, stützte sich lässig darauf ab und wirkte trotz der schmutzigen Stiefel und der verblichenen Kopfbedeckung wie eine kleine Elfe. Ihre Haut war weiß wie reine irische Sahne, und unter dem Rand der Kappe sah man dichte, wilde feuerrote Locken.
»Tim Riley sagt, dass es in den nächsten ein, zwei Tagen keinen Regen geben wird, und für gewöhnlich sind seine Prognosen durchaus zutreffend. Ich denke also, das Fundament ist fertig, bevor Sie sich wegen des Wetters irgendwelche Gedanken machen müssen.«
»Sie haben bereits vor meinem Kommen Beachtliches geleistet.«
»Nachdem Sie uns die Starterlaubnis gegeben hatten, gab es keinen Grund zu warten. Sie kriegen ein gutes, solides Fundament, Mr. Magee, und zwar noch vor Ablauf der gesetzten Frist.«
»Trev.«
»In Ordnung, Trev.« Sie schob sich ihre Kappe aus der Stirn, hob ihren Kopf und sah ihm in die Augen. Trotz ihrer dicken Stiefel war sie mindestens dreißig Zentimeter kleiner als der Mann. »Die Männer, die Sie aus Amerika geschickt haben, bilden ein wirklich gutes Team.«
»Da ich sie quasi handverlesen habe, erlaube ich mir, Ihre Einschätzung zu bestätigen.«
Sie fand seine Stimme, wenn auch durchaus freundlich, so doch ein wenig arrogant. »Frauen scheinen Sie nicht unbedingt zu interessieren.«
Ein Lächeln wanderte langsam von seinen Lippen in Richtung seiner rauchig grauen Augen. »O doch, und zwar in jeder Hinsicht. Für dieses Projekt habe ich zum Beispiel eine meiner besten Schreinerinnen engangiert. Sie wird nächste Woche hier erscheinen.«
»Es ist gut, zu wissen, dass mein Vetter Brian sich in dieser Beziehung nicht geirrt hat. Er hat behauptet, Sie würden die Menschen nach ihren Fähigkeiten einstellen und nicht nach ihrem Geschlecht. Wir haben heute Morgen schon ganz schön was geschafft«, fügte sie mit einem Nicken in Richtung der Baustelle hinzu. »Auch wenn dieser ratternde Bastard von Betonmischer uns noch eine ganze Weile erhalten bleiben wird. Wenn Darcy morgen aus dem Urlaub kommt, wird Sie uns die Ohren abreißen wegen dieses Lärms.«
»Es ist ein angenehmer Lärm. Er beweist, dass etwas Neues im Entstehen ist.«
»Der Ansicht bin ich auch immer gewesen.«
Einen Augenblick lang standen sie einträchtig nebeneinander und verfolgten, wie der Mischer den letzten Beton aus seinem Riesenschlund erbrach.
»Kommen Sie, ich lade Sie zum Mittagessen ein«, schlug Trevor Brenna vor.
»Sehr gern.« Brenna pfiff durch ihre Zähne und bedeutete ihrem Vater, als er endlich den Kopf hob, durch Gesten, dass sie zum Essen gehen würde. Mick reagierte mit einem Grinsen und einem gut gelaunten Winken und stürzte sich sofort wieder in die Arbeit.
»Das hier ist für ihn das Paradies«, erklärte Brenna, als sie und Trevor begannen, ihre Stiefel abzukratzen. »Nichts macht Mick O’Toole so glücklich, wie mitten auf einer möglichst schlammigen Baustelle zu sein.«
Brenna stampfte noch ein paar Mal mit ihren Stiefeln auf den Boden und ging dann in Richtung der Küchentür des Pubs. »Ich hoffe, Sie nehmen sich auch ein wenig Zeit, um sich die Gegend anzusehen, statt immer nur zu arbeiten.«
»Ich habe durchaus die Absicht, mir möglichst vieles anzuschauen.« Natürlich hatte er sich bereits ausführlich über sämtliche Sehenswürdigkeiten, die Zustände der Straßen, die wichtigsten Verbindungswege von und zu den wichtigeren Städten informiert. Aber er hatte die Absicht, sich das alles auch persönlich anzusehen.
Es war beinahe wie ein Zwang, musste sich Trevor eingestehen. Irgendetwas hatte ihn seit über einem Jahr hierher gezogen, immer wieder hatte er von Irland und speziell von dem alten Heimatdorf des Großvaters geträumt.
»Es ist doch immer schön, zu sehen, wie ein attraktiver Bursche das tut, was er am besten kann«, erklärte Brenna beim Öffnen der Tür. »Hallo, Shawn, was hast du denn heute Leckeres gekocht?«
Vor dem riesigen, uralten Herd stand ein schlanker, hoch gewachsener Mann mit wirren schwarzen Haaren und neblig blauen Augen. »Als Tagesmenü gibt es Spinatsuppe und Beef-Sandwich. Guten Tag, Trevor. Und, arbeitet sie mal wieder schwerer, als sie sollte?«
»Sie sorgt dafür, dass die Dinge in Bewegung bleiben.«
»Es bleibt mir auch nichts anderes übrig, denn der Mann, mit dem ich mein Leben teile, ist nun mal ein bisschen lahm. Ich frage mich, ob du inzwischen vielleicht noch ein, zwei Lieder ausgesucht hast, um sie Trevor zu zeigen.«
»Ich hatte einfach zu viel damit zu tun, mich um meine frisch Angetraute zu bemühen. Sie ist ein anspruchsvolles Wesen. « Mit diesen Worten legte er eine Hand an Brennas Wange und gab ihr einen Kuss. »Und jetzt verschwindet aus der Küche. Ohne Darcy herrscht hier das vollkommene Chaos.«
»Morgen kommt sie ja zurück, und spätestens nach einer Stunde wirst du sie schon wieder ein Dutzend Mal verflucht haben.«
»Weshalb sollte ich sie wohl auch sonst derart vermissen? Sagen Sie einfach Sinead, was Sie essen möchten«, sagte er zu Trevor. »Sie ist ein liebes Mädchen, und außerdem hat Jude ihr bereits einiges gezeigt. Trotzdem braucht sie einfach noch ein bisschen Übung.«
»Sinead ist eine Freundin meiner Schwester Mary Kate«, erklärte Brenna Trevor auf dem Weg hinüber in den Gastraum. »Ein gutmütiges Mädchen, wenn auch vielleicht ein bisschen schwer von Begriff. Sie hat sich in den Kopf gesetzt, Billy O’Hara zu heiraten, und das wäre augenblicklich auch schon die Summe der Dinge, die sie anstrebt.«
»Und was sagt Billy O’Hara zu der Sache?«
»Da er etwas weniger ehrgeizig ist als Sinead, hält Billy klugerweise ganz einfach den Mund. Guten Tag, Aidan.«
»Hallo.« Der Älteste der Gallaghers stand hinter dem Tresen und hatte gerade die Hände an den Zapfhähnen. »Wollt ihr etwas essen?«
»Allerdings. Sieht aus, als hättest du gerade viel zu tun.«
»Gott senge die Touristenbusse.« Mit einem gut gelaunten Zwinkern ließ Aidan zwei gefüllte Gläser über die Theke in die wartenden Hände eines Gastes gleiten.
»Sollen wir vielleicht lieber in der Küche essen?«
»Nein, das ist nicht nötig. Es sei denn, ihr habt es eilig.« Seine dunkelblauen Augen suchten nach zwei unbesetzten Plätzen. »Der Service ist eine Spur langsamer als sonst. Aber ein, zwei Tische sind noch frei.«
»Ich überlasse die Entscheidung ganz einfach dem Boss.« Brenna wandte sich an Trevor. »Wo möchten Sie essen?«
»Nehmen wir doch einfach einen Tisch.« Von dort aus konnte er besser verfolgen, wie die Geschäfte liefen.
Er folgte ihr an eines der runden Tischchen. Gesprächslärm, Rauch und der Geruch von Alkohol und frischem Essen erfüllten den Raum.
»Möchten Sie ein Bier?«, fragte ihn Brenna.
»Erst nach der Arbeit.«
Grinsend wippte sie auf ihrem Stuhl. »Das habe ich bereits von einigen der Männer gehört. Es heißt, in dieser Hinsicht wären Sie ein ziemlicher Tyrann.«
Ein Tyrann genannt zu werden fand er durchaus passend. Schließlich bedeutete es, dass er die Kontrolle über alles hatte. »Da haben sie sicherlich nicht Unrecht.«
»Allerdings bekommen Sie vielleicht gewisse Probleme bei der Durchsetzung dieses speziellen Verbots. Ein Großteil der Männer, die hier für Sie arbeiten, wurden praktisch mit Guinness großgezogen, sodass es für sie so normal ist wie Muttermilch.«
»Ich trinke selber gerne Guinness, aber wenn ein Mann oder eine Frau von mir bezahlt wird, dann hält er oder sie sich während der Arbeitszeiten besser an die Milch.«
»Trevor Magee, da sind Sie wirklich ein bisschen zu hart.« Doch sie sagte es mit einem Lachen. »Aber jetzt sagen Sie mir, wie es Ihnen im Faerie Hill Cottage gefällt.«
»Sehr gut. Es ist gemütlich, mit allen notwendigen Dingen ausgestattet, ruhig, und man hat eine Aussicht, die einem das Herz aufgehen lässt. Es ist genau das, was ich gesucht hatte, und deshalb bin ich Ihnen wirklich dankbar, dass Sie es mir überlassen.«
»Kein Problem, gar kein Problem. Schließlich waren Sie mit dem Verlobten der ehemaligen Besitzerin verwandt. Ich glaube, Shawn vermisst die kleine Küche, denn das Haus, das wir uns gerade bauen, ist noch lange nicht perfekt. Natürlich kann man dort schon leben«, fügte sie hinzu, da dies einer ihrer momentanen wunden Punkte war, »aber ich denke, ich sollte mich an meinen freien Tagen vor allem um die Küche kümmern, damit er endlich wieder glücklich ist.«
»Ich würde es mir gern mal ansehen.«
»Tatsächlich?« Sie bedachte ihn mit einem überraschten Blick. »Tja, Sie sind jederzeit herzlich willkommen. Ich werde Ihnen beschreiben, wie Sie hinkommen. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn ich sage, dass ich Sie mir nicht derart freundlich vorgestellt habe.«
»Was haben Sie denn von mir erwartet?«
»Ich dachte, Sie wären eher so etwas wie ein Hai, und hoffe, Sie sind deswegen nicht gekränkt.«
»Nein. Denn tatsächlich kommt es immer auf das Gewässer an, in dem ich gerade schwimme.« Er hob den Kopf, und sein Blick wurde, als er Aidans Frau erblickte, überraschend warm. Als er sich jedoch erheben wollte, um ihr seinen Platz zu überlassen, winkte sie eilig ab.
»Nein, ich kann mich leider nicht dazusetzen, aber trotzdem vielen Dank.« Sie legte eine Hand auf ihren runden Leib. »Hallo, mein Name ist Jude Frances, und ich bin heute Ihre Kellnerin.«
»Sie sollten nicht mit schweren Tabletts herumlaufen.«
Seufzend zog Jude einen Block aus ihrer Schürze. »Er klingt genau wie Aidan. Ich ruhe mich schon aus, wenn ich denke, dass es sein muss, und außerdem trage ich nur die leichten Dinge. Aber Sinead kommt allein einfach nicht zurecht.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Trevor. Meine eigene Mutter hat an dem Tag, an dem ich auf die Welt kam, noch Kartoffeln ausgebuddelt und diese, als die Geburt vorbei war, sogar noch gebraten.« Als Trevor skeptisch die Augen zusammenkniff, lachte Brenna fröhlich auf. »Tja, vielleicht nicht ganz, aber ich wette, sie hätte es gekonnt. Ich nehme die Tagessuppe, wenn es recht ist, und dazu ein Glas Milch.« Bei diesen Worten bedachte sie Trevor mit einem bösartigen Grinsen.
»Ich nehme das Gleiche«, sagte Trevor. »Und dazu noch ein Sandwich.«
»Da haben Sie wirklich gut gewählt. Ich bin sofort wieder da.«
»Sie ist stärker, als sie aussieht«, erklärte Brenna Trevor, als Jude sich anderen Gästen zuwandte. »Und sturer als ein Maulesel. Nun, da ihr Leben in der für sie richtigen Richtung läuft, arbeitet sie noch härter als vorher daran, zu beweisen, dass sie tun kann, wovon andere ihr abraten. Aber ich verspreche Ihnen, Aidan wird nicht zulassen, dass sie sich übernimmt. Der Mann betet sie an.«
»Ja, das habe ich bereits bemerkt. Scheint, als wären die Gallagher’schen Männer ihren Frauen wirklich treu ergeben.«
»Das will ich für sie hoffen. Andernfalls würden nämlich genau diese Frauen ihnen das Leben schwer machen.« Sie wippte entspannt auf ihrem Stuhl und zog sich die Kappe von den leuchtend roten Haaren, woraufhin diese wie eine feurige Kaskade um ihre Schultern flossen. »Dann ist es Ihnen, verglichen mit Ihrem Leben in New York, hier draußen auf dem Land also nicht zu rustikal?«
Er dachte an die Baustellen, mit denen er es für gewöhnlich zu tun hatte: Schlammlawinen, Überschwemmungen, glühende Hitze, Vandalismus und Sabotage gehörten dort zum täglichen Programm. »Ganz und gar nicht. Das Dorf entspricht genau dem, was ich nach Finkles Berichten erwartet hatte.«
»Ah ja, Finkle.« Sie erinnerte sich noch genau an Trevors Spion. »Ich glaube, ihm haben bei uns die Annehmlichkeiten des Stadtlebens gefehlt. Aber Sie scheinen weniger ... anspruchsvoll zu sein.«
»Ich bin sogar äußerst anspruchsvoll. Das war ja auch der Grund, weshalb ich Ihre Pläne für das Theater ohne nennenswerte Änderungen sofort übernommen habe.«
»Das war ein nettes und zugleich durchtriebenes Kompliment. « Nichts anderes hätte sie derart erfreut. »Aber ich hatte es etwas persönlicher gemeint. Ich habe eine ganz besondere Beziehung zu dem Cottage auf dem Feenhügel, und ich war mir einfach nicht sicher, ob es Ihnen dort gefallen würde. Ich schätze, ich dachte, ein Mann mit Ihrem Hintergrund und Ihren finanziellen Mitteln wäre vielleicht lieber im Cliff Hotel, wo es Zimmerservice, ein Restaurant und andere Annehmlichkeiten gibt.«
»Hotelzimmer haben immer etwas Beengendes. Und ich finde es interessant, in dem Haus zu leben, in dem die Frau, die mit einem meiner Vorfahren verlobt war, geboren wurde, gelebt hat und gestorben ist.«
»Die alte Maude war wirklich eine feine Frau. Und obendrein sehr weise.« Brenna blickte Trevor beim Sprechen in die Augen. »Sie ist in der Nähe des Brunnens des Heiligen Declan begraben, und dort ist die Stelle, an der man sie spürt. Sie ist nicht die Frau im Cottage.«
»Wer denn dann?«
Brenna zog ihre Brauen in die Höhe. »Haben Sie die Legende wirklich noch nie gehört? Ihr Großvater ist hier geboren, genau wie Ihr Vater, auch wenn der, als sie nach Amerika gingen, beinahe noch ein Baby war. Trotzdem kam er vor Jahren noch einmal hierher zurück. Und weder Ihre Großeltern noch Ihr Vater haben Ihnen je die Geschichte von Prinz Carrick und der armen Lady Gwen erzählt?«
»Nein. Dann ist also Lady Gwen diejenige, die in dem Cottage spukt?«
»Haben Sie sie etwa schon gesehen?«
»Nein.« Trevor war nicht mit Legenden und Mythen aufgewachsen, aber es floss genug irisches Blut in seinen Adern, um sie nicht einfach als blanken Unfug abzutun. »Aber das Cottage hat einen femininen Touch, es ist beinahe so, als verströme es einen weiblichen Geruch. Also gehe ich davon aus, dass die Lady diejenige ist, die dort residiert.«
»Da haben Sie tatsächlich Recht.«
»Wer war sie? Ich denke, wenn ich schon unter einem Dach lebe mit ihr, sollte ich zumindest etwas von ihr wissen.«
Weder tat er das Thema einfach ab, noch zeigte er sich angesichts der irischen Schwäche für Legenden nachsichtig amüsiert. Offenbar hegte er tatsächlich ein beinahe nüchternes Interesse an dem unter seinem Dach lebenden Geist. »Sie überraschen mich schon wieder. Warten Sie einen Moment. Ich bin sofort wieder da.«
Faszinierend, dachte Trevor. Er hatte tatsächlich einen Geist in seinem Haus.
Er hatte schon vorher hin und wieder die Nähe anderer Wesen wahrgenommen. In alten Gebäuden, auf verlassenen Grundstücken oder leeren Feldern. Es war nichts, worüber man sich für gewöhnlich auf Vorstandssitzungen oder nach der schweißtreibenden Arbeit eines Tages beim Bier mit den Maurern unterhielt. Normalerweise nicht. Doch dies hier war ein anderer Ort, hier herrschte ein völlig anderer Ton. Und er wollte tatsächlich möglichst alles wissen.
Alles, was mit Ardmore und der Umgebung zu tun hatte. Eine gute Gespenstergeschichte zog die Menschen an, ebenso wie ein gut geführter Pub. Es trug alles zur Atmosphäre eines Ortes bei.
Im Gallagher’s herrschte genau die Atmosphäre, die er sich für sein Theater wünschte. Das alte, von der Zeit, dem Rauch und Bratfett heimelig geschwärzte Holz passte hervorragend zu den cremefarbenen Wänden, dem steinernen Kamin, den kleinen Tischen und niedrigen Stühlen.
Die Theke selbst war eine wahre Schönheit, aus uralter, von den Gallaghers auf Hochglanz polierter Kastanie. Als Gäste wurden bereits Babys auf den Armen der Mütter durch die Tür getragen, und auf einem Hocker am hinteren Ende des Tresens balancierte der wahrscheinlich älteste Mann, den Trevor je gesehen hatte.
Auch einige andere Besucher schienen Einheimische zu sein. Das erkannte er ganz einfach an der Gelassenheit, mit der sie an den Tischen hockten, Zigaretten rauchten und an ihren Gläsern nippten. Der Großteil der Gäste jedoch waren anscheinend nichts anderes als Touristen, was man an den Fotoapparaten, den Landkarten und Reiseführern sah.
Man hörte die verschiedensten Akzente, doch überwog der wunderbare Singsang, der die Stimmen seiner Großeltern geprägt hatte.
Hatten sie selbst den Singsang ebenfalls gehört, und warum hatte es sie nie danach verlangt, die alte Heimat noch einmal zu sehen? Welche bitteren Erinnerungen hatten sie über Jahrzehnte hinweg mühselig verdrängt, damit ihr Enkel nun hierher zurückkam, um zu ergründen, was ihm stets verschwiegen worden war?
Vor allem aber, weshalb hatte er Ardmore und die Aussicht aus dem Cottage bei seiner Ankunft wieder erkennen können, und weshalb wusste er schon jetzt, was er sähe, wenn er auf die Klippen steigen würde? Es war, als hätte er im Geiste ein Bild von diesem Ort gehabt, ein Bild, das von jemand anderem gemacht und ihm eingegeben worden war.
Sie hatten keine Fotos von Ardmore oder dem kleinen Haus gehabt. Sein Vater hatte die alte Heimat einmal als junger Mann besucht, aber seine Beschreibungen waren bestenfalls bruchstückhaft gewesen.
Natürlich hatte er die Berichte von Finkle eingehend studiert. Detaillierte Fotos und Beschreibungen. Aber trotzdem hatte er bereits vor Öffnen des ersten Ordners alles gewusst, ganz genau gewusst.
Hatte er die Erinnerung an Ardmore vielleicht einfach geerbt?, fragte er sich, obgleich er von derartigen Dingen im Grunde nichts hielt. Es war eine Sache, die hellgrauen, schräg stehenden Augen des Vaters zu bekommen. Und man hatte ihm gesagt, er hätte das Geschick und den Geschäftssinn seines Großvaters. Wie aber erbte man die Erinnerung an einen Ort?
Er spielte mit der Idee, während er sich unter den anderen Gästen umsah, ohne dass er darauf gekommen wäre, dass er selbst in seinen Arbeitskleidern und mit den zerzausten dunkelblonden Haaren eher wie ein Einheimischer wirkte als ein Tourist. Er hatte ein schmales, grobknochiges Gesicht, das die meisten Menschen eher an einen Krieger oder vielleicht einen Gelehrten als an einen Geschäftsmann denken ließ. Die Frau, die er beinahe geheiratet hätte, hatte stets gesagt, es sehe aus wie die Skulptur eines wilden Genies. Am Kinn hatte er eine kleine Narbe – Folge eines Sturms fliegender Scherben während eines in Houston wütenden Tornados –, die den Eindruck der Härte noch verstärkte.
Es war ein Gesicht, das von seinen Gefühlen kaum je etwas verriet, solange Trevor Magee nicht meinte, es gereiche ihm zum Vorteil.
Augenblicklich wirkte es kühl und distanziert, doch als Brenna zusammen mit Jude zurück an den Tisch kam, wurde es umgehend freundlich. Brenna war diejenige, die das Tablett mit ihrem Essen trug.
»Ich habe Jude gebeten, sich kurz zu uns zu setzen und Ihnen von Lady Gwen zu erzählen«, meinte Brenna und stellte bereits die Teller auf den Tisch. »Sie ist nämlich eine seanachais.«
Angesichts von Trevors hochgezogenen Brauen schüttelte Jude abwehrend den Kopf. »Das ist das gälische Wort für Geschichtenerzählerin. Ich bin keine wirkliche Erzählerin, ich –«
»Du bist eine Erzählerin, von der gerade ein Buch verlegt wird und die bereits das zweite schreibt. Judes Buch wird Ende des Sommers herauskommen«, fuhr Brenna fort. »Es gibt ein herrliches Geschenk ab, also würde ich an Ihrer Stelle, wenn ich einkaufen gehe, danach Ausschau halten.«
»Brenna.« Jude verdrehte die Augen.
»Ich werde ganz sicher danach schauen. Ein paar von Shawns Texten sind ebenfalls Geschichten. Er folgt damit einer alten, ehrwürdigen Tradition.«
»Oh, das hört er sicher gerne.« Strahlend klemmte sich Brenna das leere Tablett unter den Arm. »Ich mache ein bisschen für dich weiter, Jude. Fang du schon mal mit dem Erzählen an. Ich habe die Geschichte inzwischen oft genug gehört.«
»Sie hat genug Energie für zwanzig Leute.« Ein bisschen müde griff Jude nach ihrer Tasse Tee.
»Ich bin froh, dass ich sie für das Projekt gefunden habe. Oder dass sie mich gefunden hat.«
»Ich würde sagen, es war ein wenig von beidem, denn Sie und Brenna sind beide nicht die Typen, die lange abwarten.« Sie zuckte zusammen. »Das habe ich nicht negativ gemeint.«
»So habe ich es auch nicht verstanden. Und, strampelt das Baby gerade? Sie haben so einen ganz bestimmten Blick«, erklärte Trevor seine Frage. »Meine Schwester hat gerade ihr drittes Kind bekommen.«
»Ihr drittes?« Jude atmete hörbar aus. »Es gibt Augenblicke, in denen ich mich frage, wie ich je auch nur mit einem fertig werden soll. Das Kerlchen ist jetzt schon fürchterlich aktiv. Aber es wird trotzdem noch ein paar Monate warten müssen.« Sie strich sich langsam mit der Hand über den Bauch. »Sie wissen es vielleicht nicht, aber bis vor einem guten Jahr habe ich noch in Chicago gelebt.«
Er machte ein unverbindliches Geräusch. Natürlich wusste er genau Bescheid, denn schließlich hatte Finkle in seinen Berichten jede noch so geringfügige Kleinigkeit erwähnt.
»Ich hatte die Absicht, für sechs Monate herzukommen und in dem Cottage zu wohnen, in dem meine Großmutter nach dem Tod ihrer Eltern gelebt hatte. Sie hatte es von ihrer Cousine Maude geerbt, die, kurz bevor ich hierher kam, gestorben war.«
»Die Frau, mit der mein Großonkel verlobt war.«
»Ja, genau. An dem Tag, als ich hier ankam, hat es fürchterlich geregnet. Ich dachte, ich hätte mich verfahren. Und zwar mehr als nur im geographischen Sinn. Ich war nervlich vollkommen am Ende.«
»Sie kamen ganz allein in ein völlig fremdes Land?« Trevor neigte den Kopf zur Seite. »Das klingt aber nicht gerade nach allzu schwachen Nerven.«
»Das hätte Aidan auch so sagen können.« Und weil es wirklich stimmte, empfand sie es als tröstlich. »Ich nehme an, ich wusste zu dem Zeitpunkt einfach nicht, welche Kräfte in mir ruhten. Auf alle Fälle bog ich in die Einfahrt dieses kleinen Häuschens mit dem hübschen strohgedeckten Dach ein. Und hinter dem oberen Fenster sah ich eine Frau. Sie hatte ein liebliches, wenngleich trauriges Gesicht und weizenblonde Haare, die ihr um die Schultern fielen. Sie sah mir mitten ins Gesicht. Dann kam Brenna angeprescht. Scheint, als wäre ich rein zufällig über mein eigenes Cottage gestolpert und als wäre die Frau, die ich gesehen hatte, Lady Gwen gewesen.«
»Der Geist?«
»Genau. Klingt ziemlich fantastisch, nicht wahr? Oder zumindest unvernünftig. Aber ich kann Ihnen genau sagen, wie sie aussah. Ich habe sie gezeichnet. Und ich hatte bei meiner Ankunft von der Legende ebenso wenig gehört wie Sie anscheinend auch.«
»Aber ich würde sie gern hören.«
»Dann werde ich sie Ihnen jetzt erzählen.« Jude machte eine Pause, als Brenna zurück an den Tisch kam und sich über ihre Suppe hermachte.
Sie war tatsächlich eine gute Erzählerin, bemerkte Trevor. Sie sprach in einem weichen, natürlichen Rhythmus, der den Zuhörer in die Geschichte einbezog. Sie erzählte ihm von einem jungen Mädchen, das in dem Cottage auf dem Feenhügel gelebt hatte. Einem bescheidenen jungen Mädchen, das, nachdem die Mutter im Kindbett gestorben war, den Vater liebevoll versorgte und das Häuschen und den Garten in Ordnung hielt.
Unter dem sanft ansteigenden grünen Hügel lag der silberne Palast der Feen, in dem Carrick als Prinz regierte. Er war ein stolzer, attraktiver Bursche mit fließendem rabenschwarzen Haar und leuchtend blauen Augen. Der Blick dieser Augen fiel auf die junge Gwen, und sie erwiderte ihn kühn.
Feenprinz und junges Mädchen verliebten sich unsterblich ineinander, und nachts, wenn alle anderen schliefen, flog er mit ihr zusammen auf seinem geflügelten weißen Schlachtross hoch in den dunklen Himmel. Sie sprachen niemals über ihre Liebe, denn der Prinz blockte die Worte ab. Eines Nachts wurde Gwens Vater wach, sah, wie sie mit Carrick von seinem weißen Pferd stieg, verlobte sie aus Sorge um ihr Wohlergehen mit einem anderen Mann und befahl ihr, diesen umgehend zu heiraten.
Carrick flog auf seinem Ross zur Sonne und sammelte die brennenden Funken in seinem Silberbeutel ein. Als Gwen aus ihrem Cottage trat, um ihn vor ihrer Hochzeit noch einmal zu sehen, öffnete er den Beutel und schüttete Diamanten – die Juwelen der Sonne – vor ihr aus. Nimm sie und mich, denn sie sind das Zeichen meiner Leidenschaft für dich, sagte er und versprach ihr ein Leben in Ruhm und Reichtum und obendrein Unsterblichkeit. Aber mit keinem Wort sprach er von seiner Liebe. Also schickte sie ihn fort, und die im Gras liegenden Diamanten verwandelten sich in Blumen.
Er kam noch einmal, als sie ihr erstes Kind unter dem Herzen trug, schüttete aus seinem Silberbeutel Perlen – die Tränen des Mondes – vor ihr aus und sagte, sie wären das Zeichen seines Verlangens. Aber Verlangen ist nicht Liebe, und außerdem hatte sie inzwischen versprochen, einem anderen treu zu sein. So wandte sie sich von ihm ab, und auch aus den Perlen erwuchsen kleine, zarte Blumen.
Viele Jahre vergingen, in denen Gwen ihre Kinder großzog, ihren Mann während seiner langen Krankheit pflegte und ihn schließlich begrub, während Carrick grübelnd in seinem Palast saß oder ungestüm auf seinem Pferd über den Himmel galoppierte.
Schließlich tauchte er ins Meer und holte aus seinen Tiefen das letzte seiner Geschenke für die inzwischen alte Frau. Wieder erschien er vor dem Cottage, und dieses Mal schüttete er blitzende Saphire vor ihr aus. Als Zeichen der Beständigkeit. Als er jetzt endlich von seiner Liebe sprach, weinte sie bittere Tränen, denn ihr Leben war vorbei. Sie erklärte ihm, es sei zu spät, sie hätte niemals Ruhm oder Reichtum haben wollen, sondern einzig seine Liebe. Eine Liebe, die groß genug war, sie ihre Angst davor überwinden zu lassen, alles für ihn aufzugeben, was sie bis dahin gekannt hatte. Und als sie sich abermals von ihm abwandte, als abermals die kostbaren Steine zu kleinen Blumen wurden, verlor er die Beherrschung und belegte sie mit einem bösen Bann. Ohne ihn fände sie niemals Frieden, doch sie würden einander nicht eher wieder sehen, als dass dreimal zwei Liebende einander fänden, akzeptierten und es wagen würden, ihre Liebe über alles andere zu stellen.
Dreihundert Jahre, dachte Trevor, als er später in das Cottage kam, in dem Gwen gelebt hatte und schließlich auch gestorben war. Das war eine ziemlich lange Zeit. Er hatte Judes ruhiger, fließender Stimme gelauscht, ohne sie auch nur ein Mal zu unterbrechen, ohne ihr zu sagen, dass er Teile der Geschichte schon gekannt hatte. Irgendwie gekannt hatte.
Er hatte sie geträumt.
Auch hatte er ihr nicht erzählt, dass er Gwen hätte beschreiben können, angefangen bei den grünen Augen bis hin zu ihren schmalen Wangen. Auch sie hatte er längstens schon geträumt.
Und er hätte, wie er merkte, Sylvia beinahe aus dem Grund zur Frau genommen, weil sie ihn an das Bild aus seinem Traum erinnerte. Eine weiche, bescheidene Frau. Eigentlich hätte es zwischen ihnen klappen müssen, dachte er, als er die Treppe hinauf in Richtung Badezimmer ging, um sich den Schmutz des Tages abzuduschen. Es ärgerte ihn immer noch, dass es anders gekommen war. Aber sie hatten doch nicht zueinander gepasst.
Sie hatte es vor ihm bemerkt und hatte ihn sanft gehen lassen, ehe er sich auch nur eingestanden hatte, dass er bereits in Richtung Tür sah. Vielleicht war es das, was ihn am meisten störte. Er hatte nicht die Höflichkeit besessen, die Sache mit Anstand zu beenden. Auch wenn sie ihm verziehen hatte, hatte er sich selbst noch lange nicht verziehen.
Er roch den Duft der frischen, taubenetzten Rosenblätter, sobald er das Schlafzimmer betrat. Zart und unverkennbar weiblich.
»Ein Parfüm tragender Geist«, murmelte er seltsam amüsiert. »Nun, wenn Sie ein Mindestmaß an Anstand haben, drehen Sie sich besser um«, erklärte er der unsichtbaren Gwen, ehe er anfing, seine Kleider abzulegen.
Den Rest des Abends verbrachte er mit dem Lesen der Faxe, die ihn erreicht hatten, und mit dem Verfassen von Antworten. Dann genehmigte er sich ein kühles Bierchen, trat im letzten Licht des Tages hinaus in den Garten, lauschte der schmerzlich schönen Stille und beobachtete die pulsierend zum Leben erwachenden, leuchtend hellen Sterne.
Tim Riley, wer, zum Teufel, er auch immer war, schien tatsächlich Recht gehabt zu haben. Es gäbe ganz sicher keinen Regen. Das Fundament seines Theaters würde somit vollkommen problemlos trocknen.
Als er sich umdrehte, um ins Haus zurückzukehren, bemerkte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung am sich verdunkelnden Himmel. Einen verschwommenen, silbrig weißen Fleck. Doch als er seine Augen zusammenkniff, um die Konturen besser zu erkennen, sah er nichts außer Sternen und dem aufgehenden Mond.
Sicher hatte er einfach eine Sternschnuppe gesehen. Ein Geist war eine Sache, ein Feenprinz auf einem geflügelten Pferd jedoch ging eindeutig zu weit.
Trotzdem hörte er aus der Ferne noch fröhliche Pfeifenklänge, als er die Tür des Cottage bis zum nächsten Morgen schloss.