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Nora Roberts: Töchter des Windes
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Die amerikanische Originalausgabe erschien 1995 unter dem Titel
»Born in Ice« bei Jove Books,
The Berkley Publishing Group, Inc., New York
Blanvalet Verlag,
ein Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Deutsche Erstveröffentlichung Mai 1998
© der Originalausgabe 1995 by Nora Roberts
Published by arrangement with the author
© der deutschsprachigen Ausgabe 1998 by
Wilhelm Goldmann Verlag, München
Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com
Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin
Verlagsnummer: 35013
Lektorat: Silvia Kuttny
Redaktion: Viola Eigenberz
Herstellung: Heidrun Nawrot
ISBN 978-3-641-09926-8
V003
www.penguinrandomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

Buch
Autorin
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
Copyright

Autorin

Nora Roberts brachte in den USA mit ihren Romanen bereits »mehr als 25 Millionen Leser zum Träumen« (Entertainment Weekly) Ihre große Irland-Trilogie ist für sie selbst der Höhepunkt dieser erfolgreichen Karriere, denn es ist eine schriftstellerische Heimkehr in das Land ihrer Vorfahren, in dem sie sich, wie sie sagt, schon bei ihrem ersten Besuch wie zu Hause fühlte.

1. Kapitel

Auch wenn Brianna im Blackthorn Cottage hin und wieder inmitten der schlimmsten Winterstürme einen oder zwei Gäste beherbergte, war normalerweise im Januar nicht viel los, so daß sie oft allein zu Hause saß. Sie hatte nichts gegen die Einsamkeit, und auch das Heulen des Windes und der bleierne Himmel, aus dem sich Tag für Tag Regen und Eis über ihren Garten ergoß, machten ihr nichts aus. Im Gegenteil, fand sie doch in diesen Tagen endlich Zeit zum Pläneschmieden.

Doch sie freute sich über jeden Reisenden, ob er nun angemeldet oder unerwartet kam. Vom geschäftlichen Standpunkt her waren die Pfund und Pennies das Entscheidende, aber darüber hinaus freute sich Brianna immer, wenn sie die Gelegenheit bekam, jemanden zu umsorgen und ihm ein vorübergehendes Zuhause zu schaffen für die Zeit, in der er oder sie bei ihr war.

In den Jahren, nachdem ihr Vater gestorben und ihre Mutter ausgezogen war, hatte sie aus dem Haus das Heim gemacht, nach dem sie sich als Kind immer gesehnt hatte, mit einem gemütlichen Kamin, Spitzengardinen und dem Duft von frischem Gebäck, der aus der Küche in die umliegenden Räume zog. Im Grunde war es Maggie gewesen oder Maggies Kunst, die es Brianna ermöglicht hatte, langsam zu expandieren, bis aus dem Haus eine Pension geworden war. Aber das Gebäude gehörte ihr. Ihr Vater hatte verstanden, wie sehr sie an ihrem Zuhause hing, wie wichtig es für sie war. Und sie hegte ihr Erbe wie ein Kind.

Vielleicht lag es am Wetter, daß sie an ihren Vater dachte. Es war ein Tag wie dieser gewesen, an dem er gestorben war. Hin und wieder, wenn sie alleine war, entdeckte sie immer noch kleine Kammern der Trauer in ihrem Herzen, in denen sie gute und schlechte Erinnerungen an ihre Kindheit barg.

Ich brauche Beschäftigung, sagte sie sich und wandte sich vom Fenster ab, ehe sie allzusehr ins Grübeln kam.

Da es in Strömen regnete, beschloß sie, den Gang ins Dorf zu verschieben und statt dessen eine Arbeit anzugehen, die sie bereits viel zu lange vor sich hergeschoben hatte, ohne genau zu wissen, warum. Sie erwartete niemanden, und der einzige angemeldete Gast käme nicht vor Ende der Woche an. Also schleppte Brianna Besen, Eimer, Putzlappen und einen leeren Karton auf den Dachboden hinauf.

Sie reinigte ihn mit derselben Regelmäßigkeit wie alle anderen Räumlichkeiten, doch die herumstehenden Kisten und Kästen hatte sie bei ihren Putzaktionen immer ignoriert. Aber jetzt war es soweit, sagte sie sich und öffnete die Tür. Dieses Mal sähe sie nicht über die Kisten hinweg. Und sie würde nicht zulassen, daß ihre Sentimentalität sie davon abhielt, die verbliebenen Erinnerungsstücke ebenso durchzusehen wie die Wäsche in ihrem Kleiderschrank.

Wäre der Raum erst einmal entrümpelt, würde sie sparen, bis ein Umbau möglich war. Sie stützte sich auf den Besen und träumte von einem gemütlichen Zimmer unter dem Dach. Mit einem dieser neuen Dachfenster und vielleicht einer Gaube. Ein sanfter, gelber Anstrich brächte die Sonne herein. Der Boden würde geschliffen und versiegelt und mit einem ihrer Knüpfteppiche geschmückt.

Sie sah es bereits vor sich – das hübsche, mit einer farbenfrohen Tagesdecke versehene Bett, einen Korbsessel, einen kleinen Schreibtisch und ...

Brianna schüttelte lachend den Kopf. Sie überflügelte sich mal wieder selbst.

»Was bin ich doch für eine elende Träumerin, Con«, murmelte sie und strich dem Hund liebevoll über den Kopf. »Dabei bräuchte ich im Augenblick eher Muskeln und Skrupellosigkeit.«

Erst sähe sie sich die Kisten an. Es war wirklich an der Zeit, daß sie alte Papiere und alte Kleider dem Feuer übergab.

Dreißig Minuten später hatte sie mehrere ordentliche Kleiderstapel neben sich. Einen brächte sie zur Altkleidersammlung, ein anderer wäre noch für Putzlumpen gut. Die Luft war von schwachem Lavendelduft erfüllt. Das Leinenkleidchen, das sie in den Händen hielt, war mit winzigen Knöpfen und schmalen Spitzenbordüren verziert. Die Handarbeit unserer Großmutter, dachte Brianna und lächelte. »Er hat tatsächlich alles aufgehoben«, murmelte sie. Ihre Mutter hätte niemals derart sentimentale Gedanken in bezug auf zukünftige Generationen gehegt. »Das haben bestimmt Maggie und ich angehabt. Und Dad hat es für unsere Kinder verstaut.«

Der Gedanke versetzte ihr einen kaum merklichen, weil vertrauten Stich. Sie hatte kein Baby, das sanft in einer Wiege schlief, kein weiches Bündel, das darauf wartete, daß sie es in den Armen hielt, es fütterte und ihm ihre Liebe gab. Aber Maggie, dachte sie, fände bestimmt Gefallen an dem Kleidchen. Vorsichtig faltete sie es zusammen und legte es wieder in den Karton zurück.

Der nächste Karton war bis zum Rand mit Papieren gefüllt, stellte sie seufzend fest. Ehe sie sie entsorgen könnte, war es wohl erforderlich, daß sie sie las oder zumindest überflog. Ihr Vater hatte seine gesamte Korrespondenz ebenso wie zahlreiche Zeitungsausschnitte aufbewahrt. Seine neuen Geschäftsideen, hätte er sicher gesagt.

Immer hatte er neue Dinge im Sinn gehabt. Sie legte verschiedene von ihm ausgeschnittene Artikel über Erfindungen, Forstwirtschaft, das Zimmererhandwerk und die Eröffnung eines Einzelhandelsgeschäfts fort. Nirgendwo jedoch war Landwirtschaft erwähnt, stellte sie lächelnd fest. Er hatte einfach nie Talent zum Bauern gehabt. Sie fand Briefe von Verwandten, von Firmen in Amerika, Australien und Kanada, an die er geschrieben hatte, und den Kaufvertrag für den alten Kleinlaster, den er gefahren hatte, als sie noch ein Kind gewesen war. Beim Anblick eines der Dokumente jedoch runzelte sie verwirrt die Stirn. Es sah wie eine Aktie aus. Triquarter Mining, in Wales. Dem Datum nach hatte er die Aktie offenbar nur wenige Wochen vor seinem Tod gekauft.

Triquarter Mining? Da hast du wohl mal wieder in irgendein tolles Geschäft investiert, Dad, dachte sie, obwohl uns kaum je genug Haushaltsgeld zur Verfügung stand. Nun, sie müßte an diese Triquarter-Gesellschaft schreiben und sehen, ob sich die Aktie vielleicht wieder verkaufen ließ. Obgleich sie sicher kaum mehr wert war als das Papier. Mit seinen Geschäften hatte Tom Concannon nie Glück gehabt.

Sie grub tiefer und amüsierte sich mit Briefen von Cousins und Cousinen, Onkel und Tanten. Sie hatten ihn geliebt. Alle hatten ihn geliebt. Fast alle, verbesserte sie sich, denn ihre Mutter fiel ihr ein.

Sie schob den Gedanken so schnell beiseite, wie er gekommen war, und nahm drei mit einem verblichenen roten Band zusammengehaltene Briefe aus dem Karton. Sie kamen aus New York, aber das überraschte sie nicht. Die Concannons hatten eine ganze Reihe von Freunden und Verwandten in Amerika. Doch der Name war ihr fremd. Amanda Dougherty.

Brianna faltete den ersten Brief auseinander und überflog die ordentliche, sicher in einer Klosterschule erlernte Schrift. Mit einem Mal stockte ihr der Atem, und sie las den Brief ein zweites Mal.

Mein geliebter Tommy,

ich habe gesagt, ich würde Dir nicht schreiben. Vielleicht schicke ich den Brief auch gar nicht ab, aber ich muß wenigstens so tun, als hätten wir noch Kontakt. Ich bin erst seit einem Tag wieder in New York, und schon bist Du so weit von mir entfernt, wodurch unsere gemeinsame Zeit um so kostbarer für mich wird. Ich habe gebeichtet und Buße getan, doch in meinem Herzen weiß ich, daß nichts, was wir getan haben, Sünde war. Eines Tages, wenn Gott uns wohlgesonnen ist, finden wir einen Weg, um zusammen zu sein. Doch falls das nicht passiert, möchte ich, daß Du weißt, daß ich jeden Moment, der uns gegeben war, hüte wie einen Schatz. Ich weiß, es ist meine Pflicht, Dir zu sagen, daß Du das Sakrament Deiner Ehe ehren und Dich weiter um die beiden Babys, die Du so sehr liebst, kümmern mußt. Und das tue ich auch. Aber, so selbstsüchtig es auch sein mag, bitte ich Dich trotzdem, daß Du ab und zu, wenn Clare im Frühlingsglanz erstrahlt und sich das Licht der Sonne im Wasser des Shannon bricht, an mich denkst. Ich hoffe, daß Dir die Liebe, in der Du mir während der wenigen, kurzen Wochen verbunden warst, in Erinnerung bleiben wird. Ich liebe Dich ...

Immer Deine
Amanda

Liebesbriefe, dachte sie verwirrt. An ihren Vater. Geschrieben  – sie starrte auf das Datum –, als sie kaum geboren war.

Ihr wurde kalt. Wie sollte eine Frau, eine erwachsene Frau von achtundzwanzig Jahren, darauf reagieren, wenn sie erfuhr, daß ihr Vater eine Frau geliebt hatte, die nicht seine Ehefrau gewesen war? Ihr Vater, mit seinem fröhlichen Lachen und seinen sinnlosen Plänen. Diese Worte waren einzig für seine Augen bestimmt gewesen. Aber sie zu ignorieren war ein Ding der Unmöglichkeit.

Mit klopfendem Herzen öffnete Brianna den zweiten Brief.

Mein geliebter Tommy,

ich habe Deinen Brief so oft gelesen, daß ich noch mit geschlossenen Augen jedes der Worte vor mir sehen kann. Der Gedanke, daß Du so unglücklich bist, bricht mir das Herz. Auch ich sehe oft aufs Meer hinaus und stelle mir vor, wie Du über das Wasser hinweg in meine Richtung blickst. Es gibt so vieles, was ich Dir sagen möchte, aber ich fürchte, daß dadurch Dein Elend nur noch größer wird. Wenn Du Deiner Frau nicht in Liebe verbunden bist, dann sei es in Pflicht. Ich brauche Dir nicht zu sagen, daß Deine Sorge in erster Linie Deinen Kindern gelten muss. Ich weiß und habe es die ganze Zeit gewußt, daß ihnen in Deinem Herzen und Deinen Gedanken der erste Platz gebührt. Gott segne Dich dafür, Tommy, daß Du auch an mich denkst. Und dafür, daß mir durch Dich ein solches Geschenk zuteil geworden ist. Ich dachte, mein Leben würde leer sein ohne Dich, aber von nun an ist es für alle Zeiten reich und erfüllt. Jetzt liebe ich Dich noch mehr als in dem Moment, in dem ich von Dir gegangen bin. Trauere nicht, wenn Du an mich denkst. Aber denk an mich.

Immer Deine
Amanda.

Liebe, dachte Brianna, und hinter ihren Augen stiegen heiße Tränen auf. Diese Worte verrieten soviel Liebe, obwohl so wenig gesagt worden war. Wer war sie gewesen, diese Amanda? Wie hatten sich die beiden kennengelernt? Und wie oft hatte ihr Vater wohl an diese Frau gedacht? Wie oft hatte er sich wohl nach ihr gesehnt?

Brianna wischte sich eine Träne aus dem Gesicht und öffnete den letzten Brief.

Mein Lieber,

ich habe gebetet und gebetet, ehe ich diesen Brief anfing. Ich habe die Heilige Mutter Gottes gebeten, mir zu zeigen, was richtig ist. Was Dir gegenüber fair ist, weiß ich nicht. Ich kann nur hoffen, daß Dich das, was ich Dir sagen werde, mit Freude und nicht mit Trauer erfüllen wird.

Ich erinnere mich noch genau an unsere gemeinsamen Stunden in meinem Zimmer in dem Gasthaus, durch dessen Fenster man auf den Shannon sah. Wie süß und sanft Du warst, wie geblendet wir beide von der Liebe waren. Zum ersten und gewiß auch zum letzten Mal in meinem Leben wurde mir eine solch tiefe, bedingungslose Liebe zuteil, und so bin ich dankbar, daß mir, obgleich uns ein Zusammensein niemals vergönnt sein wird, eine derart wertvolle Erinnerung an diese Liebe gegeben wird. Ich trage Dein Kind unter meinem Herzen, Tommy. Bitte sei glücklich für mich. Ich bin nicht allein, und ich fürchte mich nicht. Vielleicht sollte ich mich schämen, als unverheiratete Frau vom Mann einer anderen schwanger geworden zu sein. Vielleicht verspüre ich irgendwann einmal diese Scham, aber im Augenblick empfinde ich nichts als Glück.

Ich weiß es bereits seit mehreren Wochen, aber hatte bisher einfach nicht den Mut, es Dir zu sagen. Nun, da ich die ersten Bewegungen des von uns gezeugten Lebens spüre, finde ich ihn. Muß ich Dir erst sagen, wie sehr dieses Kind geliebt werden wird? Ich sehe mich bereits mit unserem Baby im Arm. Bitte, mein Liebster, laß um unseres Kindes willen keine Trauer und keine Schuldgefühle in Dein Herz. Und um unseres Kindes willen gehe ich fort von hier. Obwohl ich jeden Tag und jede Nacht an Dich denken werde, ist dies mein letzter Brief. Ich werde Dich immer lieben, und jedesmal, wenn ich das Leben betrachten werde, das von uns in jenen magischen Stunden am Shannon gezeugt worden ist, liebe ich Dich mehr.

Gib, was immer Du für mich empfandest, an Deine Kinder weiter. Und sei glücklich. Ich bitte Dich darum.

Immer Deine
Amanda.

Ein Kind. Schluchzend hielt Brianna die Hand vor den Mund. Eine Schwester. Ein Bruder vielleicht. Großer Gott. Irgendwo lebte ein Mensch, der durch Blutsbande mit ihr verbunden war. Der kaum jünger war als sie. Der vielleicht dieselbe Haarfarbe, dieselben Gesichtszüge hatte wie sie.

Was konnte sie tun? Was hätte ihr Vater tun können vor all der Zeit? Hatte er nach der Frau und seinem Baby gesucht? Hatte er versucht zu vergessen, daß es die beiden gab?

Nein. Vorsichtig strich Brianna die Briefe glatt. Er hatte nicht versucht zu vergessen. Er hatte ihre Briefe all die Jahre aufbewahrt. Sie schloß die Augen und saß reglos da. Und, dachte sie, er hatte seine Amanda geliebt. Bis in den Tod.

 

Sie mußte nachdenken, ehe sie Maggie von ihrem Fund berichtete. Und am besten konnte sie denken, wenn sie beschäftigt war. Sie ertrug den Anblick des Dachbodens nicht mehr, aber es gab genug andere Dinge zu tun. Sie schrubbte und wienerte und buk. Die schlichte Behaglichkeit dieser Tätigkeiten, das Vergnügen, das sie bei den wohligen Düften empfand, taten ihr gut. Sie gab Torf ins Feuer, braute Tee und setzte sich mit ihren Skizzen für das Gewächshaus vor den Kamin.

Mit der Zeit würde sie wissen, was das richtige war, sagte sie sich. Nach mehr als fünfundzwanzig Jahren täten ein paar Tage des Überlegens niemandem weh. Wenn diese Verzögerung zum Teil in einer gewissen Feigheit begründet war, in dem Bedürfnis, dem unvermeidlichen Gefühlsausbruch ihrer Schwester noch eine Weile aus dem Weg zu gehen, dann gestand sie sich das gerne ein.

Brianna hatte noch nie behauptet, eine besonders mutige Frau zu sein.

In der ihr eigenen praktischen Art verfaßte sie einen höflichen, geschäftsmäßigen Brief an Triquarter Mining in Wales. Sie brächte ihn am nächsten Morgen zur Post, denn dann müßte sie, ob es nun regnete oder ob die Sonne schien, sowieso ins Dorf.

Als sie abends das Feuer löschte, um ins Bett zu gehen, war sie dankbar, daß Maggie offenbar zu beschäftigt gewesen war, um bei ihr hereinzusehen. Noch einen Tag, vielleicht zwei, sagte sich Brianna, dann würde sie ihrer Schwester die Briefe zeigen.

Aber heute abend würde sie sich entspannen und an nichts mehr denken, was in irgendeiner Weise belastend war. Sie würde sich ein wenig verwöhnen, das hatte sie sich verdient, vor allem, da ihr Rücken von der übertriebenen Schrubberei zu schmerzen begann. Ein langes Bad mit ein paar der Schaumperlen, die Maggie ihr aus Paris mitgebracht hatte, eine Tasse Tee, ein Buch. Sie würde die große Wanne oben benutzen und so tun, als wäre sie in ihrem eigenen Hause Gast. Statt in ihrem schmalen Bett in dem Zimmer neben der Küche schliefe sie in aller Pracht in dem Raum, den sie insgeheim als das Brautgemach bezeichnete.

»Heute abend sind wir König und Königin, Con«, erklärte sie dem Hund, während sie großzügig Schaumperlen unter das aus dem Hahn strömende Wasser schüttete. »Wir essen im Bett und lesen dazu ein Buch von unserem zukünftigen Gast. Einem bedeutenden Amerikaner«, fügte sie hinzu, und Con wedelte zufrieden mit dem Schwanz.

Sie glitt aus ihren Kleidern, stieg in das heiße, duftende Wasser und stieß einen wohligen Seufzer aus. Eine Liebesgeschichte wäre passender, dachte sie, als sie den Thriller mit dem Titel Das Erbe des Heliotrops in die Hände nahm. Trotzdem lehnte sie sich gemütlich zurück und versank in der Geschichte einer von der Vergangenheit gequälten und in der Gegenwart gefährdeten Frau.

Die Geschichte fesselte sie so sehr, daß sie das Buch, als das Wasser kalt wurde, in eine Hand nahm und, während sie sich mit der anderen Hand abtrocknete, weiterlas. Zitternd streifte sie sich ein langes Flanellnachthemd über den Kopf und zog die Nadeln aus ihrem Haar. Nur aus jahrelanger Gewohnheit heraus legte sie das Buch lange genug zur Seite, um das Bad zu reinigen. Aber auf das Abendessen verzichtete sie, kuschelte sich statt dessen ins Bett und zog sich die Decke bis zum Kinn.

Sie hörte kaum, wie der Wind an den Fenstern zerrte und der Regen gegen die Scheiben schlug. Grayson Thanes Geschichte hatte Brianna in die schwüle Hitze eines Südstaatensommers versetzt, wo sie auf der verzweifelten Flucht vor einem Mörder war.

Mitternacht war längst vorüber, und schließlich siegte die Müdigkeit. Das Buch in der Hand, den schnarchenden Hund neben dem Bett und das furchtsame Geheul des Windes im Ohr, schlief sie ein. Und träumte – wie sollte es anders sein – von kaltem Grauen und nackter Angst.

 

Grayson Thane war ein impulsiver Mensch. Aber er war sich dieser Schwäche bewußt, und so nahm er die dadurch entstehenden Katastrophen im allgemeinen ebenso gelassen wie die Triumphe hin. Im Augenblick war er gezwungen zuzugeben, daß der Impuls, mitten im Winter, in einem der schlimmsten Unwetter, das er je erlebt hatte, von Dublin nach Clare zu fahren, ein Fehler gewesen war.

Aber zugleich sah er die Tour als Abenteuer an. Und Abenteuer hatte er schon immer geliebt.

Kurz hinter Limerick hatte er eine Reifenpanne gehabt, und bis diese behoben war, hatte er sich trotz des Regenmantels, den er eine Woche zuvor in London erstanden hatte, wie eine ertrunkene Ratte gefühlt.

Zweimal hatte er sich verfahren und war schmale, gewundene Straßen entlang gekrochen, die kaum breiter waren als die Gräben, die man zu ihren Seiten sah. Im Verlauf seiner Nachforschungen hatte er gelesen, wenn man sich in Irland verfuhr, würde einem erst der ganze Charme des Landes offenbart.

Ganz glauben konnte er das nicht.

Er hatte Hunger, war bis auf die Haut durchnäßt und fürchtete, sein Benzin reiche vielleicht nicht, bis er an irgendeine Örtlichkeit käme, die auch nur im entferntesten an einen Gasthof oder gar ein Dorf erinnerte.

Vor seinem geistigen Auge tauchte die Landkarte auf. Sich Bilder vergegenwärtigen zu können war ein angeborenes Talent, und ohne große Mühe rief er sich jede Linie der Karte, die ihm von seiner Wirtin geschickt worden war, ins Gedächtnis zurück.

Das Problem bestand darin, daß es stockfinster war, daß der Regen wie ein reißender Fluß über die Windschutzscheibe schoß und daß der Sturm seinen Mercedes auf diesem gottverlassenen Abziehbild einer Straße herumwarf, als wäre er ein Blechspielzeug.

Er wünschte sich verzweifelt eine Tasse Kaffee.

Als sich die Straße gabelte, bog Gray nach dem Zufallsprinzip nach links. Wenn er nicht innerhalb der nächsten zehn Minuten die Pension oder etwas Ähnliches fände, würde er in dem verdammten Auto schlafen und morgen früh weitersuchen. Für heute nacht jedenfalls hatte er genug.

Schade, daß er nichts von der Umgebung sah. Die finstere Trostlosigkeit des Sturms weckte das Gefühl in ihm, daß diese Landschaft genau seinen Wünschen entsprach. Sein nächster Thriller würde hier spielen, im irischen Westen, zwischen den Klippen, gegen die drohend der Atlantik schlug, und den hügeligen Feldern, in deren Senken beschauliche Dörfer kauerten. Vielleicht entdeckte er genau in diesem Augenblick auch schon seinen erschöpften, der Welt müden Helden, der inmitten eines Unwetters in dieser unwirtlichen Region strandete.

Er kniff die Augen zusammen und spähte in die Dunkelheit. Sah er da tatsächlich ein Licht? Bei Gott, er hoffte es. Er kam an einem heftig schwankenden Schild vorbei, wendete den Wagen, richtete die Scheinwerfer auf die Schrift und grinste.

Er hatte tatsächlich das Blackthorn Cottage erreicht. Auf seinen Orientierungssinn war also doch Verlaß. Er hoffte, seine Wirtin erwies sich als die Personifizierung der legendären irischen Gastfreundschaft – schließlich kam er zwei Tage zu früh. Und dann auch noch nachts um zwei.

Gray suchte nach einer Einfahrt, aber außer regennassen Hecken sah er nichts. Mit einem Schulterzucken stellte er das Auto an der Straße ab. Alles, was er für diese Nacht benötigte, befand sich in einem Rucksack auf dem Beifahrersitz. Er schnappte ihn, ließ den Wagen, wo er war, und trat in den Sturm hinaus.

Wie eine zornige Furie schlug ihm der Wind ins Gesicht. Er schwankte, wäre um ein Haar in die tropfnasse Fuchsienhecke gestürzt und stolperte, mehr durch Glück als mit Absicht, gegen das Gartentor. Er öffnete es, trat hindurch und warf sich dagegen, damit es sich wieder schloß. Er wünschte, vom Haus wäre mehr als der bloße Umriß zu sehen, aber abgesehen von einer einzigen Lampe in einem der oberen Räume waren alle Lichter gelöscht, so daß das Gebäude völlig im Dunkeln lag.

Das Licht der Lampe kam ihm wie das Signalfeuer eines Leuchtturms vor, und wieder träumte er von Kaffee.

Er klopfte an, doch niemand kam. Durch das Tosen des Windes hindurch würde man es wahrscheinlich noch nicht einmal hören, wenn er mit einem Rammbock gegen die Tür stieße. In weniger als zehn Sekunden hatte er beschlossen, daß es das beste wäre, er träte einfach ein.

Immer noch sah er nichts, sondern war auf Empfindungen beschränkt. In seinem Rücken toste der Sturm, während aus dem Inneren des Hauses heimelige Wärme drang. Außerdem nahm er wohlige Düfte wahr – Zitrone, Möbelpolitur, Lavendel und Rosmarin. Vielleicht stellte die alte irische Wirtin ihr eigenes Potpourri her? Vielleicht würde sie ja wach und bereitete ihm noch eine heiße Mahlzeit zu?

Plötzlich drang ein dunkles, wildes Knurren an sein Ohr. Er spannte sich an, hob den Kopf und sah sich mit zusammengekniffenen Augen um. Dann waren seine Gedanken während eines verblüffenden Augenblicks wie ausgelöscht.

Im nachhinein kam ihm die Szene vollkommen unwirklich vor, wie aus einem Buch. Einem seiner eigenen vielleicht. Die schöne Frau, das lange, weiße, sich blähende Nachthemd, das Haar, das sich wie feuriges Gold über ihre Schultern ergoß. Ihr bleiches Gesicht im flackernden Licht der Kerze, die sie hielt. Der Hund, dessen Halsband sie mit der anderen Hand umklammerte und der ihr bis zur Hüfte reichte, sah aus wie ein Wolf.

Sie stand reglos am oberen Treppenabsatz und starrte mit großen Augen auf ihn herab. Sie hätte aus Marmor sein können oder aus Eis. Auf jeden Fall war sie makellos.

Dann zerrte der Hund an seinem Halsband, und mit einer Bewegung, die ihr Nachthemd wogen ließ, zog sie ihn zurück.

»Sie lassen den Regen rein«, sagte sie mit einer Stimme, die ebenso märchenhaft wie ihr Aussehen war. Sanft, melodiös, mit dem singenden, irischen Rhythmus, dessentwegen er gekommen war.

»Tut mir leid.« Er tastete nach der Tür und warf sie ins Schloß, so daß das Tosen des Sturms nur noch als Hintergrundgeräusch auszumachen war.

Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Das Geräusch der Tür und Cons Reaktion hatten sie aus einem furchterregenden Alptraum aufgeschreckt. Und nun stand sie da und starrte auf einen schwarz gekleideten, formlosen Mann hinab, dessen Gesicht in der Dunkelheit nicht zu erkennen war. Als er nähertrat, hielt sie Con mit zitternder Hand am Halsband zurück.

Jetzt sah sie ein langes, schmales Gesicht. Das Gesicht eines Dichters mit großen, neugierigen Augen und einem ernsten Mund. Das Gesicht eines Piraten, durch die vorstehenden Wangenknochen markant und durch die feuchten, langen, hellen Locken wieder sanft gemacht.

Es war dumm, sich zu fürchten, schalt sie sich. Schließlich war er ein ganz normaler Mann.

»Haben Sie sich verirrt?« fragte sie.

»Nein.« Er sah sie mit einem freundlichen Lächeln an. »Ich bin gerade angekommen. Dies ist doch das Blackthorn Cottage, oder nicht?«

»Allerdings.«

»Ich bin Grayson Thane. Ich bin etwas früher gekommen, aber Miss Concannon erwartet mich.«

»Oh.« Brianna murmelte etwas, das Gray nicht verstand, aber es hatte die Wirkung, daß sich der Hund zu entspannen schien. »Ich habe Sie erst am Freitag erwartet, Mr. Thane. Aber trotzdem heiße ich Sie herzlich willkommen.« Den Hund neben sich und die flackernde Kerze in der Hand, kam sie die Treppe herunter. »Ich bin Brianna Concannon«, sagte sie und reichte ihm die Hand.

Er starrte sie einen Moment lang sprachlos an. Er hatte eine nette, rundliche Frau mit einem grauen Knoten erwartet statt dieses zauberhaften Geschöpfs. »Ich habe Sie aufgeweckt«, brachte er schließlich dümmlich heraus.

»Normalerweise bringen wir die Nächte hier schlafend zu, das stimmt. Aber kommen Sie doch und setzen sich vor den Kamin.« Sie ging ins Wohnzimmer, machte Licht, stellte die Kerze ab, blies sie aus, drehte sich zu ihm um und nahm ihm den nassen Mantel ab. »Was für eine furchtbare Nacht, um unterwegs zu sein.«

»Das habe ich ebenfalls festgestellt.«

Ohne den Regenmantel sah er eindeutig weniger unförmig aus. Er war schlank und drahtig und kleiner als in Briannas furchtsamer Phantasie. Wie ein Boxer, dachte sie, und lächelte über sich selbst. Der Mann war kein Dichter, kein Pirat und kein Boxer, sondern Schriftsteller und obendrein ihr Gast. »Wärmen Sie sich erst einmal auf, Mr. Thane. Ich mache Ihnen schnell einen Tee. Oder möchten Sie vielleicht lieber ...« Sie hatte ihm anbieten wollen, sich erst einmal das Zimmer anzusehen, doch nun fiel ihr ein, daß sie selbst in eben diesem Zimmer schlief.

»Ich träume seit einer Stunde von einer Tasse Kaffee. Falls es Ihnen also keine allzu großen Umstände macht ...«

»Kein Problem. Machen Sie es sich doch solange bequem.«

Es war eine zu hübsche Szene, um allein zu sein. »Ich komme einfach mit in die Küche. Ich habe sowieso schon ein schlechtes Gewissen, weil ich Sie um diese Zeit aus dem Bett aufgescheucht habe.« Er hielt Con die Hand hin, die dieser interessiert beschnupperte. »Was für ein Hund. Eine Minute lang dachte ich allen Ernstes, er wäre ein Wolf.«

»Wolfshund wäre die richtige Bezeichnung.« Sie dachte bereits über die Bewirtung ihres Gastes nach. »Sie können gerne mit in die Küche kommen, wenn es Ihnen dort besser gefällt. Sie haben sicher Hunger, nicht wahr?«

Er rieb Cons Schädel und grinste auf sie herab. »Miss Concannon, ich glaube, ich habe mich schon jetzt in Sie verliebt.«

Sie errötete. »Nun, wenn Sie Ihr Herz bereits für einen Teller Suppe verschenken, scheinen Sie ein großzügiger Mensch zu sein.«

»Nach allem, was mir über Ihre Kochkünste zu Ohren gekommen ist, ist dies wohl ein angemessener Preis.«

»Oh?« Sie führte ihn in die Küche und hängte seinen tropfnassen Mantel an einen Haken neben der Hintertür.

»Eine Freundin einer Cousine meiner Verlegerin hat, ich glaube letztes Jahr, bei Ihnen gewohnt, und sie sagt, daß die Wirtin des Blackthorn Cottages wie ein Engel kocht.« Allerdings hatte ihm niemand erzählt, daß auch ihr Aussehen das eines Engels war.

»Was für ein nettes Kompliment.« Brianna stellte den Wasserkessel auf und gab ein wenig Suppe in einen Topf. »Ich fürchte, daß ich Ihnen heute nacht nur ein paar einfache Sachen anbieten kann, Mr. Thane, aber wenigstens gehen Sie nicht hungrig zu Bett.« Sie nahm ein Brot aus einer Dose und schnitt dicke Scheiben ab. »Waren Sie heute lange unterwegs?«

»Ich bin erst ziemlich spät aus Dublin losgefahren. Eigentlich hatte ich noch einen Tag dort bleiben wollen, aber dann hat mich die Reiselust gepackt.« Lächelnd nahm er das Brot, das sie auf den Tisch gelegt hatte, und biß herzhaft hinein. »Es war an der Zeit weiterzuziehen. Führen Sie die Pension ganz allein?«

»Ja. Und ich fürchte, daß es um diese Jahreszeit nicht allzuviel Gesellschaft für Sie geben wird.«

»Ich bin nicht gekommen, um Gesellschaft zu haben«, sagte er und sah zu, wie sie Kaffeepulver in den Filter gab. Langsam wurde die Küche von einem himmlischen Duft erfüllt.

»Sie sagten, Sie wollten hier arbeiten. Es muß wunderbar sein, wenn man Geschichten erzählen kann.«

»Manchmal schon.«

»Ihre Geschichten gefallen mir.« Sie nahm eine dunkelblaue Töpferschale aus dem Schrank und füllte die Suppe hinein.

Er sah sie mit hochgezogenen Brauen an. Normalerweise wurde er von den Leuten immer mit Dutzenden von Fragen bombardiert. Wie schreiben Sie, woher bekommen Sie Ihre Ideen – was ihm die verhaßteste Frage war –, wie finden Sie einen Verleger? Und auf die Fragen folgte normalerweise unweigerlich die Information, daß der Frager ebenfalls eine Geschichte wußte, die sich sicher veröffentlichen ließ.

Aber sie sagte nur diesen einen Satz, und Gray merkte, daß er abermals das Gesicht zu einem Lächeln verzog. »Vielen Dank. Manchmal gefallen sie mir auch.« Er beugte sich vor und atmete den Duft der Suppe ein. »Riecht aber nicht unbedingt wie eine einfache Sache, finde ich.«

»Es ist eine schlichte Gemüsesuppe mit etwas Rindfleisch drin. Ich kann Ihnen auch gern ein Sandwich machen, wenn Ihnen nicht nach Suppe zumute ist.«

»Nein, nein, die Suppe ist wunderbar.« Er kostete und seufzte genießerisch. »Phantastisch.« Er hob den Kopf und sah sie wieder an. Wirkte ihre Haut wohl immer so rosig und weich? überlegte er. Oder lag es vielleicht einfach an ihrer Schläfrigkeit? »Eigentlich sollte es mir leid tun, daß ich Sie geweckt habe«, sagte er und schob sich einen zweiten Löffel Suppe in den Mund. »Aber das hier macht es mir schwer.«

»Eine gute Pension steht einem Reisenden immer offen, Mr. Thane.« Sie stellte ihm seinen Kaffee hin und winkte dem Hund, der sich sofort von seinem Platz neben dem Tisch erhob. »Nehmen Sie sich ruhig noch Suppe nach, wenn Sie wollen. Ich richte nur schnell Ihr Zimmer her.«

Sie ging hinaus und eilte die Treppe hinauf. Sie müßte die Bettwäsche wechseln und die Handtücher im Bad, denn es kam nicht in Frage, daß er ein anderes Zimmer bekam. Als ihr einziger Gast hatte er ein Anrecht auf das Beste, was es gab.

Sie arbeitete schnell und klopfte gerade die Kissen in den spitzenbedeckten Hüllen auf, als sie hinter sich ein Geräusch vernahm.

Ihre erste Reaktion war Bestürzung, ihn in der Tür stehen zu sehen. Ihre zweite Reaktion war Resignation. Schließlich war es ihr Zuhause. Schließlich hatte sie das Recht, dort zu schlafen, wo es ihr gefiel.

»Ich habe mir einen schönen Abend gegönnt«, setzte sie an und zupfte die Tagesdecke zurecht.

Seltsam, daß eine Frau, die eine so simple Arbeit wie Bettenmachen erledigte, so unverschämt sexy aussehen konnte, dachte er. Offenbar war er müder, als er es sich selbst eingestand.

»Anscheinend habe ich Sie auf mehr als eine Art aus dem Bett geworfen. Es wäre allerdings nicht nötig gewesen, extra meinetwegen umzuziehen.«

»Dies ist das Zimmer, für das Sie bezahlen. Es ist warm. Ich habe den Kamin angemacht, und außerdem haben Sie Ihr eigenes Bad. Falls Sie ...«

Sie unterbrach sich, denn plötzlich trat er hinter sie. Das Prickeln in ihrem Rücken ließ sie erstarren, aber er griff nur nach dem Buch, das auf dem Nachttisch lag.

Brianna räusperte sich und trat einen Schritt zurück. »Ich bin über der Lektüre eingeschlafen«, setzte sie an, doch dann riß sie bestürzt die Augen auf. »Ich wollte damit nicht sagen, daß es mich gelangweilt hat. Ich ...« Sie merkte, daß er lächelte. Nein, er grinste – und unweigerlich verzog sie ebenfalls den Mund. »Ich habe Alpträume davon bekommen.«

»Vielen Dank.«

Sie entspannte sich wieder und schlug automatisch einladend die Tagesdecke zurück. »Und als Sie plötzlich in der Tür standen, habe ich mir das Schlimmste vorgestellt. Ich war mir sicher, der Mörder wäre bei mir aufgetaucht. Ich habe mir sogar eingebildet, ich sähe das blutige Messer in Ihrer Hand.«

»Und, wer ist der Mörder?«

Sie zog überrascht die Brauen hoch. »Ich weiß es nicht, aber ich habe einen gewissen Verdacht. Sie haben eine clevere Art, die Gefühle der Leser zu beeinflussen, Mr. Thane.«

»Gray«, sagte er und reichte ihr das Buch. »Schließlich teilen wir, wenn auch auf eine etwas unkonventionelle Art, heute nacht ein Bett.« Noch ehe sie etwas erwidern konnte, nahm er ihre Hand und hob sie an seinen Mund. »Danke für die Suppe.«

»Gern geschehen«, sagte sie verwirrt, und: »Schlafen Sie gut.«

Das täte er zweifellos. Brianna hatte kaum die Tür hinter sich zugezogen, als er seine Kleider abstreifte und sich nackt unter die Decke schob. Die Luft war von einem schwachen Fliederduft und von einem Geruch erfüllt, der ihn an eine Sommerwiese erinnerte und der ihm bereits aus Briannas Haaren in die Nase gestiegen war.

Lächelnd schlief er ein.